Gewerkschafter kritisieren DGB

FLÜCHTLINGE Die Räumung der Zentrale sei ein „völlig falsches Signal“ gewesen, so der Tenor eines Aufrufs

Die Räumung einer Gruppe von Flüchtlingen aus der Berliner DGB-Zentrale durch die Polizei in der vergangenen Woche sorgt für Unmut unter Gewerkschaftern. „Die tagelange Belagerung des DGB-Hauses durch mehr als 20 Flüchtlinge und ihre Sympathisanten hat viele Beschäftigte im Hause an die Grenze der Belastbarkeit gebracht“, hatte der Sprecher des DGB Berlin-Brandenburg, Dieter Pienkny, die Einschaltung der Polizei begründet. Die Studentin Ines Schwerdtner und der Lehrer Micah Brashear von der Jungen GEW Berlin haben für diese Argumentation indes kein Verständnis: „Die Flüchtlingsgruppe hat sich nur in einem Stockwerk des Gewerkschaftsgebäudes aufgehalten und in der Lounge und in dem Foyer des DGB-Hauses geschlafen“, kritisieren sie das Vorgehen in einer Stellungnahme.

Nach Angaben der JunggewerkschafterInnen wollen sich KritikerInnen des Polizeieinsatzes, die im DGB-Haus arbeiten, nur anonym äußern, weil sie unter Druck ständen. Hingegen drücken viele haupt- und ehrenamtliche Mitglieder verschiedener Einzelgewerkschaften, die im DGB zusammengeschlossen sind, offen ihren Protest gegen die Räumung aus. „Nicht in unserem Namen – Refugees welcome!“, lautet die Überschrift des Aufrufs, der bereits von einigen hundert GewerkschafterInnen unterschrieben wurde. Die Räumung wird darin als „völlig falsches Signal“ bezeichnet.

Solidaritätskonferenz

Die GewerkschafterInnen wol- len die aktuelle Diskussion nutzen, damit sich der DGB und die in ihm zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften auf Seite der Flüchtlinge positionieren. So soll rasch eine Konferenz zur gewerkschaftlichen Solidarität mit den Geflüchteten organisiert werden. Außerdem soll jenen die Gewerkschaftsmitgliedschaft ermöglicht werden. Anna Basten vom „AK Undokumentiertes Arbeiten“, die im Ver.di-Büro Lohnabhängige unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus berät, verweist auf den Hamburger Ver.di-Sekretär Peter Bremme. Er hatte 2013 rund 300 Geflüchteten die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ermöglicht. Eine Abmahnung des Ver.di-Bundesvorstandes gegen ihn wurde nach Protesten zurückgenommen. Für die linke Gruppe Ver.di-Aktiv ist eine solche Initiative auch in Berlin überfällig. „Damit würden die Gewerkschaften deutlich machen, dass sie die Ausgrenzungspolitik nicht mittragen“, sagte ein Mitglied der Ver.di-Basisgruppe bei der BVG.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2014%2F10%2F07%2Fa0141&cHash=6972b0dbc68e19fd48640a53102d04fa

Peter Nowak

Hausbesuch oder Streichung der Miete

Geschmäht und geehrt

Stiftung gibt Preisträger für Planet Awards bekannt

Ethecon verleiht den Schmähpreis Black Planet Award in diesem Jahr an den US-Chemieriesen Dow Chemical; der Blue Planet Award geht an den slowenischen Autor und Friedensaktivisten Tomo Kriznar.

Seit 2006 vergibt die Stiftung Ethik & Ökonomie (ethecon) jedes Jahr zwei Preise, die bei den Geehrten allerdings nicht gleichermaßen für Freude sorgen dürften. Der sogenannte Blue Planet Award geht dabei an Personen, die sich besonders dem Kampf für eine solidarische Gesellschaft widmen. Mit dem Schmähpreis Black Planet Award hingegen werden Institutionen und Konzerne »für zahllose von ihnen zu verantwortende Missstände und Verbrechen im Namen der Profite« angeprangert, wie die Ethecon-Pressesprecherin Linda Spieckermann erklärte.

Der diesjährige Schmähpreisträger ist nach dieser Definition ein besonders geeigneter Kandidat: Der US-Chemieriese Dow Chemical ist für einen der größten Chemieunfälle weltweit verantwortlich. In einem Werk des Konzerns im indischen Bhopal traten am 3. Dezember 1984 mehrere Tonnen hochgiftiger Chemikalien aus. Luft, Boden und Flüsse in der Umgebung wurden verseucht. Auch nach 30 Jahren ist die Zahl der Opfer nicht exakt ermittelt, nach Schätzungen starben bis zu 300 000 Menschen an den Folgen des ausströmenden Gases. Über 800 000 Menschen überlebten nach Angaben der indischen Regierung mit schweren Gesundheitsschäden.

Dow Chemical weigert sich bis heute, die Giftbestände auf dem Areal auf eigene Kosten zu beseitigen. Das Werk war gerade wegen der niedrigen Umweltstandards nach Indien verlegt worden. Auch viele der Opfer und ihre Angehörigen wurden bis heute nicht entschädigt. Ethecon verleiht deshalb den Black Planet Award an den Dow-Chemical-Vorstandsvorsitzenden Andrew Liveris, Vorstandsmitglied James Ringler sowie mehrere Großaktionäre.

Weniger bekannt dürfte dagegen der Anwärter für die Ethecon-Ehrung sein: Sie geht in diesem Jahr an den slowenischen Friedensaktivisten und Schriftsteller Tomo Kriznar. Er ist 1956 in Jesenice geboren, reiste bereits in den 1980er Jahren in den Sudan, hielt sich länger in den Nuba-Bergen auf und besuchte die dort lebenden ethnischen Gruppen. Nach seiner zweiten Reise veröffentlichte er Bücher und Filme, in denen er auch die Menschenrechtsverletzungen an der Nuba-Bevölkerung anprangerte.

Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde Kriznar, als er 2006 als Sondergesandter des slowenischen Präsidenten in die sudanesische Darfur-Region reiste und dort verhaftet wurde. Nach einer internationalen Solidaritätskampagne kam Kriznar nach wenigen Wochen frei, musste aber sein Film- und Fotomaterial, auf dem zahlreiche Menschenrechtsverletzungen der sudanesischen Regierung dokumentiert waren, zurücklassen. »Wir wollen mit der Ehrung dem in Deutschland noch weitgehend unbekannten Menschenrechtler ein Forum geben«, begründet Spieckermann die Preisentscheidung. Tatsächlich sind seine Filme bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden.

Das kann sich bis zur Preisverleihung noch ändern. Sie wird ausnahmsweise erst im Frühjahr des kommenden Jahres in Berlin stattfinden. Dann will Kriznar den Preis persönlich in Empfang nehmen. In den vergangenen Jahren wurden die Ethecon-Preise, die es seit 2006 gibt, jährlich Mitte November verliehen. Weil Kriznar zu dieser Zeit noch an einem anderen Projekt arbeitet, wurde die Verleihung verschoben.

Peter Nowak

Kollegen im Kampf

Kein Objekt für Hilfsmaßnahmen: Flüchtlinge und Gewerkschaften wollen enger kooperieren

Ob die Gewerkschaften den Berliner Flüchtlingsprotest geschlossen unterstützen werden, wollen beide Fraktionen miteinander beraten.

Eine für DGB-Gewerkschaften ungewöhnliche Zusammensetzung hatte ein Treffen, das am Donnerstagabend in der Berliner Landeszentrale der Dienstagsleistungsgewerkschaft ver.di stattfand. Die Hälfte der rund 20 Anwesenden waren Geflüchtete, viele von ihnen hatten sich in den letzten Monaten an den Flüchtlingsprotesten am Oranienplatz beteiligt oder waren beim Solidaritätsmarsch nach Brüssel und verschiedenen anderen Aktionen für die Rechte der Flüchtlinge engagiert. »Doch wo waren die Gewerkschaften«, fragt Turgay Ulu. Der politische Flüchtling aus der Türkei stößt mit seiner Frage bei ver.di-Aktiv, den Initiatoren des Treffens, auf offene Ohren. Dabei handelt es sich um eine basisgewerkschaftliche Gruppe bei den Berliner Verkehrsbetrieben.

