Breiter, als man denkt

Gewichtiger Band zur Geschichte der libertären ArbeiterInnenbewegung

Am 11. November 1887 wurden vier Gewerkschaftler in Chicago hingerichtet. Sie waren in Folge einer blutig aufgelösten Demonstration am 1. Mai festgenommen worden. Eines der Opfer war August Spieß, der, bevor er auf das Schafott stieg, erklärte: „Der Tag wird kommen, da unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erdrosselt.“

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Das Schicksal einer jüdischen Kreuzberger Familie

EIN INTERVIEWBAND MIT DER LEBENSGESCHICHTE DER SCHWESTERN HILDE UND ROSE BERGER

Die Inschrift auf dem Stolperstein vor dem Hauseingang der Mariannenstraße 34 in Kreuzberg ist stark abgenutzt. Erinnert wird an Nathan Berger, der in dem Haus eine Schneiderei betrieb und dort mit seiner Familie wohnte. Die Nazis vertrieben die Bergers 1939 nach Polen. Nathan Berger, seine Frau Sara, Tochter Regine und Sohn Hans wurden von den Nazis ermordet. Nur die Töchter Hilde und Rose überlebten das NS-Regime und emigrierten nach 1945 in die USA.

Nun hat der Gießener Psychosozial-Verlag einen Interviewband mit der Lebensgeschichte der mittlerweile verstorbenen Hilde und Rose Berger veröffentlicht. Der Band enthält mehrere Interviews, die die Geschwister zwischen 1978 und 1997 in den USA gaben, sowie einen von Hilde Berger 1980 verfassten Bericht über ihr Leben in Berlin.

Schon früh befanden sich die Geschwister in Opposition zum streng religiösen Vater und zum deutschnationalen Klima an ihrer Schule. Zunächst engagierten sie sich in einer zionistischen Jugendorganisation. Dann wurden Rose, Hilde und Hans Mitglieder der Kommunistischen Jugendorganisation, gerieten aber in Opposition zu deren autoritären Organisationsstrukturen.

Nach ihrem Ausschluss aus der KP-Jugend engagierten sich die drei Geschwister mit FreundInnen in einer trotzkistischen Organisation und bauten nach 1933 deren illegale Organisationsstrukturen in Berlin auf. Hans Berger wurde 1936 verhaftet und nach der Verbüßung seiner sechsjährigen Haftstrafe in Auschwitz ermordet. Regina Berger konnte nach Frankreich fliehen und überlebte die deutsche Besatzung in der Illegalität.

Ihre Schwester musste im KZ Plaszow als Schreibkraft Oskar Schindlers berühmt gewordene Liste abtippen und konnte sich und einigen FreundInnen das Leben retten. Als die Rote Armee näher rückte, bekam sie eine Unterhaltung von SS-Männern mit, nach der die dort aufgelisteten Gefangenen in den tschechoslowakischen Ort Brünnlitz gebracht werden sollten. „Mir wurde klar, dass dieser Brünnlitz-Transport bessere Überlebenschancen hatte als die anderen Transporte. Deshalb trug ich mich und einige Freunde auf diese Transportliste ein“, erinnert sich Hilde Berger.

Peter Nowak

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F10%2F07%2Fa0106&cHash=5904737e0b6609528808d5d913a5e24f


„Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste. Die Geschichte von Hilde und Rose Berger“. Psychosozial-Verlag, 223 Seiten, 19,90 Euro

Die Mitmachfalle

Thomas Wagner entlarvt Partizipationsprozesse bei großen Bauprojekten als Mogelpackung

Hat der Runde Tisch mit Heiner Geißler nur dazu beigetragen, dass der Bahnhof in Stuttgart doch gebaut wird? Thomas Wagner beleuchtet in seinem neuen Buch Bürgerbeteiligung von Startbahn West bis Porto Alegre.

Bürgerbeteiligung hat einen guten Ruf bei den Grünen, der Linkspartei und der außerparlamentarischen Linken. Doch oft ist

Bürgerbeteiligung hat einen guten Ruf bei den Grünen, der  Linkspartei aber auch der außerparlamentarischen Linken.  Doch oft ist die Aufforderung zum Mitgestalten eine Mogelpackung, lautet die These des Soziologen Thomas Wagner. Bereits vor zwei  Jahren hat er seine Kritik an Modellen der direkten Demokratie als „Deutschlands sanften Weg in den Bonapartismus“   in einem im Papy Rosa-Verlag erschienenen Buch theoretisch begründet. Jetzt hat Wagner im gleichen Verlag unter dem Buch  „Die Mitmachfalle – Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument“ seine Kritik erweitert und mit vielen aktuellen Beispielen  untermauert.
Am Prominentesten ist die  Mediation beim  Großprojekt Stuttgart 21, wo der vielgelobte Heiner Geißler vielleicht mehr dazu getan hat, dass das Projekt doch noch gebaut wird.  Der CDU-Veteran habe nicht erst am Beispiel Stuttgart erkannt, dass  neue Wege gesucht werden müssen, „um die Profitinteressen privater Unternehmen zu wahren und die Eigentumsverhältnisse zu schützen“, schreibt Wagner. Die stark politisierte Bewegung  gegen Stuttgart 21 war gerade dabei, Lernprozesse über Staat und Kapitel zu machen, die durch die Mediation weitgehend  neutralisiert wurden  Ähnliche Entwicklungen  hat es bereits Jahre zuvor bei der Erweiterung der Startbahn-West im Rhein-Main-Gebiet gegeben. Der langjährige Aktivist in der Anti-Startbahnbewegung Michael Wilk gehört zu den frühen Kritikern dieser Mitmachkonzepte. Im Gespräch mit  Wagner unterscheidet er  basisdemokratische Entscheidungsprozesse von den großen Parteien vorangetriebene  Mediationsverfahren am Frankfurter Flughafen, das Wilk als Befriedungsstrategie bezeichnet.
Als ein weiteres bekanntes Beispiel für die Mitmachfalle bezeichnet Wagner,   das  Guggenheim-Lab, das im  Sommer 2012  kurzzeitig die Presselandschaft bewegte, weil die Initiatoren nach Protestankündigungen seinen Standpunkt aus Kreuzberg nach Prenzlauer Berg verlegten.  In dem Lab werden Vorschläge für eine lebenswerte Welt für den Mittelstand  gesammelt. Die  Belange der einkommensschwachen Teile der Bevölkerung spielen kaum eine Rolle. Daher hat Wagner auch viel Verständnis für die  von der übergroßen Medienöffentlichkeit und  der Politik heftig angegriffen Kritiker des Lab.
In einem eigenen Kapitel unterzieht  Wagner die Ideologie der auch bei Politikern der Linkspartei beliebten Bürgerhaushalte  einer fundierten Kritik. Während das gute Image  vor allem daher rührt,  dass sie mit dem brasilianischen  Porto Alegre, der Stadt der ersten   Weltsozialforen, verknüpft werden, zigt Wagner  auf, wie mittels  Bürgerhaushalten Betroffene  an den Spar- und Kürzungsdiktaten beteiligt werden und diese so besser akzeptieren sollen. Daher haben auch immer  mehr unternehmerfreundliche Denkfabriken und selbst die FDP Gefallen an den Mitmachmodellen gefunden, wie Wagner nachweist.     Sie erhoffen sich davon eine reibungslosere Durchsetzung von Großprojekten.
Deren  Gegner sollten  daher auf die  Austragung von Interessengegensätzen ohne Vereinnahmung  sowohl in der Arbeitswelt, am Jobcenter wie im Stadtteil stark machen, so Wagners Plädoyer.     Sein Buch kann als nützlicher Ratgeber genutzt werden, um möglichst nicht in alle Mitmachfallen zu stolpern.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/831487.die-mitmachfalle.html
Peter Nowak
Wagner Thomas, Die Mitmachfalle – Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument, 160 Seiten, 12,90 Euro, Papy Rosa Verlag, 2013, ISBN 9783894385279

