Bespitzelung der linken Szene Heidelbergs war rechtswidrig

Viele von der Ausspähung durch Polizeispitzel Betroffene suchten den Rechtsweg und bekommen auch Recht. Doch ob damit das Spitzelwesen eingedämmt werden kann, ist noch offen

Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers im Jahr 2010 gegen die linke Szene in Heidelberg war nachweislich umfassend rechtswidrig: Das entschied das Verwaltungsgericht Karlsruhe [1] am Mittwoch. Damit setzten sich die sieben von der Bespitzelung Betroffenen durch, die die Klage ins Rollen brachten. So fand ein Spitzeleinsatz gegen linke Strukturen noch eine juristische Bewertung, der 2010 für Aufsehen sorgte [2].

Simon Bromma war in die linke Szene Heidelbergs eingeschleust worden und sollte eine antifaschistische Gruppe ausspähen. Doch Simon Brenner, wie der Alias-Namen von Bromma lautete, suchte auch Kontakt zu linken studentischen Initiativen und beteiligte sich auch an bundesweiten Bündnistreffen. Nach knapp 9 Monaten endete die verdeckte Arbeit von Bromma, als er durch Zufall enttarnt wurde.

Eine Urlaubsbekanntschaft erkannte den vermeintlichen Germanistikstudenten als Polizisten und informierte seine neuen Bekannten und vermeintlichen Freunde. Die stellten den vermeintlichen Genossen zur Rede, der innerhalb kurzer Zeit seine Spitzeltätigkeit einräumte und aus Heidelberg verschwand.

2014 hat dann die Frankfurter Rundschau den enttarnten Spitzel wieder entdeckt [3]. In Zeitungsanzeigen versprach er als alternativer Reiseveranstalter Mountainbikegruppen „Spannung, Spaß und Schokolade“ bei Touren durch die Alpen.

Die von der Ausspähung Betroffenen gründete den Arbeitskreis Spitzelklage [4], die am gestrigen Mittwoch erfolgreich war. Die Vorsitzende Richterin des Karlsruher Verwaltungsgericht Anna Mayer konnte keine konkrete Gefahr bei einem der beiden Zielpersonen der Ausspähung sehen. Die konkrete Gefahr einer Straftat mit erheblicher Bedeutung ist aber die Voraussetzung für den Einsatz eines verdeckten Ermittlers der Polizei.

Michael Dandl, der eine der Zielpersonen war, auf die Bromma angesetzt werden sollte, erklärte gegenüber Telepolis der AK Spitzelklage werde nun beratschlagen, ob die Betroffenen Klagen auf Schadenersatz wegen der unrechtmäßigen Überwachung einreichen. Der AK sieht im juristischen Weg vor allem einen Teil des politischen Kampfes gegen die Überwachung linken Zusammenhänge.

Etwas Sand in das Getriebe des Überwachungsapparates streuen

„Wir können den Repressionsorganen damit etwas Sand ins Getriebe streuen“, hofft Dandl. Doch mit der außerparlamentarischen Widerständigkeit hapert es etwas. Die AG Spitzeleinsatz hatte am vergangenen Samstag in Heidelberg eine Demonstration organisiert, hätte sich aber eine größere Beteiligung [5]gewünscht. Neben den Semesterferien, die in der Universitätsstadt Heidelberg die politische Arbeit erschweren, könnte auch die Häufung von Spitzeleinsätzen gegen linke Zusammenhänge zu einer Abstumpfung beigetragen haben.

Sehr bekannt geworden ist der europaweit agierende Polizeispitzel Mark Kennedy, der in Großbritannien weiterhin die Gerichte beschäftigt [6]. Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko hatte in einem Brief an die britische Justiz darauf hingewiesen [7], dass Kennedy auch in Deutschland linke Zusammenhänge ausspioniert hat. Zudem hat er freundschaftliche Beziehungen zu Frauen aus den außerparlamentarischen Bewegung geknüpft.

Mehrere der Betroffenen haben Klagen eingereicht. Auch in diesem Fall ist das öffentliche Interesse in Deutschland zurückgegangen. Dabei böten doch gerade die juristischen Schritte in Großbritannien eine gute Gelegenheit, auch hierzulande den Druck zu erhöhen. Man würde sich wünschen, dass ein Teil der medialen Empörung, die die NSA-Überwachung in Deutschland auslöste, auch auf Bespitzelungen verwendet würde, bei dem keine US-Stellen involviert sind.

Es muss sich noch zeigen, ob die optimistische Einschätzung des AK Spitzelklage Bestand hat, die das gestrige Urteil so kommentierten [8]:

Das Urteil ist eine schallende Ohrfeige für einen Repressionsapparat, der sich für allmächtig hält und seine Befugnisse im Verborgenen immer weiter ausbaut.

Undercover-Polizeibeamtin in Hamburg aufgedeckt

Es stimmt schon, dass juristisch schon mehrere Spitzeleinsätze nachträglich für rechtswidrig erklärt wurde. Ähnlich wie es auch häufig mit harten Polizeieinsätzen geschah. Doch genau so wenig wie damit für die Zukunft ausgeschlossen werden kann, dass die Polizeieinsätze weiter repressiv bleiben, so kann auch eine Zurückweisung von Bespitzelungen nicht verhindern, dass in anderen Fällen weiter linke Zusammenhänge ausgeforscht werden.

So wurde von einer linken Recherchegruppe in Hamburg erst vor wenigen Tagen die verdeckte Polizeibeamtin Maria Böhmichen enttarnt [9], die unter dem Namen Maria Block zwischen 2010 und 2012 in linken Zusammenhängen Hamburgs aktiv war und auch internationale Bündnistreffen besuchte.

Erst vor knapp einen Jahr war in Hamburg die verdeckte Ermittlerin Iris Schneider enttarnt worden [10]. Sie hat unter Anderem lange beim Freien Sendekombinat aktiv mitgearbeitet [11]. Die Betroffenen haben ebenfalls Klage gegen die Bespitzelung eingeleitet.

http://www.heise.de/tp/news/Bespitzelung-der-linken-Szene-Heidelbergs-war-rechtswidrig-2792072.html

Peter Nowak 

[1]

http://vgkarlsruhe.de/pb/,Lde/Startseite

[2]

http://www.heidelberg.rote-hilfe.de/docs/20110110-Bromma.html

[3]

http://www.fr-online.de/politik/fall-simon-brenner-entdeckter-ermittler,1472596,26211830.html

[4]

http://spitzelklage.blogsport.de/

[5]

http://spitzelklage.blogsport.de/2015/08/22/pe-zur-heutigen-demonstration/

[6]

http://www.theguardian.com/uk-news/undercover-with-paul-lewis-and-rob-evans/2015/jul/17/judge-leading-public-inquiry-into-undercover-police-to-speak-for-the-first-time?CMP=share_btn_tw

[7]

https://twitter.com/AndrejHunko/status/624538990344056832

[8]

http://spitzelklage.blogsport.de/2015/08/26/pe-vg-karlsruhe-betrachtet-den-heidelberger-spitzeleinsatz-als-rechtswidrig/

[9]

https://enttarnungen.blackblogs.org/

[10]

http://www.fr-online.de/panorama/verdeckte-ermittlerin-in-hamburg-was-von–iris-schneider–uebrig-blieb,%201472782,29484000.html

[11]

http://www.fsk-hh.org/blog/2015/05/08/pressemitteilung_zurueck_ins_lektorat_floragate

Spitzeleinsatz war rechtswidrig

In Hamburg wurde erneut eine verdeckte Ermittlerin enttarnt

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat Heidelberger Aktivisten Recht gegeben: Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers war rechtswidrig. In Hamburg wurde am Mittwoch erneut eine Beamtin enttarnt.
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Verkleidete Demonstranten vor dem Verwaltungsgericht in Karlsruhe

Foto: dpa/Deck

Erfolg auf ganzer Linie: Der Aktivist Michael Dandl und sechs weitere Heidelberger Linke bekamen am Mittwoch Recht. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe erklärte einen Spitzeleinsatz für rechtswidrig, der sich gegen Dandl, Aktivist in der Roten Hilfe und der Autonomen Antifa Heidelberg sowie eine weitere Person richtete. Betroffen von der Ausspähung sind allerdings viele Aktivisten der Heidelberger Linken. Sieben Betroffene reichten die Klage ein, die sie nun gewonnen haben.