»Die Geflüchteten-Bewegung gehört zu der aktivsten und in der letzten Zeit präsentesten sozialen Bewegung in diesem Land. Es ist an der Zeit, dass sich die Gewerkschaften mit ihr solidarisieren«, sagte ein Mitglied von ver.di-Aktiv. Wichtig sei dabei, die Flüchtlinge als Teil der Arbeiterbewegung und nicht als hilfsbedürftige Opfer zu betrachten. Dieser Punkt ist auch Bashier aus Nigeria sehr wichtig. »Wir sind nicht hungrig, sondern wütend und kämpfen um unsere Rechte«, betont er. Ihm gehe es darum, Bündnispartner zu finden, die die Geflüchteten nicht als Objekt von Hilfsmaßnahmen, sondern als Kollegen im gemeinsamen Kampf betrachten.

Wie groß das Potenzial dazu bei den DGB-Gewerkschaften ist, soll erkundet werden. Dazu soll in der nächsten Zeit eine Veranstaltung in einem gewerkschaftlichen Raum vorbereitet werden, bei der Geflüchtete und Gewerkschafter ins Gespräch kommen sollen. Geworben werden soll dafür vor allem an der Gewerkschaftsbasis. Dazu sollen auch gewerkschaftliche Initiativen eingeladen werden, die bereits länger mit Flüchtlingen kooperieren. So sind im letzten Jahr in Hamburg zahlreiche afrikanische Flüchtlinge, die sich in der Gruppe Lampedusa in Hamburg zusammen geschlossen haben, bei ver.di eingetreten. Nachdem ein Gutachten des ver.di-Vorstands diese Neuaufnahmen als mit der eigenen Satzung unvereinbar erklärt hatte, war der Protest groß.

Anna Basten vom AK undokumentiertes Arbeiten, die in Räumen des DGB Arbeitnehmer ohne Papiere berät, berichtete auf dem Treffen, dass innerhalb weniger Tage mehrere hundert Gewerkschafter einen Aufruf unterzeichnet haben, der sich für einen Verbleib der Geflüchteten bei ver.di aussprach. Tatsächlich wurde deren Mitgliedschaft nicht storniert.

Ob auch in Berlin ein Eintritt bei ver.di sinnvoll ist, soll auf der geplanten Veranstaltung diskutiert werden. Doch mehrere Flüchtlinge hatten noch einige praktische Vorschläge, wie die Gewerkschaften sie unterstützen können. So brauchen sie kostenlose Tickets für den Berliner Nahverkehr, um sich in der Stadt bewegen zu können. Zudem könnten T-Shirts und Kappen mit dem ver.di-Emblem und der Aufschrift »Refugess willkommen« auch in Gewerkschaftskreisen die Diskussionen anregen.

»Kommt mit Euren Gewerkschaftsfahnen zu unseren Kundgebungen«, mahnte ein Flüchtling. Schließlich brauche man als Basisgewerkschafter dazu nicht zu warten, bis es einen Gewerkschaftsbeschluss gibt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/944932.kollegen-im-kampf.html

Peter Nowak

»Zahltag« vor Jobcenter untersagt

Erwerbsloseninitiativen wollen trotzdem in Wuppertal protestieren

Erstmals hat die Polizei eine Protestaktion von Erwerbslosen vor einem Jobcenter untersagt. Doch diese wehren sich dagegen.

»Wir wollen soziale Rechte in den Jobcentern erkämpfen und Sonderrechtszonen für Erwerbslose verhindern«, heißt es im Aufruf zu einer Protestaktion am 1. September vor dem Jobcenter in Wuppertal-Oberbarmen. Am »Zahltag«, dem ersten Werktag im Monat, wird seit der Umsetzung der Agenda 2010 traditionell demonstriert. »Viele kommen zur Behörde, weil ihr Arbeitslosengeld II gar nicht oder nicht in der erwarteten Höhe auf das Konto überwiesen wurde. Sie fordern eine sofortige Auszahlung, um ihren Lebensunterhalt bestreiten und ihre Miete zahlen zu können«, erklärt Harald Thomé von der Erwerbsloseninitiative Tacheles. Diese hat in den vergangenen Jahren häufig zu »Zahltagen« aufgerufen. In Wuppertal will man darauf aufmerksam machen, dass hier Unterkunftskosten für Erwerbslose zu niedrig bemessen werden, was Sozialgerichte häufig korrigieren.

Nun wurde die Veranstaltung unmittelbar vor dem Jobcenter untersagt. Für Thomé ist dies eine Konsequenz aus der zunehmenden Privatisierung hoheitlicher Aufgaben. Das Wuppertaler Jobcenter befinde sich auf einem Privatgelände, der Eigentümer wünsche keine Proteste vor der Tür. Die Erwerbslosen müssten ihre Aktion ca. 50 Meter entfernt auf öffentliches Straßenland verlegen. Die Erwerbslosenaktivisten sehen darin eine Beeinträchtigung ihres Protestes, denn es werde schwieriger, die Betroffenen anzusprechen.

»Wir wollen uns das Recht, vor dem Jobcenter zu protestieren, nicht nehmen lassen«, betont Thomé. Man wolle per Eilantrag das Verbot kippen. Sollte das keinen Erfolg haben, werde der Gang durch alle Instanzen angetreten. Thomé verweist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2005, wonach auf dem privaten Gelände eines Flughafens Proteste gegen die Abschiebung von Flüchtlingen möglich sein müssten, weil dort hoheitliche Tätigkeiten vollzogen werden. Auch vor einem Jobcenter müsse deshalb Protest möglich sein, meinen die Erwerbslosengruppen, die sich am kommenden Montag beteiligen wollen. Sollten sie bis dahin keinen juristischen Erfolg haben, würden sie sich trotzdem vor dem Jobcenter versammeln und das »spontane Versammlungsrecht« wahrnehmen, kündigte ein Erwerbsloser an, der namentlich nicht genannt werden wollte.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/943772.zahltag-vor-jobcenter-untersagt.html

Peter Nowak

Ebola-Fehlalarm in Berlin

Entzivilisierung in Zeiten von Ebola

Zurück

Tour de France mit Renault

Das Renault-Werk in Boulogne-Billancourt war einst die Hochburg der Arbeiterbewegung in Frankreich. Heute erinnert man sich dort wehmütig der alten Zeiten.

»Hier war schon morgens vor Schichtbeginn die Hölle los«, sagt Emmanuelle Dupuy. Sie steht auf dem Vorplatz der Fabrik in Boulogne-Billancourt in unmittelbarer Nähe von Paris. Heutzutage kann man aufgrund der dichten Verkehrsverbindungen zur französischen Hauptstadt so dicht, dass man gar nicht mehr erkennen, dass es sich um einen eigenen Ort handelt. Auf den ersten Blick wirkt der Ort mit seinen umweltgerecht gebauten Bungalows, für die viel Glas und Holz verwendet wurde, wie einer jener Orte der Medien- und Kommunikationsindustrie, die in den vergangenen Jahrzehnten am Rande vieler Großstädte der Welt aus dem Boden geschossen sind.

Doch Billancourt war einst das Herz des fordistischen Frankreich. Hier hatte das Renault-Stammwerk seinen Sitz. Vor Schichtbeginn versammelten sich hier jeden Morgen Tausende Beschäftige auf dem Platz. Dupuy war eine von ihnen: »Hier waren überall kleine Cafés, wo wir uns morgens um sechs Uhr erst einmal einen café calva, einen Kaffee mit viel Rum, genehmigten, bevor wir durch das Tor schritten, hinter dem das Fabriksystem mit Fließband und Stechuhr regierte«, erinnert sie sich. »Das war eher Rum mit Kaffee«, berichtigt Robert Kosmann seine frühere Kollegin lachend. Die beiden ehemaligen Renault-Beschäftigten sind längst pensioniert. Heute sind sie nach Billancourt gekommen, weil sie einer Gruppe von Basisgewerkschaftern aus Deutschland etwas von der Zeit vermitteln wollen, als hier noch der Renault vom Band lief.