Warnung vor der Mitmachfalle

Links

[1]

http://s445925490.e-shop.info/shop/article_527-9/Wagner%2C-Thomas%3A-%3CBR%3EDie-Mitmachfalle.html

[2]

http://www.horx.com/Zukunfts-Lexikon.aspx

[3]

https://www.entrepreneurship.de/artikel/holm-friebe-wir-nennen-es-arbeit/

[4]

http://saschalobo.com/

[5]

http://www.hfm-berlin.de/Adrienne_Goehler.html

[6]

http://worldcat.org/identities/lccn-n79-39875

Ein Jubiläum kommt bestimmt

Die Technische Universität Berlin hat sich der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit gewidmet.

»Universitäten oder Hochschulen besinnen sich meist dann auf ihre Geschichte, wenn ihnen ein Jubiläum ins Haus steht«, sagte Carina Baganz Mitte Juli im Lichthof der Technischen Universität (TU) Berlin. Die am Zentrum für Antisemitismusforschung arbeitende Historikerin stellte dort das von ihr herausgegebene Buch »Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung – die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus« vor – drei Jahre vor dem 70. Jubiläum der TU.

Wenig überraschend für Kenner der Materie sind Baganz’ Forschungsergebnisse zur Entwicklung der Hochschule vor 1933. »An der TH Berlin hatte die nationalsozialistische Ideologie bereits lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten Einzug gehalten. 1927 löste die sozialdemokratische preußische Landesregierung die Studentenschaften auf, weil die sich geweigert hatten, die Zusammenarbeit mit großdeutschen antisemitischen Studentenschaften zu beenden, die Juden und Marxisten die Mitgliedschaft verweigerten. Schon 1931 erlangen die NS-Studentenverbände bei Studierendenwahlen fast eine Zweidrittelmehrheit.«

Nicht nur die Studierenden, sondern auch des Lehrpersonals der TH Berlin musste nach 1933 nicht gleichgeschaltet werden, weil dort schon vor 1933 großdeutsche und völkische Ideologien weit verbreitet waren. So war der Widerstand gering, als jüdische Wissenschaftler die Hochschule verlassen und oft auch ihre akademischen ­Titel zurückgeben mussten. Einige der Betroffenen verwiesen auf ihre patriotische Gesinnung und ihre Verdienste im Ersten Weltkrieg, was ihnen allerdings nur kurzzeitig das Amt rettete. Für die meisten entlassenen Wissenschaftler brach eine Welt zusammen. Mehrere Entlassene verübten Selbstmord, anderen gelang die Flucht. Nicht wenige wurden später in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.

Ein bisher noch wenig erforschtes Kapitel ist der Einsatz von meist osteuropäischen Zwangsarbeitern an der TH Berlin wie auch an anderen deutschen Hochschulen. Im Dachgeschoss eines Gebäudes der TH Berlin in der Franklinstraße 29 war ein Zwangsarbeitslager mit mindestens 140 als »Ostarbeiter« bezeichneten Männern, Frauen und Kindern eingerichtet worden, die in den letzten Kriegsjahren die Schäden beheben mussten, die durch Bombenangriffe an Einrichtungen der Hochschule entstanden. Die Existenz dieser Zwangsarbeiter wurde erst bekannt, als Baganz in alten Akten Beschwerdebriefe von Hochschulmitarbeitern entdeckte, die die »Ostarbeiter« für die Belastung der Kanalisation verantwortlich machten. »Die meisten von ihnen kommen aus Dörfern und haben weder jemals ein Klosett mit Wasserspülung gesehen, noch eine Ahnung von der Müllbeseitigung in europäischen Städten«, schrieb ein Oberingenieur Traustel im September 1944 an den Rektor der TH Berlin.

