Streiken gegen die italienische Version der Agenda 2010

Anders als in Deutschland werden die Angriffe auf die Rechte der Beschäftigten auch von den Gewerkschaften nicht widerstandslos hingenommen

In Deutschland wird ein Streik, der auch in der Öffentlichkeit spürbar ist, noch immer in die Nähe von Aufruhr und Revolution gebracht und in der veröffentlichten Meinung bekämpft. Dieses Erbe der deutschen Volksgemeinschaft war erst wieder beim Streik der Lokführer zu beobachten. In Italien hingegen ist ein ausgeübter Arbeitskampf und nicht nur ein Streikrecht in der Verfassung Bestandteil der Demokratie.

Am Freitag haben Gewerkschaften mit einem Generalstreik große Teile des öffentlichen Lebens zum Stehen gebracht. Besonders die Basisgewerkschaft SI Cobas[1] war dabei sehr aktiv. In Rom kam es zu einer Demonstration gegen Pläne zur Privatisierung von Nahverkehrsgesellschaften. Betroffen waren Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen. Vor allem in den Metropolen Rom und Mailand, in denen viele Menschen wegen des Streiks auf das Privatauto angewiesen sind, kam es zu längeren Warteschlangen.

Die Arbeitsniederlegungen waren der Beginn einer längeren Auseinsetzung gegen eine zentrale Arbeitsmarktreform der Regierung Renzi. Am 25. Oktober gab es die erste landesweite Großdemonstration gegen diese Reform, mit der der italienische Ministerpräsident ganz bewusst an die Agenda 2010 des SPD-Bundeskanzlers Schröder anzuknüpfen versucht. Dagegen richtet sich der Widerstand von Gewerkschaften, einigen linken Parteien und der außerparlamentarischer Linken. Es stellt sich hiermit auch die Frage, ob sich in Italien eine Politik der Agenda 2010, die den Preis der Ware Arbeitskraft zulasten der Lohnabhängigen reduzieren soll, in Italien realisieren lässt oder ob es dort einem Bündnis aus Gewerkschaften und außerparlamentarischen Gruppen gelingt, diese Agenda-Politik zu verhindern.

In Deutschland gab es gegen die Agenda-Politik Widerstand von Erwerbslosen und von Teilen der Gewerkschaftsbasis. Die Gewerkschaftsführungen allerdings in die Agendapolitik einbezogen und in bestimmte Gremien kooptiert, die sie vorbereiteten. Damit wurde in Deutschland die Ausweitung der Proteste erfolgreich verhindert. Nun muss sich zeigen, ob die Basis in Italien noch kampffähig ist. Schließlich sind auch in Italien die Zeiten lange vorbei, wo es den Gewerkschaften real gelang, eine Gegenmacht auszuüben.

Streitpunkt Kündigungsschutz

Vor allem die Renten- und Arbeitsmarkt-Reform treibt die Menschen auf die Straße. Genau in der Frage ist der rechte Sozialdemokrat angetreten, die einst erkämpften Sozialstandards zu überwinden. Er sah sich selber in der Tradition eines Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010. Dafür wurde von der Konservativen aller Parteien mit Vorschusslorbeeren bedacht. Renzi sollte die Reste des Sozialstaats in Italien schleifen und das Land an den von der deutschen Agenda 2010 vorgegebenen EU-Standard anpassen. Die konservative Badische Zeitung brachte mit aller Klarheit zum Ausdruck, was von Renzi erwartet[2] wird:

Viele Italiener lasten es nicht dem Ministerpräsidenten an, dass er nur häppchenweise Reformen voranbringt. Schuld daran, dass der unerträgliche Status quo in Italien nur ganz langsam verändert wird, seien Mächte, die Italien seit Jahrzehnten im Griff haben und Renzi das Leben schwer machten: ein verknorpeltes und auf Privilegien ausgerichtetes System politischen Schmarotzertums, eine linke Elite, die sich allen notwendigen Änderungen auf dem Weg zu einem modernen und wettbewerbsfähigen Staatswesen entgegen stelle sowie die Gewerkschaften.