»Tour de France« nennt sich diese alljährliche einwöchige Erkundungsfahrt ins Paris der sozialen Revolten und Arbeitskämpfe. »Unsere Besuche begannen in den neunziger Jahren«, sagt der Basisgewerkschafter Willi Hajek, der die sozialen Bewegungen Frankreichs gut kennt. 1995 begeisterte der große Streik der Eisenbahner in Frankreich auch in Deutschland viele Gewerkschafter. Schließlich warteten die französischen Kollegen nicht, bis ihnen ein Gewerkschaftsvorstand das Signal zum Kampf gab. Sie gründeten Streikkomitees und entschieden dort gemeinsam über den Ablauf und die Dauer ihres Arbeitskampfes. Damals fragten sich auch manche Gewerkschafter hierzulande, wann sie auch in Deutschland endlich französisch reden lernen, erst einmal mit den eigenen Gewerkschaftsvorständen, die selbstorganisierte Kämpfe behindern, und dann mit den Bossen, wenn es um den Kampf um höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzung geht. »Kämpfen wie in Frankreich«, lautete damals eine häufige Parole.

Ohne Zeitzeugen wie Emmanuelle Dupuy und Robert Kosmann wäre von der langen Geschichte von Renault nur das legendäre Tor zu sehen, durch das alle Arbeiter schreiten mussten. Neben einer Werbetafel, auf der die modernsten Lofts und Workspaces für die Arbeit im Internetzeitalter beworben werden, wirkt es wie ein Museumsstück aus einer längst vergangenen Epoche. Und doch bestimmte es jahrzehntelang für Dupuy, Kosmann und viele Tausende Menschen den Alltag. Hinter dem Tor begann für sie nicht nur die Welt der Fließbänder und Stechuhren, die den Takt der Arbeit bestimmten. Für sie war die Fabrik auch verbunden mit aktiven Betriebszellen der Gewerkschaft, die mit roten Fahnen durch das Tor marschierten, wenn sie wieder einmal einen Arbeitskampf beschlossen hatten. Das kam bei Renault sehr häufig vor. Schließlich trug das Werk lange Zeit den Beinamen »rote Festung«. Für die einen war es ein Kompliment, für die anderen eine Drohung.

Auf vielen Fotos sieht man die Arbeiterkollektive, die sich auf dem Vorplatz versammelt hatten. Oft begann der Ausstand mit einer lauten Demonstration über das Fabrikgelände. Kampfparolen wurden gerufen und die noch unentschlossenen Kollegen aufgefordert, sich dem Streik anzuschließen. Am Ende einer solchen Demonstration gab es nur wenige, die sich dem Arbeitskampf verweigerten. Schließlich spielten in der Fabrik nicht nur zu Streikzeiten politische und gewerkschaftliche Themen eine wichtige Rolle.

Lange Zeit war das Renault-Werk eine Hochburg der CGT, der der Kommunistischen Partei Frankreichs nahestehenden Gewerkschaft. Zahlreiche Arbeiter engagierten sich in den Betriebszellen von CGT und FCP. Das war die Welt der kommunistischen Gewerkschafter, deren Tod der Filmemacher Chris Marker in seinem berühmten Film »Rot liegt in der Luft« eine Sequenz gewidmet hat. Für diese Generation aktiver Arbeiter war das Engagement in der Gewerkschaft und in Parteibetriebszellen ein wichtiger Teil ihres Lebens. Die Fabrik wurde als Gesellschaft im Miniaturformat verstanden.

In den siebziger Jahren, als der Film von Chris Marker die linke Öffentlichkeit beschäftigte, war dieser Arbeitertypus auch bei Renault bereits in die Minderheit geraten. Die durch den gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 sozialisierte Arbeitergeneration war nicht mehr davon überzeugt, dass sich im Betrieb die Gesellschaft im Kleinen abbildet, und sie stellte sich auch die Frage, ob sie in einer Gesellschaft leben will, die wie eine Fabrik organisiert ist. Sie hinterfragte das linke Arbeitsethos und die Hierarchien in den Gewerkschaften. Für diese Menschen war der Feminismus kein Nebenwiderspruch mehr und Ökologie kein Mittelstandsproblem. Sie organisierten sich in linken Gruppen wie der Gauche Prolétarienne, der proletarischen Linken, die nach dem Mai 1968 auch bei Renault Anhänger fand. Schnell geriet diese junge Betriebslinke mit der CGT in Konflikt, die ihre Hegemonie im Werk von links bedroht sah.

Im Film »Reprise« von Hervé Le Roux steht eine junge Arbeiterin im Mittelpunkt, die sich am Ende eines Streiks weigert, die Arbeit wiederaufzunehmen und sich wieder dem Takt der Stechuhr zu unterwerfen. Auf der einen Seite stehen Mitglieder der CGT, die sie zum Betreten der Fabrik bewegen wollen, auf der anderen Seite bestärken Mitglieder verschiedener linker Oppositionsgruppen die Frau in ihren Entschluss, nicht zur Arbeit zurückzukehren. Diese Auseinandersetzung spielte sich vor den Toren der Fabrik Wonder in Saint-Ouen ab. Aber sie steht für ein Muster, das sich in den siebziger Jahren vor vielen Fabrikstandorten wiederholte, auch vor dem Eingang von Renault.

Die beiden Kollegen können sich an viele solcher Situationen erinnern. »Hier standen die CGT-Redner, die die Arbeiter aufforderten, sich nicht von ultralinken Provokateuren beeinflussen zu lassen«, erinnert sich Dupuy an Auseinandersetzung über das Ende eines Arbeitskampfes bei Renault und zeigt auf den großen Platz. »Auf der anderen Seite standen die Redner von verschiedenen linken Gruppen, die an die Kollegen appellierten, sich nicht von den Reformisten der CGT in die Irre führen zu lassen und den Kampf mit einem eigenen Komitee fortzusetzen.« Die Auseinandersetzung wurde per Megaphon und mit großer Lautstärke ausgetragen. Einige Übereifrige auf beiden Seiten sparten dabei auch nicht mit Schimpfwörtern und Verbalinjurien in die Richtung der jeweils anderen Seite.

Gelegentlich blieb es nicht dabei. Der Ordnerdienst der CGT war dafür bekannt, dass er Kritiker der Vorstandslinie auch mit Gewalt von Aktionen abhielt. Aber auch die linken Konkurrenten, oft maoistischer Provenienz, gingen körperlichen Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg, wenn es gegen die verhassten »Sozialimperialisten« ging. Ein Großteil der Arbeiter stand zwischen den verfeindeten Fronten und sah sich das Schauspiel kommentarlos an, erinnern sich die beiden Gewerkschafter. Solche Episoden scheinen heute ebenso aus einer anderen Epoche zu stammen wie das Renault-Tor. Dupuy und Kosmann müssen darüber lachen, wenn sie verwundert feststellen, wie überzeugt doch alle Beteiligten waren, die Gesellschaft auf ihrer Seite zu haben.

Heute ist die rote Arbeiterfestung Renault geschleift. Die Betriebsgebäude sind längst abgerissen. Neben dem Tor sind als steinerne Zeugnisse noch einige Verwaltungsgebäude sowie Büsten der Firmengründer in Billancourt zu finden. Das Renault-Museum, das Zeugnisse der Firma von der Gründung 1898 bis zur Gegenwart dokumentiert, hat sein Domizil in einem modernen gläsernen Gebäude, das perfekt zum neuen Billancourt als Standort der Medien- und Kommunikationsbranche passt. Die Tafeln geben einen ausführlichen Einblick in die technische, aber auch die soziale und gesellschaftliche Entwicklung dieses Automobilkonzerns. Natürlich wird die Firmengeschichte zur Eloge auf den Firmengründer und seiner Familie.

Der Weihnachtsabend 1898 war für Louis Renault ein unerwarteter Erfolg. Gleich zwölf seiner »Autochen« sollte er den betuchten Kunden liefern. »Natürlich fängt Louis umgehend mit der Produktion an, und selbstverständlich steht es außer Frage, dass die Brüder nun ein eigenes Unternehmen gründen werden«, heißt es da. Hatte er nicht mindestens einen Monteur dabei?, möchte man da im Sinne von Bertolt Brechts »lesendem Arbeiter« fragen.