Ein weiteres Forschungsthema wäre der Umgang mit Opfern und Tätern an der Hochschule nach 1945. So wurde selbst ein Nationalsozialist der ersten Stunde wie Willi Willing, der sich an der TH Berlin für die Maßnahmen gegen jüdische Hochschulangehörige mit Hingabe eingesetzt hatte, als minderbelastet eingestuft. Willing war seit 1925 NSDAP-Mitglied und befasste sich neben seiner Universitätskarriere mit dem Einsatz von wissenschaftlich ausgebildeten KZ-Häftlingen in der NS-Forschung. Auch der letzte Rektor der TH, Oskar Niemczyk, konnte seine Wissenschaftslaufbahn schon 1946 an der neugegründeten TU Berlin fortsetzen. Zu seinem 75. Geburtstag im Jahre 1961 gab es an der Universität sogar eine Feierstunde. Während die meisten ehemaligen NS-Wissenschaftler nach 1945 ihre Karriere fortsetzen konnten, erging es den Opfern nicht so gut. Als Dimitri Stein, dem als Jude 1943 an der TH seine Promotion im Fach Elektrotechnik verweigert worden war, in den fünfziger Jahren seine Promotion an der TU Berlin zu Ende führen wollte, wurde ihm mitgeteilt, man habe nun ganz andere Sorgen. Erst 2008 wurde Stein nach 65 Jahren der Doktortitel überreicht.

Schon in den fünfziger und sechziger Jahren gab es engagierte Studierende und eine kleine Minderheit von Wissenschaftlern, die der Geschichte nachgingen und die Verstrickung ihrer Institute in den Nationalsozialismus erforschten. Sie waren in der Regel mit großen Schwierigkeiten bis hin zu Klagedrohungen konfrontiert, wie Gottfried Oy und Christoph Schneider in ihrem kürzlich unter dem Titel »Die Schärfe der Konkretion« im Dampfboot-Verlag erschienenen Buch detailliert nachweisen. Dort beschreibt Reinhard Strecker, der als Student 1959 mit der von ihm konzipierten Wanderausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« für große Aufregung sorgte, die Reaktion des Dekans der Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin: »Das, was ich täte, dafür hätte man in der Weimarer Zeit die Leute ins Zuchthaus gesteckt und da gehörte ich auch hin. Dokumente aus dem Ausland zu besorgen, um Deutsche ins Gefängnis zu bringen, das sei wirklich das Letzte an nationaler Verkommenheit.« Auch der damalige Chefredakteur der Tübinger Studentenzeitschrift Notizen, Hermann L. Gremliza, war 1964 massiven Anfeindungen ausgesetzt, als er unter dem Titel »Die braune Universität. Tübingens unbewältigte Vergangenheit« die NS-Karriere des Juristen Georg Eißer und des Germanisten Gustav Bebermeyer nachzeichnete.

Oy und Schneider beschreiben in ihrem Buch sehr genau, wie sich aus diesen Auseinandersetzungen an vielen Hochschulen eine deutschlandkritische Bewegung entwickelte, die sehr schnell nicht nur die Ära des NS erforschen, sondern auch die Realität im Nachkriegsdeutschland kritisieren wollte. Welch zentrale Stellung dabei die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einnahm, zeigen die Autoren am Beispiel eines von den Wissenschaftlern Margherita von Brentano und Peter Furth veranstalteten Seminars mit dem Titel »Antisemitismus und Gesellschaft«, das ein wichtiger Bezugspunkt für eine neue Linke jenseits von SPD und KPD war. Dabei weisen die Autoren überzeugend nach, dass gera­de nach 1968 die Beschäftigung mit dem NS umschlägt in einen allgemeinen Kampf gegen Faschismus und Imperialismus. Besonders Rudi Dutschke wird ein »verflachter, nahezu sinnentleerter Faschismusbegriff« bescheinigt. In dieser Entwicklung sehen Schneider und Oy auch einen wichtigen Grund dafür, dass die neue Linke innerhalb kurzer Zeit mehrheitlich eine pro­israelische gegen eine antizionistische Politik austauschte.

Wie falsch die These vieler Achtundsechziger war, dass die deutsche NS-Geschichte bewältigt worden und deshalb der Kampf gegen den Imperialismus weltweit zu führen sei, macht nicht nur die Veröffentlichung über die NS-Geschichte an der TU Berlin selbst deutlich. Bei der Vorstellung des Buchs von Baganz war die Zahl der anwesenden Studierenden überaus gering.

http://jungle-world.com/artikel/2013/30/48143.html

Peter Nowak

Exil am Rio de la Plata

Jüdische Naziverfolgte fanden in Uruguay Zuflucht und mussten in den 70er-Jahren wieder fliehen

Enrique Blum hieß früher Heinrich. Erst in Lateinamerika hispanisierte er seinen Namen. Der Medizinstudent aus Halle kam zusammen mit seinen Eltern am 24. Juli 1937 in Uruguay an. »Man hat ein Loch außerhalb Europas gesucht«, begründet Heinrich Blum die Wahl seines Exillandes. Auch für andere wurde das kleine Land am Rio de la Plata zwischen 1933 und 1945 zum Zufluchtsort vor dem NS-Terror. Und die große Mehrheit der Exilanten waren Juden.

Die Berliner Historikerin Sonja Wegner hat mit ihrem Buch die Geschichte dieser »Zuflucht in einem fremden Land« erforscht. Im ersten Teil des Buches beschreibt sie die Wege ins Exil, das oft eine Rettung in letzter Minute war. Fast alle Länder verschärften gerade in dem Augenblick ihre Einwanderungsgesetze, als das Naziregime den Druck auf die Juden immer weiter steigerte. In einem eigenen Kapitel schildert die Autorin die perfiden Methoden der Ausplünderung der Emigranten.

Innenpolitik Während in Deutschland die Situation für Juden und Nazigegner immer lebensgefährlicher wurde, entwickelte sich die innenpolitische Situation in Uruguay für die Emigranten günstig. Nachdem eine rechte Diktatur, die gute außenpolitische Kontakte zu Deutschland und Italien pflegte, 1938 abtreten musste, näherte sich das Land außenpolitisch den USA an.

Die liberalen Einreisebestimmungen in Uruguay ermöglichten es den Einwanderern zudem, innerhalb von drei Jahren eingebürgert zu werden. Die Prokuristin Hedwig Freudenheim erhielt das begehrte Dokument sogar bereits nach wenigen Monaten. Dass trotz der Einwanderungsmöglichkeit das Leben für die jüdischen Emigranten in Uruguay keineswegs einfach war, zeigt Wegner am Beispiel von Carl Sichel auf.

