Paralyse der Kritik: Gesellschaft ohne Opposition?

Ein Kongress in Berlin zeigt, wie ein Teil der ehemaligen 68er-Bewegung mit dazu beigetragen hat, dass sich die Verhältnisse, gegen die man einst kämpfte, noch mehr stabilisierten

Studierende opponieren gegen den in Berlin lehrenden Historiker Jörg Baberowski, dem nicht nur von ihnen, sondern auch in einem Gastbeitrag in der linksliberalen Frankfurter Rundschau rechtslastiges Gedankengut vorgeworfen wird.

Eigentlich ist es doch sehr erfreulich, dass 50 Jahre nach 1968, zumindest einige Studierende nicht nur über diese Ereignisse resümieren, sondern die damalige Parole „Unter den Talaren der Muff von Tausend Jahren“ heute zu aktualisieren versuchen. Dass die kritischen Studierenden von den konservativen Medien, FAZ und Welt verurteilt werden, ist nicht verwunderlich.

Diese Zeitungen haben auch vor 50 Jahren wütend auf diejenigen reagiert, die damals die Parole propagierten. Verwunderlicher ist dann schon, dass die grünennahen Taz, die ja immer ihre Nähe zur 1968er-Bewegung herausstellt, ganz klar Front gegen die Kritiker Baberowski macht und ihn in einen langem Artikel als Opfer linker Ideologen hinstellt. Das ist ein gutes Beispiel für die „Paralyse der Opposition“.

So beschrieb Herbert Marcuse 1968 die Gesellschaft in der BRD. Die Neue Gesellschaft für Psychologie, ein Kreis von Sozialwissenschaftlern, die sich selbst in der Tradition von 1968 sehen, hat auf ihrem diesjährigen Kongress, der am vergangenen Wochenende in Berlin zu Ende gegangen ist, Marcuses Verdikt auf die heutige Zeit übertragen. Auch seine Aufforderung „Weitermachen“ wollen sie in die heutige Zeit übernehmen.

Entkollektivierung und Prekarisierung und welchen Anteil die 68er daran hatten

Dabei übersehen sie die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens nicht, wie das Programm ausweist:

Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass und wie sich die Welt (der Kapitalismus) seit der Verweigerungsrevolte von ’68 verändert hat – Stichwörter: Entkollektivierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in ihrer gesamten sozialen Bandbreite, Unterwerfung von Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen unter das direkte Diktat der Kapitalakkumulation, zerstörerische Aspekte der forcierten internationalen Arbeitsteilung und der globalen Zyklen seit 1971/73.

Aus dem Vorwort zum Konferenzprogramm

Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Individuen wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen veranschaulicht. So stellte die Erziehungswissenschaftlerin Andrea Kleeberg-Niepage Texte vor, in denen sich Jugendliche, eine Gymnasiastin und eine Hauptschülerin, der Frage widmen, was sie von der Zukunft erwarten.

Trotz vieler Unterschiede machte Kleeberg-Niepage eine Gemeinsamkeit fest: In beiden Texten fehlt jeder Hinweis auf eine Protesthaltung. Unzufriedenheit mit den Verhältnissen war zwar durchaus vorhanden, aber es herrscht die Vorstellung „wenn ich es nicht schaffe, ist es mein eigenes Verfehlen“. Gesellschaft wurde in den Schreiben nicht adressiert und so war es nur folgerichtig, dass es auch keine gesellschaftskritischen Gedanken gab. Aber es gab in den Schreiben auch keinen Hinweis auf die Vorstellung einer glücklichen Zukunft im Kapitalismus.

Vielmehr sahen sich die Schreiberinnen als Objekte blinder Mächte und die einzige Möglichkeit, die sie haben, ist, sich zu arrangieren und das Beste daraus zu machen. Es wäre interessant gewesen, diese Ergebnisse mit Befragungen von Jugendlichen in der DDR zu kontrastieren.