Dass schließlich auch die gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfe in der Ausstellung ihren Platz finden, kann sich die Geschichtskommission der ehemaligen Renault-Beschäftigten zugute halten. Dupuy und Kosmann sind dort seit Jahren tätig. Erst dort haben sie sich kennengelernt. Sie arbeiteten nicht nur in verschiedenen Abteilungen, sie waren auch in unterschiedlichen Gruppen der radikalen Linken organisiert, Dupuy in einer trotzkistischen Gruppe und Kosmann in der Gauche Proletarienne. Doch diese Unterschiede spielen heute für die beiden keine Rolle mehr. In der Geschichtskommission arbeiten auch Kolleginnen und Kollegen mit, die der CGT und anderen Gewerkschaften angehörten. Sie wollen verhindern, dass die Geschichte von Renault in dem Museum als eine Erzählung wagemutiger Unternehmerpersönlichkeiten und bahnbrechender technischer Erfindungen präsentiert wird. Ein Gang durch die umfangreiche Ausstellung zeigt, dass ihnen das an vielen Stellen gelungen ist. Auf mehreren Tafeln wird ausführlich die große Streikbewegung von 1936 gezeigt, als die Arbeiter während der Volksfrontregierung durch spontane Massenstreiks große soziale Errungenschaften wie bezahlten Urlaub erkämpften. Auch die Auseinandersetzung bei Renault nach dem Aufbruch von 1968 wird in Bild und Text ausführlich dokumentiert.

Doch für Dupuy und Kosmann ist klar, damit die Kämpfe bei Renault und in anderen Fabriken nicht nur im Geschichtsmuseum landen, braucht es Organisationen und politische Zusammenschlüsse, die sich auch mit der Frage befassen, was davon heute noch aktuell ist. Daher war Kosmann viele Jahre Koordinator der Solidaires Industrie. Noch heute ist er oft in dem kleinen Gewerkschaftsbüro. In den Räumen sitzen Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die die heutigen Klassenkämpfe in Frankreich koordinieren. Pakete mit Plakaten und Flugblättern sind in dem engen Gang gestapelt. Auch in den Büros liegt Propagandamaterial in großen Mengen. Gerade holt ein junger Mann einen Stapel Plakate ab, auf denen für eine Demonstration gegen die Privatisierung der französischen Bahn mobilisiert wird. Sie beginnt mit großem Lärm an der Bastille, dem traditionellen Versammlungsort von Linken und Gewerkschaftern. Man staunt über die vielen Böller, die dort von Gewerkschaftern gezündet werden. Die Basisgewerkschaft Sud Rail ist mit einem großen Transparent vertreten, auf dem zum unbefristeten Generalstreik aufgerufen wird. Der Slogan »grève reconductible« wird auf dem Weg durch die Pariser Innenstadt ständig skandiert. Manche Passanten stimmen mit ein und heben die Faust zum Gruß. Aber es gibt auch viele, die kaum einen Blick auf die Arbeiterdemonstranten werfen und schnell in den Einkaufszentren verschwinden. Übersehen und überhört werden kann die Demonstration nicht. Immer wieder werden Böller geworfen und die Leuchtfackeln vieler Demonstrationsteilnehmer erzeugen viel roten Nebel.

Neben den sozialen Protesten gehört für viele Gewerkschafter antifaschistische Arbeit nicht erst seit dem Erfolg des Front National bei der Europawahl auf die politische Tagesordnung. Sebastian von Sud Rail breitet ein aktuelles Flugblatt aus, das er mit seinen Kollegen an den Arbeitsplätzen, aber auch in den Briefkästen der Stadtteile verteilt, in denen viele Arbeiter und Menschen mit geringem Einkommen wohnen. Gerade in diesen Bezirken haben die Rechtspopulisten bei den Wahlen viele Stimmen gewonnen. Im Flugblatt wird unter den Stichworten Ungleichheit, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, hysterischer Sicherheitsdiskurs, Nationalismus und Rassismus die Gefahr der Rechten aufgezeigt und für einen offensiven gewerkschaftlichen Antifaschismus geworben. Der Aufstieg der Ultrarechten, ebenso wie die staatlichen Angriffe auf erkämpfte Errungenschaften, etwa die 35-Stunden-Woche, machen aber auch deutlich, dass die Zeiten für eine offensive Gewerkschaftspolitik auch in Frankreich schwieriger geworden sind. Die Parole »Sprechen wir mit den Bossen Französisch« wird heute auch kämpferischen Gewerkschaftern in Deutschland nicht mehr so leicht über die Lippen gehen wie vor 20 Jahren. Aber die Tour de France machte auch deutlich, dass die Tradition des kämpferischen, aufständischen Frankreichs heute nicht nur im Renault-Museum ausgestellt ist.

http://jungle-world.com/artikel/2014/33/50398.html

Peter Nowak

Kleine Verfassungsschutzkunde

Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung kritisieren, es gebe dort zu wenig Distanz zum Verfassungsschutz.

von Peter Nowak

Spätestens seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 ist der Verfassungsschutz (VS) in Erklärungsnöten. Wie konnten Neonazis über Jahre rassistische Morde verüben während der VS davon nichts mitbekommen haben will? Auch in gewerkschaftlichen Kreisen ist seitdem die Distanz zu den Diensten gewachsen. So hat sich die DGB-Jugend auf ihrer Konferenz im Herbst 2013 eindeutig positioniert. »Die Gewerkschaftsjugend lehnt jegliche Bildungsarbeit des Verfassungsschutzes ab und spricht sich eindeutig gegen jedes Engagement des Geheimdienstes in diesem Themenfeld aus«, lautete der Kernsatz des mit großer Mehrheit angenommenen Antrags »Bildungsarbeit ohne Verfassungsschutz«. Doch mit der Umsetzung dieses Beschlusses gibt es auch gewerkschaftsintern Probleme.

In einer Protesterklärung, die der Jungle World vorliegt, monieren Stipendiaten der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (HBS), dass man dort Distanz zum VS vermissen lasse. Der Abteilungsleiter der Studienförderung der HBS habe im Februar vorgeschlagen, für ein Seminar über »rechte Strukturen« einen Referenten einzuladen, der Stipendiat der HBS war und nun beim Verfassungsschutz in Niedersachsen arbeitet. Dieses Ansinnen führte zu Protesten bei Stipendiaten. Der Verfassungsschutz habe keinen Bildungsauftrag und seinem eingeschränkten Demokratieverständnis dürfe kein Platz gegeben werden, lautete die Begründung.

Sehr zurückhaltend reagierte das siebenköpfige Leitungskollektiv der Promovierenden der Stiftung auf Nachfrage. Es wolle »zum jetzigen Zeitpunkt keine offiziellen Statements zum Thema Hans-Böckler-Stiftung und Verfassungsschutz abgeben«, hieß es in einem Schreiben an die Jungle World. »Solange keine konkreten Pläne durch die Veröffentlichung eines Seminarprogramms bekannt sind, dreht es sich unserer Ansicht nach um Spekulationen und Stiftungsinterna, die wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht diskutieren können«, so die defensive Begründung der Promovierenden. Die kritischen Stipendiaten halten diese abwartende Haltung für falsch. Schließlich ist eine Kooperation mit dem Verfassungsschutz leichter zu verhindern, wenn eine öffentliche Debatte entsteht, bevor das Programm druckfertig ist, heißt es in der Protesterklärung der VS-kritischen Stipendiaten. Im Mai suchten sie das Gespräch mit der Abteilung Studienförderung. Ihr Versuch, innerhalb der Stiftung eine kritische Diskussion zum Umgang mit dem Verfassungsschutz anzustoßen, stieß schnell an Grenzen. Die Kritiker wurden darauf verwiesen, dass die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) beim Thema Rechtsextremismus mit dem Verfassungsschutz kooperiere.