Der 50 Jahre alte Rechtsanwalt durfte in Uruguay seinen Beruf nicht ausüben und versuchte, als Geschäftsmann zu überleben. Wie Sichel ging es vielen Exilanten, die in Deutschland bürgerliche Berufe ausgeübt hatten und in dem Aufnahmeland mit Gelegenheitsarbeiten ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.

Konflikte Hoch waren die Einwanderungshürden allerdings für politische Emigranten, die häufig bereits in Deutschland in linken Organisationen aktiv waren. In eigenen Kapiteln geht Wegner auf die politischen Aktivitäten der Emigranten und die Auseinandersetzung darum unter den jüdischen Emigranten ein.

Als sich das Ende des NS-Systems abzeichnete, verschärften sich die Diskussionen auch innerhalb der jüdischen Exilgemeinschaft. Während der unter den jüdischen Emigranten in Montevideo sehr einflussreiche Hermann P. Gebhardt mit anderen antifaschistischen Organisationen für ein »anderes Deutschland« eintrat, wandte sich Karl Berets von der deutsch-jüdischen Neuen Israelitischen Gemeinde in einem Offenen Brief gegen dieses Engagement und trat für einen Staat Israel ein.

In den 50er-Jahren verhinderten die in Uruguay ansässigen jüdischen Emigranten, dass ausgerechnet der Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, als Staatssekretär der Adenauer-Regierung Uruguay besuchen konnte. Einige der neuen uruguayischen Staatsbürger mussten allerdings in den 70er-Jahren, als in Uruguay eine rechte Militärjunta die Macht ergriff, erneut fliehen. Ernesto Kroch, ein linker Gewerkschafter, der als Jugendlicher vor den Nazis geflohen war, suchte in Deutschland Exil.

Sonja Wegner: »Zuflucht in einem fremden Land: Exil in Uruguay 1933–1945«, Assoziation A, Berlin 2013, 375 S., 22 €

aus Jüdische Allgemeine

http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/16506

Peter Nowak

No Place on Earth

Der Film erzählt die bisher unbekannte Geschichte des Überlebenskampfs ukrainischer Juden im Nationalsozialismus.

Die deutschen Verbrechen in der Nazizeit werden schon lange historisiert. Die Menschen, die sie noch selber erleiden mussten, sind fast alle tot. Daher verdienen Filme, in denen die heute Hochbetagten noch selber zu Wort kommen, besondere Aufmerksamkeit.

No Place on Earth, der vom deutschen Verleih mit der Übersetzung «Kein Platz zum Leben» untertitelt wurde, gehört zu diesen Filmen. Die Regisseurin Janet Tobias verfilmt die Geschichte des US-Höhlenforschers Christopher Nicole, der sich nach seiner Pensionierung auf eine Expedition in die unbekannten Unterwelten in der Ukraine aufmacht und dort Spuren menschlichen Lebens entdeckt, die keinesfalls aus prähistorischer Zeit stammen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, wird er fündig. Die Spuren stammen von Juden, die vor den Nazis und ihren ukrainischen Helfern für mehrere Monate Zuflucht in der Höhle suchten. Schließlich findet er sogar einige Überlebende, die nach ihrer Befreiung in die USA ausgewandert sind.

Es wird ein  Kapitel von Verfolgung und Überlebenskampf geschildert, das die Zuschauer gefangen hält. Die Flucht in die Höhle bedeutete nicht dauerhafte Rettung. Die Menschen mussten Lebensmittel aus der Umgebung besorgen und kamen dabei mehrmals in gefährliche Situationen. Schließlich schütteten Dorfbewohner alle Eingänge der Höhle zu, und die Eingeschlossenen mussten sich mühselig einen neuen Weg an die Oberfläche graben.

Die Tragödie, die das Leben in der Höhle bedeutete, kann im Film nur angedeutet werden. Sie wird deutlich, wenn berichtet wird, wie einer der Jungen geschlagen wird, nachdem er erwischt wurde, wie er sich aus großem Hunger an den kargen Mehlvorräten zu schaffen machte. Schließlich stürmten die Nazis und ihre einheimischen Hilfstruppen die Höhle und verschleppten einen großen Teil der Bewohner in Vernichtungslager. Einige konnten sich im weit verzweigten Höhlensystem verstecken und überlebten.

Höhepunkt des Filmes ist ein Treffen der Überlebenden, die im hohen Alter erstmals wieder eine geführte Tour durch die Höhle machten und sich dabei erinnerten, an welchen Orten die wenigen Gegenstände des täglichen Bedarfs aufbewahrt worden waren. So spielte der Film für die Überlebenden eine wichtige Rolle bei ihrer Erinnerungsarbeit. Allein deswegen ist es begrüßenswert, dass er erschienen ist. In der deutschen Presse wurde er aber überwiegend negativ besprochen. Vor allem die vielen Reenactment-Darstellungen (die Neuinszenierung geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise) und die eingespielte Musik wurden als kitschig kritisiert. Diese scharfe Kritik könnte ihren Grund auch darin haben, dass es keinen deutschen Retter à la Oskar Schindler gibt, der zum deutschen Filmhelden wurde. Es war der Überlebenswille der Juden und die Rote Armee, die die Überlebenden aus der ukrainischen Höhle befreite und ihnen das Leben rettete. Dass mit dem Film diese bisher unbekannte Geschichte des jüdischen Überlebenskampfs einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, ist begrüßenswert und sollte zum Kinobesuch animieren.