Ein Beispiel ist das Langzeitfilmprojekt „Die Kinder von Golzow“, in dem eine Landschulklasse ab 1961 filmisch begleitet wurde. Die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Menschen kamen zu Sprache. Auch beim Bankett der 500 Träumer, einem Preisausschreiben in der DDR im Jahr 1970 sollen sich Jugendliche die Welt im Jahr 2000 vorstellen. Man kann heute darüber spotten, aber man kann sich auch darüber Gedanken machen, warum die Jugendlichen damals weniger Zukunftsangst hatten, weniger das Gefühl, dass „blinde Mächte“ über ihr Schicksal bestimmen, als heute.

Wie aus dem Individualismus der Egotrip wurde

Eine Stärke des Kongresses bestand dahin, dass immer wieder auch die Frage gestellt wurde, wie Akteure der 1968er -Bewegung, den Kapitalismus mit stabilisieren halfen, anfangs oft gegen ihren Willen. So hat der Historiker Karl-Heinz Roth in seinem Vortrag dargelegt, wie die Betonung des Individuums zum „Egotrip“ und zum „Selfismus“ geriet und auch die Funktion veränderte.

Anfangs stärkte die Betonung der Individualität den Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Menschen auch persönlich nicht mehr aushalten wollten. Doch der heutige Selfismus verhindert jede Solidarität. Roth vermied wie die meisten anderen Referentinnen und Referenten allerdings moralische Kritik. Man verwies auf die massive Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Karl-Heinz-Roth erklärte, dass er selber als „bekannte rote Socke“ mit dicker Verfassungsschutzakte immer sofort einen Job als Assistenzarzt bekommen hat. Mit der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hingegen sei die Angst wieder das beherrschende Gefühl vieler Menschen geworden; doch Angst mobilisiere in der Regel nicht, sondern lähme.

Kritik der repressiven Toleranz

Einen wichtigen Aspekt haben Julia Plato und Falk Sickmann in ihrer Beschäftigung mit Slavoj Žižeks Toleranzbegriff angesprochen: Teile der Restlinken haben sich zum Wurmfortsatz des Liberalismus gemacht.

In den USA hat dies zum Aufstieg und zur Wahl von Trump entscheidend beigetragen – und nicht die angeblichen russischen Hacker, die gerade von den liberalen Kreisen ins Feld geführt werden. Sie wollen natürlich vermeiden, dass ihre Rolle bei dem Wahlergebnis diskutiert wird.

Plato und Sickmann haben dann noch zu Illustration ihrer „Kritik der repressiven Toleranz“ ein Foto vom Eingang eines angesagten Cafés in einem Berliner Szenebezirk eingeblendet, wo eine Tafel verkündete, dass Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht akzeptiert werden. Eine Zeile darüber wurden Zahlungsmittel und -arten aufgelistet, die akzeptiert werden. Eine wahrscheinlich alltägliche Hinweistafel.

Die meisten Menschen nehmen je nach Gesinnung mit Freude oder Wut zur Kenntnis, was in der Lokalität nicht akzeptiert wird. Dass die Grundlage erst einmal der Besitz von Bargeld oder Kreditkarten ist, wird gar nicht besonders wahrgenommen, weil das eben zum Wesen des Kapitalismus gehört. Dass die Referenten genau dieses Schild als Exempel für eine repressive Toleranz nahmen, war gut gewählt.

So leistete der Kongress Aufklärung über den Zustand unserer Gesellschaft und der von vor 50 Jahren. Nur hätte man bei dem Titel „Deutschland ohne Opposition“ ein Fragezeichen setzen sollen. Denn es gibt im gegenwärtig in Deutschland durchaus eine Opposition – die aber steht rechts.

Die Vorstellung, dass Opposition immer staats- und kapitalismuskritisch sein muss, stimmt schon längst nicht mehr Aber das wäre unter Umständen ein Thema für den nächsten Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie. Das in einem ideologiekritischen Brief befürchtete Abtriften des Kongresses in Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien hat sich beim diesjährigen Programm zum Glück nicht feststellen lassen.