Auch das Leitungskollektiv der Stipendiaten verweist auf diese Gewerkschaft. »Die bessere Ansprechpartnerin zu dem ganzen Thema wäre unseres Erachtens zurzeit die IG BCE, die öffentlich mit dem Verfassungsschutz Ausstellungen und Bildungsveranstaltungen organisiert.« Bei der Eröffnung der Wanderausstellung »Gemeinsam gegen Rechtsextremismus« im Foyer der Hauptverwaltung der IG BCE am 7.  November 2013 in Hannover betonte Ralf Sikorski, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands, dass »die Gewerkschaften stets die Bekämpfung rechtsextremer Politik und Auffassungen, aber auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren Formen und Methoden vorangetrieben haben«. Die Kooperation mit dem Verfassungsschutz wird bei Sikorski zur antifaschistischen Praxis: »Dies ist eine gute Gelegenheit zu zeigen, dass Prävention und Sensibilisierung gegenüber den sich wandelnden Erscheinungsformen des Rechtsextremismus hochaktuell ist und bleibt. Das ist zugleich ein gemeinsames Anliegen aller demokratischen Kräfte.« Auch der Pressesprecher der IG BCE, Michael Denecke, scheint die Beschlüsse der DGB-Jugend nicht wahrgenommen haben. Auf die schriftliche Anfrage der Jungle World, wie die IG BCE mit den gewerkschaftlichen Stimmen umgehe, die ein Ende der Kooperation mit dem VS fordern, reagiert er mit der Gegenfrage: »Welche Stimmen meinen Sie?«

http://jungle-world.com/artikel/2014/33/50396.html

Peter Nowak

Wer schwimmt schon im Geld?

Gibt es ein Recht aufs Schwimmen? Der Protest gegen hohe Eintrittspreise für Schwimmbäder hat eine lange Tradition. Besonders erfolgreich  war er aber nicht.

»Schwimmen, nicht nur für Reiche. Die Gesamtschule Ruhr freut sich auf die Wiedereröffnung des städtischen Schwimmbads.« Was sich nach einer guten Nachricht für viele Menschen anhört, die sich im Sommer wegen geringen Einkommens einen Urlaub nicht leisten können, ist eine Wunschvorstellung. Die Schlagzeile findet sich in Bald, einer Bild-Satire, die vom Bündnis Umfairteilen herausgegeben wird. Zu den moderaten Forderungen des Bündnisses gehört eine Reichensteuer. Das Geld, das der Fiskus dadurch einnähme, soll nach den Vorstellungen von Umfairteilen in Projekte zur öffentlichen Daseinsvorsorge fließen. Dazu gehören neben dem öffentlichen Nahverkehr, Schulen und Bibliotheken auch Schwimmbäder. Tatsächlich gibt es in vielen Städten und Kommunen heftige politische Auseinandersetzungen um moderate Eintrittspreise.

So protestierte im November 2013 eine Senioreninitiative morgens um sechs Uhr vor einer Schwimmhalle in Prenzlauer Berg in Berlin gegen die Erhöhung der Eintrittspreise der Berliner Bäderbetriebe zum 1. Januar 2014 von 4,50 Euro auf 5,50 Euro. Es war die zweite Ticketerhöhung innerhalb eines Jahrs. Die Senioren, die sich sonst immer um diese Uhrzeit zum Frühschwimmen treffen, bildeten eine Menschenkette und sammelten Unterschriften.

Die Aktion erregte Aufmerksamkeit in den Medien, weil eine Bevölkerungsgruppe protestierte, die nicht mit sozialen Protesten in Verbindung gebracht wird. Doch dieses Bild ändert sich. In den vergangenen Jahren hatte die Mieterinitiative Palisadenpanther in Berlin-Friedrichshain erfolgreich dafür gekämpft, dass die Miete für ihr Seniorenheim so moderat steigt, dass sie dort ihren Lebensabend verbringen können. In Berlin-Pankow besetzten Senioren für mehrere Wochen eine Seniorenbegegnungsstätte in der Stillen Straße und verhinderten so die Schließung. Ein Grund für die stärkere Widerstandsbereitschaft älterer Menschen ist die Armut im Alter. Die Zeiten, in denen der christdemokratische Arbeitsminister Norbert Blüm verkünden konnte, die Renten seien sicher, gehören der Vergangenheit an. Für viele Menschen ist nur die Altersarmut sicher. Viele bessern sich mit Jobs im Niedriglohnsektor ihre karge Rente auf. Dass sich Senioren für moderate Eintrittspreise in Bädern engagieren, ist kein Zufall. Für viele Senioren mit niedriger oder mittlerer Rente kommen kostspielige Urlaube nicht in Frage. Die Bäder sind für sie die Freizeitalternative. Bei vielen gehört das regelmäßige Schwimmen zum Fitnessprogramm. Wenn sie sich den Bäderbesuch finanziell nicht mehr leisten können, fällt nicht nur eine Freizeitbeschäftigung weg, auch die Gesundheit kann dadurch beeinträchtigt werden. Daher ist es nur zu berechtigt, einen möglichst günstigen oder kostenlosen Bäderbesuch ebenso als Teil der allgemeinen Daseinsvorsorge anzusehen, wie den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr.

Für die Durchsetzung beider Forderungen kämpften im vergangenen Jahrzehnt immer wieder temporäre Bündnisse, die sich allerdings schnell wieder aufgelöst haben. Vor mehr als zehn Jahren hatten Teile der außerparlamentarischen Linken in Berlin den Kampf gegen hohe Bäderpreise auf ihre Transparente geschrieben. Unter dem Motto »Sonne, Strand und Widerstand« wollte das Bündnis »Berlin umsonst!« im Sommer 2003 den Protest gegen den sozialen Kahlschlag an ungewöhnlichen Orten sichtbar machen. Neben den teuren Tickets für den öffentlichen Nahverkehr stand die Preispolitik der städtischen Schwimmbäder im Mittelpunkt der Kritik. Die Reaktionen der Badegäste nach der ersten Aktion wurden von den Aktivisten von »Berlin umsonst!« als sehr ermutigend eingeschätzt. Dafür dürfte auch der große Unmut gesorgt haben, den die Bäderbetriebe durch die mehrmalige Erhöhung der Eintrittspreise für die Freibäder bei der Bevölkerung erregt hatten. Gerade in einem Stadtteil wie Kreuzberg, wo viele einkommensschwache Menschen wohnen, konnten sich viele das Ticket nicht mehr leisten. Tatsächlich ging die Zahl der Schwimmbadbesucher nach den Preiserhöhungen zurück. Daher war es nur zu verständlich, dass sich neben politischen Aktivisten auch zahlreiche kinderreiche Familien an den Kundgebungen beteiligten, die »Berlin umsonst!« vor den Eingängen von Schwimmbädern veranstaltete. Einige Menschen gelangten in dem Durcheinander ohne Ticket auf das Freibadgelände. An mehreren Wochenenden im Sommer 2003 wurde dann ein großes Polizeiaufgebot um den Eingang des Kreuzberger Prinzenbads postiert. Die Kampagne »Berlin umsonst!« hatte ein doppeltes Ziels. Einerseits sollten Menschen angesprochen werden, die bisher keine Berührungspunkte mit linker Politik hatten. Anderseits sollte in der Linken die soziale Frage wieder stärker eine Rolle spielen. Es war die Zeit, als die länderübergreifenden globalisierungskritischen Proteste an ihre Grenzen gestoßen waren und größere Teile der postautonomen Linken den sozialen Widerstand vor Ort neu entdeckten.

Damals gab es lebhafte Debatten über die Frage, inwiefern das Proletariat vom Prekariat als Subjekt sozialer Kämpfe abgelöst worden sei. Die Euro-Mayday-Bewegung, in der sich Prekäre aller Länder organisieren sollten, hatte über Italien und Spanien auch in Deutschland Fuß gefasst. Damals stellten sich linke Gruppen die Frage, wie es gelingen könne, soziale Proteste jenseits von Events im Alltag zu verankern. Die Kampagne »Berlin umsonst!« war dabei ein wichtiger Praxistest. Anfangs schien die Aktion erfolgreich zu sein. Die Parole »Berlin umsonst!« tauchte auf zahlreichen Transparenten und Flugblättern auf. Auch in anderen Städten fand das Konzept Nachahmer.

Sogar im Kulturbetrieb war das Thema angekommen. Das Berliner Grips-Theater inszenierte unter dem Titel »Baden gehen« ein Theaterstück, in dem Erwerbslose ein im Zuge der Hauptstadtpleite stillgelegtes Freibad stürmen und in Eigenregie wieder eröffnen. Dabei hat sich die sozial engagierte Theatergruppe um Volker Ludwig von den Pressemeldungen über die Proteste gegen hohe Eintrittspreise im Prinzenbad inspirieren lassen. Doch der kurze Sommer der Berliner Sozialproteste war bereits im August 2003 zu Ende. Im Anschluss gab es nur noch Unterstützung für einige Aktivisten, die nach der Kampagne mit Gerichtsprozessen konfrontiert waren. Als sich im Sommer 2004 für die linke Szene überraschend die Montagsdemonstrationen gegen die »Agenda 2010« für einige Wochen in der ganzen Republik ausbreiteten, stießen die Forderungen der Kampagne »Berlin umsonst!« dort auf Verwunderung und Skepsis. Die meisten Demonstranten forderten mehr Geld für sich statt Gratisdienstleitungen.

Die Berliner Gruppe »Für eine linke Strömung« (Fels), die die Kampagne »Berlin umsonst!« wesentlich mit vorangetrieben hatte, zog in der Zeitschrift Arranca ein ernüchterndes Fazit: »Die Sozialproteste haben unseren Ansatz dem ersten richtigen Realitätstest ausgesetzt, und den haben wir schlecht bestanden.« Wo solidarische Kämpfe scheitern, greifen die Menschen zu individuellen Lösungen. Wer heute »Berlin umsonst!« in eine Suchmaschine eingibt, landet schnell auf einer Homepage gleichen Namens, die über Schnäppchen vor allem im Berliner Kulturbetrieb informiert. Man erfährt dort einiges über Gratistage in Galerien und günstige Tickets für Theateraufführungen. Aus dem Bäderbereich findet sich kein Eintrag.

http://jungle-world.com/artikel/2014/33/50388.html

Peter Nowak

Stolz auf Rawumsti – immer noch

Die Waffentechnik hat sich weiter entwickelt – die Konversionsdebatte nicht

Bis heute hat die IG Metall keine Antwort, wie ihr Einsatz für Frieden mit Interessenvertretung der Rüstungsarbeiter zusammenpasst. Im Gegensatz zu früher kümmert sich auch kaum noch jemand darum.

»Die Granaten wo wir drehen, sind in aller Welt begehrt. Wenn sie mit rawumsti platzen, ist so mancher sehr versehrt.« Diese Zeilen stammen aus dem Lied »35 Stunden sind genug« der deutschen Rüstungsarbeiter, mit dem der Satiriker Horst Tomayer 1986 die Haltung jener Gewerkschafter ironisierte, die stolz darauf verweisen, dass die Waffen, die sie produzierten, deutsche Wertarbeit sind. Fast 30 Jahre später hat sich die Waffentechnik weiter entwickelt. Nicht mehr Granaten, sondern Drohnen sind begehrtes Rüstungsgut. Die Debatte innerhalb der Gewerkschaften ist dagegen nicht von der Stelle gekommen.

Nachdem Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen die Entwicklung einer europäischen Drohne angekündigt hatte, sprach der zweite Bevollmächtigte der IG Metall Ingolstadt, Bernhard Stiedl, von einem »Lichtblick«. Ein solches Programm »würde am Airbusstandort Manching 1500 Arbeitsplätze sichern«. Stiedl hatte in den vergangenen Jahren wiederholt vor militärischer Abrüstung mit dem Verweis auf Arbeitsplätze gewarnt. Doch in der IG Metall steht er damit nicht allein. Anfang Juni warnten Betriebsratsvorsitzende von mehr als 20 Rüstungsfirmen, darunter zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in einem Brief, Rüstungsexporte einzuschränken, wie es im SPD-Programm steht. Rüstungsausfuhren könnten zwar kein Allheilmittel sein, aber ohne den Export sei die Industrie nicht überlebensfähig, hieß es in dem Schreiben.

Doch es gab in der Gewerkschaft auch Gegenstimmen. So betonte IG-Metall-Vorstandsmitglied Jürgen Kerner: »Waffengeschäfte dürfen nie vor Menschenrechte gehen.« Noch deutlicher wurde die beim IG-Metall-Bezirk Mitte für Tarif- und Betriebspolitik zuständige Sekretärin Katinka Poensgen. Sie kritisierte den Verweis auf die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie als »Totschlagargument«. Es könne nicht Aufgabe einer Gewerkschaft sein, wegen des Erhalts »einiger weniger Arbeitsplätze in der Waffenindustrie, die Zerstörung des ganzen Erdballs zu riskieren«. Poensgen sieht sich mit ihrer Rüstungskritik in Übereinstimmung mit der Satzung. Demnach sind Ziele und Aufgaben der IG Metall neben der Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft auch der Einsatz für Frieden, Abrüstung und Völkerverständigung. Poensgen nimmt auch Bezug auf eine Debatte, die vor vier Jahrzehnten wesentlich weiter war als heute. Damals beschäftigten sich Arbeitskreise mit der Frage und unterbreiteten Vorschläge, wie in der Rüstungsindustrie eine Umwandlung in nichtmilitärische Produktion bewerkstelligt werden kann, ohne Arbeitsplätze zu gefährden.

Auftrieb erhielt die Debatte damals durch die Beschäftigten des britischen Luftfahrtunternehmens Lucas Aerospace, das zu über 50 Prozent von Rüstung lebte. Mitte der 70er Jahre sollte dort rationalisiert werden, die Schließung von Tochterfirmen stand an. Doch statt für mehr Rüstungsaufträge zu demonstrieren, machte sich die Belegschaft Gedanken über friedliche und nützliche Produkte. Die Techniker um den Ingenieur Mike Cooley entwickelten Alternativen – medizinische Apparate, innovative Energiequellen, Transport- und Bremssysteme, maritime Anlagen. Das Beispiel wirkte über Großbritannien hinaus.

In Deutschland war der Arbeitskreis »Alternative Produktion« der IG Metall Bremen besonders aktiv, der sich für eine Rüstungskonversion bei Airbus und dem damals noch existierenden Luft- und Raumfahrtunternehmen VFW einsetzte. Ende 2003 wurde der Arbeitskreis auf einstimmigen Beschluss der IG-Metall-Vertrauenskörperleitung aufgelöst. Der einstige Bestseller des Sozialdemokraten Freimut Duve »Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod«, der mehrmals neu aufgelegt wurde, ist heute nur noch antiquarisch zu erhalten. Es beschäftigt sich kaum noch jemand mit dem Thema.

In der IG Metall war niemand für eine Stellungnahme zu erreichen. IG-Metall-Sekretär Stiedl, der sich für eine starke Rüstungsproduktion in Deutschland einsetzt, verwies auf den Vorstand. Dort bemühte sich die Pressestelle, den einzigen für diese Frage zuständigen Kollegen zu erreichen. Doch der ist im Urlaub.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/942478.stolz-auf-rawumsti-immer-noch.html

Peter Nowak

»Ein Streik steht, wenn man ihn selber macht«

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wirft einen genauen Blick auf neue Formen des Arbeitskampfes.

Kaum organisierte Arbeiter streiken plötzlich, innovative Arbeitskämpfe auch in Branchen mit überwiegend prekär Beschäftigten – zwei Publikationen stellen die neuen Entwicklungen vor.

»Jede Zeit, jede konkrete gesellschaftliche Konstellation entwickelt ihre eigene Artikulation von Gegenwehr und ihre eigenen Streikformen. Ein genauer Blick auf Streiks in Deutschland zeigt interessante Trends und Entwicklungen«, schreibt Fanny Zeise, Referentin für Arbeit, Produktion und Gewerkschaften bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, im Vorwort zu »Erneuerung durch Streik«. Beschäftigte, die vorher kaum organisiert waren, beginnen zu streiken. Gewerkschaftsaktive entwickelten neue Formen der Gegenwehr, auch in den Bereichen mit hohem Anteil prekärer Beschäftigung. Diese neuen Entwicklungen haben das Potenzial, die Gewerkschaften zu erneuern.

Unter dem Titel »Erneuerung durch Streik« hatte die Stiftung im vergangenen Jahr bereits eine Konferenz veranstaltet, die auf großes Interesse stieß. Im Oktober soll eine Nachfolgekonferenz in Hannover erneut Hunderte Gewerkschaftsaktive und Wissenschaftler zu einem Erfahrungsaustausch zusammen bringen.

Die Broschüre löst den versprochenen »genauen Blick« ein: Tiefgründig werden auf den 40 Seiten fünf Arbeitskämpfe analysiert, die in den letzten Jahren in Deutschland für Aufmerksamkeit sorgten. Mehr als neun Monate streikten die Beschäftigten des Verpackungsherstellers Neupack. Trotz der engagierten Kollegen und Solidarität von linken Gruppen konnte das eigentliche Ziel, ein Tarifvertrag, nicht erreicht werden. Lediglich eine Betriebsvereinbarung war das Ergebnis. Immerhin wurden Tätigkeitsbeschreibungen für die Belegschaft durchgesetzt.

Erfolgreicher war der Streik beim Öffentlichen Personennahverkehr 2011 in Baden Württemberg. Ein großer Teil der gewerkschaftlichen Forderungen konnte durchgesetzt werden. Bei der Mitgliederentwicklung gehört der Fachbereich Verkehr von ver.di Baden Württemberg seit dem Streik zur Spitze. »Die beste Mitgliederwerbung ist eine aktive und kämpferische Tarifpolitik«, lautet das Fazit von Wolfgang Hoepfner. Auch der 126-tägige Ausstand beim Callcenter S-Direkt in Halle endete mit einem Erfolg. Rabea Hoffmann, neben Zeise Herausgeberin der Broschüre, nennt die Ausdauer der Belegschaft und die demokratische Streikkultur als die Hauptgründe für den Ausgang. »Ein Streik steht, wenn man ihn selber macht«, zitiert sie den Betriebsratsvorsitzenden Thomas Bittner.

Die beiden letzten Arbeitskämpfe, die in der Broschüre genauer betrachtet werden, wurden im Reproduktionssektor geführt, wo Streiks besonders schwer umzusetzen sind. Berichtet wird vom Arbeitskampf beim »Club Behinderter und ihrer Freunde« in Frankfurt am Main, der 2012 für Tariflöhne geführt wurde sowie vom Erzieherinnenstreik aus dem Jahr 2009. Neben den Fallbeispielen erörtert der Soziologe Klaus Dörre mit einem kurzen Text die These, dass die neuen Streikerfahrungen die Gewerkschaften als Ganzes erneuerten.

Eine weitere Publikation der Luxemburg-Stiftung widmet sich ausschließlich dem Arbeitskampf der Pflegekräfte an der Berliner Charité von 2011. Sie forderten höhere Löhne und eine Mindestbesetzung in der Klinik. Die Studie untersucht, welche Rolle die Frauen in dem Streik gespielt haben und ob er Einfluss auf die patriarchale Rollenverteilung in der Klinik hatte.

Fanny Zeise, Rabea Hoffmann (Hg.): Erneuerung durch Streik – die eigene Stärke nutzen; Sophia Zender: Streiken bis das Patriarchat kommt. Der Arbeitskampf der Pflegekräfte an der Berliner Charité. Die Broschüren können in der Rubrik Publikationen auf www.rosalux.de heruntergeladen werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/942477.ein-streik-steht-wenn-man-ihn-selber-macht.html

Peter Nowak

Kill Billy in Italy

Aktionstage gegen IKEA – Arbeitskampf internationalisieren
Ein Abfall-Eimer für 14,99 findet sich auf der Homepage von IKEA-Piacenza. Doch der Begleittext zeigt, dass es sich nicht um     die reguläre IKEA-Homepage handelt. „Gewerkschaftliche Rechte haben bei uns ein neues Zuhause gefunden“, heißt es dort. Auf einer Facebook-Seite ist die Botschaft schon auf dem ersten Blick vernehmbar. Badikea wird das Firmenlogo umdefiniert. Es handelt sich dabei um zwei von vielen   Internetauftritten, die eine neue  internationale IKEA-Kampagne in Solidarität mit einem bisher hierzulande weitgehend unbekannten Arbeitskampf von italienischen LogisitkarbeiterInnen initiierte.
Seit 2011 kämpfen in Italien die meist migrantischen ArbeiterInnen in der Logistikbranche für reguläre Arbeitsbedingungen. In vielen großen Unternehmen ist es ihnen gelungen, durch entschlossenes, militantes Vorgehen die Einhaltung der nationalen Standards zu erzwingen und sich gegen die VorarbeiterInnen, die Leiharbeitsfirmen, die Polizei und die großen Gewerkschaften und die Medien durchzusetzen.   Sie sind auch deshalb erfolgreich, weil große Teile der radikalen Linken, sowie eine kleine Basisgewerkschaft sich mit ihnen solidarisieren und ihre Aktionen unterstützen.  Der Arbeitskampf hat die bisher rechtlosen ArbeiterInnen mobilisiert.
„Vor zwei Jahren hatte unsere Gewerkschaft in Rom drei Mitglieder.  Heute sind es dreitausend“, erklärt Karim Facchino. Er ist Lagerarbeiter und Mitglied der italienischen Basisgewerkschaft S.I.  Cobas. Der   rasante Mitgliederzuwachs  der Basisgewerkschaft ist auch eine Folge der Selbstorganisation der Beschäftigten. „Wir haben  keine bezahlten Funktionäre, nur einen Koordinator, doch sein Platz ist nicht am Schreibtisch eines Büros sondern auf der Straße und vor der Fabrik“, betonte  Facchino. Er war im Mai 2014 Teilnehmer einer Delegation italienischer GewerkschafterInnen und UnterstützerInnen  aus der außerparlamentarischen italienischen  Linken, die hierzulande erstmals über den erbittert geführten Arbeitskampf informierte, der  fast 4  Jahre  andauerte.
Repression von IKEA und Polizei
Träger der Auseinandersetzung waren schlecht bezahlte Lagerarbeiter großer Warenhäuser, die oft aus vielen europäischen, arabischen und nordafrikanischen Staaten angeworben worden waren. Sie sind oft  nicht direkt bei den Warenhäusern sondern bei Subunternehmen angestellt.   „Die Bosse haben gedacht, wir können uns nicht wehren, doch da haben sie sich getäuscht“, so Facchino, der in  Marokko geboren wurde. Die Beschäftigten fordern die Verkürzung der Arbeitszeiten und höhere Löhne. Ein zentrales Mittel im Arbeitskampf waren Blockaden, wenn Waren angeliefert worden sind. Die Polizei ging oft mit brutaler Gewalt gegen die Beschäftigten vor. Die Bilder von  ArbeiterInnen,  die von de Polizei blutig geschlagen wurden, sorgten in ganz Italien für Empörung. Dadurch wurde die Unterstützung für die Forderungen der Beschäftigten größer.
Doch vor allem IKEA schient entschlossen, den Streik der Beschäftigten mit Repression zu beantworten. Im   Juni 2014 wurden 26  Beschäftigte  des IKEA Lagers  in Piacenza entlassen, alle sind Mitglied  der  S.I. Cobas.   Die Entlassungen wurden von verstärkter Polizeirepression ergänzt. So wurde mehreren an den Blockaden  beteiligten  ArbeiterInnen verboten, die Stadt zu betreten, in der sich das   Unternehmen befindet. Damit soll den Beschäftigten verunmöglicht werde, ihren Kampf weiterzuführen. In einigen Fällen bedeutet dieses Stadtverbot auch, dass die Beschäftigten nicht mehr legal ihre Wohnungen betreten können. Diese Repressionsstrategie von Unternehmen und Polizei wollen die Beschäftigten mit einer Ausweitung der Solidarität begegnen. Im Mittelpunkt steht dabei der IKEA-Konzern.  Bereits  am  26. Juni gab es den ersten IKEA-Aktionstag  mit kleinen Aktionen vor Filialen in Hamburg und Berlin.   Der zweite IKEA-Aktionstag am 26.Juli wird bereits von weiteren Städten unterstützt. Die Aktion ist ausbaufähig. Schließlich  ist IKEA als international  agierender Konzern durchaus  ökonomisch getroffen werden, wenn den KundInnen die Arbeitsbedingungen  in den italienischen Logistikzentren nicht mehr gleichgültig sind.

aus Express:

Ausgabe: Heft 07-08/2014

http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak

Service für Wohnungslose bedroht

SOZIALES Die Straßenzeitung „Querkopf“ hat eine Kündigung erhalten – und stellt sich dagegen quer

Man darf Werner Schneidewind einen Querkopf nennen. Der Erwerbslosenaktivist legt sich mit den Behörden und Jobcentern an. „Macht euch unabhängig von Sozialämtern. Es ist leichter, als ihr glaubt“, steht auch in der Straßenzeitung Querkopf, für die Schneidewind arbeitet.

