Soli-Rapper

Am 8. April hatte er auf einer Bühne vor dem Brandenburger Tor den großen Auftritt. Beim Abschlusskonzert des Internationalen Romatages brachte Hikmet Prizreni a.k.a Prince H nicht nur das Publikum zum Tanzen. Er verkündete auch eine Botschaft. In kurzen Worten forderte er eindringlich gleiche Rechte für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft. Mittlerweile ist der 34jährige Rapper als Stimme der Geflüchteten bekannt geworden.

Sieben Monate später braucht Prince H die verkündete Solidarität nun selber. Und er erhält sie. Unter dem Motto »Freiheit für Hikmet. Alle sollen bleiben« organisierten Künstlerkollegen und Flüchtlingsgruppen am 22. Dezember in Berlin ein Solidaritätskonzert. Selbst der Rapper Sido rief via Facebook zur Teilnahme auf. Auch ein Solidaritätslied für Hikmet wurde gespielt.

Seit Monaten befindet sich Prince H. in Essen in Abschiebhaft, nachdem er am 9. Oktober bei einem Routinegang auf eine Behörde festgenommen worden war. Hikmet Prizreni wurde 1981 im kosovarischen Pristina geboren. Als er sieben Jahre alt war, flohen seine Eltern mit ihm und seinem jüngeren Bruder nach Deutschland. Über den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn schrieb er: »Als ich 13-14 Jahre alt war, fing ich an zu tanzen und Musik zu machen. Ich habe in meiner Freizeit hart trainiert und hatte viele Auftritte«. In Internetforen spricht er auch offen über einen großen Fehler, den er gemacht hat. Wegen eines Drogendelikts war er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Die Ausländerbehörde entzog ihm darauf die Aufenthaltserlaubnis. Fortan befand er sich im Status eines Menschen, der seinen Duldungsstatus monatlich verlängern lassen muss. Bereits im April 2015 hatten Freunde des Künstlers eine Onlinepetition für sein Bleiberecht initiiert. Sie wurde allerdings nur von 1812 Personen unterzeichnet. Erst nachdem der Rapper in Abschiebehaft kam und die Gefahr der Abschiebung akut geworden ist, wächst die Unterstützung. Es ist seine letzte Hoffnung, denn der Kosovo ist ein für ihn fremdes Land.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/996094.soli-rapper.html

Peter Nowak

Hip-Hopper Prince H. in Abschiebehaft

Der Musiker setzte sich nicht nur für die Rechte der Roma, sondern für die aller Geflüchteten ein

Der Hip-Hopper Hikmet Prizreni a.k.a Prince H. macht zurzeit Schlagzeilen aus traurigem Anlass. Seit mehr als 2 Monaten befindet sich der 34-Jährige in Abschiebehaft [1]. Am 9.10.2015 wurde er von der Polizei gemeinsam mit seinen Bruder bei einem Routinebesuch einer Behörde in Essen verhaftet.

Prizreni wurde 1981 in der kosovarischen Stadt Pristina geboren. Als er 7 Jahre alt war, sind seine Eltern mit ihm und seinem jüngeren Bruder nach Deutschland geflohen. Über den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn schreibt er: „Als ich 13-14 Jahre alt war, fing ich an zu tanzen und Musik zu machen. Ich habe in meiner Freizeit hart trainiert und hatte viele Auftritte.“

Im Internetforum spricht er auch offen über das, was er heute als großen Fehler bezeichnet. Wegen eines Drogendelikts wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Daraufhin entzog ihm die Ausländerbehörde die Aufenthaltserlaubnis. Fortan befand er sich im Status eines Geduldeten. Jeden Monat musste er seinen Aufenthaltsstatus verlängern lassen. Die Angst vor einer Abschiebung war groß.

Künstler solidarisierten sich mit den von Abschiebung Bedrohten

Bereits im April 2015 initiierten Freunde des Künstlers eine Onlinepetition [2] für sein Bleiberecht. Sie wurde von 1812 Personen unterzeichnet.

Nachdem die Abschiebehaft des Hip-Hoppers bekannt wurde, ist die Zahl seiner Unterstützer enorm gewachsen [3]. Im traditionsreichen Konzertsaal S036 organisierten Künstlerkollegen ein Solidaritätskonzert unter dem Motto „Freiheit für Hikmet. Alle sollen bleiben“ [4]. Selbst Sido ruft zur Teilnahme auf. „Geht dahin. Ist eine gute Sache“, schreibt er.

Die Solidarität dürfte auch damit zusammenhängen, dass der Hip-Hopper in den letzten Monaten als Stimme der Geflüchteten bekannt geworden ist. Einer der Höhepunkte war ein Auftritt aus Anlass des Internationalen Roma-Tags am 8.April 2015. Auf dem Abschlusskonzert [5] brachte Prince H. auf einer Bühne am Brandenburger Tor das Publikum zum Tanzen.

Der Musiker setzte sich nicht nur für die Rechte der Roma, sondern für die aller Geflüchteten ein. Deshalb unterstützen [6] auch zahlreiche Flüchtlingsorganisationen Prince H. Die Publicity könnte dazu beitragen, dass er Erfolg hat.

Vor sieben Jahren sollte der als Afrohesse bekannt gewordene Hip-Hopper nach Algerien abgeschoben [7] worden. Auch er hatte keine Beziehungen zu dem Land und wehrte sich gegen die Deportation. Nachdem er längere Zeit ohne Papiere in Deutschland gelebt hat und sogar eine Platte [8] aufnahm, drohte ihm nach seiner Verhaftung die unmittelbare Abschiebung. Auch für ihn setzten sich viele Künstlerkollegen ein und er hatte Erfolg. Seine Abschiebung konnte verhindert [9]werden. Heute ist er ein erfolgreicher Künstler [10].

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/news/Hip-Hopper-Prince-H-in-Abschiebehaft-3055178.html

Links:

[1]

http://roma-art-action.com/Free-Hikmet

[2]

https://www.openpetition.de/petition/online/abschiebungsanordnung-nach-27-jahren-wir-fordern-ein-bleiberecht-fur-hikmet

[3]

http://www.alle-bleiben.info/freiheit-und-bleiberecht-fuer-hikmet-kampf-um-sein-bleiberecht-geht-weiter-und-brauchen-dafuer-eure-unterstuetzung-sowohl-politisch-als-auch-finanziell/

[4]

http://www.alle-bleiben.info/soli-konzert-freiheit-fuer-hikmet-alle-bleiben/

[5]

http://bundesromaverband.de/romaday-8-april-2015-berlin/

[6]

http://oplatz.net/

[7]

http://www.fr-online.de/home/illegal-in-deutschland-afro-hesse-ist-unerwuenscht,1472778,3384058.html

[8]

https://itunes.apple.com/in/album/der-verschollene-immigrant/id104291351

[9]

http://www.bene-lux.de/positionen/fluechtlinge/2105916.html

Xavier Naidoo – die deutsche Stimme beim Euro Vision Song Contest

Linker Lesestoff

Die linke Literaturmesse in Nürnberg zieht seit 20 Jahren Verlage und Besucher aus ganz Deutschland an

Zum 20. Mal fand in Nürnberg am Wochenende die Linke Literaturmesse statt. Mehr als 60 Vorträge, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen beschäftigten sich drei Tage lang mit den aktuellen Zuständen in Deutschland und der Rolle der linken Bewegung. Die Auftaktveranstaltung widmete sich unter dem Titel »Aufmärsche, Brandanschläge, Wahlerfolg« der wachsenden Mobilisierung von Rechts. Neben den Themen Antirassismus und Antifaschismus stand bei mehreren Diskussionsrunden die Renaissance der Arbeitskämpfe im Mittelpunkt, die bis in Gefängnisse hinein zu beobachten ist. Darüber berichtet etwa die Publikation »Out break« der neu gegründeten Gefangenengewerkschaft, die in Nürnberg vorgestellt wurde.

Verlage und Besucher aus ganz Deutschland waren angereist. »Die Linken arbeiten bei uns zusammen und hören einander zu«, benannte ein Veranstalter den Grund, dass auch nach zwei Jahrzehnten das Interesse an der linken Messe nicht abgenommen hat. Die Messe spiegelt die Bandbreite der Linken: Anarchistische und kommunistische Verlage sind vor Ort, genauso wie sozialistische und marxistische. Die Vielfalt wird auch in den Diskussionsveranstaltungen deutlich, nur beim linken Streitthema Nahost war auch in Nürnberg die Grenze des Meinungspluralismus erreicht. Nach einem heftigen Streit vor einigen Jahren sind Verlage mit einseitig israelparteiischer Literatur in Nürnberg nicht mehr vertreten. Doch Stoff für Debatten bleibt angesichts der politischen Breite der Veranstaltung noch genug.

