Wilder Streik der Migrantinnen


Vor 40 Jahren traten Arbeiterinnen von Pierburg in den Ausstand – ein Buch versammelt Zeitzeugen und Dokumente

Eine Mark mehr Lohn und die Abschaffung der Leichtlohngruppe lauteten die zentralen Forderungen eines Streiks, der vor 40 Jahren die damalige Linke jenseits aller Differenzen mobilisierte. Es waren überwiegend migrantische Frauen, die bei der Autozubehörfirma Pierburg in Neuss in den Arbeitskampf getreten sind ohne auf die Gewerkschaftsbürokratie zu warten und sogar erfolgreich haben. Dabei hat der im Nationalsozialismus wie in der BRD erfolgreiche Unternehmerpatriarch Alfred Pierburg die streikenden Frauen hart bekämpft. Unterstützt wurde er dabei von den Neusser Polizeipräsidenten Günther Knecht, der die Knüppeleinsätze gegen die streikenden Frauen mit dem Satz rechtfertigte. „Wilder Streik, das ist Revolution“.
Dieses Zitat wurde zum Titel für einen Dokumentenband über den Pierburg-Streik, das der damalige oppositionelle Betriebsrat des Unternehmens Dieter Braeg kürzlich im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ herausgegeben hat. Er hat dort zahlreiche zeitgenössische Berichte über den Streik und den 40minütigen Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“ erneut zusammengestellt.

Hinter der Einschätzung von Dieter Braeg, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für „eine andere deutsche Arbeiterinnen – und Arbeiterbewegung“ muss allerdings ein großes Fragezeichen gesetzt werden. Mit einer viel größeren Berechtigung könnte der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Die in dem Buch aufgeführten Dokumente machen deutlich, wie die im Nationalsozialismus sozialisierten Vorarbeiter auf den Kampf der Frauen reagierten. „Ihr seit doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist“, ihr Scheißweiber“, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich bei dem Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen auch, die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger als die Interessenvertretung der Kolleginnen war. Die IG-Metall-Führung versuchte den Streik in institutionelle Bahnen zu lenken. Nachdem der Ausstand erfolgreich abgeschlossen war, überzog das Unternehmen vier oppositionelle Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen, bei denen sie sich für Solidaritätsbesuche bei anderen Betrieben rechtfertigen mussten. Braeg ordnet den Pierburg-Streik in den politischen Kontext jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr in DGB-konforme Vertretungsinstanzen pressen lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt war der Streik und die Besetzung der Kölner Fordwerke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere der migrantischen Aktivisten als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Springerpresse: „Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei“.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/826492.wilder-streik-der-migrantinnen.html
Peter Nowak

Braeg Dieter, Wilder Streik, Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Die Buchmacherei, ISBN 978-3-00-039904-6, 13, 50 Euro
Der Herausgeber stellt das Buch und den Film am Samstag, 06. Juli, um 15 Uhr im Berliner Mehringhof Gneisenaustr. 2a vor

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MISSGLÜCKTE REINWASCHUNG

Über einen aktuellen Versuch J.W. Stalin mit Hilfe seiner Gegner in einem neuen Licht erscheinen zu lassen

Der italienische Historiker Domenico Losurdo erhebt mit seinem nun im Papyrossa-Verlag auf Deutsch erschienenen Buch über „Stalin “ den Anspruch, den langjährigen sowjetischen Herrscher zu entdämonisieren. Gleich im Vorwort wird deutlich, wie Losurdo dabei vorgeht. Er beschreibt
Reaktionen auf Stalins Tod. So zitiert er einen Historiker, der Szenen beschreibt, wie sie heute noch aus Nordkorea bekannt sind: „Während seiner Agonie drängten sich Millionen von Menschen im Zentrum Moskaus, um dem sterbenden Führer die letzte Ehre zu erweisen“. Aus einem anderen
Buch entnimmt der Autor den Satz: „Viele weinten auf den Straßen von Budapest und Prag.“ Dass Stalins Tod in der Zeitung der israelischen Kibbuzbewegung al Hamishamar mit dem Satz kommentiert wurde „Die Sonne ist untergegangen“, wird heute viele überraschen, denen nicht
bekannt ist, dass die Sowjetunion sich in der UN vehement für die Gründung Israels einsetzte. Erst mit dem Beginn des Kalten Krieges positionierte sich Israel auf Seiten der USA und die SU und der gesamte Ostblock ging auf Konfrontationskurs. Wer das Einleitungskapitel gelesen hat, kennt schon die Methode mit der Losurdo „die schwarze Legende“ Stalin entdämonisieren will. Er reiht in den acht Kapiteln Zitat an Zitat aneinander, mit denen er zu beweisen sucht, dass Stalin von Historikern und Politikern zu bestimmten Zeiten gelobt wurde. Besonders erfreut ist er, wenn er einen späteren erklärten Gegner Stalins mit einem solchen Zitat vorführen kann. Dabei verfolgt er mit der Zitatauswahl natürlich eine durchsichtige Absicht. Schließlich scheint es um so glaubwürdiger, wenn von später ausgewiesenen Stalinkritikern und -gegnern, wie dem sowjetischen
Historiker Wadim Rogowin, der Philosophin Hannah Ahrendt oder dem britischen Premierminister Winston Churchill, Sätze überliefert werden, die den sowjetischen Herrscher in einem guten
Licht erscheinen lassen. Nur beschränkt sich Losurdo weitgehend auf die Zitate und verzichtet auf eine Einordnung in den politischen und historischen Kontext. So macht er genau das, was er den Stalinkritikern in dem Buch ständig vorwirft. Das wird deutlich, wenn Losurdo Stalinlob von Churchill in der Zeit der Anti-Hitler-Koalition heranzieht. Dass er später auch lobende Churchillworte für Hitler anführt, und gleichzeitig historisch richtig bemerkt, dass Churchill die Oktoberrevolution von Anfang an bekämpft hat, führt nicht dazu, Churchills Stalinlob so einzuordnen, als das Geschäft eines Staatsmannes, der dem jeweiligen Bündnispartner nicht vor
den Kopf stoßen will. Noch problematischer ist es, wie Losurdo gleich an mehreren Stellen Hannah Ahrendt zitiert, die sich Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts positiv über die sowjetische Nationalitätenpolitik äußert. Unberücksichtigt lässt Losurdo, dass Ahrendt wie viele Menschen, die sich vor dem mörderischen Antisemitismus der Nazis retten konnten, alles dafür taten, um einen schnellen Sieg der Anti-Hitler-Koalition zu ermöglichen. Für viele Juden auf der ganzen Welt war
der schnelle Vormarsch der von den USA mit Waffen unterstützten Roten Armee mit der Hoffnung verbunden, die totale Vernichtung der Jüdinnen und Juden zu verhindern. Neben der Aneinanderreihung von Zitaten und Bemerkungen, die Stalin in einem positiveren Licht erscheinen lassen, führt Losurdo zu dessen Rehabilitierung noch an, dass die Geschichte der bürgerlichen
Staaten mit Menschenrechtsverletzungen im großen Maßstab verbunden ist. Dabei
gelingen ihm im Detail treffende Einschätzungen, wenn er an die Geschichte der Lynchmorde an Schwarzen in den USA erinnert. Da er aber auch hier auf historische Einordnungen verzichtet, und eine zeitlose Verbrechensgeschichte aufmalt, die in der Antike begann und bei der alliierten
Bombardierung von Dresden nicht endet, bleibt als Fazit nur übrig, die Welt ist ein großes Schlachthaus und Stalin war dort nicht der größte Metzger. Damit hat Losurdo wohl gegen seinen Willen auch bestätigt, dass Stalin mit Sozialismus und Kommunismus wenig zu tun hat. Das
kann auch von dem Autor gesagt werden. Denn der ist sich mit seinen größten Gegnern in dem Verdikt einig, dass eigentlich schon Marx und Lenin, vor allem aber die linken Bolschewiki mit ihren übersteigerten Vorstellungen einer Gesellschaft der Gleichheit und dem Infragestellen von Familie und Nation für Terror und Massenmord mit verantwortlich sind.

Domenico Losurdo: Stalin, Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, Papyrossa-Verlag, Neue Kleine Bibliothek 183, 450 Seiten, 22,90 Euro, ISBN:978-3-89438-4968


aus: telegraph 127/128 2013

http://www.telegraph.ostbuero.de/
Peter Nowaak

Wurde der Neoliberalismus in einer Hippiekommune geboren?

Die Ausstellung „The Whole World“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt hinterlässt viele Fragen

Das zentrale Objekt liegt angekettet auf einem kleinen Tischchen aus. Es handelt sich um einen engbedruckten, schlecht lesbaren Katalog mit vielen kurzen Artikeln, Fotos und allerlei undefinierbaren Zeichen, die wohl zur besseren Lesbarkeit eingebaut wurden. Dieser Katalog, der an ein frühes Punkfunzine erinnert, wurde zwischen 1968 und 1972 jährlich später unregelmäßig von Stewart Brand unter dem Titel The whole World-Catalog.

Dieser Katalog sollte die sich Ende der 60er Jahren in den USA entwickelten Landkommunen über Produkte abseits des Mainstreams der Konsumgesellschaft informieren. Bald entwickelte er sich zu einem Almanach der Gegenkultur. In diesem Katalog gab es die ersten Hinweise auf alternative Energieerzeugung ebenso wie auf Synthesizer. Steve Jobs bezeichnete den „Catalog“ später als die erste Suchmaschine im Vorinternetzeitalter. Jetzt dient dieser Katalog als Namens- und Stichwortgeber für eine von Diederich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Wer die Ausstellung gründlich erkunden will, muss viel Zeit mit bringen. Denn die Kuratoren haben in der großen Ausstellungshalle eine Fülle von Dokumenten ausgestellt, die die US-Gegenkultur der 60er Jahre und der dort integrierten Kommunebewegung noch einmal lebendig machen. Kaum noch bekannte Bücher sind dort ebenso aufgelistet, wie Musikstücke legendärer Bands dieser Gegenkultur, die auch heute noch den Spirit jener Jahre vermitteln. Hier sei nur exemplarisch an Crown of Creation von Jefferson Airplane erinnert.

Wie in dieser Zeit kulturelle gesellschaftliche und politische Emanzipation für einen kurzen geschichtlichen Moment zusammenfielen, wird auch in vielen der ausgestellten Exponate deutlich. So werden Ausschnitte des Filmes „The whole World watching“ von Raimund Pettybon gezeigt, der sich auf satirische Weise mit der linken Bewegung der Weathermen beschäftigte, die in den späten 60er Jahre den Krieg aus Vietnam in die USA zurückbringen wollten und den Aufbau einer Stadtguerilla propagierten. Schon die kurzen Ausschnitte machen deutlich, dass ein solcher Film Welten von den filmischen Erzeugnissen entfernt ist, die in den letzten Jahrzehnten zum RAF-Komplex in der BRD entstanden sind. Als eine Fundgrube einer weithin vergessenen Gegenkultur mit dem „The World Catalog“ als Guide wäre diese Ausstellung schon einzigartig und empfehlenswert.

Große und kleine Erzählungen?

Doch die Kuratoren lassen es damit nicht bewenden, sondern verbreiten um die Exposition noch mehrere große und kleine Erzählungen. Da steht an erster Linie die Erzählung vom blauen Planeten Erde. Aus dem Weltraum aufgenommen bewirkte er angeblich einen Paradigmenwechsel in großen Teilen der Wissenschaften und soll das Bild vom Atompilz der Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen, verdrängt haben. So richtig es ist, an die heute weitgehend vergessene Bedeutung der Weltraumprogramme der NASA zu erinnern, so fraglich ist die These vom grundlegenden Paradigmenwechsel. Schließlich wurde das NASA-Weltraumprogramm schnell reduziert und die Mondlandungen bald eingestellt.

Das Bild vom Atompilz aber war auch noch die gesamten 80er Jahre über eine zentrale Symbolik der Gegen- und zunehmend auch der Mainstreamkultur. Zudem waren die Bilder von mit Napalm verbrannten Kindern in Vietnam und erschossenen Studenten an der Universität von Kent für große Teile der damaligen Gegenkultur sicher prägender als das offizielle NASA-Programm. Aber die Kuratoren wollen mit ihrer These schließlich einen Link herstellen zwischen diesen Inseln der US-Gegenkultur in den späten 60er Jahren und den sich entwickelnden Internetgemeinden bis zum Neoliberalismus unserer Tage.

In der Biographie des The Whole World-Catalog-Erfinders Stewart Brand finden die Kuraten Anhaltspunkte für ihre These. Er arbeitete für die NASA ebenso wie später für Internetkonzerne. Nur war er eben nie Teil der Gegenkultur und hat es auch nie behauptet. Er hat mit seinem Katalog diese Gegenkultur aber passgenau als Zielgruppe für Produkte ausgemacht, die damals noch keine große Käuferschicht in den USA hatten. Biographien wie die von Stewart Brand waren nicht selten, wie sich in der Ausstellung zeigte. Es gab auch Personen, die Ende der 60er Jahre tatsächlich Teil dieser Gegenkultur waren und dann zu Pionieren der sich entwickelten Internetbranche geworden sind.

Verschwörungstheoretische Anklänge

Im von Michael Rothschild verfassten Buch „Bionomics: The Inevitability of Capitalism“ werden Schlüsselwörter gefunden, die für die Durchsetzung des wirtschaftsliberalen Denkens zentral waren. Nun ist die These von der Geburt des neoliberalen Denkens in den Zentren der Gegenkultur nicht neu und weist auf wichtige Verbindungen hin.

Doch wie schnell solche Verbindungen in Verschwörungstheorien münden können, wird an der Ausstellung am Beispiel der Installation Hexen 2.0 von Suzanne Treister gut deutlich. Auf eine ihrer Zeichnungen wird eine gerade Linie von Kybernetikern organisierten Macy-Konferenzen bis zum Neototalitarismus gezogen. So bekommen diese Treffen, die zwischen 1946 und 1953 stattfanden, eine Bedeutung, die heute manche den Bilderbergkonferenzen geben wollen. Die Ausstellung „The whole World“ macht noch einmal deutlich, wie nötig der Gebrauch des eigenen Verstandes ist, um in der Fülle des ausgestellten Materials auch krude Verschwörungstheorien und diverse esoterische Einschläge erkennen zu können.

Die Ausstellung „The Whole World“ ist bis um 1. Juli im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen. Am 21. und 22. Juni findet ein Symposium zur Ausstellung statt.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/154245
Peter Nowak

Streiken geht auch anders

Der Streik migrantischer Arbeiterinnen bei einem Automobilzulieferer im Jahr 1973 erhält zum Jubiläum wieder Aufmerksamkeit.

Wer an Streiks in Deutschland denkt, dem kommen bunte Plastikleibchen, Trillerpfeifen, hohle DGB-Rhetorik und Tarifabschlüsse in den Sinn, die man nur mit viel Mühe als Erfolg verkaufen kann. Dass auch in Deutschland Arbeitskämpfe möglich sind, die anders verlaufen, zeigt der Pierburg-Streik. 1973 streikten die Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg im nordrhein-westfälischen Neuss für die Abschaffung aller Leichtlohngruppen, die dafür sorgten, dass Frauen weniger als Männer verdienten, und für eine Erhöhung des Stundenlohns um eine Mark.

Wie groß das Interesse an dem Streik damals war, zeigt sich an den zahlreichen Büchern und Filmen, die sich dem Ausstand widmen. Anfang der achtziger Jahre, als ein Großteil der Linken seinen Abschied vom Proletariat nahm, geriet auch der Pierburg-Streik in Vergessenheit. Doch nun macht ein Buch mit dem Titel »Wilder Streik, das ist Revolution«, das im Berliner Verlag »Die Buchmacherei« erschienen ist, wieder auf den Arbeitskampf aufmerksam. Der Herausgeber Dieter Braeg, damals einer der oppositionellen Betriebsräte in dem Unternehmen, hat das anstehende Jubiläum zum Anlass genommen, einige Dokumente erneut zu veröffentlichten.

Dazu gehört auch der 40minütige Film »Pierburg – ihr Kampf ist unser Kampf«, der immer noch sehenswert ist, vor allem aus einem Grund: Es ist sinnvoll, daran zu erinnern, dass es in Deutschland auch Kämpfe von Lohnabhängigen gab, die sich nicht in den von den DGB-Vorständen vorgegebenen Bahnen bewegen. Bei Pierburg war das der Fall: »Wilder Streik, das ist Revolution« – so begründete der Neusser Polizeipräsident Günther Knecht damals den Einsatz von knüppelnden Polizisten gegen die Streikenden.

Braegs Einschätzung, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für »eine andere deutsche Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung«, kann man allerdings Skepsis entgegenbringen. Mit einer viel größeren Berechtigung kann der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Sie traten nicht nur gegen den Unternehmer Alfred Pierburg an, der eine einflussreiche Stellung in der Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus inne gehabt hatte und in der Bundesrepublik Träger zahlreicher Orden inklusive des Bundesverdienstkreuzes war. Die Dokumente verdeut­lichen auch, wie die streikenden Frauen mit dem Rassismus der im NS sozialisierten Vorarbeiter konfrontiert wurden. »Ihr seid doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist, ihr Scheißweiber«, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich beim Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen aber auch die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger war als die Interessenvertretung der Kolleginnen. Auch die Taktik der IG-Metall-Führung wird deutlich. Sie tat alles, um den Streik wieder in die institutionellen Bahnen zu lenken, und die Justiz überzog die oppositionellen Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen.

Dieter Braeg ordnet den Pierburg-Streik in das politische Geschehen jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr von DGB-konformen Instanzen vertreten lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt waren der Streik und die Besetzung der Kölner Ford-Werke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere migrantische Arbeiter als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Bild-Zeitung: »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«. Zuvor hatten Bürgerwehren die Streikenden mehrmals angegriffen. So wurde unter tatkräftiger Mithilfe von Betriebsräten der proletarische Eigensinn gebrochen.

http://jungle-world.com/artikel/2013/15/47493.html

Peter Nowak

Die andere Seite der Agenda 2010

Erwerbslosenproteste begannen nicht erst mit den jüngsten Arbeitsmarktreformen, zeigt ein neues Buch
Zum zehnjährigen Jubiläum der »Agenda 2010« waren die Arbeitslosen wieder einmal Thema. So gut wie nicht erwähnt wurde dabei jedoch der Widerstand von Erwerbslosen gegen die unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder durchgedrückten Arbeitsmarktreformen. Ein Buch widmet sich dieser Seite der Geschichte und geht dabei fast ein Jahrhundert zurück.
In seiner Geschichte der Erwerbslosenproteste in Deutschland liefert der Frankfurter Sozialwissenschaftler Harald Rein nicht nur, wie die zeitliche Eingrenzung im Titel »1982-2012« nahelegt, eine Übersicht über die vergangenen 30 Jahre, sondern historische Bezüge über fast ein Jahrhundert. Erste Erwerbslosenräte gründeten sich in Deutschland demnach bereits nach der Novemberrevolution. Rein erinnert auch an die als »wilde Cliquen« bezeichneten, meist jungen Erwerbslosen, die in der Weimarer Republik Zwangsräumungen von Menschen verhinderten, die ihre Miete nicht mehr zahlen konnten. Anschaulich schildert er die Proteste bei der Eröffnung des »Hungerburg« genannten Arbeitsamtes im Berliner Stadtteil Neukölln im Jahr 1932. Diese Aktionen könnte man als Vorläufer der heutigen »Zahltagaktionen« bezeichnen, die seit 2007 immer mal wieder für Schlagzeilen sorgen und im Buch mehr Raum verdient hätten.

Im Mittelpunkt des Bandes stehen die Beiträge von Erwerbslosenaktivisten, die unterschiedliche Widerstandsformen vorstellen und die Probleme ansprechen. So berichtet Edgar Schui, wie das Aktionsbündnis Sozialproteste die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit einem gesetzlichen Mindestlohn und einem Grundeinkommen verbinden will. Für Michael Bättig von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) sind solche Forderungen jedoch zu vage. Er skizziert eine neue Erwerbslosenbewegung im Bündnis mit prekär Beschäftigten und der Umweltbewegung. In dem von der ALSO maßgeblich initiierten Bündnis »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« wird diese Orientierung umgesetzt. Es umfasst beispielsweise auch Milchbauern, die mit den niedrigen Milchpreisen unzufrieden sind. Sie verbindet eine Einsicht: Arme können sich teures Essen nicht leisten. Wer also Bioessen wünscht und ordentliche Bezahlung der Produzenten, muss an der Seite der sozial Schwachen für höhere Löhne und eine menschenwürdige Existenzsicherung kämpfen.

Die Geschichte der ostdeutschen Erwerbslosenbewegung wird von Marion Drögsler anhand des 1990 gegründeten Arbeitslosenverbands Deutschland erzählt. Weil dort die Forderung nach Vollbeschäftigung im Mittelpunkt stand, war die Zusammenarbeit mit westdeutschen Gruppen nicht einfach, die mehr auf Alternativen zur Arbeitsgesellschaft und Ansätze wie das Grundeinkommen setzten. Weitere Kapitel des Buches befassen sich mit der gewerkschaftlichen Erwerbslosenarbeit und den europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit. Anne Allex berichtet über sieben Jahre Kampagne gegen Zwangsumzüge. Sie musste im Oktober 2012 wegen Personalmangels ihre Arbeit einstellen. Wenige Wochen später setzte das Bündnis »Zwangsumzüge verhindern« auf einer breiteren Grundlage diese Arbeit mit großer Medienresonanz fort. Die Geschichte der Proteste ist also noch sehr aktuell und das Buch kann helfen, Bezüge herzustellen.