Was die Konservativen aller Länder erträumen, versucht Renzi umzusetzen, der deswegen auch in großen Teilen der veröffentlichten Meinung Europas als Reformer verkauft wird. Dazu muss man wissen, dass dieser Begriff längst die Seiten gewechselt hat. Galten zu Zeiten des Fordismus Sozialdemokraten als Reformer, die die Arbeitszeit verkürzen und die Arbeitswelt humaner gestalten wollten, wird die Bezeichnung seit mindestens 2 Jahrzehnten für Menschen gebraucht, die die Gesellschaft nach den Verwertungsinteressen des Kapitals gestalten. Arbeitszeitverlängerung, weniger Rechte für die Gewerkschaften und Beschäftigten gehören dazu. In diesem Sinne versucht sich Renzi als Reformer und hat in Teilen der Gewerkschaften und dem linken Flügel in den eigenen Reihen der Demokratischen Partei (PD) seine Hauptgegner.

Aktuell ist der Job Act der Hauptstreitpunkt. Wie die Agenda 2010 in Deutschland wird er in soziale Rhetorik verpackt. So wird die Schaffung einer allgemeinen Arbeitslosensicherung ebenso vor wie die Abschaffung vieler prekärer Vertragsformen, beginnend bei zeitlich befristeten Honorarverträgen versprochen. Eine nationale Arbeitsagentur soll ins Leben gerufen werden, um die Voraussetzungen für aktive Arbeitsmarktpolitik zu schaffen.

Doch der Kernpunkt des Job Act ist die Schwächung des Kündigungsschutzes, der in Italien sehr rigide war, was der starken Stellung der Gewerkschaften in den 70er Jahren geschuldet ist. Jetzt sollen bei betriebsbedingten Kündigungen zum Beispiel wegen schlechter Wirtschaftslage die Rechte der Lohnabhängigen auf Kündigungsschutzklagen abgeschafft werden; stattdessen sollen sie generell bloß eine Abfindung erhalten. Damit würden entgegen der Rhetorik die prekären Beschäftigungsverhältnisse weiterwachsen.

Widerstand der Prekären

Schon heute leben viele gut ausgebildete junge Italiener in Deutschland, in der Hoffnung, dass sie dort besser überleben können. Aber die Enttäuschung ist groß, weil sie oft die Erfahrung machen müssen, dass der Lohn genau so gering ist wie ihre Rechte.

Einige der jungen Italiener, die sich in den letzten Jahren in der Bewegung gegen die prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen engagiert haben, tragen diese Diskussion. In Berlin regten sie die Debatte über einen sozialen Streik[3] an, über den in Italien schon länger diskutiert wurde. Mitte September hatten italienische Aktivisten[4] zu einem europaweiten Kongress nach Rom eingeladen, um das Konzept eines Streiks der Prekären[5] bekannt zu machen.

Hier zeigt sich, dass die verschiedenen Suchbewegungen von Prekären, sich zu organisieren, beispielsweise die Euromaydaybewegung[6] vor einigen Jahren (Prekarisierte aller Länder[7]), trotz aller Rückschläge nicht vergeblich war. Dass nun Prekäre aus Italien die Debatte in Deutschland mit beleben, weckt historische Reminiszenzen. In den 60er Jahren trafen oft gewerkschaftlich gut organisierte italienische Migranten in Deutschland auf eine Arbeiterschaft, die noch in volksgemeinschaftlichen Denken verhaftet war, eine Begegnung, die nicht immer konfliktfrei verlief. Über 60 Jahre später könnte sich diese Konstellation wiederholen. Italienische Beschäftigte hatten historisch erlebt, dass eine gute gewerkschaftliche Organisierung ihnen Erfolge bringt, die aber schnell verloren werden können. Ende der 70er Jahre war der Kampf um die Scala Mobile ein großes innen- und sozialpolitisches Thema.