Die Messe war vor 20 Jahren ins Leben gerufen worden, weil es seinerzeit im Süden der Republik nicht so leicht war, an linke Publikationen zu kommen. Aus diesem Mangel heraus entstand die Idee, dann eben Verlage und Redaktionen in die Region einzuladen, um ihre Angebote zu präsentieren. Vor allem junge Leute nutzen seither die Möglichkeit zur Information und Diskussion, die die Literaturmesse bietet. Für linke Verlage ist die Messe auch eine Gelegenheit, einmal ein Buch direkt zu verkaufen. Schließlich leiden sie darunter, dass selbst ihre Zielgruppe die Bücher eher über Amazon als bei ihnen bestellt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/990011.linker-lesestoff.html

Peter Nowak

Was hätte wohl Mühsam dazu gesagt…

Zwei Rückblicke auf Ausstellungseröffnung und Tagung

Vor über 81 Jahren ist Erich Mühsam gestorben. Die wirkliche Anerkennung ist ihm erst posthum zuteil geworden. Doch so sehr er geschätzt wird – Mühsam bleibt mühsam. An ihm scheiden sich die Geister und auch seine „AnhängerInnen“ sind nicht immer einer Meinung, wenn es um sein Wirken und seine Rezeption geht. Aus diesem Grund sind zur aktuellen Mühsam-Ausstellung in Meiningen zwei Autoren vertreten.

„Meiningen und seine Anarchisten“ lautet der Titel der Ausstellung, die bis zum 27. September im Meininger Schloss Elisabethenburg zu sehen ist. Bei der Eröffnung am 17. Mai betonte der anarchistische Liedermacher Christoph Holzhöfer, dass Mühsam auch heute ein Feind aller Autoritären und ein großer Klassenkämpfer sein würde. Er lieferte damit das Kontrastprogramm zu seinen Vorrednern von der Lübecker Erich Mühsam-Gesellschaft, die aus dem Namensgeber eine Art freundlichen Querdenker machen wollen, der sich heute vielleicht über die Überwachung durch die USA sorgen würde. Natürlich können die sozialdemokratischen Mühsam-VerwalterInnen keine Gedenkrede ohne ein Zitat von Willy Brandt und Heide Simonis halten. Nun sind die Reden bei Ausstellungseröffnungen – meist zu Recht – schnell vergessen. Doch auch in der Ausstellungsankündigung wird Mühsam zu einer Art Lifestyleanarchisten entpolitisiert. „Er lebte seine Vorstellung von Anarchismus und somit gehört seine Persönlichkeit in einem weit größeren Ausmaß, als dies bei anderen Schriftstellern der Fall ist, zu seiner Wirkung dazu“, heißt es da. Konsequenterweise wird Mühsam als Bohème und jüdischer Intellektueller erwähnt. Doch der Revolutionär und Klassenkämpfer Mühsam, der sich für sein Engagement den Hass der herrschenden Klasse zugezogen hat, kommt hier ebenso wenig vor, wie der Rote Hilfe-Aktivist, der für die Freilassung aller Gefangenen eintrat. So wird davon schwadroniert, dass für Mühsam die Münchner Räterepublik „das konsequente Gegenmodell zur Bürgerwelt der Väter“ gewesen sei. Dass für Mühsam die Räterepublik das Werk der arbeitenden Menschen sein sollte, wird dort nicht erwähnt. Doch so sehr sie es auch versuchen, Erich Mühsam, der Zeit seines Lebens die SozialdemokratInnen aller Parteien mit Hohn und Spott bedacht hatte, lässt sich auch im Museum nicht noch posthum in deren Reihen eingemeinden.

Direkte Aktion 231 – Sept/Okt 2015

https://www.direkteaktion.org/231/Was-haette-wohl-Muhsam-dazu-gesagt

Peter Nowak

„Die Angst wegschmeißen“

Labournet.tv erinnert in ihrem jüngsten Film an den Zyklus der Arbeitskämpfe in der norditalienischen Logistikbranche.

Seit 2011 kämpfen in Italien meist migrantische ArbeiterInnen in der Logistikbranche für reguläre Arbeitsbedingungen. In vielen großen Unternehmen ist es ihnen gelungen, durch entschlossenes Vorgehen die Einhaltung der nationalen Standards zu erzwingen und sich gegen die VorarbeiterInnen, die Leiharbeitsfirmen, die Polizei, die großen Gewerkschaften und die großen Medien durchzusetzen. Sie waren auch deshalb erfolgreich, weil sie auf die eigene Kraft vertrauten und auch in scheinbar aussichtslosen Situationen die Konfrontation mit den Bossen nicht scheuten. Durch ihre entschlossene Haltung erreichten sie es, dass sich große Teile der radikalen Linken aus Mailand und anderen norditalienischen Städten mit ihnen solidarisieren und ihre Aktionen unterstützen. Der Arbeitskampf hat die bisher rechtlosen ArbeiterInnen mobilisiert. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Basisgewerkschaft Sindicato Intercateoriale Cobas (S.I. Cobas).

„Vor zwei Jahren hatte unsere Gewerkschaft in Rom drei Mitglieder. Heute sind es dreitausend“, erklärt Karim Facchino. Er ist Lagerarbeiter und Mitglied der italienischen Basisgewerkschaft S.I. Cobas. Der rasante Mitgliederzuwachs der Basisgewerkschaft ist auch eine Folge der Selbstorganisation der Beschäftigten. „Wir haben keine bezahlten Funktionäre, nur einen Koordinator, doch sein Platz ist nicht am Schreibtisch eines Büros, sondern auf der Straße und vor der Fabrik“, betont Facchino. Er war im Mai 2014 Teilnehmer einer Delegation italienischer GewerkschafterInnen und UnterstützerInnen aus der außerparlamentarischen italienischen Linken, die hierzulande über den erbittert geführten Arbeitskampf informierte, der fast vier Jahre andauerte. Zwei Monate vorher hatte eine Delegation von S.I. Cobas auf einem Treffen europäischer BasisgewerkschafterInnen über den Kampf der LogistikarbeiterInnen in Italien berichtet. Bei dem kleinen Team von labournet.tv hatte er dort deren Interesse geweckt. Die VideoaktivistInnen fuhren mehrmals nach Norditalien, führten zahlreiche Interviews mit den Beschäftigten und stellten sich auch die Frage, wie es dazu kam, dass sie so lange und kompromisslos ihren Arbeitskampf führten. So ist ein Film entstanden, der zeigt, wie Menschen sich verändern, wenn sie zu kämpfen beginnen. „Wir haben die Angst weggeschmissen“, erklärte ein Beschäftigter, der dem Film den Titel gab.„Die Angst wegschmeißen – Die Bewegung der LogistikarbeiterInnen in Italien“ liefert Dokumente eines Arbeitskampfs in Norditalien, der bisher in Deutschland kaum bekannt war.„Mafia verschwinde“, rufen die Jugendlichen und schwenken Fahnen der Antifaschistischen Aktion und der Gewerkschaft S.I. Cobas. Es ist eine Szene des mehrjährigen Arbeitskampfes. Eine Stärke des Films besteht darin, dass die unterschiedlichen Beteiligten am Arbeitskampf zu Wort kommen. Junge Männer aus Nordafrika, die durch den Arbeitskampf erstmals für ihre Rechte kämpften, berichten mit Stolz in der Stimme, dass sie diese Erfahrung für ihr Leben geprägt habe. Nüchterner formulieren mehrere Frauen, wie der Streik ihr Leben verändert hat. Sie sind nicht mehr bereit, die Verhältnisse einfach hinzunehmen, sondern erwehren sich auch der patriarchalen Zustände, denen sie ausgesetzt sind. Im Film kommt immer wieder die Rolle der Gewerkschaft S.I. Cobas zur Sprache, ohne die der Kampf nie hätte begonnen werden können. „Hier sind die Erfahrungen von langjährigen linken Aktivisten und die Wut der Logistikarbeiter zusammengekommen,“ formulierte es eine am Streik beteiligte Kollegin.Der langjährige S.I. Cobas-Aktivist Roberto Luzzi spricht im Film auch über die Grenzen der gewerkschaftlichen Kämpfe. „Hier können wohl Erfahrungen gesammelt werden, aber für eine Veränderung der Gesellschaft sind auch politische Organisationen notwendig“, erklärte er. Besonders die Jugend, die in ihren Leben oft noch keine Arbeitskämpfe kennengelernt habe, mache durch die Beteiligung am Arbeitskampf die Erfahrung, dass die kämpfende Arbeiterbewegung noch existiert, betont Luzzi. Die KollegInnen mussten Ende August auch wieder die Erfahrung machen, dass die Kapitalseite entschlossen ist, die Errungenschaften rückgängig zu machen. Mehrere der Beschäftigten, die im Film Interviews gegeben haben, wurden entlassen, einem migrantischen Gewerkschafter droht die Abschiebung.Der Film ist von einer Grundsympathie für die Streikenden geprägt und am Ende denkt man an den Amazon-Streik. Roberto Luzzi war Ende März und Anfang April 2015 für einige Tage in Deutschland und berichtete über den Arbeitskampf in Italien. Dabei besuchte er auch streikende Amazon-KollegInnen in Leipzig. Bei vielen von ihnen setzt sich nach den monatelangen Kämpfen die Erkenntnis durch, dass ein Arbeitskampf gegen einen multinationalen Konzern wie Amazon nur durch die transnationale Solidarität der Beschäftigten gewonnen werden kann. Der Film kann dadurch, dass er einen bisher weitgehend unbekannten Arbeitskampf in der europäischen Nachbarschaft bekannt macht, dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Er könnte auch Argumente für die KollegInnen liefern, die auch für undokumentierte Beschäftigte das Recht auf Mitgliedschaft in einer DGB-Gewerkschaft durchsetzen wollen. Bei S.I. Cobas ist diese Praxis selbstverständlich. Dem Film1 ist eine weitere Verbreitung zu wünschen.