Die Unterzeichner kritisieren einige Interviewäußerungen eines federführend für den Kongress verantwortlichen Wissenschaftlers. Es wäre wünschenswert, wenn beim nächsten Kongress eine kritische Debatte über die Streitpunkte auf einer wissenschaftlichen Basis möglich wäre.

https://www.heise.de/tp/features/Paralyse-der-Kritik-Gesellschaft-ohne-Opposition-3990642.html

Peter Nowak
RL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3990642

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/geosteuropas/personen/1683840
[2] http://www.fr.de/wissen/joerg-baberowski-die-selbstinszenierung-eines-rechten-a-1294450
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/der-diffamierte-joerg-baberowski-erhaelt-beistand-14960798.html
[4] https://www.welt.de/geschichte/article163535334/Linksextremisten-wollen-nichts-verstehen-sondern-denunzieren.html
[5] http://www.taz.de/!5485962/
[6] https://www.ngfp.de/
[7] https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2017/12/GoO_Programm.pdf
[8] https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2017/12/GoO_Programm.pdf
[9] https://www.uni-flensburg.de/psychologie/wer-wir-sind/personen/andrea-kleeberg-niepage/
[10] http://www.kinder-von-golzow.de/
[11] https://www.hoferichterjacobs.de/produktionen/das-bankett/
[12] https://www.tagesspiegel.de/politik/vor-30-jahren-ertraeumten-sich-einige-ddr-jugendliche-das-jahr-2000/116046.html
[13] http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/joomla/index.php/de/publikationen/literaturlisten-2/101-karl-heinz-roth
[14] http://www.falksickmann.de/
[15] http://www.zeit.de/2016/18/slavoj-zizek-kapitalismus-der-neue-klassenkampf
[16] http://critpsych.blogspot.de/2017/12/offener-brief-die-neue-gesellschaft-fur15.html

Innenansichten des Systems

Ein Wochenende lang wurde an der FU über die „Sozialpsychologie des Kapitalismus“ diskutiert. von Peter Nowak

Geschäftiges Treiben herrschte am Wochenende im Seminarzentrum der Freien Universität: PsychologInnen aus Deutschland und Österreich beschäftigten sich auf Einladung der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NfG) mit der Rolle der Psychologie im Kapitalismus. Die Themen der Vorträge waren denkbar verschieden: Mehrere ReferentInnen widmeten sich den Veränderungen des Fußballs im postindustriellen Kapitalismus, andere beschäftigten sich mit der Occupy-Bewegung oder der Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Wissenschaft.

Der Sozialpsychologe Gerd Dembowski untersuchte am Beispiel der Ultras die Veränderungen in der Fankultur in einer Zeit, in der Vereinsidentität durch ständige Wechsel von Trainern und Stadionnamen brüchig geworden ist. Die Psychologin Dagmar Schediwy sieht in dem spätestens seit der Fußball-WM 2006 virulenten Fußballpatriotismus einen Ausgleich der Individuen für die wachsenden Anforderungen im Kapitalismus. „Wenn man jederzeit seinen Job verlieren kann, bietet der Rückgriff auf die Nation scheinbar die letzte Sicherheit.“

Für eine stärkere Kooperation von kritischer Wissenschaft und Zivilgesellschaft plädierte der Politologe Thomas Rudeck, der das im letzten Jahr erfolgreiche Volksbegehren zur Offenlegung der Wasserverträge mitverfasst hat. In solchen Referenden sieht er einen Hebel für eine Veränderung der Gesellschaft, erntete damit beim Publikum aber auch Widerspruch.

Gleich mehrere AGs beschäftigten sich mit der Zukunft kritischer Wissenschaft. Dafür stand in den 80er Jahren auch der Hannoveraner Sozialpsychologe Peter Brückner, der in diesem Jahr 90 Jahre geworden wäre. „Seine Befreiungspsychologie war eine radikale Absage an die kapitalistische Gesellschaft“, sagte der Psychologe Klaus Weber.

In der Wiederentdeckung des linken Wissenschaftlers Brückner bestand ein großes Verdienst des Kongresses. Dabei steht eine politische Rehabilitierung des BRD-Dissidenten noch aus. Weil sich Brückner nicht von der Mitherausgabe des Buback-Aufrufs distanzierte, einem Text, in dem Buback kritisiert wurde, betrieb die niedersächsische Ministerialbürokratie seine Suspendierung.
http://www.taz.de/Kongress-an-der-Freien-Uni/!88935/
Peter Nowak