USA 2012, Regie: Janet Tobias

aus SoZ/Sozialistische Zeitung, Juni 2013

No Place on Earth

Peter Nowak

Das Märchen von der segensreichen Wirkung der Privatisierung

Links

[1]

http://norbertwiersbin.de/on-tour-das-marchen-der-deutschen-ralph-t-niemeyer/

[2]

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154446

[3]

http://www.ingehannemann.de/

[4]

http://www.nachdenkseiten.de/

[5]

http://www.nachdenkseiten.de/?author=2

[6]

http://www.nachdenkseiten.de/?p=3232

[7]

http://www.stephan-lessenich.de/

[8]

http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/06/14.mondeText.artikel,a0006.idx,1

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/blogs/6/print/154647

Als eine Welt zusammenbrach

Die TU Berlin stellt sich endlich ihrer NS-Vergangenheit

»Universitäten oder Hochschulen besinnen sich meist dann auf ihre Geschichte, wenn ihnen ein Jubiläum ins Haus steht«, konstatierte Carina Baganz. Im Lichthof der Technischen Universität Berlin stellte sie ihr Buch ihr Buch „ Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung“ – die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus“ vor. Die am Zentrum für Antisemitismusforschung arbeitende Historikerin versteht ihre Publikation  als Beitrag, im „Dritten Reich“ begangenes Unrecht wiedergutzumachen und die Erinnerung an die Einst betroffenen wachzuhalten.

Warum erst sieben Jahrzehnte vergehen mussten, ehe  die Hochschule  sich ernsthaft  mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandersetzt, wäre selbst der Nachforschung wert. Tatsächlich hatte Studierenden in den 50er und frühen 60er Jahren nicht selten mit Strafverfahren   zu rechnen, wenn sie die NS-Geschichte ihrer Hochschule erforschen wollten und dabei  die Namen mancher noch lehrender Professoren entdecktem.  Erst nachdem fast alle pensioniert waren, setzte die zaghafte Beschäftigung mit der braunen Geschichte ein. In der TU Berlin wurde  1979 eine Festschrift mit dem Titel Wissenschaft und Gesellschaft herausgegeben, das sich erstmals ausführlicher mit der Hochschule im Nationalsozialismus  befasste.  In drei Jahren steht mit dem 70ten Jahrestag der TU-Gründung ein neues Jubiläum an. Eine gute Zeit also für eine Publikation, die  den bisher umfassendsten Überblick über das Ausmaß der Vertreibungen, Diskriminierung und Ausgrenzung von Wissenschaftlern und Studierenden gibt.        Der Grundstein wurde bereits vor 1933 gelegt. Der Rektor der TH Berlin in der Zeit von 1938 bis 1942 Ernst Stein erklärte am Ende seiner Amtszeit stolz , dass die TH Berlin  schon vor 1933 „als eine Hochburg des Nationalsozialismus unter den deutschen Hochschulen“ galt. Sowohl unter den Studierenden als auch bei einem Teil der Wissenschaftler hatten sich völkisches Gedankengut und Antisemitismus schon längst etabliert. So war der Widerstand auch gering, als oft langjährige Wissenschaftler die Hochschule verlassen und oft auch ihre akademischen Titel zurückgeben mussten, weil sie Juden waren.  Einige der Betroffenen verwiesen auf ihre patriotische Gesinnung und ihrer Verdienste im ersten Weltkrieg, was ihnen allerdings nur kurzzeitig das Amt rettete. Andere wie der aus Ungarn stammende Bauingenieur Nikolaus Kelen  reagierten auf seine Beurlaubung mit der Erklärung, dass er sich nicht mehr als  Angehöriger der TU Berlin betrachte.  Für andere Wissenschaftler brach mit ihrer Relegierung eine Welt zusammen. Mehrere der Entlassenen verübten Selbstmord, andere emigrierten. Viele wurden später in den Konzentrations-  und Vernichtungslagern ermordet.

Ein bisher noch weitgehend unerforschtes Kapitel ist der Einsatz  von meist osteuropäischen Zwangsarbeitern an der TH-Berlin. Sie sollten in den letzten Kriegsjahren die Schäden beheben, die durch Bombenangriffe an Einrichtungen der Hochschule entstanden sind.  Ein weiteres Forschungsthema wäre der Umgang mit Opfern und Tätern an der Hochschule nach 1945. So wurde selbst der  Nationalsozialist   der ersten Stunde an der TH-Berlin  Willi Willing, der für die Maßnahmen gegen jüdische Hochschulangehörige an vorderster Front beteiligt war, als minderbelastet eingestuft.  Während viele ehemalige Nationalsozialisten nach 1945 ihre Karriere fortsetzen konnten, wurde vielen  Opfern  die kalte Schulter gezeigt. Dazu gehört Dmitri Stein, der 1943 an der TH als Jude seine Promotion im Fach Elektrotechnik verweigert wurde. Als er in den 50er Jahren seine Promotion an der TU Berlin zu Ende führen wollte, wurde ihm mitgeteilt, man habe jetzt ganz andere Sorgen. 2008 wurde Dimitri Stein nach 65 Jahren die Doktorprüfung überreicht. Viele andere hatten das Glück nicht. Das Buch        sorgt nun dafür, dass ihre Namen nicht vergessen werden und  kann für heutige Formen von Diskriminierung auch an der Hochschule sensibilisieren, worauf die Studierende der Geisteswissenschaften  Filiz Dagci in ihren Beitrag zur Buchvorstellung hinwies.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/827308.als-eine-welt-zusammenbrach.html
Peter Nowak
Carina Baganz, Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung. Die Technische Hochschule währed des Nationalsozialismus. Metropol Verlag, Berlin 2013, 414 Seiten,  24 Euro

Rechtes Pilotprojekt

International Ein neues Buch über die Hintergründe der autoritären Entwicklung in Ungarn