Die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation wurde in der Nachkriegszeit durchgesetzt, als kämpferische Gewerkschaften und ihnen nahestehende Parteien eine starke Stellung hatten. Auf Druck der Weltbank wurde diese Lohnanpassung gegen heftigen Widerstand der starken reformistischen Gewerkschaften[8], aber auch einer militanten Fabrikguerilla[9], die es in jenen Jahren in Italien gab, zurückgenommen.

Auch bei der Organisierung migrantischer Beschäftigter ist Italien weiter. Bereits am 1. März 2010 organisierten sie dort den ersten eigenständigen Streik[10] unter dem Motto „24 Stunden ohne uns“[11]. In der italienischen Logistikbranche kämpfen oft migrantische Beschäftigte seit Jahren für einen Tarifvertrag[12]. Mittlerweile werden ihre Forderungen auch international unterstützt, indem vor IKEA-Filialen protestiert wurde, weil der Konzern sich besonders ablehnend zu den Forderungen der Beschäftigten in Italien zeigt.

Ob der Kampf gegen den Kündigungsschutz in der nächsten Zeit in Italien ein Kristallisationspunkt werden könnte, bei dem traditionelle Gewerkschaften und die Bewegung der jungen Prekären kooperieren, wird sich zeigen. Schon jetzt aber wird deutlich, die italienische Variante der Agenda 2010 wird dort nicht so geräuschlos umgesetzt werden können wie in Deutschland.

Anhang

http://www.heise.de/tp/artikel/43/43172/1.html

Peter Nowak

Links

[1]

http://sicobas.org/

[2]

http://www.badiche-zeitung.de/kommentare-1/leitartikel-reformen-im-schneckentempo–91559507.html

[3]

http://basta.blogsport.eu/

[4]

http://twitter.com/StrikeMeeting/status/494422563876253696

[5]

http://blog.scioperosociale.it/

[6]

http://labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/2006/euromayday2006.html

[7]

http://www.heise.de/tp/artikel/22/22498/

[8]

http://archiv.labournet.de/internationales/it/gewerkschaft.html

[9]

http://www.anares-buecher.de/fabrikguerilla-mailand-1980-militante-der-kolonne-walter-alasia-erzaehlen-ihre-geschichte-p-31346.html

[10]

http://www.swr.de/international/ein-tag-ohne-migranten/-/id=233334/nid=233334/did=6053084/1fgoihc/index.html

[11]

http://www.italienforum.de/cgi-bin/yabb2/YaBB.pl?num=1267460782

[12]