[1] Der Film kann kostenlos heruntergeladen werden auf der Onlineplattform de.labournet.tv/video/6796/die-angst-wegschmeissen

Erschienen in: Direkte Aktion 231 – Sept/Okt 2015

https://www.direkteaktion.org/231/die-angst-wegschmeissen

Peter Nowak

Mieter und Künstler stellen die Wohnungsfrage

Mit der Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt wird deutlich, dass der kapitalistische Verwertungszwang das größte Hindernis für alternative Wohnmodelle darstellt

Der türkische Teekocher mit dem Aufkleber der Kreuzberger Stadtteilinitiative Kotti & Co. gehört zum Inventar des Protest-Gececondo[1], das die Mieter im Mai 2012 am Kottbuser Tor errichtet haben. Nun findet sich der Teekocher auch im Haus der Kulturen der Welt[2]. Dort wurde im Rahmen der Ausstellung „Wohnungsfrage“[3], die am 22.Oktober eröffnet wurde, die Protesthütte nachgebaut.

„Das HKW hat uns die Möglichkeit gegeben, mit dem Architekten Teddy Cruz und der Wissenschaftlerin Fonna Forman[4] aus San Diego eine Antwort auf die Frage des Wohnens zu suchen. Sehr schnell waren wir uns einig, dass die Frage des Wohnens niemals nur eine räumliche /architektonische ist, sondern immer auch eine politische und eine ökonomische Frage“, erklärt Sandy Kaltenborn von Kotti & Co gegenüber Telepolis.

Im Rahmen der Ausstellung wird die temporäre Hütte nicht nur im HKW zu sehen sein. Vom 6. bis 8. November wird sie neben der Protesthütte am Kottbuser Tor aufgebaut. Dort wird auch die 50minütige Filminstallation „Miete essen Seele auf“[5] von Angelika Levi[6] zu sehen sein, in der die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Kreuzberg verarbeitet wird.

Auch die Senioren der Stillen Straße[7], die 2012 mit der Besetzung[8] ihres von Schließung bedrohten Treffpunkts in Pankow für Aufmerksamkeit sorgten, sind Kooperationspartner der Ausstellung. Gemeinsam mit ihnen entwickelte das Londoner Architekturbüro Assemble die Installation Teilwohnung[9]. So ist ein Wohnkomplex entstanden, der im Erdgeschoss kollektiv genutzte Gemeinschaftsräume und Werkstätten beherbergt. Die anderen Etagen sind den privaten Räumen der Bewohner vorbehalten.

„Der Entwurf ermöglicht ein gemeinsames und zugleich selbstbestimmtes Wohnen von Menschen jeden Alters und stellt damit einen Gegenentwurf zu den isolierten Wohnanlagen dar „, betont einer der Architekten.

Mietenkämpfe, wenn der kapitalistische Verwertungszwang wegfällt

In der Eröffnungsansprache benannte der Intendant des HKW Bernd Scherer die Faktoren, die die Verbreitung solcher menschenfreundlichen Alternativen behindern. „Wohnungen werden nicht nur gebaut, um darin zu wohnen, sondern um Geld anzulegen und mit den wachsenden Preisen und Mieten zu spekulieren“, benannte er eine Situation, die heute Mieter mit geringen Einkommen leidvoll erfahren.

In der Ausstellung wird an Beispielen aus verschiedenen Teilen der Welt gezeigt, wie Wohnungen für die Allgemeinheit errichtet werden können, wenn der kapitalistische Verwertungszwang zurückgedrängt ist. So zeigt der Dokumentarfilm „Häuser für die Massen“ wie in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 die Mieter- und Stadtteilbewegung SAAL[10] Teil eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs wurde. Hier wird deutlich, mit welcher Begeisterung, Menschen, die jahrzehntelang marginalisiert worden waren, die individuelle und gesellschaftliche Befreiung in die eigenen Hände nahmen.

Das Künstlertrio Lisa Schmidt-Colinet, Florian Zeyfang und Alexander Schmoeger dokumentiert die Geschichte des Wohnungsbaus in Kuba seit der Revolution. Im Zentrum stehen die aus Arbeitern bestehenden Microbrigaden[11], die mit Material von der Regierung ihre eigenen Wohnungen und daneben auch kommunale Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser errichten. In dem Film werden auch aber die Probleme benannt, die durch den Mangel an Rohstoffen nach dem Ende des nominalsozialistischen Lagers, aber auch die dirigistische Politik der kubanischen Regierung entstanden sind.

Die Menschen wollen an der Basis entscheiden und nicht bevormundet werden, sagt in dem Film ein kubanischer Architekt. Sie wollen sich auch nicht von scheinbar objektiven Marktgesetzen unterwerfen. Das ist eine Erkenntnis, die sich aus der hochinteressanten Ausstellung gewinnen lässt. Es ist bemerkenswert, dass schon im Ausstellungstitel, aber auch in den Texten der Zusammenhang zwischen den Problemen um die Mieten und dem Kapitalismus hergestellt wird. Friedrich Engels Schrift „Zur Wohnungsfrage“[12] klingt im Titel an.

Der Intendant des HKW spricht die Grenzen an, die eine Wohnungspolitik für viele Menschen im Kapitalismus hat. Dieser Aspekt ist deshalb besonders zu würdigen, weil auch viele Menschen, die sich positiv auf die aktuelle Mieterbewegung beziehen, den Zusammenhang zum Kapitalismus nicht herstellen.

Das wurde am Abend der Ausstellungseröffnung[13] bei der Vorstellung des Buches „Der Kotti“ von Jörg Albrecht[14] im „postpostmodernen Büro für Kommunikation WestGermany“[15] deutlich. Bei dem Autor, der in der Vergangenheit ebenfalls mit der Mieterinitiative Kotti & Co kooperierte, kam das Wort Kapitalismus nicht vor.

Mietrebellen forschen über ihre Geschichte

Kürzlich ist in Berlin die Ausstellung „Kämpfende Hütten“[16] zu Ende gegangen. Dort haben sich ehemalige Hausbesetzer, heutige Mietrebellen und Wissenschaftler mit der über 150jährigen Geschichte der Berliner Mieterbewegung befasst. An die Blumenstraßenkrawalle[17] gegen eine Zwangsräumung 1872 wurde ebenso erinnert, wie an die von dem Historiker Simon Lengemann erforschten Mieterräte[18] , die unter dem Motto „Erst das Essen, dann die Miete“[19] in der Endphase der Weimarer Republik die Mietzahlungen kürzten, um überhaupt überleben zu können.

Bei der Ausstellung wurde aber auch deutlich, dass selbst über die jüngere Geschichte der Mieterbewegung heute wenig bekannt ist. So informieren Dokumente über die Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahren aktive Mieterbewegung im Westberliner Märkischen Viertel[20] und über den ebenso vergessenen Anteil, den Migrantinnen und Migranten an der Westberliner Hausbesetzerbewegung der 80er Jahre hatten. Es ist auf jeden Fall ein Zeichen des Selbstbewusstseins der aktuellen Mieterbewegung, wenn sie mit Künstlern kooperiert und sich ihrer Geschichte vergewissert.

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/46/46360/1.html

Anhang

Links

[1]

http://kottiundco.net/2015/10/21/die-wohnungsfrage-stellen/

[2]

http://www.hkw.de

[3]

http://www.hkw.de/de/programm/projekte/2015/wohnungsfrage/ausstellung_wohnungsfrage/wohnungsfrage_ausstellung.php

[4]

http://www.uctv.tv/shows/The-Urbanization-of-Happiness-and-the-Decline-of-Civic-Imagination-with-Fonna-Forman-and-Teddy-Cruz-The-Good-Life-25953

[5]

http://www.weltfilm.com/de/filme/in-produktion/miete-essen-seele-auf

[6]

http://de-de.facebook.com/angelika.levi

[7]

http://stillestrasse.de/

[8]

http://stillestrasse10bleibt.blogsport.eu/

[9]

http://assemble.io/docs/Installation.html

[10]

http://www.uncubemagazine.com/sixcms/detail.php?id=14819803&articleid=art-1415705429622-e8121177-d0d5-4a97-831e-41091b148093#!/page24

[11]

http://www.florian-zeyfang.de/microbrigades-variations/movie/

[12]

http://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-wohnungsfrage-5094/1

[13]

http://www.berlinonline.de/nachrichten/kreuzberg/buchvorstellung-das-kotti-ist-tot-es-lebe-vielleicht-bald-nichts-mehr-69994

[14]

http://www.fotofixautomat.de/

[15]

http://www.westgermany.eu/

[16]

http://kaempfendehuetten.blogsport.eu/

[17]

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2014/me-single/article/blumenstrassenkrawalle-anno-1872.html

[18]

http://haendewegvomwedding.blogsport.eu/?p=828

[19]

http://www.berlinstreet.de/ackerstrasse/acker33

[20]

http://www.trend.infopartisan.net/trd0413/t020413.html

Friede den Protesthütten, Krieg der Immobilienwirtschaft

Haus der Kulturen der Welt widmet sich mit Ausstellung und Langzeitprojekt der Frage, wie Menschen in Großstädten künftig wohnen werden

Wohnungen als Spekulationsmasse? Architekten und Aktivisten wollen kritisch beleuchten, dass das Menschenrecht auf Wohnen zunehmend der Immobilienwirtschaft überlassen wird.

Der Teekocher mit dem Aufkleber der Kreuzberger Stadtteilinitiative Kotti & Co. gehört zum Inventar des Protest-Gecekondu, das Mieter im Mai 2012 am Kottbuser Tor errichtet haben. Nun findet sich der Teekocher im Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Dort wurde im Rahmen der Ausstellung »Wohnungsfrage«, die am Donnerstag eröffnet wurde, die Protesthütte nachgebaut. »Das HKW hat uns die Möglichkeit gegeben, mit dem Architekten Teddy Cruz und der Wissenschaftlerin Fonna Forman aus San Diego eine Antwort auf die Frage des Wohnens zu suchen. Sehr schnell waren wir uns einig, dass die Frage des Wohnens niemals nur eine räumliche oder architektonische ist, sondern immer auch eine politische und eine ökonomische Frage«, sagt Sandy Kaltenborn von Kotti & Co dem »nd«.

Im Rahmen der Ausstellung wird die temporare Hütte nicht nur im HKW zu sehen sein. Vom 6. bis 8. November wird sie neben der Protesthütte am Kottbuser Tor aufgebaut. Dort wird auch die Filminstallation »Miete essen Seele auf« von Angelika Levi zu sehen, in der die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Kreuzberg verarbeitet wird.

Mit der Ausstellung experimenteller Wohnungsformate und künstlerischer Arbeiten, einer Publikationsreihe und einer internationalen Akademie will das HKW einen »Diskurs über sozialen, bezahlbaren und selbstbestimmten Wohnungsbau anregen«. Den »Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten«, die »kolossale Steigerung der Mietspreise«, die Verdrängung der »Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis«: Die Ausstellung will sich kritisch damit auseinandersetzen, dass das Menschenrecht auf Wohnen zunehmend der Immobilienwirtschaft überlassen wird. Das Gestalten von Wohnungen, Nachbarschaften und Städten solle wieder als soziokulturelle Praxis verstanden werden.

Zu diesem Zweck werden (Film)Installationen, Bildessays oder Architekturmodelle gezeigt. Die entwickelten Wohnkonzepte werden in der Ausstellung 1:1 umgesetzt.

In der Ausstellung wird außerdem an Beispielen aus verschiedenen Teilen der Welt gezeigt, wie Wohnungen für die Allgemeinheit errichtet werden können, wenn der kapitalistische Verwertungszwang zurückgedrängt ist. So zeigt der Dokumentarfilm »Häuser für die Massen«, wie in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 die Mieter- und Stadtteilbewegung Teil eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs wurde.

Auch die Senioren der Stillen Straße, die 2012 mit der Besetzung ihres von Schließung bedrohten Treffpunkts in Pankow für Aufmerksamkeit sorgten, sind Kooperationspartner der Ausstellung. Gemeinsam mit ihnen entwickelte das Londoner Architekturbüro »Assemble« die Installation Teilwohnung. So ist ein Wohnkomplex entstanden, der im Erdgeschoss kollektiv genutzte Gemeinschaftsräume und Werkstätten beherbergt. Die anderen Etagen sind den privaten Räumen der Bewohner vorbehalten. »Der Entwurf ermöglicht ein gemeinsames und zugleich selbstbestimmtes Wohnen von Menschen jeden Alters und stellt damit einen Gegenentwurf zu isolierten Wohnanlagen dar«, betont einer der Architekten.

In der einwöchigen Akademie will das Haus außerdem WissenschaftlerInnen, PraktikerInnen, KünstlerInnen und andere ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen zusammen bringen. Das Künstlertrio Lisa Schmidt-Colinet, Florian Zeyfang und Alexander Schmoeger beispielsweise dokumentiert die Geschichte des Wohnungsbaus in Kuba seit der Revolution. Im Zentrum stehen die aus Arbeitern bestehenden Microbrigaden, die mit von der Regierung mit Material ihre eigenen Wohnungen und daneben auch kommunale Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser errichten.

Insgesamt stehen 18 Vorträge auf dem Programm. Andrej Holm spricht über »Staatsversagen und Marktekstase« auch das Auf und Ab der Berliner Mietskasernen wird beleuchtet.

In der Eröffnungsansprache benannte der Intendant des HKW, Bernd Scherer, die Faktoren, die die Verbreitung solcher menschenfreundlichen Alternativen behindern. »Wohnungen werden nicht nur gebaut, um darin zu wohnen, sondern um Geld anzulegen und mit den wachsenden Preisen und Mieten zu spekulieren«, benannte er eine Situation, die nicht nur in Berlin Mieter mit geringen Einkommen leidvoll erfahren.

Bis 14. Dezember. Die Akademie findet bis zum 28. Oktober statt. Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Programm und weitere Infos unter: www.hkw.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/988862.friede-den-protesthuetten-krieg-der-immobilienwirtschaft.html

Peter Nowak

Debatte im Berliner taz-Cafe: Neutraler Journalist oder auch Helfer?

Sind Journalisten nur „dabei“, oder schon „mittendrin“, wenn sie Freundschaften schließen, selbst anpacken und helfen?  Dürfen sie  das als „neutrale Berichterstatter“ überhaupt? Diesen Fragen widmete sich am 23. September eine Diskussionsveranstaltung von Netzwerk Recherche (netzwerkrecherche.org/termine/stammtische/berlin/)  und der taz im vollbesetzten Berliner taz-Cafe.

„Sie sind also Journalist und Aktivist in einer Person“, bekam der Tagesspiegel-Redakteur  Matthias Meisner von einem Vertreter der sächsischen Landesregierung zu hören. Er hatte auf dem Weg zu einem Pressetermin eine Kleiderspende für Geflüchtete bei einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung abgegeben. Auch der taz-Redakteur Martin Kaul wurde von einem Redaktionskollegen gefragt, wie er es mit seiner journalistischen Objektivität vereinbaren könne, wenn er während seiner Reportage-Tätigkeit am ungarischen Keleti-Bahnhof Anfang September den dort gestrandeten Flüchtlingen Wasser und Lebensmittel besorge.

Neben Meisner und Kaul waren der Fotograf Björn Kietzmann und die NDR-Journalistin Alena Jabarine eingeladen. Sie hatte Anfang September Undercover als Flüchtlingsfrau verkleidet in einem Erstaufnahmelager in Hamburg mit versteckter Kamera gefilmt. Kietzmann hat in den letzten Wochen Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos mit der Kamera begleitet und ihre Route durch die Balkanländer bis nach Budapest dokumentarisch festgehalten. Er sei bei seiner Arbeit als Fotograf schon öfter in Krisengebieten gewesen. Daher habe es ihn überrascht,  wie stark ihn die Notsituation der Geflüchteten in Ungarn psychisch mitgenommen hat, betonte Kietzmann. Martin Kaul hatte bereits in einem taz-Beitrag geschrieben, wie ihn die Zustände um den Keleti-Bahnhof belasteten. Solche Zustände habe er in einem europäischen Land nicht für möglich gehalten: Er habe durch eine Unterführung einen mitteleuropäischen Bahnhof verlassen und sei in ein Notstandsgebiet eingetreten. Ursprünglich hatte Kaul einen mehrstündigen Kurztrip in Budapest geplant. Er wollte Geflüchtete in einem Zug aus Budapest Richtung  Deutschland begleiten. Erst vor Ort entschied er sich für einen längeren Aufenthalt.

Auch Alena Jabarine hatte ihren sechstätigen Aufenthalt in der Hamburger Flüchtlingsunterkunft auch sehr kurzfristig geplant. Ihr größtes Problem war am Ende, den neuen Bekannten, die ihr dort mit Rat und Tat als vermeintlich allein reisende Flüchtlingsfrau geholfen hatten, ihre Rolle als Journalistin zu offenbaren. Am Anfang seien manche schockiert gewesen. Am Ende überwog aber die Dankbarkeit, dass sie die Zustände in der Unterkunft einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht. Die Veranstaltung machte einmal mehr ein Grundproblem deutlich, mit dem vor allem freie Medienarbeiter immer wieder konfrontiert sind. Von ihnen wird verlangt, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Aber so werden sie kaum vorbereitet auf Notstandssituationen wie in Keleti.

„Ich bleibe auch in meiner Rolle als Journalist Mensch“, hatte  Kaul dem Kollegen geantwortet, der fragte, ob er als  Wasser- und Essensspender noch objektiv sein kann. Bei der Diskussion im taz-Cafe gab es in dieser Frage keine Kontroversen. Dass ein solches humanitäres Verständnis nicht alle Medienvertreter teilen, wurde Anfang September deutlich. Eine ungarische Kamerafrau wurde dabei gefilmt, wie sie einem syrischen Mann mit seinem Kind im Arm beim Grenzübertritt ein Bein stellte und ihn so zum Sturz brachte.

https://mmm.verdi.de/aktuell-notiert/2015/debatte-im-berliner-taz-cafe-neutraler-journalist-oder-auch-helfer

Peter Nowak

Fragend schreiten sie im Kreis

Ein neues Buch zur linken Geschichtsdebatte

Loukanikos hieß der Straßenhund, der während der Massenproteste in Griechenland 2012 und 2013 auf unzähligen Fotos zu sehen war. Sein Tod im vergangenen Jahr war der »Süddeutschen Zeitung« sogar einen Artikel wert. Doch das Tier schrieb noch auf eine andere Weise Geschichte. Nach ihm benannten sich fünf Historikerinnen und Historiker, die Diskussionen über den Umgang der Linken mit Geschichte vorantreiben. Unter dem Titel »History is unwritten« hat der Arbeitskreis Loukanikos jetzt ein Buch herausgegeben, das auf einer Konferenz beruht, und doch weit über die damaligen Beiträge hinaus geht. Die 25 Aufsätze geben einen guten Überblick über den Stand der linken Geschichtsdebatte in Deutschland.

Die Suche nach einer neuen linken Perspektive in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung und die Frage, welche Bedeutung linken Mythen hierbei zukommt, benennen die Herausgeber als roten Faden des Buches. Die Historikern Cornelia Siebeck erteilt jeglichen linken Geschichtsmythen eine Absage: »Was emanzipatorische Zukunftspolitik ganz sicher nicht braucht, ist die eine historische Erzählung, um ihre Anliegen zu begründen.« Ihr widerspricht der Historiker Max Lill. »Viele Intellektuelle der radikalen Linken laben sich am Misstrauen gegenüber jedem Versuch, größere Zusammenhänge herzustellen. Fragend schreiten sie im Kreis«, kritisiert er die Versuche einer postmodernen Geschichtsdekonstruktion.

Der Historiker Ralf Hoffrogge, der in den vergangenen Jahren vergessene Teile der Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland erforschte, plädiert in seinen »Fünf Thesen zum Kampf um die Geschichte« dafür, die sozialistische Bewegung als Tradition anzunehmen und in der Kritik an den gescheiterten linken Bewegungen bescheidener zu sein. »Auch wir werden im politischen Leben Fehler machen und unseren Ansprüchen nicht gerecht werden, das richtige Leben im Falschen nicht erreichen, und die Abschaffung des ganzen Falschen wohl auch nicht.«

Ein eigenes Kapitel ist geschichtspolitischen Initiativen in Deutschland gewidmet. Die Gruppe audioscript stellt einen Stadtrundgang vor, der über die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden zwischen 1933 und 1945 in Dresden informiert. Sie kritisiert damit auch den in der sächsischen Stadt herrschenden Erinnerungsdiskurs, der vor allem die deutschen Bombenopfer von 1945 in den Mittelpunkt stellt. Die Antifaschistische Initiative Moabit (AIM) aus Berlin betont in ihrem Beitrag die Aktualität antifaschistischer Geschichtspolitik in einer Zeit, in der die »deutsche Erinnerungslandschaft gepflastert ist mit Stolpersteinen und Orten der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen«. Als Beispiel für gelungene Erinnerungsarbeit führt die AIM die »Fragt uns Broschüren« an, in denen junge Antifaschisten die letzten noch lebenden Widerstandskämpfer und NS-Verfolgten interviewen. Vorgestellt wird zudem die Initiative für einen Gedenkort an das ehemalige KZ Uckermark, wo zwischen 1942 und 1945 Mädchen und junge Frauen eingepfercht wurden, weil sie nicht in die NS-Volksgemeinschaftsideologie passten. Mit feministischen Bau- und Begegnungscamps hat die Initiative den Ort bekannt gemacht und erschlossen.

Autor_innenkollektiv Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, Edition Assemblage, 400 Seiten, 19,80 Euro.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/983119.fragend-schreiten-sie-im-kreis.html

Peter Nowak

Revanchistische Straßenschilder

»Grünberger Straße, ehem. Rominter Straße, geänd. 1936«. Dieser Satz steht auf einer pinkfarbenen Folie, die seit einer Woche an den Schildmasten in der gleichnamigen Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain kleben. An anderen Straßenecken werden wir über die Anzahl der McDonald’s-Filialen in Zielona Góra, wie Grünberg seit über 60 Jahren heißt, informiert.

»93 Straßenschilder« lautet der Titel einer Intervention im öffentlichen Raum. Es geht um neun Straßen in Friedrichshain, die noch immer die deutschen Namen polnischer Städte tragen. In Schulatlanten wurden die Städtenamen sehr zum Verdruss der Vertriebenenverbände vor Jahrzehnten aktualisiert. Anfang der neunziger Jahre wurde hingegen mit der Kadiner Straße der deutsche Name von Kadyny neu ins Berliner Straßenbild eingefügt. Schon vor zwei Jahrzehnten wurde auch in Friedrichshain die Debatte um die Umbenennung vor allen in der Besetzerbewegung geführt. Damals hat sich der Stadtteilladen in der Grünberger Straße den Namen Zielona Góra gegeben. Ob bald der Name des Ladens und der Straße übereinstimmen werden, ist aber noch unklar. Am 3. September soll im Galerieraum Alte Feuerwache über eine Umbenennung der Grünberger Straße diskutiert werden. Bereits vor der offiziellen Eröffnung der Aktion haben Rechte einige Folien abgerissen und NPD-Aufkleber hinterlassen. Dabei sind manche der Texte zur Intervention selber nicht gerade kritisch gegenüber dem Revanchismus. So wird behauptet, die deutschen Namen hielten den Gedanken an ein multikulturelles Europa wach. Und während auf einem Straßenschild erwähnt wird, wie viele Einwohner von Grünberg sich nach der Niederlage Nazi-Deutschlands das Leben nahmen, sucht man die Zahl der deportierten Juden und den Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder in dem Ort vergeblich.

http://jungle-world.com/artikel/2015/34/52534.html

Peter Nowak

Kapitalismuskritik mit dem Club of Rome

„Ist der Kapitalismus ein Verbrechen?“ In Berlin wurde die Frage auf einer „Vorverhandlung des Kapitalismustribunals“ aufgeworfen

„Ist der Kapitalismus ein Verbrechen?“ Diese Frage stellen sich auch in Deutschland wieder mehr Menschen, nachdem sie mit erlebt haben, wie eine durch Wahlen und ein Referendum bestätigter Weg für eine Reformalternative innerhalb der EU durch Deutsch-Europa verhindert wurde.

Das mag auch ein Grund gewesen sein, warum sich am schwülheißen Samstagabend viele Menschen im Heimathafen Neukölln zur zweiten Vorverhandlung des Kapitalismustribunals [1] versammelten, um genau die Frage nach der Kriminalität des Kapitalismus zu erörtern [2]. Bereits einen Monat zuvor hatte man in an gleichen Ort über die ökologische Frage debattiert.

Wider das T.I.N.A.-Denken von Thatcher bis Schäuble

Bei beiden Treffen war das Publikum für zwei Stunden zum Zuhören verurteilt. Anfangs berichtete eine junge Frau, die sich T.I.N.A nannte und das Bonmot der Pinochet-Freundin Margret Thatcher erinnerte, das heute von Schäuble und Gabriel in Griechenland fortgesetzt wird: “There is no alternative“. Der Slogan beinhaltete in der Vergangeheit auch, dass Versuche alternativer Systeme blutig zerschlagen wurden.

Das hat Pinochet 1973 beim Putsch gegen die Allende-Regierung vorexerziert und seine Gesinnungsgenossin und persönliche Freundin Thatcher beim Bürgerkrieg gegen die streikenden Bergarbeiter, die als Feind im Innern bezeichnet wurden, fortgesetzt. Viel zu wenig beachtet wird, dass auch die Austeritätsdiktate gegen Griechenland eine Schwächung der Gewerkschaften und eine Beschneidung ihrer Rechte beinhalten.

Auf diese Ebene gelangten allerdings die Gespräche am Samstagabend nicht. Es blieb hauptsächlich bei der moralischen Ablehnung des Kapitalismus. T.I.N.A. berichtete über die Zwangsräumung einer einkommensschwachen Nachbarsfamilie und schilderte, wie die Unterstützer der Familie von der Polizei weggetragen wurden. Dass es in Berlin seit Jahren Widerstand gegen Zwangsräumungen [3] gibt, die durch eine wissenschaftliche Studie [4] noch Auftrieb bekommen haben, blieb unerwähnt. So wirkte das trotzige Bekenntnis von T.I.N.A. auch eher theatralisch. Der Eindruck wurde noch verstärkt, als der rote Bühnenvorhang gelüftet wurde und der Blick auf die Podiumsdiskutanten aus dem Wissenschaftsbereich freigegeben wurde.

Der Ökonomieprofessor Graeme Maxton [5] betonte, dass es ihm mehr um Ökologie als um die Wirtschaft ginge und er daher auch keine Antworten auf die Krise des Kapitalismus habe. Der Keynesianer Trevor Evans [6] geißelte mit starken Worten die gegenwärtigen Praktiken des Kapitalismus, betonte aber immer wieder, wie gut doch der Kapitalismus in den 60er Jahren funktionierte. Dass damals weltweit eine außerparlamentarische Bewegung gegen das Leben in diesem Kapitalismus auf die Straße ging, wurde dabei ebenso ausgeblendet wie der Vietnamkrieg, der damals seinen blutigen Höhepunkt erreichte.

Es blieb dem Politikwissenschaftler Ulrich Brand [7] vorbehalten, sowohl gegen eine Verklärung des keynsianistischen Kapitalismus als auch gegen eine Trennung von Ökologie und Ökonomie zu warnen. Zugeschaltet war Linkssozialistin Lucie Redler [8], die noch einmal das „Griechenland-Diktat“ verurteilte. In dieser Frage waren sich Podium und Publikum weitgehend einig. Doch schon die Dramaturgie der Veranstaltung erweckte Unmut. Denn die Frauen und Männer, die kurze Fragen stellen, die die an Lehrsätze aus dem Brecht-Theater erinnerten, waren Teil der Aufführung. Erst in den letzten 20 Minuten kam dann das Publikum zu Wort.

Politik der Angst

So sprachen neben Verteidigern des Kapitalismus auch Gewerkschafter, die daran erinnerten, dass man über den Kapitalismus nicht reden kann, ohne auch die Lohnabhängigen zu erwähnen, die im Kapitalismus ihre Arbeitsverkauf verkaufen müssen. Er erinnerte daran, dass heute in Deutschland viele Menschen ihre Reproduktionskosten nicht mehr durch ihren Lohn bezahlen können und daher als Aufstocker in das Hartz IV-Regime geraten.

Das wiederum funktioniere nach der gleichen Politik der Angst, die Ulrich Brand für die Austeritätspolitik in Griechenland konstatierte. So wie an Griechenland ein abschreckendes Exempel statuiert wurde, damit andere linke Bewegungen in Europa gar nicht erst auf die Idee kommen, ebenfalls dem Diktat Deutschlands Parole zu bieten, werde an Erwerbslosen mit Sanktionen und Schikanen diese Politik der Angst vorexerziert.

Dann war allerdings das Hearing schon zu Ende und es wurde auf die nächste Verhandlung am 4. Oktober im Haus der Kulturen verwiesen, auf der über die Schäden geredet werden soll, die der Kapitalismus anrichte. In Wien soll dann im nächsten Jahr das Kapitalismustribunal tagen. Ursprünglich war der Termin für Dezember vorgesehen. Doch wegen der vielen eingereichten Beispiele für die Ungerechtigkeit am Kapitalismus habe man den Termin verschoben.

Damit wird deutlich, wie groß das Bedürfnis nach einem solchen Tribunal ist. Allerdings ist es kein Zufall, dass die positiven und negativen Erfahrungen der Arbeiterbewegung dort kaum zu Wort kommen Schließlich ist die Expertengesellschaft des Club of Rome [9] für das Künstlerkollektiv Haus Bartleby Inspiration für das Kapitalismustribunal geworden. Dabei war die Lektüre von Personen aus dem Mittelstand, die dann aus ihrem Beruf ausgestiegen sind und zu Kritikern bestimmter Logiken des Kapitalismus geworden sind, ein wichtiger Anreiz.

Schließlich steht die Arbeit des Hauses Bartleby unter dem Motto der „Karriereverweigerung“. Wie und ob Hartz IV-Empfänger, die keine Gelegenheit hatten, eine Karriere zu verweigern, aber bei einer Verweigerung einer Niedriglohnstelle mit Sanktionen rechnen müssen, in diesen Tribunal einen Ansprechpartner haben, muss sich zeigen. Zumal der Club of Rome bisher nicht für antikapitalistische Strategien bekannt geworden ist.

Vielleicht hilft ein Besuch im Museum des Kapitalismus?

Die Frage, ob der Kapitalismus ein Verbrechen ist, könnte vielleicht ein Besuch im Museum des Kapitalismus [10] beantworten, das nun zum zweiten Mal ebenfalls in Berlin-Neukölln seine Pforten geöffnet hat.

Dort kann sich der Besucher selber spielerisch über die Wirkungsweise des Kapitalismus und seiner Folgen informieren und käme vielleicht zu dem Schluss, dass der Normalzustand des Kapitalismus schon auf Ausbeutung beruht und die scheinbar starken Worte, die den Kapitalismus als kriminell geißeln, auf der Sehnsucht nach einem fairen Kapitalismus beruhen, den es nie gegeben hat.

Im Publikum des Kapitalismustribunals wurden diese Zusammenhänge durchaus verstanden, wie gelegentliche Unmutsbekundungen zeigten, wenn sich ein Experte den guten, alten Kapitalismus der 1960er Jahre zu sehr schönredete.

Peter Nowak

Links:

[1]

http://capitalismtribunal.org/de

[2]

http://www.heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=Kapitalismustribunal2

[3]

http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/

[4]

https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/stadtsoz/forschung/projekte/studie-zr-web.pdf)

[5]

http://www.graememaxton.com/home

[6]

http://www.hwr-berlin.de/fachbereich-wirtschaftswissenschaften/kontakt/personen/kontakt/trevor-evans/

[7]

http://politikwissenschaft.univie.ac.at/index.php?id=17066

[8]

https://de-de.facebook.com/lucy.redler

[9]

http://www.clubofrome.de

[10]

http://www.museumdeskapitalismus.de/

Zwischen allen Stühlen

GWR-Redakteur Bernd Drücke über gewaltfreien Anarchismus und wie man als Außenseiter etwas bewegen kann

Bernd Drücke, 36, ist Soziologe in Münster und hauptamtlicher Redakteur der gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung »Graswurzelrevolution«.

Vor drei Jahren feierte die Monatszeitung »Graswurzelrevolution« (GWR) ihr 40-jähriges Bestehen, jetzt die 400. Ausgabe. Dienen die vielen Jubiläen der Lesergewinnung?
Sie schaden zumindest nicht. Die Aboentwicklung ist okay. Wir bekommen oft mehr Neuabos als Kündigungen. Die Zeitung wird durch Abos und Spenden finanziert, macht aber kaum Werbung und ist deshalb vielen unbekannt

Wieso überlebte die GWR die Auflösung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, mit der sie eng verbunden war?
Die Föderation wurde 1980 als bundesweites Netzwerk anarchopazifistischer Gruppen mit antimilitaristischem Schwerpunkt gegründet und galt laut Verfassungsschutz als »größte anarchistische Organisation der Nachkriegszeit«. Ihre Entstehung hängt eng mit der seit 1972 erscheinenden GWR zusammen. Von 1981 bis 1988 war die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen Herausgeberin der GWR. Seitdem wird die Zeitung wieder von einem unabhängigen Kreis herausgegeben, der sich aus etwa 40 Menschen zusammensetzt und alle Entscheidungen basisdemokratisch fällt. 1997 wurde die Föderation aufgelöst. Aber es gibt etliche ehemalige Mitglieder, die noch politisch aktiv sind und uns nahe stehen. Dazu findet sich einiges in der GWR 400.

Hatte diese Selbstständigkeit auch etwas Befreiendes, weil es jetzt keine politische Gruppierung mehr gab, die Einfluss nehmen konnte?
Die GWR ist assoziiertes Mitglied in einem globalen antimilitaristischen Netzwerk, den War Resisters’ International. Sie hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Sie ist ein Sprachrohr emanzipatorischer sozialer Bewegungen aus aller Welt, von Anarchisten, Gewaltfreien Aktivisten, Feministinnen, Anti-Atom-, Anti-Gentech-, Anti-TTIP-Aktiven, von antirassistischen Gruppen, Antifas, Blockupy bis hin zu Menschen, die sich gegen Abschiebungen oder den Klimakiller Kohle stemmen.

Welchen Stellenwert hat der gewaltfreie Anarchismus heute in der außerparlamentarischen Linken?
Wir sind Außenseiter, können aber etwas bewegen. Wir wollen eine gewaltfreie Umwälzung von unten und vertreten Positionen, die anderswo nicht vorkommen. Nehmen wir das Beispiel Ukraine-Konflikt, da sitzen wir zwischen allen Stühlen. Wir lassen Anarchisten und Antimilitaristen aus Russland und der Ukraine zu Wort kommen, unterstützen die Deserteure und Verweigerer aller Kriegsparteien und agitieren sowohl gegen das homophob-autoritäre Putin-Regime als auch gegen NATO, EU, ukrainische und ostukrainische Nationalisten. Leider ist der gewaltfreie Anarchismus immer noch eine Nischenbewegung. Aber dass heute direkte gewaltfreie Aktionen und basisdemokratische Entscheidungsfindungen innerhalb der sozialen Bewegungen selbstverständlich sind, ist auch dem jahrzehntelangen Engagement von gewaltfreien Anarchistinnen zu verdanken

Wie ist Ihr Verhältnis zu marxistischen Ansätzen, die sich von autoritären Parteikonzepten distanzieren?
Kritisch-solidarisch. Der antiautoritäre Marxist John Holloway war zum Beispiel häufiger Interviewpartner und unter unseren Autoren sind auch Zapatistas und libertäre Marxisten. Als libertär-sozialistisches Blatt diskutieren wir undogmatisch-marxistische Theorieansätze aus anarchistischer Sicht.

Ein Teil der GWR-Artikel ist online zugänglich auf graswurzel.net, auch ausgewählte Artikel der 400. Ausgabe. Einzelheft 3,80 Euro, Schnupperabo 5 Euro, Probeexemplar kostenlos

http://www.neues-deutschland.de/artikel/977874.zwischen-allen-stuehlen.html

Peter Nowak

Viel Lärm um Hackerangriffe auf den Bundestag

„So nah ist uns in Deutschland die Gefahr aus dem Netz noch nie gekommen.“

„So nah ist uns in Deutschland die Gefahr aus dem Netz noch nie gekommen. Wir wissen nicht, wer uns angreift, wir wissen nicht, was der Angreifer will. Wir kennen seine Absichten nicht. Werden gezielt geheime Informationen abgeschöpft? Sollen einzelne Abgeordnete ausspioniert werden, um Erpressungspotenziale zu ermitteln?“

Mit diesen kriegerischen Tönen kommentierte Brigitte Fehrle, ehemals Taz, heute Berliner Zeitung, im Deutschlandfunk [1] die Hackerangriffe auf Computersysteme des Bundestags. Bei der ganzen kriegerischen Rhetorik kommt Fehrle nicht einmal auf die Idee, die ganze Erzählung über den großen Hackerangriff auf uns alle, einmal kritisch zu hinterfragen. Damit ist sie aber in der journalistischen Zunft nicht allen. Einige der Dramatisierungen der letzten Tage wurden auf Golem.de zusammengefasst [2].

Jagd auf „politische Kriminelle?“

Doch eine solche Versachlichung würde nicht gut zu Fehrles Endzeitvision passen. Schließlich kann in diesem Cyberkrieg jeder der Feind sein:

Das Wesen des Cyberkrieges ist der unsichtbare Gegner. Er kann überall sein. Selbst die Rückverfolgung eines platzierten Virus sagt nichts über die Auftraggeber. Es können Geheimdienste sein, es können Firmen sein, die Industriespionage betreiben, es können politische Kriminelle sein, die Unruhe stiften wollen.

Gerade die letzte Aufzählung macht stutzig. Wer sollen denn die politischen Kriminellen sein? Besteht ihr Delikt darin, dass sie eben Unruhen schaffen? Gehören sie vielleicht zu jenen Personenkreisen, die in der letzten Zeit manche Behörden durch die Preisgabe von streng geheimen Daten zur Verzweiflung gebracht haben? Man denke nur an die 2011 durch Wikileaks veröffentlichten, streng vertraulichen Diplomatic Cables [3], eine unredigierte Sammlung von zahllosen Depeschen aus US-Botschaften, die nur teilweise als geheim eingestuft worden waren.

Datenschutz und Persönlichkeitsrechte gelten für Personen, die in der Wertung von Wikileaks Verwerfliches getan haben, anscheinend nicht. Und auch nicht für ihre Freunde und Bekannten. Wer in Wikileaks-Enthüllungen namentlich genannt wird, hat im Übrigen keinerlei Möglichkeit, sich bei einer Kommission zu beschweren oder auf Löschung oder auch nur eine Entschuldigung zu drängen.

Gerade eine Szene, die sich mit Recht gegen staatliche Überwachung wehrt, sollte diese Kritik auch gegenüber Institutionen wie Wikileaks behalten, wenn die in ihrer alltäglichen Praxis noch hinter die staatlichen Behörden zurückfallen. Eine solche Kritik sollte aber eine Verteidigung von Wikileaks und ähnlichen Institutionen gegen staatliche Kriminalisierungsversuche mit einschließen.

Die Geheimdienstmitarbeiter auf unseren Häuserwänden

Nun gibt es neben Wikileaks auch andere Wege und Methoden, sich mit den Akteuren der Überwachung zu beschäftigten. In Berlin kann man manchmal sogar ihre Konterfeis auf öffentlichen Häuserwänden sehen. Overexposed [4] heißt das Projekt des italienischen Künstlers Paolo Cirio [5]. Dort verwendet und verfremdet er Fotos von führenden Akteuren der Überwachung, die er in deren privaten Netzwerk gefunden hat.

Sie sind nicht nur auf manchen Häuserwänden, sondern auch noch bis zum 20. Juli in der Galerie Nome in Berlin-Friedrichshain zu sehen. Paolo Cirio hat natürlich die Menschen, die er porträtiert nicht um Erlaubnis gefragt. Die Möglichkeit, dass sein Vorgehen juristische Folgen haben kann, ist nicht gering.

Gerade in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit davon überzeugt werden sollen, dass es sich bei den Hackerangriffen auf Bundestagscomputer um einen „Angriff auf uns alle“ handelt. Solche Floskeln haben wir immer dann gehört, wenn die wieder einmal Rechte eingeschränkt werden sollen. Nebenbei werden die durch die verschiedenen Überwachungsdebatten diskreditierten Verfassungsschutzbehörden auf diese Weise wieder rehabilitiert und bekommen sogar noch mehr Macht, als sie offiziell bisher hatten. Die Taz bringt das Dilemma so auf den Punkt [6]:

Der Bundestag muss sich also helfen lassen – doch von wem? Dass der Verfassungsschutz bei der Aufklärung mitwirkt, hat zwar selbst die Linksfraktion akzeptiert; doch dass sich das Parlament beim Aufbau seines Computersystems komplett in die Abhängigkeit von Bundesbehörden wie dem Verfassungsschutz oder dem BSI begibt, dürfte auf Vorbehalte stoßen – schließlich ist die Gewaltenteilung zentral für die Demokratie.