Die innenpolitische Entwicklung Ungarns ist immer wieder Thema innerhalb der EU. Verstärkt drängen zivilgesellschaftliche Organisationen auf Sanktionen als Reaktion auf den Rechtskurs der Regierung Orbán, seitdem diese 2010 mit Orbáns Fidesz-Partei eine überragende Mehrheit erreichte und die faschistische Jobbik sich als Opposition etablierte. Anders als vor über zehn Jahren, als in Österreich mit der FPÖ unter Jörg Haider eine offen rechte Partei in Regierungsverantwortung kam, gibt es jedoch in der außerparlamentarischen Linken nur wenige Diskussionen über die innenpolitische Situation in Ungarn.
Da kommt ein Buch gerade Recht, das kürzlich unter dem Titel »Mit Pfeil, Kreuz und Krone« im Unrast-Verlag erschienen ist und einen fundierten Überblick über die Entwicklung Ungarns nach rechts gibt. Im ersten Kapitel geht die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky auf die ideologischen Hintergründe der völkischen Entwicklung in Ungarn ein und zeigt eine jahrzehntelange innenpolitische Entwicklung nach rechts auf.
Ein zentrales Datum war dabei der Sturm auf das Gebäude des staatlichen Fernsehens in Budapest am 18. September 2006 durch TeilnehmerInnen einer Großdemonstration gegen den damaligen Ministerpräsidenten Gyurcsány. In der darauf folgenden Lynchstimmung gegen Linke, Liberale und kritische JournalistInnen sei die neue Republik geboren worden, die Orbán zunächst als Oppositionspolitiker beschworen hatte und nun als Ministerpräsident vorantreibt.
Präzise beschreibt Marsovszky den nationalistischen Diskurs in der Geschichtspolitik sowie im Umgang mit den Nachbarländern. Wenn sie mit Rekurs auf den US-Historiker Fritz Stern resümiert, dass die Angst vor einer liberalen, offenen Gesellschaft das zentrale Problem in Ungarn sei, bleibt sie liberalen Gesellschaftsvorstellungen verhaftet. So ist es auch nur folgerichtig, dass Marsovszky bei ihrer Beschreibung der oppositionellen Kräfte in Ungarn die kleine kommunistische Arbeiterpartei mit keinem Wort erwähnt. Dabei gab es mehrere Strafprozesse gegen Mitglieder dieser Partei, weil sie weiterhin kommunistische Symbole wie Hammer und Sichel in der Öffentlichkeit zeigten, die in Ungarn kriminalisiert werden.
Antiziganismus, Homophobie und Antisemitismus
Im zweiten Kapitel geht der in Hamburg lebende Publizist Andreas Koob auf die Feindbilderklärung gegen Sinti und Roma, aber auch den Antisemitismus und die Homophobie in Ungarn ein. Koob macht an zahlreichen Beispielen deutlich, wie marginal die Unterschiede zwischen Fidesz, Jobbik und rechten Bürgerwehren besonders in der ungarischen Provinz oft sind. Vor allem in kleineren Orten führt dieses Zusammenwirken zu einem Klima der Ausgrenzung und Diskriminierung insbesondere gegenüber Sinti und Roma. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch ein von der Regierung beschlossenes Gesetz, das Erwerbslose, die öffentliche Leistungen bekommen, zu einem strengen Arbeitsregime mit ständiger öffentlicher Kontrolle verpflichtet.
Der Publizist Holger Marcks geht im dritten Kapitel auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ungarischen Regierung ein, die in der öffentlichen Debatte bisher selten erwähnt wird. Er macht deutlich, dass es sich hier um eine Wirtschaftspolitik handelt, wie sie viele völkische Gruppen schon vor 100 Jahren propagierten und die auch auf das Programm der frühen NSDAP großen Einfluss hatte. Der Kampf gegen ausländische Banken, aber auch Großorganisationen wie den IWF gehört ebenso zu den Elementen dieser Wirtschaftspolitik wie die Propagierung des Schutzes der heimischen Industrie und des Mittelstandes.
Trotz aller Kritik erhält die Fidesz-Partei nach wie vor Unterstützung durch die europäischen Konservativen und auch durch PolitikerInnen aus CDU und CSU. Ungarn könnte daher, so die Befürchtung der AutorInnen, durchaus eine Pilotfunktion haben, indem es völkisch-rechte Politik in der EU wieder salonfähig macht. Ein Grund mehr, dass die Linke darüber diskutiert.
Peter Nowak

Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky: Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast-Verlag, Münster 2013. 208 Seiten, 14 EUR.

http://www.akweb.de/
ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013

Wilder Streik der Migrantinnen


Vor 40 Jahren traten Arbeiterinnen von Pierburg in den Ausstand – ein Buch versammelt Zeitzeugen und Dokumente

Eine Mark mehr Lohn und die Abschaffung der Leichtlohngruppe lauteten die zentralen Forderungen eines Streiks, der vor 40 Jahren die damalige Linke jenseits aller Differenzen mobilisierte. Es waren überwiegend migrantische Frauen, die bei der Autozubehörfirma Pierburg in Neuss in den Arbeitskampf getreten sind ohne auf die Gewerkschaftsbürokratie zu warten und sogar erfolgreich haben. Dabei hat der im Nationalsozialismus wie in der BRD erfolgreiche Unternehmerpatriarch Alfred Pierburg die streikenden Frauen hart bekämpft. Unterstützt wurde er dabei von den Neusser Polizeipräsidenten Günther Knecht, der die Knüppeleinsätze gegen die streikenden Frauen mit dem Satz rechtfertigte. „Wilder Streik, das ist Revolution“.
Dieses Zitat wurde zum Titel für einen Dokumentenband über den Pierburg-Streik, das der damalige oppositionelle Betriebsrat des Unternehmens Dieter Braeg kürzlich im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ herausgegeben hat. Er hat dort zahlreiche zeitgenössische Berichte über den Streik und den 40minütigen Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“ erneut zusammengestellt.

Hinter der Einschätzung von Dieter Braeg, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für „eine andere deutsche Arbeiterinnen – und Arbeiterbewegung“ muss allerdings ein großes Fragezeichen gesetzt werden. Mit einer viel größeren Berechtigung könnte der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Die in dem Buch aufgeführten Dokumente machen deutlich, wie die im Nationalsozialismus sozialisierten Vorarbeiter auf den Kampf der Frauen reagierten. „Ihr seit doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist“, ihr Scheißweiber“, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich bei dem Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen auch, die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger als die Interessenvertretung der Kolleginnen war. Die IG-Metall-Führung versuchte den Streik in institutionelle Bahnen zu lenken. Nachdem der Ausstand erfolgreich abgeschlossen war, überzog das Unternehmen vier oppositionelle Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen, bei denen sie sich für Solidaritätsbesuche bei anderen Betrieben rechtfertigen mussten. Braeg ordnet den Pierburg-Streik in den politischen Kontext jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr in DGB-konforme Vertretungsinstanzen pressen lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt war der Streik und die Besetzung der Kölner Fordwerke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere der migrantischen Aktivisten als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Springerpresse: „Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei“.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/826492.wilder-streik-der-migrantinnen.html
Peter Nowak

Braeg Dieter, Wilder Streik, Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Die Buchmacherei, ISBN 978-3-00-039904-6, 13, 50 Euro
Der Herausgeber stellt das Buch und den Film am Samstag, 06. Juli, um 15 Uhr im Berliner Mehringhof Gneisenaustr. 2a vor

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MISSGLÜCKTE REINWASCHUNG

Über einen aktuellen Versuch J.W. Stalin mit Hilfe seiner Gegner in einem neuen Licht erscheinen zu lassen

Der italienische Historiker Domenico Losurdo erhebt mit seinem nun im Papyrossa-Verlag auf Deutsch erschienenen Buch über „Stalin “ den Anspruch, den langjährigen sowjetischen Herrscher zu entdämonisieren. Gleich im Vorwort wird deutlich, wie Losurdo dabei vorgeht. Er beschreibt
Reaktionen auf Stalins Tod. So zitiert er einen Historiker, der Szenen beschreibt, wie sie heute noch aus Nordkorea bekannt sind: „Während seiner Agonie drängten sich Millionen von Menschen im Zentrum Moskaus, um dem sterbenden Führer die letzte Ehre zu erweisen“. Aus einem anderen
Buch entnimmt der Autor den Satz: „Viele weinten auf den Straßen von Budapest und Prag.“ Dass Stalins Tod in der Zeitung der israelischen Kibbuzbewegung al Hamishamar mit dem Satz kommentiert wurde „Die Sonne ist untergegangen“, wird heute viele überraschen, denen nicht
bekannt ist, dass die Sowjetunion sich in der UN vehement für die Gründung Israels einsetzte. Erst mit dem Beginn des Kalten Krieges positionierte sich Israel auf Seiten der USA und die SU und der gesamte Ostblock ging auf Konfrontationskurs. Wer das Einleitungskapitel gelesen hat, kennt schon die Methode mit der Losurdo „die schwarze Legende“ Stalin entdämonisieren will. Er reiht in den acht Kapiteln Zitat an Zitat aneinander, mit denen er zu beweisen sucht, dass Stalin von Historikern und Politikern zu bestimmten Zeiten gelobt wurde. Besonders erfreut ist er, wenn er einen späteren erklärten Gegner Stalins mit einem solchen Zitat vorführen kann. Dabei verfolgt er mit der Zitatauswahl natürlich eine durchsichtige Absicht. Schließlich scheint es um so glaubwürdiger, wenn von später ausgewiesenen Stalinkritikern und -gegnern, wie dem sowjetischen
Historiker Wadim Rogowin, der Philosophin Hannah Ahrendt oder dem britischen Premierminister Winston Churchill, Sätze überliefert werden, die den sowjetischen Herrscher in einem guten
Licht erscheinen lassen. Nur beschränkt sich Losurdo weitgehend auf die Zitate und verzichtet auf eine Einordnung in den politischen und historischen Kontext. So macht er genau das, was er den Stalinkritikern in dem Buch ständig vorwirft. Das wird deutlich, wenn Losurdo Stalinlob von Churchill in der Zeit der Anti-Hitler-Koalition heranzieht. Dass er später auch lobende Churchillworte für Hitler anführt, und gleichzeitig historisch richtig bemerkt, dass Churchill die Oktoberrevolution von Anfang an bekämpft hat, führt nicht dazu, Churchills Stalinlob so einzuordnen, als das Geschäft eines Staatsmannes, der dem jeweiligen Bündnispartner nicht vor
den Kopf stoßen will. Noch problematischer ist es, wie Losurdo gleich an mehreren Stellen Hannah Ahrendt zitiert, die sich Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts positiv über die sowjetische Nationalitätenpolitik äußert. Unberücksichtigt lässt Losurdo, dass Ahrendt wie viele Menschen, die sich vor dem mörderischen Antisemitismus der Nazis retten konnten, alles dafür taten, um einen schnellen Sieg der Anti-Hitler-Koalition zu ermöglichen. Für viele Juden auf der ganzen Welt war
der schnelle Vormarsch der von den USA mit Waffen unterstützten Roten Armee mit der Hoffnung verbunden, die totale Vernichtung der Jüdinnen und Juden zu verhindern. Neben der Aneinanderreihung von Zitaten und Bemerkungen, die Stalin in einem positiveren Licht erscheinen lassen, führt Losurdo zu dessen Rehabilitierung noch an, dass die Geschichte der bürgerlichen
Staaten mit Menschenrechtsverletzungen im großen Maßstab verbunden ist. Dabei
gelingen ihm im Detail treffende Einschätzungen, wenn er an die Geschichte der Lynchmorde an Schwarzen in den USA erinnert. Da er aber auch hier auf historische Einordnungen verzichtet, und eine zeitlose Verbrechensgeschichte aufmalt, die in der Antike begann und bei der alliierten
Bombardierung von Dresden nicht endet, bleibt als Fazit nur übrig, die Welt ist ein großes Schlachthaus und Stalin war dort nicht der größte Metzger. Damit hat Losurdo wohl gegen seinen Willen auch bestätigt, dass Stalin mit Sozialismus und Kommunismus wenig zu tun hat. Das
kann auch von dem Autor gesagt werden. Denn der ist sich mit seinen größten Gegnern in dem Verdikt einig, dass eigentlich schon Marx und Lenin, vor allem aber die linken Bolschewiki mit ihren übersteigerten Vorstellungen einer Gesellschaft der Gleichheit und dem Infragestellen von Familie und Nation für Terror und Massenmord mit verantwortlich sind.

Domenico Losurdo: Stalin, Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, Papyrossa-Verlag, Neue Kleine Bibliothek 183, 450 Seiten, 22,90 Euro, ISBN:978-3-89438-4968


aus: telegraph 127/128 2013

http://www.telegraph.ostbuero.de/
Peter Nowaak

Wurde der Neoliberalismus in einer Hippiekommune geboren?

Die Ausstellung „The Whole World“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt hinterlässt viele Fragen

Das zentrale Objekt liegt angekettet auf einem kleinen Tischchen aus. Es handelt sich um einen engbedruckten, schlecht lesbaren Katalog mit vielen kurzen Artikeln, Fotos und allerlei undefinierbaren Zeichen, die wohl zur besseren Lesbarkeit eingebaut wurden. Dieser Katalog, der an ein frühes Punkfunzine erinnert, wurde zwischen 1968 und 1972 jährlich später unregelmäßig von Stewart Brand unter dem Titel The whole World-Catalog.

Dieser Katalog sollte die sich Ende der 60er Jahren in den USA entwickelten Landkommunen über Produkte abseits des Mainstreams der Konsumgesellschaft informieren. Bald entwickelte er sich zu einem Almanach der Gegenkultur. In diesem Katalog gab es die ersten Hinweise auf alternative Energieerzeugung ebenso wie auf Synthesizer. Steve Jobs bezeichnete den „Catalog“ später als die erste Suchmaschine im Vorinternetzeitalter. Jetzt dient dieser Katalog als Namens- und Stichwortgeber für eine von Diederich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Wer die Ausstellung gründlich erkunden will, muss viel Zeit mit bringen. Denn die Kuratoren haben in der großen Ausstellungshalle eine Fülle von Dokumenten ausgestellt, die die US-Gegenkultur der 60er Jahre und der dort integrierten Kommunebewegung noch einmal lebendig machen. Kaum noch bekannte Bücher sind dort ebenso aufgelistet, wie Musikstücke legendärer Bands dieser Gegenkultur, die auch heute noch den Spirit jener Jahre vermitteln. Hier sei nur exemplarisch an Crown of Creation von Jefferson Airplane erinnert.

Wie in dieser Zeit kulturelle gesellschaftliche und politische Emanzipation für einen kurzen geschichtlichen Moment zusammenfielen, wird auch in vielen der ausgestellten Exponate deutlich. So werden Ausschnitte des Filmes „The whole World watching“ von Raimund Pettybon gezeigt, der sich auf satirische Weise mit der linken Bewegung der Weathermen beschäftigte, die in den späten 60er Jahre den Krieg aus Vietnam in die USA zurückbringen wollten und den Aufbau einer Stadtguerilla propagierten. Schon die kurzen Ausschnitte machen deutlich, dass ein solcher Film Welten von den filmischen Erzeugnissen entfernt ist, die in den letzten Jahrzehnten zum RAF-Komplex in der BRD entstanden sind. Als eine Fundgrube einer weithin vergessenen Gegenkultur mit dem „The World Catalog“ als Guide wäre diese Ausstellung schon einzigartig und empfehlenswert.

Große und kleine Erzählungen?

Doch die Kuratoren lassen es damit nicht bewenden, sondern verbreiten um die Exposition noch mehrere große und kleine Erzählungen. Da steht an erster Linie die Erzählung vom blauen Planeten Erde. Aus dem Weltraum aufgenommen bewirkte er angeblich einen Paradigmenwechsel in großen Teilen der Wissenschaften und soll das Bild vom Atompilz der Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen, verdrängt haben. So richtig es ist, an die heute weitgehend vergessene Bedeutung der Weltraumprogramme der NASA zu erinnern, so fraglich ist die These vom grundlegenden Paradigmenwechsel. Schließlich wurde das NASA-Weltraumprogramm schnell reduziert und die Mondlandungen bald eingestellt.

Das Bild vom Atompilz aber war auch noch die gesamten 80er Jahre über eine zentrale Symbolik der Gegen- und zunehmend auch der Mainstreamkultur. Zudem waren die Bilder von mit Napalm verbrannten Kindern in Vietnam und erschossenen Studenten an der Universität von Kent für große Teile der damaligen Gegenkultur sicher prägender als das offizielle NASA-Programm. Aber die Kuratoren wollen mit ihrer These schließlich einen Link herstellen zwischen diesen Inseln der US-Gegenkultur in den späten 60er Jahren und den sich entwickelnden Internetgemeinden bis zum Neoliberalismus unserer Tage.

In der Biographie des The Whole World-Catalog-Erfinders Stewart Brand finden die Kuraten Anhaltspunkte für ihre These. Er arbeitete für die NASA ebenso wie später für Internetkonzerne. Nur war er eben nie Teil der Gegenkultur und hat es auch nie behauptet. Er hat mit seinem Katalog diese Gegenkultur aber passgenau als Zielgruppe für Produkte ausgemacht, die damals noch keine große Käuferschicht in den USA hatten. Biographien wie die von Stewart Brand waren nicht selten, wie sich in der Ausstellung zeigte. Es gab auch Personen, die Ende der 60er Jahre tatsächlich Teil dieser Gegenkultur waren und dann zu Pionieren der sich entwickelten Internetbranche geworden sind.

Verschwörungstheoretische Anklänge

Im von Michael Rothschild verfassten Buch „Bionomics: The Inevitability of Capitalism“ werden Schlüsselwörter gefunden, die für die Durchsetzung des wirtschaftsliberalen Denkens zentral waren. Nun ist die These von der Geburt des neoliberalen Denkens in den Zentren der Gegenkultur nicht neu und weist auf wichtige Verbindungen hin.

Doch wie schnell solche Verbindungen in Verschwörungstheorien münden können, wird an der Ausstellung am Beispiel der Installation Hexen 2.0 von Suzanne Treister gut deutlich. Auf eine ihrer Zeichnungen wird eine gerade Linie von Kybernetikern organisierten Macy-Konferenzen bis zum Neototalitarismus gezogen. So bekommen diese Treffen, die zwischen 1946 und 1953 stattfanden, eine Bedeutung, die heute manche den Bilderbergkonferenzen geben wollen. Die Ausstellung „The whole World“ macht noch einmal deutlich, wie nötig der Gebrauch des eigenen Verstandes ist, um in der Fülle des ausgestellten Materials auch krude Verschwörungstheorien und diverse esoterische Einschläge erkennen zu können.

Die Ausstellung „The Whole World“ ist bis um 1. Juli im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen. Am 21. und 22. Juni findet ein Symposium zur Ausstellung statt.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/154245
Peter Nowak