http://de.labournet.tv/video/6673/der-kampf-der-logistikarbeiterinnen-italien

Kill Billy in Italy

Aktionstage gegen IKEA – Arbeitskampf internationalisieren
Ein Abfall-Eimer für 14,99 findet sich auf der Homepage von IKEA-Piacenza. Doch der Begleittext zeigt, dass es sich nicht um     die reguläre IKEA-Homepage handelt. „Gewerkschaftliche Rechte haben bei uns ein neues Zuhause gefunden“, heißt es dort. Auf einer Facebook-Seite ist die Botschaft schon auf dem ersten Blick vernehmbar. Badikea wird das Firmenlogo umdefiniert. Es handelt sich dabei um zwei von vielen   Internetauftritten, die eine neue  internationale IKEA-Kampagne in Solidarität mit einem bisher hierzulande weitgehend unbekannten Arbeitskampf von italienischen LogisitkarbeiterInnen initiierte.
Seit 2011 kämpfen in Italien die meist migrantischen ArbeiterInnen in der Logistikbranche für reguläre Arbeitsbedingungen. In vielen großen Unternehmen ist es ihnen gelungen, durch entschlossenes, militantes Vorgehen die Einhaltung der nationalen Standards zu erzwingen und sich gegen die VorarbeiterInnen, die Leiharbeitsfirmen, die Polizei und die großen Gewerkschaften und die Medien durchzusetzen.   Sie sind auch deshalb erfolgreich, weil große Teile der radikalen Linken, sowie eine kleine Basisgewerkschaft sich mit ihnen solidarisieren und ihre Aktionen unterstützen.  Der Arbeitskampf hat die bisher rechtlosen ArbeiterInnen mobilisiert.
„Vor zwei Jahren hatte unsere Gewerkschaft in Rom drei Mitglieder.  Heute sind es dreitausend“, erklärt Karim Facchino. Er ist Lagerarbeiter und Mitglied der italienischen Basisgewerkschaft S.I.  Cobas. Der   rasante Mitgliederzuwachs  der Basisgewerkschaft ist auch eine Folge der Selbstorganisation der Beschäftigten. „Wir haben  keine bezahlten Funktionäre, nur einen Koordinator, doch sein Platz ist nicht am Schreibtisch eines Büros sondern auf der Straße und vor der Fabrik“, betonte  Facchino. Er war im Mai 2014 Teilnehmer einer Delegation italienischer GewerkschafterInnen und UnterstützerInnen  aus der außerparlamentarischen italienischen  Linken, die hierzulande erstmals über den erbittert geführten Arbeitskampf informierte, der  fast 4  Jahre  andauerte.
Repression von IKEA und Polizei
Träger der Auseinandersetzung waren schlecht bezahlte Lagerarbeiter großer Warenhäuser, die oft aus vielen europäischen, arabischen und nordafrikanischen Staaten angeworben worden waren. Sie sind oft  nicht direkt bei den Warenhäusern sondern bei Subunternehmen angestellt.   „Die Bosse haben gedacht, wir können uns nicht wehren, doch da haben sie sich getäuscht“, so Facchino, der in  Marokko geboren wurde. Die Beschäftigten fordern die Verkürzung der Arbeitszeiten und höhere Löhne. Ein zentrales Mittel im Arbeitskampf waren Blockaden, wenn Waren angeliefert worden sind. Die Polizei ging oft mit brutaler Gewalt gegen die Beschäftigten vor. Die Bilder von  ArbeiterInnen,  die von de Polizei blutig geschlagen wurden, sorgten in ganz Italien für Empörung. Dadurch wurde die Unterstützung für die Forderungen der Beschäftigten größer.
Doch vor allem IKEA schient entschlossen, den Streik der Beschäftigten mit Repression zu beantworten. Im   Juni 2014 wurden 26  Beschäftigte  des IKEA Lagers  in Piacenza entlassen, alle sind Mitglied  der  S.I. Cobas.   Die Entlassungen wurden von verstärkter Polizeirepression ergänzt. So wurde mehreren an den Blockaden  beteiligten  ArbeiterInnen verboten, die Stadt zu betreten, in der sich das   Unternehmen befindet. Damit soll den Beschäftigten verunmöglicht werde, ihren Kampf weiterzuführen. In einigen Fällen bedeutet dieses Stadtverbot auch, dass die Beschäftigten nicht mehr legal ihre Wohnungen betreten können. Diese Repressionsstrategie von Unternehmen und Polizei wollen die Beschäftigten mit einer Ausweitung der Solidarität begegnen. Im Mittelpunkt steht dabei der IKEA-Konzern.  Bereits  am  26. Juni gab es den ersten IKEA-Aktionstag  mit kleinen Aktionen vor Filialen in Hamburg und Berlin.   Der zweite IKEA-Aktionstag am 26.Juli wird bereits von weiteren Städten unterstützt. Die Aktion ist ausbaufähig. Schließlich  ist IKEA als international  agierender Konzern durchaus  ökonomisch getroffen werden, wenn den KundInnen die Arbeitsbedingungen  in den italienischen Logistikzentren nicht mehr gleichgültig sind.

aus Express:

Ausgabe: Heft 07-08/2014

http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak