Während manche NGOs die deutsche EU-Ratspräsidentschaft mit einem Appell zu mehr staatlichem Eingreifen verbinden, erinnern sich manche auch an die linke EU-Kritik

Suche nach einer linken EU-Kritik

Die Beiträge von Rudolf Walther in der Wochenzeitung Freitag und Peter Wahl im Neuen Deutschland zeigen auch das Dilemma der gegenwärtigen linken EU-Debatte auf. Wahl stellt einige richtige Fragen zur linken EU-Politik und landet dann bei dem vagen Begriff der demokratischen Souveränität. Walther kritisiert die Vagheit des Begriffes und kann sich keine Alternative zur realexistierenden EU vorstellen.

„EU-Ratspräsidentschaft für besseren Schutz der europäischen Urwälder nutzen“, lautet eine aktuelle Forderung der Umweltschutzorganisation Robin Wood. Die NGO hat anschaulich beschrieben, wie eine Protestaktion für mehr Staatseingriffe aussieht: ….

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Warum fordert niemand den Rücktritt von Juncker und Co.?

Die Reaktionen der Brexitgegner nach der Abstimmung in Großbritannien sind Zeichen einer grundlegenden politischen Schwäche

Es war schon merkwürdig, wie in den EU-freundlichen Medien in den letzten Tagen auf den Rücktritt des britischen Brexit-Ideologen Nigel Farage reagiert wurde. Da wurden Sprüche laut, die man eher bei den Freunden von Farage erwartet hätte, etwa: dass er die Briten, die ihm geglaubt haben, im Stich gelassen habe. Oder: dass er für das Schlamassel, das er angerichtet hatte, jetzt nicht die Verantwortung übernehmen wolle. Haben sich ausgerechnet die EU-Freunde gewünscht, dass Farage nach dem Brexit britischer Premierminister wird und das Land aus der EU herausführt?

Das ist kaum anzunehmen, aber der Ärger über Farages Verschwinden aus der ersten Reihe der Brexit-Befürworter dürfte echt sein. Schließlich war er das Gesicht des „rechten Brexit“. Er gab denen eine Stimme, die aus xenophoben und rassistischen Gründen für den Austritt votierten. Sie hatten in der Brexit-Debatte sicher auch die Vorherrschaft. Dabei war allerdings klar, dass Farage und seine Partei auch nach dem Brexit-Beschluss keine besondere Rolle in der britischen Politik spielen würden. Dafür sorgt schon das bisherige Wahlsystem.

Mit Boris Johnson ist das anders. Der war kein überzeugter Brexit-Befürworter, sondern surfte auf der EU-kritischen Welle, um sich gegen Cameron abzugrenzen. Doch die Machtkämpfe innerhalb der Tories bremsten seine Karrierepläne. Aber auch die Häme, die Johnson in den meisten Medien in Deutschland entgegenschlägt, ist erstaunlich.

Schließlich hatte er in seine Zeit als Londoner Oberbürgermeister eine gute Presse. Damals wurde er immer als wählbare Alternative gegen den linken Labour-Politiker Ken Livingston, der sich mittlerweile mit seiner regressiven Israelkritik selber ins politische Aus befördert hat, in höchsten Tönen gelobt. Zu dieser Zeit wurde auch immer erwähnt, dass er sehr wohl als Cameron-Nachfolger gesetzt ist. Erst als sich Johnson zum Vorkämpfer der Brexit-Kampagne entwickelt hatte, wurde er vom Liebling der Presse zum Buhmann.

Dabei hat sich an seiner wirtschaftsfreundlichen Politik und seiner Verachtung für die als „Chavs“ beschimpften Armen nichts geändert. Die Vorstellung, dass Männer wie Farage und Johnson mit dem Brexit Großbritannien und die EU in ein Schlamassel geführt haben, zeigt auch, wie wenig für die EU-Befürworter Demokratie zählt, wenn sie angewendet wird. Schließlich waren es die Wähler, die im Referendum, das über mehrere Wochen die britische Innenpolitik bestimmte, über die EU abgestimmt haben. Es waren dort nicht nur die Stimmen der Brexit-Befürworter zu hören.