Er ist nicht nur Mitglied des „Querkopf“-Vereins, er betreut auch die Vereinsräume in der Blücherstraße 37. Plakate zeugen von den vielfältigen politischen Aktivitäten dort. Der Kampf gegen Ämterwillkür gehört ebenso dazu wie der Umweltschutz oder der Einsatz für eine Legalisierung von Drogen. Jetzt ist der Standort bedroht.

Wenn Schneidewind derzeit einen kleinen Klapptisch vor dem Verein aufstellt, auf dem dann neben der aktuellen Querkopf-Ausgabe auch Comics und Flugblätter zu finden sind, erkundigen sich viele NachbarInnen oft über den neuesten Stand der Auseinandersetzung mit der Hausverwaltung. Die Immobilienfirma Bearm GmbH hatte dem Verein die Räume, die er 2001 gemietet hat, zum 31. März dieses Jahres gekündigt.

Doch die Querköpfe holten nicht den Umzugswagen, sondern formulierten einen Solidaritätsaufruf unter der Überschrift: „Man will uns aus dem Kiez vertreiben“. Seitdem erreichten die Bearm GmbH zahlreiche Protestschreiben. Auch Anne Allex vom „Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute“ fordert die Rücknahme der Kündigung. „Der Querkopf ist eine der am längsten in Berlin erscheinenden Wohnungslosenzeitungen. Sie bietet in ihrer Zeitung einen Service für Wohnungslose an, in dem sie Beschlüsse der Politik, neue Gesetzesregelungen, Gerichtsurteile mitteilt und Beratungsstellen und Anlaufstellen empfiehlt“, heißt es in ihrem Schreiben. Ein Verlust der Räume würde die Arbeit gefährden, befürchtet Allex.

Schließlich ist der Verein Anlaufpunkt für viele Menschen, die sich durch den Verkauf der Zeitung etwas dazuverdienen. Zudem dienen die Räume auch als Depot für Gegenstände aus Haushaltsauflösungen, ein Zuverdienst für die Erwerbslosen.

Einen persönlichen Erfolg hat Schneidewind gegenüber den Bearm-Geschäftsführer schon errungen. Der habe ihm im März prophezeit, dass die Vereinsräume in sechs Monaten leer sein werden. Bisher ist aber noch nicht einmal ein Gerichtstermin zu einer möglichen Räumung benannt worden. Eine Mitarbeiterin der Bearm GmbH erklärte gegenüber der taz, ihre Firma gebe in der Angelegenheit keine Auskünfte.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2014%2F08%2F07%2Fa0212&cHash=b81bac59ea9b6ba3040c6262959b1b1f

Peter Nowak

Selbsthilfe-Zeitung für Arbeits- und Obdachlose ist bedroht

Vermieter kündigte dem »Querkopf«-Magazin aus Kreuzberg die Räumlichkeiten, das Redaktionskollektiv will aber nicht weichen

Für viele Erwerbslose bieten selbstorganisierte Straßenzeitungen ein kleines zusätzliches Einkommen. In Kreuzberg ist der »Querkopf« als eine solche helfende Zeitung selbst in Schwierigkeiten.

»Kein Ort für Nazis« oder »Marx neu entdecken« steht auf zwei der zahlreichen Aufkleber, die eine Tür in der Blücherstraße 37 in Berlin-Kreuzberg schmücken. Wenn sie offen ist, gibt sie den Blick auf einen kleinen Raum mit vielen Büchern, Postern und Plakaten frei. Es ist der Vereins- und Redaktionsraum des »Querkopfs«, einer Publikation, deren Name Programm ist. »Berliner Arbeits-Obdachlosen, Selbsthilfe-Mitmachzeitung« lautet der sperrige Untertitel, der an Zeiten erinnert, als manche Linke möglichst viele politische Positionen schon im Titel unterbringen wollten.

Vereinsmitglied Werner Schneidewind dürfte die Bezeichnung »Querkopf« als Kompliment empfinden. »Sich gegen die Willkür der Mächtigen zur Wehr zu setzen«, bezeichnet er als ein wichtiges Anliegen. Schneidewind betont auch, dass er sich nicht einschüchtern lässt und besonders wütend wird, wenn der Druck von außen steigt. Vor einigen Jahren haben mutmaßlich Neonazis mehrmals die Scheiben des Ladens eingeworfen und die Fassade mit rechten Parolen beschmiert. »Wir haben es überstanden«, sagt Schneidewind. Doch seit einigen Monaten ist die Zeitung erneut bedroht. Im Herbst des vergangenen Jahres hat die Immobilienfirma Bearm GmbH, die das Gebäude verwaltet, dem Verein gekündigt. Bereis zum 31. März dieses Jahres sollten die Räume »besenrein« übergeben sein. Doch Schneidewind hat den Termin ignoriert und einen Solidaritätsappell gestartet: »Sie wollen uns aus dem Kiez vertreiben«, heißt es darin. Erste Reaktionen gab es inzwischen – sogar bundesweit. So hat der »Arbeitskreis GewerkschafterInnen Aachen« von der Bearm GmbH die Rücknahme der Kündigung gefordert.

Für den Verein Querkopf wäre ein Verlust der Kreuzberger Vereinsräume, die er im Jahr 2001 bezogen hat, existenzbedrohend. Schließlich finden dort nicht nur die monatlichen Redaktionssitzungen von sechs Mitarbeitern statt. Der Verein ist vor allem eine Anlaufstelle für die viel zahlreicheren Verkäufer der Zeitung. Die Hälfte des Preises von 1,50 Euro geht an sie. »Ab Mitte des Monats, wenn das ALG-II aufgebraucht ist, wächst die Zahl der Menschen, die sich mit dem Zeitungsverkauf ein Zubrot verdienen«, sagt Schneidewind.

Außerdem dienen die Vereinsräume als Lager für zahlreiche Gegenstände, die bei Wohnungsauflösungen gesammelt wurden und auf Kunden warten. Der Verkauf ist eine der Möglichkeiten, wie sich aktive Erwerbslose Verdienstmöglichkeiten schaffen und dabei möglichst unabhängig vom Jobcenter bleiben können. Das ist Schneidewind und seinen Mitstreitern ein wichtiges Anlegen. Daher ist für sie der Kampf um den Verbleib der Räume in der Blücherstraße auch mit der Frage verbunden, ob für einkommensschwache Projekte und Menschen noch Platz in Kreuzberg ist.

Auch aus der Nachbarschaft gibt es freundliche Ermunterung für die »Querköpfe«. Häufig bleiben Anwohner stehen und erkundigen sich nach dem aktuellen Stand in der Auseinandersetzung, wenn Schneidewind seinen kleinen Klapptisch vor der Vereinslokalität aufstellt. Dort werden neben dem aktuellen »Querkopf«, auch Comics angeboten, die Geschichten aus linker Perspektive erzählen. »Auch andere Mieter haben Probleme mit der Hausverwaltung«, sagt ein Anwohner.

Den juristischen Auseinandersetzungen um die Kündigung sieht Schneidewind aber gelassen entgegen. »Das kann sich noch Jahre hinziehen«, gibt er sich optimistisch. Der Geschäftsführer der Bearm GmbH Frank Emuth habe ihm im März angekündigt, in sechs Monaten werde er die Räume leer haben. Emuth war gegenüber »nd« zu einer Stellungnahme ebenso wenig bereit wie andere Mitarbeiter der Bearm GmbH.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/941356.selbsthilfe-zeitung-fuer-arbeits-und-obdachlose-ist-bedroht.html?sstr=Querkopf

Peter Nowak