Die Enttarnung des Polizeispitzels Simon Bromma hatte Ende 2010 bundesweit für Aufsehen gesorgt. Der junge Mann war in die linke Szene Heidelbergs eingeschleust worden und sollte die Autonome Antifa ausspähen. Doch Simon Brenner, wie der Alias-Namen des verdeckten Ermittlers lautete, suchte Kontakt zu linken studentischen Initiativen wie dem SDS und beteiligte sich auch an bundesweiten Bündnistreffen. Nach knapp neun Monaten endete die verdeckte Arbeit von Bromma, als er durch Zufall enttarnt wurde. Eine Urlaubsbekanntschaft erkannte den vermeintlichen Germanistikstudenten als Polizisten und informierte seine neuen Bekannten. Die stellten den vermeintlichen Genossen zur Rede, der innerhalb kurzer Zeit seine Spitzeltätigkeit einräumte und aus Heidelberg verschwand.

Juristisch fing die Auseinandersetzung da gerade erst an. Die von der Ausspähung Betroffenen gründeten die Arbeitsgruppe Spitzelklage und erstatteten Anzeige. Ihnen gab die Vorsitzende Richterin des Karlsruher Verwaltungsgericht, Anna Mayer, nun Recht. Sie konnte bei beiden Zielpersonen keine konkrete Gefahr erkennen. Die konkrete Gefahr einer Straftat mit erheblicher Bedeutung ist aber Voraussetzung für den Einsatz eines verdeckten Polizeiermittlers. Dandl erklärte gegenüber »nd«, die Gruppe werde nun beraten, wie sie weiter vorgeht. Eine Klage auf Schadenersatz wegen unrechtmäßiger Überwachung sei ebenso denkbar wie eine Klage gegen das Polizeigesetz von Baden-Württemberg.

Doch es geht ihnen nicht in erster Linie um die juristische Auseinadersetzung. Die Gruppe will mit ihrer Arbeit vor allem die Überwachung linken Zusammenhänge thematisieren. »Wir wollten die Unrechtmäßigkeit der Maßnahme feststellen und weitere Bespitzelung für die Zukunft erschweren«, begründete Michael Dandl gegenüber »nd«. »Wir können den Repressionsorgane damit etwas Sand ins Getriebe streuen.«

Auch Martin Singe vom Komitee für Grundrechte und Demokratie sieht Klagen von Betroffenen von Spitzeleinsätzen vor allem als ein Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Die AG Spitzeleinsatz hatte am vergangenen Samstag in Heidelberg eine Demonstration organisiert, hätte sich aber eine größere Beteiligung gewünscht. Doch es sind Semesterferien in der Universitätsstadt Heidelberg, das erschwert die politische Arbeit.

In Hamburg wurde am Mittwoch eine weitere verdeckte Ermittlerin von einer linken Recherchegruppe enttarnt. Die Polizeibeamtin Maria Böhmischen war demnach unter dem Namen Maria Block zwischen 2009 und 2012 in linken Zusammenhängen Hamburgs aktiv und hat auch internationale Bündnistreffen besucht. Sie sei dabei »tief in die Strukturen der linken Szene eingedrungen«, heißt es in einer Erklärung.

Christiane Schneider, Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft forderte rasche Aufklärung. »Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann offenbart das ein großes Problem der Polizei«, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Ein Sprecher der Polizei bestätigte dem Norddeutschen Rundfunk am Nachmittag, dass es sich bei der mutmaßlichen Aktivistin um eine Hamburger Beamtin handele. Nun gelte es, »die Gesamtumstände zu diesem Fall« zu prüfen.

Erst Ende 2014 war in Hamburg eine Aktivistin als LKA-Beamtin enttarnt worden. Der Fall Iris Schneider beschäftigt bis heute die Innenbehörden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/982580.spitzeleinsatz-war-rechtswidrig.html

Peter Nowak

Spätsommer des Deutschen Rassismus

Grenzenloser Streik

Auch am Amazon-Standort im polnischen Poznan wurde gestreikt.

Transparente hingen in der letzten Junihälfte rund um das Amazon-Werk im polnischen Poznań.»Wir unterstützen die Streiks bei Amazon in Deutschland«, war auf den Bannern zu lesen.  Es blieb nicht bei Bekenntnissen. Die Nachtschicht bei Amazon in Poznań solidarisierte sich Vom 24. auf den 25. Juni  solidarisierte sich die Nachtscickt durch demonstratives Bummelstreiken mit dem Arbeitskampf bei Amazon-Deutschland. Andere Beschäftigte stellten kurzfristig Urlaubsanträge, um keine Streikbrecher_innen  zu werden. Tage vorher hatten Mitglieder der anarchosyndikalistischen Inicjatywa Pracownicza (IP) in dem Werk Flugblätter über den Verdi-Streik in Deutschland verteilt. Als Dezember 2014 die Werke in Poznań und Wrocław eröffent wurden,  erklärte der Logistikchef von Amazon Europe, Tim Collins, dass die polnische Dependance für pünktliche Lieferungen an Amazon-Kunden sorgen werde, auch wenn Verdi in Deutschland zum Arbeitskampf aufrufe  „Amazon-Pakete kommen jetzt aus Polen“, titelte das Handelsblatt am 15. Dezember 2014.  Damals  brachten an verschiedenen Amazon-Standorten in Deutschland   Beschäftigte  das Weihnachtsgeschäft des Online-Magazins  durch Streiks ins Stocken.    Anfang Juli 2015 musste denn auch das Handelsblatt melden, dass die Beschäftigten bei Amazon-Poznan ebenfalls für höhere Löhne  und der Angleichung von Löhnen und  Arbeitsbedingungen  an die Verträge in anderen europäischen Ländern kämpfen. In einer Reportage für die Welt vom 18.7. wurde gar ein besonders negatives Bild von den Arbeitsbedingungen bei Amazon-Poznan gezeichnet:„13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.“ Damit soll suggeriert werden, dass es die besonders schlechten Arbeitsbedingungen in Poznan sind, die zu der Kampfbereitschaft führten. Damit soll die transnationale Dimension des Arbeitskampfs ausgeblendet werden. Auffällig ist auch, dass die Gewerkschaft IP, die die Kämpfe bei Amazon-Poznan führt, in dem  Welt-Artikel  nicht erwähnt wird. Damit bleibt das Blatt aus dem Hause Springer seiner Linie treu, linke Basisgewerkschaften entweder zu verschweigen oder  wie die Freie Arbeiter_innen Union  (FAU) als linksextremistisch zu diffamieren. Mittlerweile hat das Amazon-Management eine Lohnerhöhung für die ca. 2000 Beschäftigten von Amazon-Poznan  zugestimmt. Für die IP ist dieser erste Erfolg  ein Ergebnis der Kampfbereitschaft der Beschäftigten und kein Grund,  die Auseinandersetzungen zu beenden oder die transnationale  Ebene zu vernachlässigen.
Mitte Mai organisierte die Gewerkschaft unter der Parole »My Prekariat« (Wir Prekären) eine erste Warschauer Mayday-Parade mit knapp 350 Teilnehmer_innen. Neben Beschäftigten von Universitäten, Bauarbeiter_innen, Theaterleuten und Erzieher_innen  beteiligten sich auch Arbeiter_innen  von Amazon aus  Polen und Deutschland an der Aktion. Vom 2. bis zum 4. Oktober 2015  wird  unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“   zu einer Tagung  nach Poznan eingeladen.  In Arbeitsgruppen soll erörtert werden, wie man sich kollektiv gegen die Fragmentierung und Individualisierung der Arbeit wehrt. Es geht um die Vernetzung fester und befristeter Angestellter und die Frage, wie die kapitalistische Ausbeutung länderübergreifend angegriffen werden kann. „Wir treffen uns in Poznan, um die Beteiligung aus den osteuropäischen Ländern zu erhöhen, denn diese stehen im Mittelpunkt des heutigen Ausbeutungsregimes. Ziel ist es auch, den Austausch zwischen Arbeits- und sozialen Kämpfen zu vertiefen, über bestehende Grenzen und Regionen hinweg“, wird die Ortswahl begründet Die  polnischen Kolleg_innen haben schon  in den letzten Monaten deutlich  gemacht haben, dass es ihnen um die Mobilisierung der Basis und nicht um einen Austausch unter Gewerkschaftsfunktionär_innen geht.  Auch die Solidarisierung mit den Amazon-Streiks in Deutschland ging von der Belegschaft aus.  Eine IP-Aktivistin erklärte  in einem Interview mit der jungen Welt, wie es zu der Aktion kam, als die Geschäftsleitung von Amazon von den Beschäftigten in Poznan angesichts des Streiks in Deutschland Mehrarbeit verlangt hätten:
„Wir sollten also Streikbrecherarbeit machen. Das machten wir den Kollegen auf Flugblättern deutlich. Wir waren auch mit Streik-T-Shirts im Betrieb und machten den Arbeitskampf in Deutschland zum Gesprächsthema. In dieser Situation ist ein sogenannter wilder Streik ausgebrochen – den haben nicht wir organisiert, was wir als Gewerkschaft auch gar nicht dürfen. Es war eine spontane Aktion aus Wut über die angeordneten Überstunden, während die deutschen Kollegen im Ausstand waren. Sie zeugte von der großen Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen bei Amazon in Polen. Und der Gedanke der Solidarität war ganz wichtig, denn als früher Überstunden angeordnet wurden, hat es keinen derartigen Protest gegeben“.
Die Pressesprecherin des Verdi-Bundesvorstandes Eva Völpel erklärte, dass  ihre Gewerkschaft bisher nicht mit der IP  sondern mit der sozialpartnerschaftlich ausgerichteten polnischen   Gewerkschaft Solidarnosc kooperierte. Die Kooperation mit der IP wurde bisher vor allem von der außerbetrieblichen Amazon-Solidarität vorangetrieben.
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Transnationale Streikkonferenz in Poznań

Unter dem Motto „Dem transnationalen Streik entgegen“ wird zu einer Konferenz aufgerufen, die vom2. Oktober bis 4. Oktober stattfindet. Vor allem prekär Beschäftigte und prekär Lebende sowie Aktivist_innen sind aufgerufen, ins polnische Poznań zu kommen, um gemeinsam über Perspektiven nachzudenken und Handlungsoptionen zu entwickeln. Angesichts der „neuen Realitäten in Europa“ müsse sich auch gegen die Austerität und ihre Auswüchse gerichtet werden, heißt es im Aufruf. Die Zusammenkunft will einen Prozess zur Bewältigung von Hierarchien unter, zwischen und innerhalb Europas     und eine Sortierung in Festangestellte, Zeitarbeiter_innen und Erwerbslose, Migrant_innen und Einheimische sowie zwischen formellem und informellem Sektor weiter anstoßen. Grundlegende Streitfragen stehen auf der Agenda für das Wochenende. So wird besprochen, weshalb  sich die transnationalen Fabrikations- und Versorgungsketten der Produktion verändert haben, wie Grenzen überwunden werden können oder warum traditionelle Formen der Arbeitskämpfe und Streiks überdacht werden sollten. Zugleich sind die  Rolle von Arbeitsmigrant_innen und Mobilität, die sozialen Bedingungen der Ausbeutung sowie neue Formen kollektiver, lokaler Organisierung Themen der geplanten Arbeitsgruppen.  Ziel der in englischer Sprache stattfindenen Konferenz ist es, Taktiken und Forderungen zu entwickeln, die sich als Werkzeuge für transnationale Organisierung und Kommunikation eignen.

ak 607 vom 18.8.2015

https://www.akweb.de/

Peter Nowak

Pegida regiert in Europa schon mit

Was in Deutschland bisher vor allem auf rechtspopulistischen Webseiten oder Pegida-Aufmärschen zur Abschreckung von Geflüchteten diskutiert wird, ist in manchen europäischen Ländern Regierungspolitik

Das Niemandsland kommt nach Europa zurück. Dabei handelt es sich um ein Stück zwischen den Grenzen. Das kann einen anarchistischen Zug bekommen, wie am Norbert-Kubat-Dreieck[1], wo Autonome 1988 einen zeitweilig weder von Ost- noch von Westberlin kontrollierten Zipfel für eine Besetzung nutzten.

Ein Niemandsland kann aber auch zu einem Ort der Ausgrenzung und Abschiebung werden. 1938 schob Nazideutschland Tausende aus Osteuropa nach Deutschland migrierte Jüdinnen und Juden Richtung Polen ab. Weil die polnischen Grenzen versperrt wurden, mussten sie unter erbärmlichen Umständen im Niemandsland zwischen den beiden Ländern ausharren. Unter den so Exterritorialisierten waren auch die Eltern jenes Herschel Grünspan, der als Protest gegen deren unmenschliche Behandlung ein Attentat auf den deutschen Gesandten in Paris, Ernst vom Rath, verübte, was die NS-Führung als Vorwand für die Reichspogromnacht am 9. November 1938 nutzte.

Wer gedacht hat, solche exterritorialen Zonen gehörten zumindest in Europa endgültig der Vergangenheit an, wurde in den letzten Wochen eines Schlechteren belehrt. So mussten in der vergangenen Woche tagelang mehr als tausend Geflüchtete im Niemandsland zwischen Griechenland und Mazedonien ausharren. Die Polizei setzte Blendgranaten und Tränengas ein. Schließlich konnte sie nicht verhindern, dass die Menschen die Absperrungen durchbrachen und die Grenze nach Mazedonien überquerten. Nachdem der Notstand ausgerufen worden ist und die Grenzen auch mit der Hilfe von Soldaten geschlossen werden sollten, hat man die Blockade am Sonntag wieder aufgehoben. Hunderte konnten die Grenze wieder passieren.

Ähnliche Szenen wie in Südosteuropa spielten sich in den letzten Wochen auch rund um den Eurotunnel in Calais, der nun auch offiziell zur Festung[2] ausgebaut wird.

Vor zwei Jahrzehnten wurde in antirassistischen Diskursen der Begriff Festung Europa verwendet. Es war eine Kritik an den Abschottungsmaßnahmen. Doch selbst viele, die den Begriff verwendeten, sahen ihn als Zuspitzung, um eine kritikwürdige Tendenz darzustellen. Heute kann man konstatieren: Es war keine Übertreibung. Überall an den Grenzen ist der Ausbau dieser kerneuropäischen Festung im Gange. Denn der Begriff muss natürlich konkretisiert werden. Die Festung Europa hat verschiedene Gräben und Ringe, die den besonders geschützten Kernbereich von Geflüchteten freihalten sollen.

Festungsideologie triumphiert in vielen europäischen Ländern

In den letzten Wochen wird in britischen Mainstream-Medien und von Regierungsmitgliedern über die Flüchtlingsabwehr so gesprochen, als ginge es darum, in einen Krieg zu ziehen. Tatsächlich wird das Wort Invasion verwandt und von „Migrantenswchwärmen“ gesprochen (Mauern und Abschreckung lösen das Flüchtlingsproblem nicht[3]).

Damit unterscheidet sich die britische konservative Regierung höchstens in Nuancen von den ungarischen Rechtspopulisten von der Fidesz, die nicht nur einen Zaun gegen Migranten errichtet hat, sondern auch die entsprechende Festungsideologie verbreitet (Ungarns Flüchtlingspolitik: Hetze, verschärftes Strafrecht und ein Zaun[4], „Iran wird als Gegengewicht zu Saudi-Arabien benötigt“[5]), die natürlich hierzulande bei Pegida-Aufmärschen gerne zitiert wird. Es ist schließlich genau ihre Ideologie, wenn der ungarische Ministerpräsident erklärt, dass Europa den Europäern gehören soll.

Obwohl niemand genau definieren kann, was ein Europäer ist, sind sich viele einig, dass Moslems nicht dazu gehören. Daher ist es nur konsequent, wenn die slowakische Regierung kundtat[6], keine Moslems als Geflüchtete aufnehmen zu wollen, weil die sich ja in einen Land ohne Moscheen nicht wohlfühlen würden.

Auch andere osteuropäische Länder haben in den letzten Monaten klar gemacht, dass sie, wenn überhaupt lieber christlichen Flüchtlingen Asyl gewähren werden. Dazu gehört die Ankündigung der polnischen Ministerpräsidentin Ewa Kopacz m Juni 2015, langfristig 150 christliche Familien aus Syrien aufnehmen, aber sonst keine anderen Verpflichtungen übernehmen zu wollen. Tschechiens Präsident Miloš Zeman wollte lieber Flüchtlinge aus der Ukraine als solche aus Afrika und dem Nahen Osten aufnehmen. In Lettland und Estland wird darüber gestritten, ob das Land überhaupt Flüchtlinge aufnehmen soll. Selbst der Vorschlag, maximal 200 Menschen Asyl zu gewähren, führte zu einer rassistischen Hetze in den Medien, bei der offen die „Gefahr für die weiße Rasse“ halluziniert wird.

Skandinavischer Wohlstandsrassismus

Auch in mehreren Ländern Skandinaviens wird ganz klar auf Abschreckung von Geflüchteten gesetzt. So hat sich die dänische Regierung das Ziel gesetzt, deren Zahl zu verringern. Weil die zahlreichen gesetzlichen Verschärfungen der letzten Jahre die Menschen nicht abgehalten haben, soll ihnen in Zeitungsanzeigen gezielt mitgeteilt[7] werden, dass sie nicht willkommen sind

Diese im Wesentlichen von der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, die die aktuelle Regierung parlamentarisch unterstützt, diktierte Politik stößt in Dänemark auf Widerstand. Unter dem Motto „Flüchtlinge willkommen“ schalten zivilgesellschaftliche Gruppen Gegenanzeigen[8].

Auch in Tschechien haben sich vor allem Intellektuelle in einer Petition[9] gegen die Politik der Abschreckung und Fremdenfeindlichkeit gewandt. Dort wurde von einem humanistisch-menschenrechtlichen Standpunkt vor Rassismus und Ausgrenzung gewarnt. An die Politiker wurde appelliert, sich ihrer Verantwortung für alle Menschen bewusst zu werden.

Beim gegenwärtigen tschechischen Präsidenten Zeman kam dieser Apell dennoch nicht gut an. Ein Sprecher erklärte[10], damit werde die Kluft zwischen den Eliten und der tschechischen Gesellschaft vergrößert . Hier wird ein weiterer klassischer oft mit Antisemitismus und Intellektuellenfeindlichkeit verknüpfter Topos der Rechtspopulisten bedient, die sich als Vollstrecker einer Mehrheit und als Sprachrohr eines imaginierten Volkes wähnen, während die liberalen Eliten isoliert seien. Solche Töne hört man auch ständig bei den Pegida-Demonstrationen.

Festungsideologie als europäischer Standortnationalismus

Die politische Bandbreite der auf Ausgrenzung und Abschottung zielenden Kräfte reicht von klassischen Rechtspopulisten wie in Ungarn oder Dänemark bis zu nationalistischen Sozialdemokraten wie in Tschechien oder der Slowakei.

Während in Osteuropa vor allem ein Rassismus der in der kapitalistischen EU zu kurz Gekommenen praktiziert wird, ist es in Skandinavien vor allem ein Wohlstandschauvinismus, der verhindern will, dass auch Nichteuropäer von den dort starken sozialen Rechten profitieren können.

Diese Widersprüche finden sich in vielen europäischen Ländern. In Italien hetzte die Lega Nord als wohlstandschauvinistische Partei des Nordens jahrelang gegen die Zuwanderung aus den italienischen Süden. In der letzten Zeit versucht sie sich als eine Art italienischen Front National zu profilieren und hat sich auf die Hetze gegen Migranten konzentriert.

Die Widersprüche zwischen abgehängten Prekären und Wohlstandsrassisten findet man auch bei Pegida. Die Festungsidelogie ist die Klammer, die die sozial widersprüchlichen Gruppen zusammenhält. Selbst der Ärmste verteidigt dann noch seinen Platz in der Festung, auch wenn es nur eine Kasematte ist. So fungiert die Festungsideologie als europäischer Standortnationalismus, also als Kitt, der politisch und sozial völlig differente Gruppen gegen einen imaginierten Gegner zusammenschweißt.

Eine Bewegung, die sich gegen die Ausgrenzung von Geflüchteten wendet, darf daher nicht bei moralischen Apellen und Erklärungen stehenbleiben. Die Ideologie der Festung Europa als moderne Form des Standortnationalismus muss zum Gegenstand der Kritik werden. Die Forderung nach Rechten für Alle und überall wäre das beste Gegenmittel, denn es ist das direkte Gegenprogramm zu jeder Festungsordnung, wo Rechte individuellen Gruppen zugeteilt und aberkannt werden.

http://www.heise.de/tp/artikel/45/45781/1.html

Peter Nowak

Revanchistische Straßenschilder

»Grünberger Straße, ehem. Rominter Straße, geänd. 1936«. Dieser Satz steht auf einer pinkfarbenen Folie, die seit einer Woche an den Schildmasten in der gleichnamigen Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain kleben. An anderen Straßenecken werden wir über die Anzahl der McDonald’s-Filialen in Zielona Góra, wie Grünberg seit über 60 Jahren heißt, informiert.

»93 Straßenschilder« lautet der Titel einer Intervention im öffentlichen Raum. Es geht um neun Straßen in Friedrichshain, die noch immer die deutschen Namen polnischer Städte tragen. In Schulatlanten wurden die Städtenamen sehr zum Verdruss der Vertriebenenverbände vor Jahrzehnten aktualisiert. Anfang der neunziger Jahre wurde hingegen mit der Kadiner Straße der deutsche Name von Kadyny neu ins Berliner Straßenbild eingefügt. Schon vor zwei Jahrzehnten wurde auch in Friedrichshain die Debatte um die Umbenennung vor allen in der Besetzerbewegung geführt. Damals hat sich der Stadtteilladen in der Grünberger Straße den Namen Zielona Góra gegeben. Ob bald der Name des Ladens und der Straße übereinstimmen werden, ist aber noch unklar. Am 3. September soll im Galerieraum Alte Feuerwache über eine Umbenennung der Grünberger Straße diskutiert werden. Bereits vor der offiziellen Eröffnung der Aktion haben Rechte einige Folien abgerissen und NPD-Aufkleber hinterlassen. Dabei sind manche der Texte zur Intervention selber nicht gerade kritisch gegenüber dem Revanchismus. So wird behauptet, die deutschen Namen hielten den Gedanken an ein multikulturelles Europa wach. Und während auf einem Straßenschild erwähnt wird, wie viele Einwohner von Grünberg sich nach der Niederlage Nazi-Deutschlands das Leben nahmen, sucht man die Zahl der deportierten Juden und den Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder in dem Ort vergeblich.

http://jungle-world.com/artikel/2015/34/52534.html

Peter Nowak

Tschüss für AHOJ – MieterInnen nutzen Nachbarschaftsfest für Protest gegen Gentrifizierung in Rixdorf

„Kauf Dich glücklich“, stand auf dem Transparent, dass am Donnerstagabend noch an einen Zaum gegenüber der Böhmischen Straße 53 in Berlin-Neukölln hing.
Es  erinnerte an ein turbulentes Nachbarschaftsfest auf dem Grundstück. Eingeladen hatten die Investoren und Projektentwickler des Wohnprojekts AHOJ am 20. August um 17 Uhr in der Böhmischen Straße 53.
„Bevor  wir mit dem eigentlichen Bau beginnen, möchten wir Sie herzlich zu einem Nachbarschaftsfest einladen“, hieß es auf Plakaten, die in den letzten Wochen rund um die Böhmische Straße in Berlin-Neukölln verteilt wurden. Schon eine halbe Stunde vorher hatten sich mehr als 100 Menschen versammelt, die erkennbar nicht nur zum Feiern bekommen waren. Manche hatten Transparente gegen Gentrifizierung dabei. Andere trugen Schilder, auf denen zu lesen stand: Neuköllner MieterInnen sagen Tschüss und AHOJ“. „Auf dem Grundstück sind 66 Eigentumswohnungen für wohlhabende  geplant. Dadurch wird der Druck auf Menschen mit geringen Einkommen in  Neukölln noch größer. Das wollen wir verhindern“, begründete eine Mitorganisatorin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen wollte, als Grund für den Protest, der zunächst vor dem Grundstück stattfinden musste.
Nach Rücksprache mit den EinladerInnen machte die Polizei schließlich den Weg frei und die  Protestierenden verteilten sich auf dem geräumigen Gelände. Es gab noch vereinzelt Sprechchöre, doch größere Aufmerksamkeit fand das kalte Büffet.  Vereinzelt gab es auch zu Diskussionen unter den Protestierenden. Während ein junger Mann bekräftigte, dass Wohnraum keine Ware sein darf und er die Mietzahlungen generell in Frage stellte, betone ein älterer Mann, dass er für eine Deckelung der Miete aber nicht für deren Abschaffung sei.  Eine Trommelgruppe und einige Clowns sorgten in den nächsten  90 Minuten für Erheiterung.  Danach verließen die KritikerInnen  des Bauprojekts das Grundstück. Eine geplante Spontandemonstration durch Neukölln wurde durch ein großes Polizeiaufgebot verhindert. Einige Menschen, die Schilder mit Protestslogans bei sich hatten, wurden in der Umgebung für kurze Zeit zwecks Personalienfeststellung eingekesselt.  Ein Mitorganisator bewertete im Gespräch mit dem MieterEcho die Aktion als Erfolg. Es sei in der Sommerpause gelungen, NachbarInnen und Initiativen wie das „Bündnis gegen Zwangsräumungen“ zu mobilisieren. Damit werde deutlich, dass viele Menschen sensibel für drohende Verdrängung in Stadtteilen geworden seien.

Rixdorfer Kiezversammlung geplant
Das Protestbündnis bereitet für den 19. September eine Kiezversammlung vor, wo über den weiteren Widerstand gegen die drohende Vertreibung von einkommensschwachen MieterInnen beraten werden soll. „Wir als Bewohner und Bewohnerinnen müssen ausziehen, unsere Nachbarschaft wird zerstört, wohnen sollen hier nur noch diejenigen, die angeblich das Straßenbild verschönern“, moniert das Mieterforum Rixdorf. Auch das Neuköllner Quartiersmanagement bestätigt, dass der geplante  Neubau in der Böhmischen Straße vielen BewohnerInnen  in der Nachbarschaft Anlass zur Sorge gibt. Es führt seit 2011 eigene Auswertungen von jährlich 20 – 30 aktuellen Wohnungsangeboten im Quartier durch. Diese ergaben einen Anstieg der durchschnittlichen Nettokaltmieten bei Neuvermietungen von 6,53 Euro pro Quadratmeter im Jahr 2011 auf 9,43 im Jahr 2015. Damit stiegen in den letzten vier Jahren die Mieten im Kiez  um  44%. Wenn die Pläne der Investoren in der Böhmischen Straße 53 aufgehen, könnte dieser Trend zunehmen. „Das Ahoj ist der perfekte Ort für Menschen, die nach einem privaten Rückzugsort suchen und dennoch den Pulsschlag der Stadt spüren möchten“, heißt es auf der Webseite von Ahoj.  Am 20. August haben die potentziellen Wohneigentümer schon mal den Sound des Mietenwiderstands gespürt.

MieterEcho online 21.08.2015

http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/ahoj.html

Peter Nowak

Hungerstreik gegen Hartz-IV Sanktionen

Ralf Boes demonstriert gegen das System der Sanktionen

Ralf Boes seit dem 1. Juli keine Nahrung mehr zu sich, um gegen die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger zu protestieren. Kein Hungerstreik, sondern Folge der Sanktionspolitik. Doch es hagelt auch Kritik an dem Protest.

Mitten im Hauptstadttrubel am Brandenburger Tor findet man sich plötzlich in einer Wohnzimmeratmosphäre. Auf einen rustikalen Tisch steht eine Karaffe mit Wasser. Oft nehmen auf zwei Stühlen Menschen Platz. Sie stellen den Mann mit dem roten Schal auf den dritten Stuhl Fragen oder sprechen ihm Mut zu.

Schließlich nimmt Ralf Boes seit dem 1. Juli keine Nahrung mehr zu sich, um gegen die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger zu protestieren. »Ich mache keinen Hungerstreik. Das Jobcenter hungert mich aus«, sagt Boes zu »nd«. Seit drei Jahren schon bekomme er kein Geld mehr, weil er sich weigert, an »sinnlosen« Maßnahmen zur Berufseingliederung teilzunehmen.

Bisher konnte sich Boes mit Hilfe von Unterstützern versorgen. Doch seit mehr als 50 Tagen verzichtet er auf diese Hilfe, um hungernd ein Signal zu senden. Boes verweist auf Erfolge in seinen Kampf. So habe ein von ihm initiiertes Gutachten das Sozialgericht in Gotha bewogen, Sanktionen für verfassungswidrig zu erklären. Seit Jahren setzt er sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Unter dem schönen Motto »Wählt gut – wählt Boes« kandidierte er bei Wahlen.

Dass er von »Bild« schon als »Deutschlands frechster Hartz-IV-Schnorrer« tituliert wurde, weil er 2012 in einer Talkshow vehement gegen Sanktionen für Erwerbslose stritt, verbucht der 57-Jährige als Auszeichnung. Doch auch von links gibt es Kritik an dieser Form des Körpereinsatzes für die gute Sache. Inge Hannemann etwa, die als Jobcenterbeschäftigte gemobbt wurde, weil sie Sanktionen ablehnt, hält den Hungerstreik für falsch. Sie unterstütze keine für Menschenleben gefährliche Aktion – und sei es das eigene. Die Soziologin Mag Wompel von der Initiative »Labournet« schrieb schon vor zehn Jahren, nicht individuelle Hungerstreiks, sondern Selbstorganisation und politischer Widerstand seien gegen Hartz IV angezeigt. Doch Boes will nicht aufgeben. Es gehe um Menschenwürde, betont er. Und dass er bereit sei, dafür zu sterben. Man hofft, dass es so weit nicht kommt.
www.neues-deutschland.de/artikel/981913.hungerstreik-gegen-hartz-iv-sanktionen.html
Peter Nowak

Zu oft allein in der Prärie

Über 50 Prozent der Mitglieder in nur sieben Staaten: Der Niedergang der einst mächtigen US-Gewerkschaften

Gewerkschaften in den USA haben es nicht leicht. Gezielte Angriffe, Das Verschwinden der politischen Ansprechpartner oder gezielter Wirtschaftslobbyismus schränken ihre Möglichkeiten ein.

Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich benannte schon vor 15 Jahren die politisch gewollte Schwächung der Gewerkschaften in den USA als eine wichtige Bedingung für die Durchsetzung des Modells Working Poor – Menschen die trotz mehrere Jobs in Armut leben. In Deutschland fanden ihre Reportagen Beachtung, weil Politiker und Wirtschaftsvertreter die Arbeitsverhältnisse in den USA als Modell bezeichneten. Ehrenreichs Analysen bestätigte jetzt der Geschichtsprofessor Joseph McCartin von der Georgetown-Universität in Washington DC in der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studie »Sanierung des bröckelnden Tarifsystems? Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in den Vereinigten Staaten von Amerika«.

Nur noch 11,3 Prozent der US-Bevölkerung sind gewerkschaftlich organisiert, in der Privatwirtschaft sind es nur 6,7 Prozent. Alarmierender ist, dass sich über die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder auf sieben der 50 US-Bundesstaaten verteilen. Das bedeutet, dass es nahezu gewerkschaftsfreie Regionen gibt. Die Studie benennt die Verantwortung der Politik: Zunehmende Polarisierung zwischen den beiden dominierenden Parteien, Republikaner und Demokraten, sowie die Wahlkampfunterstützung durch Industrie und konservative Organisationen hätten es den Gewerkschaften »in den letzten Jahren weiter erschwert, ihre politische Agenda durchzusetzen« oder in den Demokraten Verbündete zu finden, heißt es.

Ein Kapitel widmet sich systematischen Einschränkungen der Gewerkschaftsarbeit. Dabei werden in einigen Bundesstaaten vor allem Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, etwa Erzieher und Lehrer, zum Ziel von politischen Angriffen. Auch die Einführung neuer Technologien wirkt sich negativ aus. So stehen die drei Großunternehmen Amazon, Google und Wal-Mart, die nicht nur der US-Ökonomie, sondern auch der Weltwirtschaft ein neues Gesicht gegeben haben, für eine extrem gewerkschaftsfeindliche politische Agenda. »Sollten diese und ähnliche Unternehmen die Bedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit in der Privatwirtschaft vorgeben, ist in den kommenden Jahren mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen«, heißt es wenig optimistisch in der Studie.

Gerade weil Republikaner in den USA immer weiter nach rechts rücken und die Führungsebenen der Demokraten sich dem anpassen, fehlen den Gewerkschaften zunehmend die politischen Ansprechpartner. Sie sind gezwungen, sich auf gesellschaftliche Bündnispartner zuzubewegen. Dazu gehören Stadtinitiativen, die Selbstorganisation von Migranten oder die Workers Center, in denen sich Beschäftigte außerhalb ihrer Arbeitsplätze treffen und organisieren. Auch eine verstärkte transnationale Kooperation der Gewerkschaften zählt der Historiker zu den Wegen, mit der sie langfristig auch in den USA wieder an Einfluss gewinnen könnten. Schnelle Lösungen gibt es nicht, betont McCartin. Auch hierzulande werden Gewerkschaften nur eine größere Durchsetzungskraft erlagen, wenn sie sich nicht auf politische Parteien, sondern auf soziale Bewegungen stützen und über Landesgrenzen hinweg kooperieren. In diesem Punkt ist die Analyse der USA mit hiesigen Verhältnissen vergleichbar.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/981848.zu-oft-allein-in-der-praerie.html

Peter Nowak

Warum gibt es prozentual mehr Rassismus in Ostdeutschland?

Rechte statt Taschengeld

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann bezeichnet das „Taschengeld“ für Migranten aus Balkanstaaten als Zumutung

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat mal wieder den Ton vorgegeben, der am bayerischen Stammtisch ebenso dominiert wie auf diversen digitalen Internetblogs. Als Zumutung für die deutschen Steuerzahler bezeichnete [1] er das „Taschengeld“ für Geflüchtete aus den Balkanstaaten. Dabei bewegt er sich nicht weit vom SPD-Vorsitzenden Gabriel, der bekanntlich vor einigen Wochen deutsche Steuergelder nicht in Griechenland sehen wollte, zumindest nicht solange dort eine Regierung amtiert, die von Kommunisten beeinflusst ist. Ob Gabriel Tsipras Wendung zum Sozialdemokraten registriert hat und jetzt mehr Geld locker machen würde, ist unklar.

Griechenland soll das Diktat von Deutsch-Europa auch in der Flüchtlingsfrage anerkennen

Dafür hat Herrmann einen neuen Hebel gefunden, mit dem „Deutsch-Europa“ gegen die Länder vorgehen kann, die sich nicht ganz dessen Hegemonievorstellungen unterwirft:

Der Skandal ist doch, dass sowohl Italien als auch Griechenland krass gegen das Schengenabkommen und gegen die Dublin-Verordnung verstoßen, nach der ein Flüchtling in dem Staat ein Asylverfahren erhält, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat. Dieses rücksichtslose Verhalten geht vor allem zulasten der deutschen Steuerzahler. Das können wir nicht akzeptieren. Die EU muss in diesen Ländern jetzt handeln, sie muss auch dafür zahlen. Italien und Griechenland tragen die Hauptlast der Flüchtlinge und dürfen dabei nicht allein gelassen werden. Es geht aber gar nicht, dass diese Länder Flüchtlinge ohne Registrierung einfach an den Rest Europas weiterleiten. Das ist für die Sicherheit Europas bedenklich und belastet unsere Zusammenarbeit.

Herrmann ist mit der Forderung, dass die europäische Peripherie die Führungsrolle von „Deutsch-Europa“ auch in der Flüchtlingsfrage anerkennen soll, nicht allein. Es gab bereits bei den Vereinbarungen über neue Kredite die Forderung, diese Anerkennung zur Bedingung für weitere Verhandlungen zu machen. „Deutsch-Europa“ will das vom ihm wesentlich konstruierte Schengenabkommen und die Dublin-Verordnung aufrechterhalten, weil sie garantieren, dass nur wenige der Geflüchteten nach Deutschland und die unmittelbaren Verbündeten kommen.

Man muss nur hören, mit welchen rassistischen Argumenten führende Politiker baltischer Staaten sich dagegen wehren, auch nur ein kleines Flüchtlingskontingent aufzunehmen. Einen treuen Bundesgenossen findet die deutsche Regierung auch in der finnischen Regierung, in der aktuell mit den Wahren Finnen eine rechtspopulistische Partei die zentrale Rolle spielt. Sie alle wollen durchsetzen, dass möglichst viele Geflüchtete in den Ländern der europäischen Peripherie blieben, wo die Bedingungen so abschreckend sind, dass die Menschen möglichst gar nicht erst kommen.

Die deutsche Flüchtlingspolitik dient seit jeher der Abschreckung. Schon vor drei Jahrzehnten erklärten führende Unionspolitiker, dass sich in Afrika und Asien herumsprechen müsse, dass in Europa kein schönes Leben für sie möglich ist. Daher wurde der griechischen Regierung auch von der EU verboten, die Flüchtlingszentren im Land aufzulösen und die Menschen dezentral unterzubringen. Hätten sie die Lager aufgelöst, wie es im Parteiprogramm von Syriza stand und von der aktuellen Ministerin, die als Menschenrechtsanwältin bekannt wurde, beabsichtigt war, hätte Griechenland beträchtliche Gelder an die EU zurücküberweisen müssen.

Es war also nicht die rechte Kleinpartei, mit der Syriza koaliert, sondern die EU, die eine neue an den Interessen der Geflüchteten orientierte Politik verhindert. Doch diese Aspekte spielen auch bei den Kritikern einer noch regressiveren Flüchtlingspolitik kaum eine Rolle.

Lohn statt Taschengeld?

Es ist natürlich völlig richtig, wenn der Geschäftsführer von Pro Asyl [2] dagegen Einspruch erhebt, dass Geflüchtete wieder Sachleistungen, also Gutscheine statt Geld bekommen sollten. Es gab schließlich einen jahrelangen Kampf vieler Antirassismusgruppen [3], bis fast in allen Bundelländern die Geflüchteten statt diskriminierenden Gutscheinen Bargeld erhalten haben. Doch ist nicht allein schon der Begriff Taschengeld genau so diskriminierend?

Schließlich erinnert er an die Behandlung von Kindern, die erst einmal lernen sollen, mit dem Geld umzugehen. Zudem wurde und wird das Taschengeld als Sanktion immer wieder gekürzt, genau so werden Geflüchtete auch behandelt. Warum also arbeiten sich jetzt alle an den populistischen Tönen von Herrmann und Co. ab und drehen nicht die Debatte um.

Ja, das Taschengeld sollte abgeschafft werden, dafür sollten die Geflüchteten als Menschen mit vollen Rechten anerkannt werden, ihnen sollte Lohnarbeit zu Tariflöhnen angeboten werden und sie sollten auch die vollen Arbeits- und Gewerkschaftsrechte [4] genießen können. Dann brauchen sie kein Almosen und sind als Kollegen, vielleicht auch als Erwerbslose Teil der Gesellschaft.

Das würde aber auch ein Umdenken mancher wohlmeinender Unterstützer der Geflüchteten bedeuten, die immer wieder von der großen Not reden, die die Menschen nach Deutschland treibt. Als reiche nicht einfach der Wunsch nach einem besseren Leben ohne Einschränkungen, um hier leben zu können. Der Begriff Not ist schillernd und fördert ein Helfersyndrom. Deshalb sind auf Anzeigen für die Hilfe für Afrika immer Kinder und Mütter vor Strohhütten abgebildet, obwohl die große Mehrheit der Menschen in Afrika in Städten lebt.

Doch Bilder von selbstbewussten Jugendlichen, die sich in Internetcafés über die Lebensbedingungen in anderen Kontinenten informieren, würden wohl kaum Spenden einbringen. Die Viktimisierung der Geflüchteten ist selber diskriminierend. Die Proteste der Geflüchteten in den letzten Jahren haben das immer wieder deutlich gemacht. Hier kamen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, die auch besser über ihre Rechte und die Möglichkeit des Widerstands informiert sind, als es manchen ihrer wohlmeinenden Helfer lieb ist.

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/news/Rechte-statt-Taschengeld-2781716.html

Links:

[1]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article145287246/Eine-Zumutung-fuer-die-deutschen-Steuerzahler.html

[2]

http://www.proasyl.de/

[3]

http://corasol.blogsport.de/antirassistisches-einkaufen/

[4]

http://www.labournet.de/interventionen/asyl/arbeitsmigration/gewerkschaften-und-migrantinnen/fluchtlinge-und-ver-di-am-bsp-lampedusa-in-hamburg/

Hassgesänge bei der NPD

Die NPD-Zentrale in Berlin-Köpenick dient zunehmend als Veranstaltungsort von konspirativ beworbenen braunen Konzerten.

Über Wochen wurde in der rechtsextremen Szene in Berlin für ein Konzert mit Michael Regener alias „Lunikoff“ geworben. Die Karten sollten im Vorverkauf 10,– und an der Abendkasse 12,– Euro kosten.   Doch der Ort für den Auftritt des ehemaligen Sängers der verbotenen Neonazi-Band „Landser“ blieb bis zum Schluss geheim. „Nur intern weiterleiten“,  der  Vermerk  bei der Konzertwerbung scheint gewirkt zu haben.  In einer kurzen Mitteilung auf Facebook gab die NPD  schließlich bekannt, dass das Konzert am Samstagabend  mit rund 200 Teilnehmern  in  ihrer Parteizentrale in Berlin-Köpenick stattgefunden habe. Auf Facebook ist ebenso ein Foto gepostet, dass  Regener mit dem Berliner NPD-Landesvorsitzenden Sebastian Schmidtke zeigt.  Auch um den Kartenverkauf  hatte sich der NPD-Funktionär persönlich gekümmert. Eine  Kontaktnummer auf der Konzertwerbung führte zu Schmidtkes Mobiltelefon. Der scheint sich in letzter Zeit verstärkt um das rechte Kulturgut zu kümmern.  Bereits am 29. Mai hatte ein brauner Liederabend in der NPD-Zentrale stattgefunden, zu der eine Initiative „Zukunft statt Überfremdung“  als Vorbereitung zum bundesweiten  „7. Tag der deutschen Zukunft“ aufgerufen hatte.  Am 1. Juni trat  im Rahmen der von der NPD mit organisierten Demonstration „Nein zum Container hier und überall“ ein rechter Barde in Berlin-Marzahn auf. Die beiden  Termine waren in der vergangenen Woche durch eine Anfrage der Berliner Abgeordneten Clara Herrmann (Grüne) bekannt geworden. „Im Wesentlichen werden Musikveranstaltungen in der  rechtsextremistischen Szene Berlins nicht medial großflächig, sondern zielgruppenorientiert bekannt gegeben“, erklärte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Inneres und Sport in der Antwort.  Gegenüber der Tageszeitung „Neues Deutschland“ konstatierte ein Sprecher des Berliner Verfassungsschutzes  eine  Zunahme rechter Musikveranstaltungen, die „inhaltlich immer mit der Flüchtlingsfrage verbunden sind“.

Die  konspirative Werbung für die Konzerte  hat vor allem rechtliche Gründe.  Wenn zu einem Konzert nicht öffentlich eingeladen wird, gilt es als private Veranstaltung. Die Polizei kann dann nur  bei einer Anzeige  etwa wegen Ruhestörung oder Volksverhetzung  tätig werden.

aus: Blick nach Rechts 17.8.2015

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/hassges-nge-bei-der-npd

Peter Nowak

Obdachlosigkeit abgewendet

SCHÖNEBERG Das Oberverwaltungsgericht zwingtdas Bezirksamt, einer rumänischen Mutter mit zwei Kleinkindern eine Notunterkunft zur Verfügung zu stellen
Der Bezirk Schöneberg-Tempelhof muss einer rumänischen Mutter mit ihren beiden Kleinkindern eine Notunterkunft zur Verfügung stellen. Das beschloss der Erste Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg. Die junge Mutter hat vor Gericht eidesstattlich erklärt, mit ihren beiden Kindern seit Ende Juli 2015 obdachlos gewesen und in einem Park übernachtet zu haben. Da ihre Kinder bereits erkältet seien, sei sie um deren Gesundheit besorgt, benannte die Frau den Grund der Klage. Zuvor hatten sie in der Grunewaldstraße 87 in Schöneberg gelebt. Das Haus war in die Schlagzeilen geraten, als bekannt geworden war, dass der Eigentümer des Hauses, dessen baulicher Zustand extrem schlecht ist, teuer vermietet und die BewohnerInnen schikaniert und bedroht. Vor Gericht gab die Klägerin an, dass der Vermieter die Eingangstür zugenagelt und ihr mit körperlicher Gewalt den Zugang verwehrt habe, sodass ihr ein weiterer Aufenthalt in dem Haus nicht möglich sei. Dennoch hatte die Abteilung Gesundheit, Soziales und   Stadtentwicklung des Bezirks Schöneberg noch Ende Juli die Unterbringung der Frau mit ihren beiden Kindern in einer Notunterkunftabgelehnt. „Derzeit erhalten Sie keine ausreichenden Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes, mithin auch nicht zur Zahlung etwaiger Kosten einer Notunterbringung“, heißt es in dem der taz vorliegenden Ablehnungsbescheid. Im Bezirk wurde der Frau die Übernahme der Rückreisekosten nach Rumänien in Aussicht gestellt. „Sie erhielten mithin die Möglichkeit, ihre Obdachlosigkeit zu beenden“, heißt es abschließend. Das Oberverwaltungsgericht wies diese Begründung, der Frau keine Notunterkunft zur Verfügung zu stellen, zurück, weil sich die Antragstellerin mit ihren Kindern als Unionsbürger rumänischer Staatsangehörigkeit“ rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. „Daher spricht derzeit nichts dafür, dass die Antragsteller als Unionsbürger trotz ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf die Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland verwiesen werden könnten, um die Gefahr der Obdachlosigkeit abzuwenden“, heißt es in der der taz vorliegenden Begründung des Oberverwaltungsgerichts. Bereits Mitte Juli hatte die Romaselbsthilfeorganisation Amaro Foro einen offenen Brief initiiert, in dem zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen von der zuständigen Schöneberger Bezirksstadträtin für Gesundheit, Soziales und Stadtentwicklung, Sibyll Klotz, die Unterbringung der durch die Räumungen in der Grunewaldstraße 87 obdachlos gewordenen Menschen in Wohnungen und Notunterkünften des Bezirks fordern.
aus: Taz vom 17.8.2015
Peter Nowak

Als Mieter keine Lippe riskieren

Hausbesitzer bekommen häufig Recht, wenn sie renitenten Bewohnern kündigen

Recht und Gerechtigkeit sind verschiedene Dinge, wie vor Gericht immer wieder zu erleben ist. Mieter riskieren oft schon für unbotmäßiges Verhalten gegenüber dem Vermieter die Kündigung.

Der Soziologe Achim Szepanski ist ein Mann des Wortes, der den Kapitalismus in Essays und Büchern analysiert hat. So verfasste er 2012 einen Essay »Geld und Zeit – Zur Strukturalität des Finanzkapitalismus«. Doch dass er wegen einer E-Mail in den nächsten Wochen seine Wohnung in einem Altbau am Frankfurter Mainufer, in der er seit fast 20 Jahren lebt, verlassen soll, hätte sich selbst der langjährige Kapitalismuskritiker nicht träumen lassen.

Am 9. Juni 2014 monierte Szepanski in einem längeren Schreiben an einen Mitarbeiter seines Vermieters, man gehe »mit durchkonstruierten Stories und faschistischem Touch« gegen ihn vor. Diesem Satz war eine längere Auseinandersetzung mit dem Vermieter, der Basler Versicherung, vorausgegangen. Der Anwalt der Gegenseite habe ihm Vorwürfe gemacht, ohne sie belegen zu können, beschreibt Szepanski seine Sicht. So sei ihm ohne Beweise vorgeworfen worden, für einen Brand im Jahr 2011 verantwortlich zu sein, bei dem er selber verletzt wurde, was Szepanski besonders empört. »Fakt ist, dass ich die bis heute unaufgeklärte Brandstiftung, die vom Keller ausging, im vierten Stock arbeitend, bemerkt hatte. Ich musste von der Feuerwehr aus der Wohnung geholt werden und war dann wegen Rauchvergiftung im Krankenhaus. Ich hatte damals das Übergreifen des Brandes auf das ganze Haus verhindert«, erklärte Szepanski. Vergeblich machte der Mieter vor Gericht geltend, dass er niemanden als Faschisten bezeichnet habe und lediglich von einem »faschistischen Touch« sprach.

Doch das Frankfurter Amtsgericht gab dem Vermieter Recht, der ihm gekündigt hatte. Mit der Mail habe Szepanski »seine vertraglichen Pflichten nicht unerheblich verletzt«. Auch ein Sprecher des Eigentümers verteidigt die Kündigung, weil sich Szepanski einer »verächtlichen Ausdruckweise« bedient habe. »Es ist unsere Pflicht als Arbeitgeber, unsere Mitarbeiter gegen solche Form von Beleidigungen zu schützen«, erklärte der Sprecher der Basler Versicherung, Thomas Wedrich, gegenüber der »Frankfurter Rundschau«.

Immer wieder ärgern sich Mieter über Gerichtsentscheidungen, die die Wohnungseigentümer bevorzugen. Auch die Berliner Rentnerin Irmgard Warnke hat den Glauben an die Gerechtigkeit verloren. Sie hatte sich im letzten Jahr an die Presse gewandt, nachdem ihre Wohnung in Berlin-Kreuzberg gekündigt worden war. Vorausgegangen waren aufreibende Auseinandersetzungen mit den neuen Eigentümern der Wohnung. Der »Berliner Kurier« berichtete über die Entmietungsstrategien gegenüber »Oma Ingrid«. Doch der Artikel brachte ihr neuen Ärger und eine Klage ein. Weil sie einem Redakteur der Zeitung die Telefonnummer des Vermieters gegeben hatte, damit der nach einer Stellungnahme zu den Vorwürfen fragen könne, verurteilte das Berliner Amtsgericht die 71jährige zu einer Strafe von 500 Euro. »Frau Warnke ist eine gebildete Frau, die sich zu wehren weiß, Unterstützung gesucht und auch gefunden hat. Trotzdem wird sie nicht in ihrer Wohnung bleiben können«, schreibt das Berliner »Mieterecho«, die Zeitung der Berliner Mietergemeinschaft. Vor einigen Wochen ist Frau Warnke ausgezogen, um eine Zwangsräumung zu vermeiden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/981382.als-mieter-keine-lippe-riskieren.html

Peter Nowak

»Jede Alternative sollte ­ausgelöscht ­werden«

Der Ökonom Kamal Salehezadeh war im Iran bei der revolutionären linken Gruppe Volksfedajin aktiv und lebt in Hamburg. Derzeit plant er eine Veranstaltungsreihe zu den Hintergründen der Gefangenenmassaker im Iran 1988.

Wer genau waren die Opfer der Massenhinrichtungen im Iran vor 27 Jahren?

In nur neun Wochen, vom August bis zum Oktober 1988, hat das iranische Regime Massenexekutionen von Oppositionellen durchgeführt. Die Menschen, die getötet wurden, waren inhaftiert und ein Großteil von ihnen hatte die Haftstrafen, zu denen sie verurteilt waren, bereits verbüßt. Die genaue Zahl der Hingerichteten konnte bis heute nicht ermittelt werden. Es ist aber klar, dass mehrere Tausend Menschen dem Terror zum Opfer fielen. Die Hingerichteten repräsentierten die ganze Bandbreite der Opposition gegen das Mullah-Regime. Doch die meisten der Opfer stammten aus der Linken. Reformerische Kräfte waren ebenso betroffen wie linke Guerillakämpfer und kurdische Aktivisten.

Welches Ziel verfolgte das Regime mit dem Terror?

Nach dem Sturz der Schah-Diktatur war die Linke im Iran sehr stark. Im kurdischen Teil des Irans hatte sich die Bevölkerung ebenso in Räten organisiert wie im Nordiran, wo es eine starke Bauernorganisation gab. In allen Bereichen der iranischen Gesellschaft, in Schulen, Universitäten und Fabriken, gab es Versammlungen, auf denen die Menschen selber über ihre Interessen entscheiden wollten. Mit den Massakern sollte jede Alternative zum islamistisch-kapitalistischen Regime ausgelöscht werden.

Gibt es im Iran Gedenkveranstaltungen für die Opfer?

Offiziell wird über das Massaker nicht gesprochen. Doch die Angehörigen organisieren Gedenkveranstaltungen an dem anonymen Massengrab, in dem das Regime die Ermordeten begraben hat. Bei den Veranstaltungen kommt es immer wieder zu Festnahmen. Einige Angehörige sind wegen der Beteiligung an den Gedenkaktionen im Gefängnis, doch davon lässt sich niemand abhalten.

Warum machen Sie jetzt, 27 Jahren danach, in Deutschland eine Rundreise dazu?

Weil ich immer wieder feststellen musste, dass in Deutschland Menschen oder Organisationen, die sich als links verstehen, das iranische Regime verteidigen und dessen staatsterroristischen Charakter ausblenden.

http://jungle-world.com/artikel/2015/33/52491.html

Interview: Peter Nowak