Harald Rein (Hg.): Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest 1982-2012, AG Spak-Verlag, 262 S., 22 €.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/817463.die-andere-seite-der-agenda-2010.html

Peter Nowak

Wohlfühlort, Täterort

Acht Jahre lang gab es das besetzte Haus in Erfurt auf dem ehemaligen Gelände der Firma Topf und Söhne, die im Nationalsozialismus Krematoriumsöfen herstellte. Nun widmen sich ehemalige Bewohner einer kritischen Rückschau.

Gleich zwei Jubiläen stehen für die linke Szene in Erfurt an. Am 12. April jährt sich zum 12. Mal die Besetzung des ehemaligen Geländes der Firma Topf und Söhne. Am 15. April 2009 wurde es mit einem großen Polizeieinsatz geräumt. Auch beinahe vier Jahre nach der Räumung sind das Gelände und das ehemals besetzte Haus, das sich dort befindet, noch nicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt der ansprechend gestaltete Bildband »Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort«, der von den ehemaligen Hausbewohnern Karl Meyerbeer und Pascal Späth kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben wurde.

Anders als in vielen anderen Schriften über Haus­projekte handelt es sich keineswegs um eine Publikation, in der sich ehemalige Besetzer wehmütig an die gute, alte Zeit erinnern und die Repression beklagen. Vielmehr ist der Band ein Geschichtsbuch über die radikale Linke der vergangenen 15 Jahre. Denn »das besetzte Haus«, wie es auf Flugblättern immer genannt wurde, war nie nur ein Wohlfühlort für Unangepasste.

Schon im Titel des Buches wird deutlich, dass die Geschichte des Ortes für die Außen- und die Selbstwahrnehmung der Besetzer eine zentrale Rolle spielte. Denn die Erfurter Firma Topf und Söhne stellte auf dem Gelände in der Zeit des Nationalsozialismus Krematoriumsöfen für Konzentrations- und Vernichtungslager her. Die Mehrheit der jungen Menschen, die im Frühjahr 2001 die Besetzung vorbereiteten, sah in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes von Anfang an eine politische Notwendigkeit. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der Geschichte der Besetzerbewegung. So thematisierten die Bewohner des als Köpi international bekannten Hausprojekts in Berlin nie öffentlich, dass sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gelände eine der vielen Unterkünfte für Zwangsarbeiter befunden hat.

In Erfurt wurde hingegen bereits 2002 das Autonome Bildungswerk (ABW) gegründet, das mit Veranstaltungen und historischen Rundgängen über das ehemalige Gelände von Topf und Söhne aufklärte. Marcel Müller, der bis 2003 im ABW mitarbeitete, kommt im Buch zu einem sicher diskussionswürdigen Resümee über das Bildungswerk: »Als ein echtes Stück bürgerschaftlichen Engagements kann es als Teil einer unerzählten Geschichte der Erfurter Zivilgesellschaft gelten. Als revolutionäres Projekt der kollektiven Bildung für eine andere Gesellschaftsordnung ist es Teil linker Geschichte des Scheiterns. Für die Beteiligten kann es als Erfahrungsraum für spätere Lebensabschnitte in seiner Bedeutung möglicherweise nicht hoch genug eingeschätzt werden, war mit ihm doch die Einübung bestimmter Skills wie Selbständigkeit, Geschichtsbewusstsein, Organisationstalent verbunden, die z. B. einer akademischen Karriere nicht eben abträglich sind.« Ein solches Fazit könnten Angehörige der radikalen Linken auch in anderen Bereichen ziehen.

In einem eigenen Kapitel zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit dem »Täterort« zeigt sich, wie diese selbst dazu beitrug, dass es mittlerweile auch offiziell einen »Erinnerungsort Topf und Söhne« gibt. Diesen bewirbt die Stadt Erfurt auf ihren Tourismusseiten im Internet, umgeben wird der Verweis auf »die Ofenbauer von Auschwitz« von Slogans wie »erleben und verweilen« und »Rendezvous in der Mitte Deutschlands«. Das passt sehr gut zu jener Erinnerungspolitik, die im besetzten Haus einer radikalen Kritik unterzogen wurde.

Auch in innerlinken Auseinandersetzungen ergriffen die politisch aktiven Bewohner Partei und scheuten dabei nicht die Auseinandersetzung. So sorgte die Demonstration unter dem Motto »Es gibt 1 000 Gründe, Deutschland zu hassen«, die mehrere Jahre in Folge am 3. Oktober in Erfurt mit Unterstützung des besetzten Hauses veranstaltet wurde, vor allem in reformistischen Kreisen für Aufregung. Die Ablehnung von Antiamerikanismus und antiisraelischer Politik, die ein Großteil der Hausbewohner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vertrat, sorgte auch in der radikalen Linken für Konflikte.

Es ist erfreulich, dass auch diese strittigen Themen im Buch nicht ausgespart werden. So findet sich ein Interview mit einem ehemaligen Mitglied der Gruppe Pro Israel und einem Antizionisten, der bei einer Veranstaltung dieser Gruppe im April 2002 Hausverbot erhielt. Elf Jahre später sind beide in der linken Bildungsarbeit in Thüringen tätig und sehen den damaligen Streit mit großer Distanz. Der ehemalige Pro-Israel-Aktivist stellt nun selbstkritisch fest: »Dass die Auseinandersetzung über linken Antisemitismus geführt wurde, fand ich richtig. Von heute aus gesehen würde ich sagen, dass die Fokussierung auf einen Punkt ein Problem war. Die soziale Frage hat überhaupt keine Rolle gespielt, was – muss man auch mal sagen – daran lag, das die uns kaum betroffen hat.« Der Streit um eine US-Fahne, die ein Hausbewohner an seinem Zimmerfenster angebracht hatte und die andere ­erzürnte, wird von den Beteiligten mittlerweile eher als Punkrock denn als Politik bezeichnet.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des über acht Jahre lang besetzten Hauses in Erfurt führt so auch zu den damaligen Diskussionen, die die radikale Linke bundesweit beschäftigten. Dass trotz der sicher nicht immer besonders erfreulichen Diskussionen ehemalige Hausbewohner drei Jahre nach der Räumung noch in unterschiedlichen linken Gruppen tätig sind, macht deutlich, dass das Haus bei der Politisierung ­einer Generation junger Menschen in Erfurt und Umgebung eine wichtige Rolle spielte.

http://jungle-world.com/artikel/2013/13/47408.html
Peter Nowak

Eine halbe Million


Belzec – das vergessene Vernichtungslager

Auschwitz, Treblinka, Sobibor, die Namen dieser deutschen Vernichtungslager im von der Wehrmacht besetzten Polen sind in einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Das 40 Kilometer südlich von Zamoscz errichtete Vernichtungslager Belzec hingegen war lange Zeit weitgehend vergessen. Dabei sind dort zwischen Februar und Dezember bis zu einer halben Million Juden sowie Sinti undm Roma ermordet worden. Danach wurde das Lager aufgelöst und die Täter pflanzten Pflanzen und Gras über der Todesstätte. Jetzt hat Berliner Metropol-Verlag die erste deutschsprachige Untersuchung zu Belzec herausgegeben. Autor ist der polnische Historiker Robert Kuwalek, der Mitarbeiter des Staatlichen Museums Majdanek in Lublin ist und von 2004 bis 2009 die Gedenkstätte Belzec leitete.
Kuwalek versteht es in seinem Buch detaillierte Informationen so darzustellen, dass sie auch für historische Laien gut nachvollziehbar sind. In den ersten beiden Kapiteln fasst der aktuellen Forschungsstand zu den Entscheidungsprozessen unter den NS-Eliten zusammen, die zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung führte. Dabei weist er nach, dass die als T4-Aktion bekannten Morde an als Geisteskrank erklärten Menschen der Probelauf für die Shoah war.
Anders als die anderen Vernichtungslager lag Belzec nicht abseits im Wald sondern an einer zentralen Bahnlinie. Daher widmete sich Kuwalek ausführlich der Frage, was darüber bekannt war. Die Bewohner der Umgebung waren über die Massenmorde informiert. Dafür sorgte schon der süßliche Geruch über dem Areal. Kuwalek zitiert auch aus Berichten von Zugpassagieren, die damals aufgefordert wurden, die Fenster in ihren Abteilen zu schließen. Es gab allerdings vor allem unter den NS-Chargen auch einen Holocaust-Tourismus. Sie berichten darüber auch ihren Familien. Nach 1945 wollten natürlich alle nichts gewusst haben. Auch bei den aus ganz Polen und der heutigen Ukraine nach Belzec deportierten Juden sprach sich bald rum, dass es sich dabei nicht um eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Osten handelte, wie die NS-Propaganda den Opfern anfangs vorgaukelte. Später verzichteten sie auf diese Camouflage. In mehreren dokumentierten Berichten wird die Brutalität deutlich, mit denen die deutschen Täter und ihre ukrainischen Helfer schon beim Transport mit den Juden umgingen. Ein großer Teil war schon tot, als sie in Belzec ankamen.
Sehr kritisch geht Kuwalek auch mit polnischen Geschichtsmythen in Polen um. So widerlegt er Berichte über Tausende in Belzec umgekommenen Polen. Zudem hätten Bewohner der umliegenden Dörfer noch bis Ende der 40 Jahre auf der Suche nach Wertgegenständen die Leichen ausgegraben. Mit Chaim Hirszman ist einer der wenigen Überlebenden von Belzec am 19. März 1946 von rechten Untergrundgruppen, die gegen die entstehende Volksrepublik Polen kämpften, in seiner Wohnung ermordet wurden. Wenige Stunden zuvor hatte er vor einer historischen Kommission über seine Erlebnisse in Belzec berichtet. Hirszman war schon in den 30er Jahren in der sozialistischen Jugendbewegung aktiv. Ein eigenes Kapitel widmet Kuwalek dem christlichen SS-Mann Kurt Gerstein, der nach einen Besuch in Belzec über die Zustände so erschüttert war, dass er Diplomaten informierte, um die Weltöffentlichkeit wachzurütteln. Vergeblich, Gerstein starb in französischer Haft, wo er mit NS-Tätern in eine Zelle gesperrt war. Die für die Morde in Belzec Verantwortlichen hingegen wurden bis auf ganz wenige Ausnahmen nie bestraft.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/815526.eine-halbe-million.html

Peter Nowak
Robert Kuwalek, Das Vernichtungslager Belzec, Aus dem Polnischen übersetzt von Steffen Hänschen, Metropol Verlag, Berlin, 2012, SBN: 978-3-86331-089-0, 392 Seiten, 24,– Euro

Der vergessene Terror

Im März 1919 wurde in Berlin ein Generalstreik von Militär und Freikorps blutig niedergeschlagen. Der Historiker Dietmar Lange liefert einen tiefen Einblick in ein weitgehend unbekanntes Kapitel der deutschen Geschichte.

Unter dem Motto »Zerstörte Vielfalt« erinnern staatliche Stellen 2013 an mehrere Jahrestage des NS-Terrors, von der Machtübernahme bis zur Reichspogromnacht. Mit dem Titel wird suggeriert, dass es in Deutschland bis 1933 eine weit­gehend heile Welt gegeben habe, die von den Nazis zerstört wurde. Der Publizist Sebastian Haffner, der während der NS-Zeit im Exil lebte, eröffnete in seinem 1969 erschienenen Buch »Die verratene Revolution 1918/19« eine ganz andere Perspektive auf die Geschichte vor 1933. Dort bezeichnet er die von rechten Freikorps mit Unterstützung der SPD-Führung verübten Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als »Auftakt zu den tausendfachen Morden in den folgenden Monaten der Noske-Zeit und den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitlerzeit«.

Der Berliner Historiker Dietmar Lange widmet sich in seinem bei Edition Assemblage veröffentlichten Buch »Massenstreik und Schießbefehl« einem weniger bekannten Kapitel der deutschen Zwischenkriegsgeschichte und setzt sich intensiv mit dem Generalstreik und den Kämpfen in Berlin im März 1919 auseinander. Der Streik war einerseits ein letzter Versuch, die Ziele der Revolution wie die »Sozialisierung der Schlüsselindustrien« und die Etablierung von Räten durchzusetzen. Andererseits ging es aber auch schlicht um die Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft. Lange führt in diesem Zusammenhang Aussagen von Sozial- und Gesundheitsexperten an, denen zufolge mehr als die Hälfte der Todesfälle in den Berliner Krankenhäusern in den ersten Wochen des Jahres 1919 auf Unterernährung zurückzuführen sind.

Das Bürgertum wappnete sich auf seine Weise für die Konfrontation. Am 10. Januar 1919 trafen sich »40 bis 50 Vertreter von Banken, Industrie und Gewerbe (…), wo nach einem Vortrag des führenden antikommunistischen Agitators und Vorsitzenden der antibolschewistischen Liga, Edward Stadler, ein Fonds zur Niederschlagung der Revolution mit mehreren Millionen Mark ausgestattet wurde«, zitiert Lange ein historisches Dokument. Dieses Geld wurde vor allem zum weiteren Aufbau der Freikorpsverbände und Bürgerwehren genutzt, die an der blutigen Niederschlagung der Aufstände im März 1919 beteiligt waren.

Lange geht detailliert auf die Straßengewalt ein, die sich parallel zum Generalstreik in einigen Berliner Stadtteilen entwickelte und von der sich sämtliche politische Gruppen – auch die junge KPD – distanzierten. Der Historiker verweist auf verbreitete Thesen, dass diese Aktionen von der Konterrevolution bezahlt wurden, um die Streikbewegung zu diskreditieren und schließlich zu zerschlagen. Er beschreibt aber auch die soziale und politische Anspannung auf den Straßen Berlins, die durch die schlechte wirtschaftliche Situation verschärft wurde. Tatsächlich traten mit Verweis auf die Unruhen Sondergesetze in Kraft, die den Arbeitskampf von Anfang an erheblich behinderten. Selbst die Herausgabe einer Streikzeitung wurde verboten.

Auch nachdem der Ausstand in Berlin nach sechs Tagen abgebrochen wurde, wütete der Terror der Freikorps und Bürgerwehren noch wochenlang weiter. Zu den Opfern gehörte neben vielen anderen Leo Jogiches, ein langjähriger Weggefährte Rosa Luxemburgs und Mitbegründer des Spartakusbundes. Nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts war Jogiches Parteivorsitzender der KPD geworden, doch hatte er diesen Posten ebenfalls nur kurze Zeit inne. Im März 1919 wurde er aus seiner Neuköllner Wohnung verschleppt und kurz darauf, am 10. März, im Untersuchungsgefängnis Moabit durch einen Kopfschuss getötet. Vor allem seine Recherchen zur Ermordung Luxemburgs und Liebknechts waren Militär und Freikorps ein Dorn im Auge gewesen. In den Akten heißt es, er sei auf der Flucht erschossen worden.

Jogiches war nicht der einzige Oppositionelle, der ermordet oder Repressalien ausgesetzt wurde. Die Freikorps durchkämmten die Berliner Arbeiterviertel mit Listen, auf denen Personen verzeichnet waren, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten oder die in den Tagen der Novemberrevolution in Räten aktiv geworden waren. Auch missliebige Intellektuelle und dadaistische Künstler gehörten zu den Opfern des »Weißen Terrors«. Einer von ihnen war der Schriftsteller Wieland Herzfelde, der Bruder des Künstlers John Heartfield, der wegen der Herausgabe einer sati­rischen Zeitschrift inhaftiert wurde. »Diese Lynchungen«, zitiert Lange den Publizisten, beruhten »nicht auf Erregung, sondern auf System und Instruktion.«

In den Arbeitervierteln Berlins wurden Standgerichte eingesetzt, um unliebsame Oppositionelle ad hoc verurteilen zu können. Lange referiert in seinem Buch auf die damaligen Akten und führt erschreckende Beispiele an. So wurde etwa der Zigarettenhändler Johannes Müller denunziert und vor ein Standgericht gestellt, weil er als revolutionär geltende Bücher besaß. In der And­reasstraße in Friedrichshain wurden ein Vater und sein 19jähriger Sohn erschossen, weil sie zwei Handgranatenstiele von ihrer Arbeitsstelle mitgebracht hatten.

Der Schießbefehlerlass wurde erst am 16. März aufgehoben. Nach einem offiziellen Bericht des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) sind in Berlin insgesamt 1 200 Menschen ums Leben gekommen. Der überwiegende Teil von ihnen ist jedoch nicht bei den Kämpfen gestorben, sondern von Standgerichten erschossen worden. Lange schätzt die Zahlen Noskes allerdings als zu niedrig ein, da ein Teil der Opfer in Massengräbern verscharrt oder in die Spree geworfen wurde. Noch im Sommer 1919 wurden Berichten zufolge vereinzelt aufgedunsene Leichen ans Ufer geschwemmt.

Als sich die Nationalversammlung am 27. März 1919 mit dem Geschehen befasste, erklärte Noske unter dem Beifall sämtlicher Parteien von der SPD bis hin zur äußersten Rechten: »Da gelten Paragraphen nichts, da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite.« Schon der Historiker Sebastian Haffner hat 1969 in seinem Buch einen Zusammenhang zwischen dem Terror der Freikorps gegen die Novemberrevolution und den Massenmorden des NS-Regimes hergestellt. Langes Erkenntnisse stützen diese Einschätzung anhand zahlreicher Beispiele und untermauern auch die Worte, die der Rechtshistoriker Otmar Jung in einer Ausgabe der Militärhistorischen Mitteilungen von 1989 für die Geschehnisse des März 1919 fand: »Noskes Erschießungsbefehl reiht sich so als unwürdiges Glied in eine Kette (prä)faschistischer deutscher Gewaltpolitik ein, welche die Welt nicht zu Unrecht ›hunnisch‹ nannte.«

Lange widerlegt mit seinem Buch die These von der 1933 durch die Nazis zerstörten Vielfalt und zeigt am Beispiel des März 1919 auf, was sich bei der Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik im April 1919, des Ruhraufstands 1920 und auch des Hamburger Aufstands 1923 in ähnlicher Form wiederholte. Für den 14. März dieses Jahres planen linke Gruppen eine Veranstaltung mit dem Autoren des Buchs, bei der auch die Frage diskutiert werden soll, weshalb es bis heute keinen einzigen Gedenkort für die Opfer dieses Terrors gibt.
http://jungle-world.com/artikel/2013/07/47138.html
Peter Nowak

Analyse der Krisenproteste in Europa

Ein Buch betrachtet Widerstandsperspektiven

Warum gibt es in Europa trotz der großen Krise relativ wenig gemeinsamen Widerstand? Ein kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenes Buch mit dem Titel »Krisen. Proteste« gibt einige Antworten auf diese Frage und zieht eine Zwischenbilanz der Proteste, Aufstände und Streikbewegungen, die es bisher als Reaktion auf die sozialen Verwerfungengab. Die Ungleichzeitigkeit der Krisenpolitik und der Wahrnehmung bei den Betroffenen erschwert einen gemeinsamen Widerstand. Diese Entkoppelung stellt für die Linken ein großes Problem dar, »das keineswegs mit bloßen Appellen und weltweiten Aufrufen bewältigt werden kann«, schreiben die Herausgeber des Buches, Peter Birke und Max Henninger, in der Einleitung. In zwölf Aufsätzen, die größtenteils auf der Onlineplattform Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurden, werden die aktuellen Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern auf hohem Niveau analysiert. Zur Lage in Griechenland gibt es gleich zwei Beiträge. Während der Historiker Karl Heinz Roth die Vorgeschichte der Krise rekonstruiert und dabei auf das Interesse des griechischen Kapitals am Euro eingeht, beschäftigt sich der Soziologe Gregor Kritidis mit der vielfältigen Widerstandsbewegung der letzten Jahre. Er sieht in den Aufständen nach der Ermordung eines jugendlichen Demonstranten durch die Polizei im Dezember 2008 »die Sterbeurkunde für die alte Ordnung«. Ausführlich geht er auch auf die Bewegung der Empörten ein, die im Sommer 2011 aus Protest gegen die EU-Spardiktate öffentliche Plätze in Griechenland besetzten und mit massiver Polizeirepression konfrontiert waren. Ebenso stellt Kritidis die Bewegung zur Schuldenstreichung vor, die es seit einem Jahr gibt.Kirstin Carls zeigt am Beispiel Italien auf, wie die technokratische Monti-Regierung in den letzten Monaten
Einschnitte in die Arbeits-, und Sozialgesetzgebung umgesetzt hat, die Berlusconis Regierung nach heftigem Widerstand hatte zurückziehen müssen. Das Bündnis The Free Association liefert Hintergrundinformationen über die Proteste in Großbritannien. Zwei spanische Aktivisten beschreiben, wie sich ein Teil der Empörten, nachdem sie Zelte auf den öffentlichen Plätzen aufgegeben hatten, auf den Kampf gegen Häuserräumung und die Unterstützung von Streiks konzentrierten. Das Buch kann nach den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt wichtige Anregungen für eine Perspektivdebatte der Krisenprotestbündnisse liefern.

aus: Sprachrohr
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012
Peter Nowak
Peter Birke, Max Henninger, Krisen.Proteste,
Berlin 2012, 312 Seiten, 18 Euro, ISBN
978-3-86241-413-0

Feministischer Blick auf die Krise

Hausfrauenlohn – eine alte Debatte neu gelesen

Viel wurde in letzter Zeit in linken Debatten vom Ende der Arbeitsgesellschaft gesprochen. Meist wird dieser Befund an der Entwicklung n der industriellen Produktion festgemacht. Doch in letzter Zeit meldeten sich vermehrt Stimmen zu Wort, die in diesen linken Konzepten eine Unsichtbarmachung der Reproduktionsarbeit sehen, die in den letzten Jahrzehnten weltweit gewachsen ist und noch immer überwiegend von Frauen ausgeübt wird. So fand 2009 in Berlin ein gut besuchter Kongress unter dem Titel „Who cares“ statt, der sich mit der Pflegearbeit in den Familien und im Dienstleistungssektor befasst. Feministische Zusammenhänge haben diese Debatten schon vor mehr 40 Jahren geführt. Der Münsteraner Verlag Edition Assemblage hat jetzt einige Grundlagentexte dieser Debatte in einem kleinen Band zusammengestellt und unter dem Titel „Aufstand aus der Küche“ veröffentlicht. Darin sind zwei aktuelle und ein alter Aufsatz der emeritierten US-Professorin Silvia Federici abgedruckt, die 1972 das „Feministische Kollektiv“ mitbegründete, dass mit der Forderung „Lohn für Hausfrauenarbeit“ weit über die feministische Bewegung hinaus für Kontroversen sorgte.
Federici formuliert in dem Band eine aktuelle Kritik der Reproduktinsarbeit im globaen Kapitalismus und plädiert für eine feministische Politik der Gemeingüter. Der Verlag eröffnet damit seine neue Reihe „Kitchen Politics – Querfeministische Interventionen“. Sie soll einen Mangel der aktuellen feministischen Diskussion beheben, die sich zu wenig um Kapitalismuskritik bemühe, zugleich aber den ökonomiekritischen, marxistischen Diskurs erweitern, der bis heute an einem männerdominierten Blick krankt und Geschlechterverhältnisse nur am Rande behandelt.
Federicis zentrales Anliegen war die Politisierung der Arbeitsteilung und der geschlechtsspezifischen Zuweisung der privaten, unbezahlten Sorgearbeit an Frauen. Die Forderung nach einem Hausfrauenlohn sorgte in linken Zusammenhängen für große Aufregung, galt sie doch als „Herdprämie“ fürs Zuhausebleiben und nicht zuletzt stellte sie den Arbeitsbegriff von Karl Marx infrage. Für ihn war Reproduktionsarbeit nicht produktiv, weil sie keinen Mehrwert erwirtschaftet.
Wie heftig die Diskussion damals auch in feministischen Zusammenhängen geführt wurde, zeigt der letzte Beitrag im Buch. Die 1974 verfasste Replik auf die Kritik des Hausfrauenlohns wurde damals von einer marxistischen Zeitung nicht abgedruckt. Fast 40 Jahre später liest sich er Text erstaunlich aktuell. Federicis These „Es ist aber nicht nötig, eine Fabrik zu betreten, um von der kapitalistischen Organisation der Arbeiter_innenklasse betroffen zu sein“. Das mag Mitte der 70er Jahren noch auf Unverständnis gestoßen sein. Im Zeitalter der boomenden Dienstleistungsbranche ist die Einschätzung nachvollziehbar. Das ist ganz im Sinne der Herausgeberinnen: Sie wollen mit dem Buch nicht etwa ein historisches Interesse befrieden, sondern einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Reproduktionsarbeit liefern.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/812138.feministischer-blick-auf-die-krise.html
Peter Nowak

Silvia Federici, Aufstand aus der Küche, Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, Aus dem Englischen von Max Henninger, Edition Assemblage, Reihe: Kitchen Politics, Band 1, 128 Seiten, 9.80 Euro, Münster 2012, ISBN 978-3-942885-32-4
http://www.edition-assemblage.de/aufstand-aus-der-kuche

NS-Geschichte in Dokumenten

Eine Trilogie erinnert an die braune Zeit in Berlin – ein Beitrag zum Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ mit dem 2013 an mehrere Jahrestage des Nazi-Terrors erinnert wird.

„Wer die Vergangenheit verstehen will, muss die zeitgenössischen Quellen im Original lesen. Nur so lässt sich direkt nachvollziehen, wie die Situation im jeweiligen Moment einer Entscheidung wahrnehmbar war, wie die Beteiligten die Situation subjektiv verstanden und mitgestalteten.“ Diese Sätze schrieb der Historiker Sven Felix Kellerhoff in der Einleitung des im Berlin Story Verlag erschienen Dokumentenbands „Das braune Berlin“.

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Angriff der christlichen Taliban?

Ein Buch konstatiert eine neue Radikalität der Abtreibungsgegner in Deutschland. Das Spektrum reicht von der extremen Rechten bis in fast alle Bundestagsparteien

Die Abweisung eines Vergewaltigungsopfers durch zwei katholische Klinken in Köln sorgt derzeit bundesweit für Schlagzeilen. Vor allem die Begründung verursachte Empörung. Danach ist es dem Personal seit Kurzem unter Androhung einer fristlosen Kündigung dienstlich verboten, Vergewaltigungsopfer zur Beweissicherung gynäkologisch zu untersuchen, weil damit eine Beratung über eine eventuell daraus drohende Schwangerschaft und eine Verordnung der von der katholischen Kirche abgelehnten „Pille danach“ einhergehen könnte.

Ist das nicht ein guter Beweis für den zunehmenden Einfluss von Abtreibungsgegnern in Deutschlands, der am Mittwochabend auf einer Podiumsdiskussion im Berliner Familienplanungszentrum Balance konstatiert wurde? Dort wurde ein neues Buch mit dem Titel „Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner_innen im (inter-)nationalen Raum“ vorgestellt, das kürzlich im Verlag AG Spak veröffentlicht worden ist.

Es macht auf ein Thema aufmerksam, dass in Deutschland lange Zeit kaum mehr beachtet worden ist. Vorbei scheinen die großen Debatten um den Paragraphen 218, der mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ von der Frauenbewegung angegriffen worden ist. 1990 brachte das Thema noch mal Tausende auf die Straße, die forderten, dass im wiedervereinigten Deutschland das Abtreibungsgesetz der DDR Übernommen werden soll. Doch auch hier setzte sich die BRD durch. Nach dem Schwangerschafts- und Familienhilfeänderungsgesetz, das im Oktober 1995 in Kraft trat, bleiben Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich strafbar. Die eng begrenzten Ausnahme sind seitdem umkämpft, denn nicht mehr die Befürworter, sondern die Gegner jeglicher Abtreibung machen seitdem inner- und außerparlamentarisch mobil, wie verschiedene Autoren in dem Buch nachweisen. So hat die CDU/CSU 2008 einen Gesetzesentwurf zur Verhinderung von Spätabtreibungen vorgelegt. 2010 wurden die Bedingungen für die medizinische Indikation verschärft.