Im Gegenteil fast das gesamte politische Etablissement und das Ausland hat immer wieder vor einem Austritt gewarnt. Die Wähler hatten also eine Alternative. Wenn nun suggeriert wird, sie  seien nur willenlose Marionetten von Johnson und Farage, wird ihnen die eigene Handlungsmacht abgesprochen. Hier wird das Bild der handlungsohnmächtigen  „kleinen Leute“ bedient, die angeblich von „großen Männern“ verführt wurden. Tatsächlich gab es wahrscheinlich selten zu einem politischen Thema eine so ausgiebige öffentliche Debatte über das Pro und Contra wie in Großbritannien vor der Brexit-Abstimmung.

Wenn es auch vor dem Irak-Krieg eine solch ausführliche Debatte gegeben hätte?

Es ist schon merkwürdig, dass jetzt darauf herumgeritten wird, dass die Brexit-Befürworter steile Thesen und auch offen falsche Behauptungen aufgestellt haben. Davon abgesehen, dass Propaganda natürlich von beiden Seiten betrieben wurde, und beide mit Horrorszenarien gearbeitet haben, könnte man doch auch fragen, warum in der BRD in den 1950er Jahren die Remilitarisierung und der Natoeintritt völlig ohne öffentliche Debatte durchgesetzt wurden.

Gerade weil anfangs eine große Mehrheit der Bevölkerung dagegen war, wieder eine Armee aufzubauen, wurden alle Versuche einer landesweiten Abstimmung darüber als Manöver der Kommunisten verfolgt und verboten[1]. Viele der Beteiligten wurden mit Gefängnisstrafen belegt, darunter waren Nazigegner, die schon im NS inhaftiert waren.

Über die sogenannte Nachrüstung von Natoraketen gab es Anfang der 1980er Jahre eine öffentliche Debatte. Die deutsche Friedensbewegung, die durchaus auch deutschnationale Aspekte hatte, stieß in großen Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung. Doch die Regierung und die staatstragende Opposition machten der Bevölkerung deutlich, dass ihr Protest keine Auswirkungen hatte. Das wünschen sich wohl auch manche nach der Brexitabstimmung.

So werden in Deutschland alle möglichen Varianten dazu dargelegt, wie man einfach so weiterregieren kann, als hätte es die Abstimmung nicht gegeben. Da wird betont, dass das Referendum unverbindlich sei und die Parlamentsabgeordneten ja auch entscheiden könnten, dass das Abkommen nicht umgesetzt wird. Dass sich die Brexit-Gegner als schlechte Verlierer erweisen und eine neue Abstimmung fordern, wird in den meisten Medien nicht zum Anlass genommen, deren Demokratievorstellungen zu hinterfragen, sondern als Beweis dafür genommen, dass niemand das Ergebnis gewollt hat. Es wird die Behauptung bugsiert, dass sogar die Brexit-Befürworter nun erschrocken über das Ergebnis sind.

Beweise gibt es dafür kaum. Schließlich kommen meistens EU-Freunde zu Wort, die noch immer nicht glauben können, dass die Mehrheit tatsächlich anders entschieden hat. Die pro-westliche Elite war so überzeugt davon, dass sie die Hegemonie hat, und die „Chavs“ schon von der Abstimmung fernbleiben. Gerne kommt auch eine deutsche Staatsbürgerin oder ein deutscher Staatsbürger zu Wort, die jetzt beklagen, dass sie nach einem vollzogenen Austritt Großbritanniens aus der EU zusätzliche Behördengänge haben.

Solche Sorgen müssten die Geflüchteten in Deutschland haben, bei denen meist jeder Arztbesuch viele Behördengänge voraussetzt. Wenn dann schon mal Brexit-Befürworter in den Medien zu Wort kommen, dann werden sie als exotischer Untersuchungsgenstand vorgestellt, der in der Regel in einer abgehängten Region oder im Pub zu Hause ist. Das Individuelle spielt keine Rolle.

So wird die Hetze gegen die „Chavs“[2], die Owen Jones[3] gut beschrieben hat, auch nach der Brexit-Kampagne fortgesetzt. Eine der wenigen journalistischen Stimmen, die von einem „EU-Elitenprojekt“ sprach, war Dominic Johnson in der Taz[4].

Linke EU-Kritik wird konsequent verschweigen

Dabei ist es bezeichnend, dass alle Spuren linker EU-Kritik[5] meistens ignoriert werden. Es wird in der Regel nicht erwähnt, dass die britische Eisenbahngewerkschaft deswegen für den Brexit war, weil sie für die Renationalisierung der Railway eintritt[6], was im EU-Rahmen nicht möglich ist.

Auch viele Anhänger des Noch-Labourvorsitzender Corbyn dürfen Gründe gehabt haben, für einen Austritt aus der EU zu sein. Denn einen Teil seines Programms könnte er unter dem Austeritätsdiktat der EU gar nicht durchzusetzen. Dass Corbyn deswegen bei der Mehrheit der Labour-Fraktion gehasst wird, ist nicht verwunderlich. Die waren immer gegen ihn. Entscheidend wird sein, wie die Labour-Basis regiert und ob es da auch gelingt, eine Kooperation von Menschen hinzukriegen, die bei der Brexit-Abstimmung in unterschiedlichen Lagern waren.

Denn klar ist auch, Ausbeutung und Unterdrückung werden mit oder ohne die Umsetzung der Brexit-Abstimmung weitergehen. Interesssant ist natürlich auch, dass die Corbyn-Gegner in der Labour-Party noch immer Fans jenes Tony Blair sind, dem nun eine Kommission bescheinigt hat, sein Land unüberlegt und mit falschen Informationen in den Irakkrieg geführt zu haben (Chilcot-Bericht setzt Blair unter Druck[7]).

Die Corbyn-Anhänger haben nun ein gutes Argument in der Hand. Wäre es nicht besser gewesen, wenn vor dem Irakkrieg ebenso eifrig darüber diskutiert worden wäre wie über den Brexit und wenn danach noch die Bevölkerung abgestimmt hätte? Der Irakkrieg hätte dann bestimmt nicht mit Beteiligung Großbritanniens stattfinden können.

Wenn Jakob Augstein vor Populismus warnt

Nur auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass sich auch der Freitag-Herausgeber unter die Kritiker des Brexit-Referendums wegen der „Wechselfälle des Populismus einreiht[8]: Nun ist Augstein, wenn es um Kritik an Israel und den USA geht, nämlich nicht frei vom Populismus und es ist noch gar nicht so lange her, dass man einem Linkspopulismus durchaus etwas Positives abgewinnen[9] konnte.

Doch Augstein gehört seit Jahren zu den Anhängern einer Strömung, die eine starke EU gegen die USA in Stellung bringen will. Daher ist seine harsche Ablehnung der Brexit-Entscheidung verständlich. Dass er dabei aber selbst die dümmsten totalitarismustheoretischen Argumente positiv aufgreift, ist dann etwas unter seinem intellektuellen Niveau. So schreibt er wider jede historische Evidenz:

Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg mit guten Grund nicht für direkte Demokratie entschieden, sondern für die repräsentative? Die Antwort auf den Zweiten Weltkrieg, auf die Erfahrung des Totalitarismus lautet einfach keineswegs mehr Beteiligung der Bürger. Im Gegenteil: Die Demokratie wurde an die Leine gelegt. Sie wurde eingehegt …

Augstein beschreibt hier richtig, wie die kapitalistischen Eliten in vielen europäischen Ländern im Zeichen des Kalten Kriegs die starken linken Bewegungen in Griechenland, Italien, Frankreich und andere Ländern oft gewaltsam an die Leine legte. Daraus wurde dann das ominöse Europa, das keine Klasseninteressen mehr kennt und die Ausschaltung der Linken wurde zu einer Lehre aus dem Totalitarismus.