So könnte die Dramatisierung der Hackerangriffe auf Bundestagscomputer einen Beitrag dazu leisten, dass die Hack-Aktivismus kriminalisiert und staatliche Überwachungsbehörden rehabilitiert werden.

http://www.heise.de/tp/news/Viel-Laerm-um-Hackerangriffe-auf-den-Bundestag-2691006.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.deutschlandfunk.de/cyberangriff-auf-bundestag-der-unsichtbare-feind.720.de.html

[2]

http://www.golem.de/news/iuk-kommission-das-protokoll-des-bundestags-hacks-1506-114635.html

[3]

https://wikileaks.org/cablegate.html

[4]

http://www.nomeproject.com/de/ausstellungen/overexposed

[5]

http://www.paolocirio.net/

[6]

http://www.taz.de/Angriff-aufs-Netz-des-Bundestags/!5203618/

Im Schatten der Bretterbude

Die Bakuninhütte in Thüringen war einst Treffpunkt der libertären Bewegung. Nun wird der wechselvollen Geschichte des Gebäudes eine Ausstellung gewidmet.

Wer rastet, der rostet«, lautet das Motto von Rudolf Dressel, der noch mit 95 Jahren in seiner Oldtimer-Werkstatt in Berlin-Zehlendorf arbeitet. Dem Senior des Familienbetriebes würde auf den ersten Blick wohl niemand Sympathien mit anarchosyndikalistischem Gedankengut unterstellen. Und doch ließ es sich Dressel nicht nehmen, am 17. Mai zu einer besonderen Wanderhütte zu fahren, die knapp fünf Kilometer entfernt von Meinigen liegt, einem kleinen Städtchen in Thüringen: die Bakuninhütte.

Dressel war eingeladen worden, bei der Eröffnung der Doppelausstellung »Meiningen und seine Anarchisten« zu sprechen, die bis zum 27.  September im Meininger Schloss Elisabethenburg zu sehen sein wird. Während im ersten Raum Exponate zum Leben Erich Mühsams zu finden sind, die bereits in mehreren deutschen und israelischen Städten zu sehen waren, ist die zweite Ausstellung der kurzen Geschichte der Bakuninhütte gewidmet. Für Dressel beginnt hier eine Reise zurück in seine Kindheit.

Zusammen mit seiner Familie verbrachte Dressel in den zwanziger Jahren viel Zeit in dieser Gegend. »Hier stand das Karussell«, sagt Dressel und zeigt auf eine leere Stelle vor der Hütte. Das Karussell lockte damals viele Jungendliche aus Südthüringen zur Bakuninhütte, die seit Mitte der zwanziger Jahre nicht nur ein Treffpunkt der syndikalistischen und anarchistischen Bewegung Thüringens und Hessens war. Sie war auch ein Ort, um sich über die Theorie und Praxis von Anarchismus, Syndikalismus und Rätekommunismus zu informieren. Zu den Referenten, die aus Deutschland und den Nachbarländern angereist kamen, gehörten auch Augustin Souchy und Erich Mühsam. Am 9. Februar 1930 schrieb Mühsam an seine Frau Zenzl: »Diese Hütte haben die Genossen gebaut, 600 Meter hoch, mitten in den schönsten Wald.«

Obwohl das anarchistische Hüttenleben nach der ersten Razzia im März 1933 für beendet erklärt wurde, scheint sich die libertäre Szene dort weiterhin getroffen zu haben. »Ist Ihnen bekannt, dass die Kommunisten und Syndikalisten wieder ihr Unwesen auf der sogenannten Siedlung treiben? Wenn nicht, möchten wir Sie als Nationalgesinnte darauf hinweisen, denn wir fühlen es als unsere Pflicht, sie nicht wieder hoch kommen zu lassen.« Der Denunziantenbrief an die NSDAP war mit dem Satz »Einer, der die Sache genau beobachtet« unterschrieben. Der Autor lamentierte, dass »nationale Gastwirte aufs schwerste geschädigt würden«, wenn man den Linken gestatte, auf der Hütte Getränke zu verkaufen. Im Mai 1933 wurde das Verbot endgültig durchgesetzt, die Nazis nahmen die Hütte in Beschlag und Anarchisten, die weiter aktiv für ihre Überzeugungen eintraten, mussten um ihr Leben fürchten.

Die Geschichte der Bakuninhütte geriet über die Jahre in Vergessenheit. Wer sich überhaupt noch erinnern konnte, dachte an die »Paganinihütte«, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren von den älteren Bewohnern der Region genannt wurde, die selbst noch dort oben an Freizeitvergnügungen teilgenommen hatten. Ob die Namensänderung auf einem Hörfehler beruhte oder der italienische Komponist politisch einfach weniger belastet war als der russische Anarchist, lässt sich heute nicht mehr klären.

Die wechselhafte Geschichte der Hütte riss auch mit Gründung der DDR nicht ab. In den ersten Jahren wurde die Hütte als Freizeit- und Erholungsheim von der FDJ und ihr nahestehenden Organisationen genutzt. Unter den Besuchern befanden sich auch einige der Mitbegründer der Hütte aus den zwanziger Jahren, die mittlerweile der SED beigetreten waren. Später wurde das Gebäude zu einem Naturschutzheim umfunktioniert, in dem sich engagierte Ökologen bereits in den späten sechziger Jahren mit den Gefahren des Kalibergbaus auseinandersetzten. Im letzten Jahrzehnt vor der Wende wurde die gesamte Region um die Hütte zum Übungsgelände der Polizei erklärt und für die Bewohner gesperrt.

Nach 1989 entdeckten junge Leute in Meiningen und Umgebung, die sich gegen Nazis und Rassisten engagierten, den Anarchismus neu. Sie gründeten die Freie Union Revolutionärer Anarchisten (Fura), die für Konservative in Süd­thüringen bald zum Inbegriff des lokalen Linksextremismus wurde. 2006 wurden einem Meininger Kulturzentrum die öffentlichen Mittel gestrichen, weil dort auch die Fura eine Postadresse hatte.

Als sich die jungen Anarchisten für die Geschichte der Bakuninhütte zu interessieren begannen, sahen sich Verwaltung und Politik unter Zugzwang. 2009 erließ die Gemeinde ein absolutes Nutzungsverbot für das Gebäude. CDU-Politiker wollten die Hütte sogar abreißen lassen. Die Hütte habe sich nicht zu einer Wallfahrtsstelle entwickeln sollen, erklärte Uwe Kirchner, der damalige Sprecher des Meininger Landratsamts.

Dass sechs Jahre später vor dem Meininger Schloss Elisabethenburg eine Fahne mit der Aufschrift »Meiningen und seine Anarchisten« weht, wertet Kai Richarz auch als einen politischen Erfolg. Er gehörte zu den Jugendlichen aus Südthüringen, die sich im Kampf gegen Nazis politisiert hatten und sich in der Fura organisierten. Seit Jahren setzt sich Richarz für den Erhalt der Bakuninhütte ein. Mittlerweile studiert er in Berlin Geschichte und Philosophie, doch das Thema treibt ihn immer noch um. Er forscht über die Geschichte des Anarchismus und Syndikalismus in Thüringen und wurde als Referent der Tagung »Erich Mühsam in Meiningen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen« eingeladen, die vom 11. bis 13. Juni in Meiningen stattfinden soll.

Die Ausstellung, deren Exponate aus dem Archiv der Meininger Anarchosyndikalisten stammen, thematisiert eine Fülle historischer Gegebenheiten. Einige Tafeln führen in die Geschichte der Jugendbewegung ein, die bald nach ihrer Entstehung in unterschiedliche Flügel aufsplitterte. Manche wurden nach dem Ersten Weltkrieg Herolde der völkischen Bewegung, andere engagierten sich bei den Kommunisten oder Anarchisten. Wie fließend die Übergänge auch innerhalb der linken Strömungen waren, zeigt das Schicksal der damals in Meiningen lebenden, jüdischen Familie Aul, die in den zwanziger Jahren auch zu den regelmäßigen Nutzern der Hütte zählte. In der Ausstellung ist das Mitgliedsbuch zu sehen, das Martin und Herbert Aul als Kämpfer der anarchosyndikalistischen Kolonne Durutti ausweist. Während Herbert Aul 1944 von der SS in Paris erschossen wurde, kehrte sein Bruder 1946 nach Meiningen zurück und machte in der SED Karriere. Ihre Mutter Bella Aul, die in den zwanziger Jahren von der SPD in die KPD gewechselt war und in der Weimarer Republik als aktive und emanzipierte Frau in Meiningen bekannt war, wurde in Auschwitz ermordet. Bis 1989 erinnerte ein Straßenname an sie. Und heute gibt es eine Initiative, die sich dafür einsetzt, dass in Meiningen wieder eine Straße an die verfolgten und ermordeten jüdischen Linken der Stadt erinnert.

Die Doppelausstellung »Sich fügen heißt lügen: Erich Mühsam, Anarchisten in Meiningen und die Bakuninhütte« läuft noch bis 27. September im Schloss Elisabethenburg in Meiningen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/22/52049.html

Peter Nowak