1000 Kreuze und Guerillajournalismus der Abtreibungsgegner

Doch auch auf außerparlamentarischer Ebene haben die Abtreibungsgegner in den letzten Jahren ihre Aktivitäten ausgeweitet. Seit einigen Jahren organisieren sie in verschiedenen europäischen Ländern Mitte September sogenannte „Märsche für das Leben“, auf denen weiße Kreuze getragen werden, die aus der Sicht der Abtreibungsgegner die getöteten Kinder symbolisieren sollen. Seit 2011 hat sich die Teilnehmerzahl erhöht und durch die Beteiligung jüngerer Gruppen und Einzelpersonen hat sich auch das Aktionsrepertoire erweitert.

Die Szene der jungen Lebensschützer trifft sich europaweit zu Tagungen und hat auch das Internet als Kampffeld entdeckt. Vorbild der Abtreibungsgegner ist dabei eindeutig die USA, wo sie im Windschatten der von Ronald Reagan ausgerufenen Konservativen Revolution Erfolge verzeichneten, wie die Historikern Dagmar Herzog aufzeigt. Zu den Aktionsfeldern gehört auch ein Guerilla-Journalismus. Danach geben sich Abtreibungsgegnerinnen als hilfesuchende Frauen aus, die dann die Ärzte und das Klinikpersonal dadurch zu kompromittieren versuchen, dass sie ihnen Gesetzesverstöße nachweisen wollen und Videos von Gesprächen ins Netz stellen.

Auch in Deutschland müssen sich Einrichtungen, die legale Abtreibungen durchführen oder die betroffenen Frauen unterstützen, wie Pro Familia oder Balance immer wieder mit Anzeigen der Gegner auseinandersetzen. Aufhänger ist dabei der Paragraph 219 a des Strafgesetzbuches, der Werbung für eine Abtreibung unter Strafe stellt. Damit kann schon die Information über eine Einrichtung, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, kriminalisiert werden, stellt die Gesundheitsberatung Sybill Schulz fest. Weiterhin versuchen Abtreibungsgegner, Frauen auch vor den Einrichtungen direkt anzusprechen und moralisch unter Druck zu setzen, was von dem österreichischen Arzt Christian Fiala als psychische Gewalt beschrieben wird, die als freie Meinungsäußerung getarnt wird.

Dass dieses unterschiedliche Repertoire der Abtreibungsgegner ihre Wirkung nicht verfehlt, wird an mehreren Stellen im Buch deutlich. So musste das Familienzentrum Balance ihre Webpräsenz verändern. Viele der von der Einrichtung angeschriebenen Ärzte und Pro-Choic- Einrichtungen, die ins Visier der Gegner geraten sind, wollen darüber in der Öffentlichkeit nicht sprechen. Die Befürchtung ist groß, dass heute eine offensive Propagierung des feministischen Grundsatzes „Mein Bauch gehört mir“ wieder mit Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden ist.

Neue Perspektiven für die Abtreibungsgegner?

Es gibt aber auch andere Erfahrungen. So schreibt die Publizistin Jutta Ditfurth, die schon 1988 erklärte, dass sie zwei Mal abgetrieben habe und es nicht bereue, in ihrem Vorwort, dass von Männern in ihrem Wikipedia-Eintrag immer wieder heftige Diskussionen von Abtreibungsgegnern geführt werden. Noch im letzten Jahr sei sie vom Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in einem Gespräch über ein völlig anderes Thema unvermittelt gefragt worden, ob sie abgetrieben habe. „Wie oft haben Sie in Ihrem Leben onaniert und damit mögliches menschliches Leben vergeudet?, fragte ich zurück. Mit roten Ohren wechselte er das Thema“, beschreibt Ditfurth die für den Redakteur wohl eher peinliche Episode.

Aber auch jenseits von persönlicher Courage hat die Offensive der „christlichen Taliban“ zur Entstehung einer neuen politischen Bewegung geführt, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung propagiert. Als Beispiele werden in dem Buch oft sehr kreative Aktionen anlässlich der Märsche der Abtreibungsgegner genannt aufgeführt. Ein Höhepunkt waren eine Großdemonstration und zahlreiche Aktionen anlässlich des Papstbesuches 2011 in Berlin und auch in anderen Städten. Auch dass es nun nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder ein Buch gibt, das die Szene der Abtreibungsgegner analysiert und kritisiert, kann als Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein de Pro-Choice-Bewegung interpretiert werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153561
Peter Nowak
Peter Nowak

»telegraph« über DDR-Jugendkultur

. In der DDR stand die Kirche von Unten (KvU) für eine staatsferne, unangepasste Kultur- und Jugendszene. Sie erkämpfte sich in der DDR Freiräume, doch im realexistierenden Kapitalismus soll die KvU aus ihrem Domizil im Prenzlauer Berg vertrieben werden. Diese Geschichte beschreibt der Historiker und einstige Aktivist der DDR-Jugendopposition, Dirk Moldt, in der neuen Ausgabe der ostdeutschen Zeitschrift »telegraph« (Nr. 124, 76 Seiten, 6 Euro). Dietmar Wolf, Mitbegründer der Autonomen Antifa Ostberlins erinnert darüber hinaus an die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock und Mannheim-Schönau. Über den Zusammenhang von Krise und Rassismus informiert der Journalist Thomas Konicz und der österreichische Verleger Hannes Hofbauer beschreibt, wie in Osteuropa sogenannte bunte Revolutionen in westlichen Stiftungen geplant werden. Ein interessantes Heft, das Themen abseits des Mainstreams behandelt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809375.bewegungsmelder.html
telegraph.ostbuero.de
Peter Nowak

Das war linke Jugendkultur


MAGAZIN Die aktuelle Ausgabe des „telegraph“ beleuchtet die Rolle der „Kirche von unten“

Die Kirche von unten (KvU) hat keinen Mietvertrag mehr für ihre Räume in Prenzlauer Berg: Der Besitzer will Eigentumswohnungen schaffen. Da ist es erfreulich, dass mit dem Historiker Dirk Moldt ein Mitbegründer der KvU an die Rolle erinnert, die das Projekt für eine unangepasste linke Jugendkultur in der DDR hatte.

Moldts Rückblick ist in der aktuellen Ausgabe der „ostdeutschen Zeitschrift“ telegraph erschienen. 1987 als Sprachrohr der DDR-Umweltbibliothek entstanden, wurde sie 1989 zum Forum der DDR-Opposition, die nicht Wiedervereinigung und Kapitalismus anstrebte. Von dieser Prämisse lassen sich die MacherInnen bis heute leiten. In dieser Ausgabe erinnert Dietmar Wolf, Mitbegründer der Autonomen DDR-Antifa, an die rassistischen Pogrome vor 20 Jahren in Hoyerswerda, Rostock und Mannheim-Schönau. Er zeigt präzise auf, wie diese von PolitikerInnen zur Einschränkung des Asylrechts genutzt wurden.

Der Rapper Jens Steiner beschreibt, wie der traditionelle Protestsong zum Politkitsch wurde. Weitere Beiträge widmen sich dem NSU-Verfahren und rassistischen Strömungen im Europa der Krise.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F01%2F09%2Fa0144&cHash=87a502342887d41d4361754fe6a48853
Peter Nowak
telegraph 125/126, 6 €, beziehbar über telegraph.ostbuero.de