Dabei ist der Aufstieg des NS in einer Weimarer Republik erfolgt, wo revolutionäre Bewegungen schon 1918/19 blutig zerschlagen wurden und die daran beteiligten Freikorps waren die Keimzellen der NS-Bewegung. Nicht Volksabstimmungen, sondern Notverordnungen, die die repräsentative Demokratie ausschalteten, waren das Klima, in dem NSDAP stark wurde.

Wenn die Linke den Status-Quo verteidigt

Dass Augstein diese Zusammenhänge nicht erklärt, sondern selber totalitarismustheoretische Erklärungen affirmiert, zeigt das Elend einer reformerischen Linken, die nach den Staatsapparaten rufen, wenn durch ein Referendum einmal ein Status Quo in Frage gestellt wird. Die Publizistin Charlotte Wiedemann nennt diese Haltung in ihrer Taz- Kolumne „Wohnen in der Defensive“.

„Wir haben uns abgewöhnt, groß zu denken. Wir haben vergessen, dass man sich über den Status quo einfach hinwegsetzen kann. Die Utopisten von heute sind nicht wir, sondern jene, die aus purer Not handeln – oder von rechts“, kritisiert Wiedemann eine Linke, deren größter Graus es ist, wenn das alternativlose „Weiter so“ mal wie bei der Brexit-Abstimmung unterbrochen wird. Wiedemann stellt weitere Fragen:

Traut sich noch jemand, für irgendeinen Winkel der Welt die Berechtigung eines bewaffneten Kampfes anzuerkennen – außer Ursula von der Leyen? Nichts ist so out wie bewaffneter Kampf von unten, derweil militärische Interventionen den Anstrich des Humanitären bekommen. Nur ein paar Ewiggestrige marschieren immer noch gegen Waffenexporte durch matschige Osterwiesen.

Da könnte man auch Tony Blair und seine Fans anführen, die sich über einen Brexit aufregen und an einem „voreiligen Krieg“, der Tausende Menschenleben kostete, nichts auszusetzen haben. Aber man braucht diese „Linke des Status-Quo“ gar nicht gleich nach dem bewaffneten Kampf fragen. Wo waren nach dem Brexit-Entscheid ihre Forderungen, dass das verschlissene EU-Personal, das in Großbritannien durchgefallen ist, zurücktritt?

Juncker, der eigentlich wegen den Luxemburg-Leaks vor dem Kadi landen müsste, ist doch der prototypische Vertreter jenes Europa, das nicht mit einer sozialer Kooperation, sondern mit Korruption, Postenschieberei und persönlicher Bereicherung assoziiert wird. Warum berauschen sich auch manche EU-Befürworter an den Querelen im Lager der Brexit-Befürworter und bejubeln jeden Rücktritt dort wie einen nachträglichen Sieg?

Merken sie nicht, dass die Unfähigkeit der Politiker, die am 22. Juni eine Niederlage einfuhren, zu persönlichen Konsequenzen kein Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche ist? Die Rücktrittsforderungen werden auch deshalb nicht gestellt, weil viele fürchten, die EU-Konstruktion sei zu fragil für solche Konsequenzen. Wo bleibt eine linke EU-Kritik, wie sie auch Deutschland durchaus existiert[10], in einer Zeit, wo sie dringend gebraucht wird?

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/48/48760/1.html

Anhang

Links

[1]

http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Bundeswehr/50-jahre-2.html

[2]

http://www.jetzt.de/redaktionsblog/die-daemonisierung-des-prolls-549858

[3]

http://www.vat-verlag.de/b%C3%BCcher/sachbuch/owen-jones

[4]

http://www.taz.de/!5315151/

[5]

http://www.huffingtonpost.de/2016/06/23/brexit-professor_n_10630340.html

[6]

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/grossbritannien-privatisierung-ein-stueck-zurueckgedreht-1132073.html

[7]

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48752/

[8]

https://www.facebook.com/JakobAugstein/photos/a.257365520975050.67066.254924654552470/1183492298362363/?type=3&theat

[9]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/augstein-wir-brauchen-einen-linken-populismus-a-1050085.html

[10]

https://www.youtube.com/watch?v=bhfNN0urq58