Wahljahr 2017: Alles auf die AfD ausgerichtet?

Christian Lindner[1] ist Vorsitzender einer Partei, der es in diesem Jahr um viel geht. Entweder die FDP schafft es bei den Bundestagswahlen wieder über die Fünfprozenthürde und wird womöglich wieder an einer Bundesregierung beteiligt sein oder die FDP geht den Weg der Piratenpartei, über die bald niemand mehr reden wird.

Nun hat die FDP grundsätzlich zwei Möglichkeiten, sich politisch zu profilieren. Sie kann wie in den frühen 1970er Jahren als Bürgerrechtspartei – mit den Grünen und den Piraten – um Wählerstimmen konkurrieren oder sie geht einen Weg des Nationalliberalismus, also eines Kurses rechts von der Union. Es gab in den vergangenen 20 Jahren schon mehrere Versuche, das erfolgreiche Konzept der österreichischen FPÖ zu kopieren. Sie sind alle gescheitert.

Am Spektakulärsten war das Scheitern bei Jürgen W. Möllemann. Lindner will nun wie auch andere FDP-Politiker ihre Partei rechts von der Union positionieren, aber sich natürlich keineswegs eine mögliche Koalition mit dieser Partei verbauen. Im Grunde knüpft das aktuelle FDP-Team damit an Westerwelle an, der ja zunächst Möllemann bei der Rechtswende und dem Projekt 18 assistierte, dann aber frühzeitig die Reißlinie zog.

Wenn Westerwelle gegen die angebliche Sozialdemokratisierung der Union und Deutschlands polemisierte oder dem weiteren Sozialabbau das Wort redete und vor spätrömischer Dekadenz warnte, dann sprach daraus der Exponent einer radial antisozialen Partei.

Da wollen Lindner und Kubicki[2], das gegenwärtige FDP-Team, das den Bruderkrieg schon ins sich trägt, die FDP wieder hinbringen. Da erstaunt es schon, dass der CDU-Generalsekretär Tauber gleich die AfD-Keule herausholt und Lindner als Gauland im Maßanzug bezeichnet.

Der AfD-Rechtsaußen fällt immer wieder mit rechtspopulistischen Positionen auf. Nun wirft die FDP der Merkel-Union schwere Fehler bei der Flüchtlingspolitik vor und warnt vor der Isolation Deutschlands in der EU in der Frage der Migrationslenkung.

Allerdings ist in dieser Frage die offizielle FDP-Position weniger strikt als beispielsweise die von Seehofer und anderer CSU-Politiker. Wenn Tauber denen AFD-Positionen vorwerfen würde, wäre wohl der Friede innerhalb der größten Regierungspartei endgültig in Gefahr.

Die Ausfälle des Merkel-Vertrauen Tauber zeigen natürlich auch, wie blank die Nerven bei der Regierungspartei liegen. Sollte es noch mehr islamfaschistische Anschläge geben, könnte die Union noch weiter an Stimmen verlieren. Für die Merkel-Union ist weniger die AfD das Problem.

Im Gegenteil, nur wenn sich Merkel als Bollwerk gegen die AfD und den Rechtspopulismus inszeniert und dabei möglichst Stimmen aus den Reihen der ehemaligen Wähler von SPD und den Grünen bekommt, kann sie mit einen Erfolg rechnen. Doch Parteien wie die FDP sind für Unionswähler, die mit dem Merkelkurs nichts anfangen können und trotzdem nie AfD wählen würden, eine reale Alternative.

Diese direkte Konkurrenz erklärt auch die Verbalattacke auf Lindner. Den aber wird sie freuen. Schließlich wird jetzt erst so richtig wahrgenommen, dass Lindner seine Partei unbedingt wieder ins Parlament bringen will. Freuen werden sich auch Gauland und die AfD.

Sie bestimmen schon soweit die politische Agenda, wenn jetzt schon der Streit entbrannt ist, wie weit denn dieser oder jene Politiker die AfD kopiert. Die braucht solche Auseinandersetzungen gar nicht kommentieren, sondern nur darauf setzen, dass sich dann noch mehr Wähler für das Original interessieren. Und es ist ja nicht nur Lindner, dem eine Nähe zur AfD vorgeworfen.


Auch die Spitzenkandidatin der Linkspartei Sahra Wagenknecht steht wieder einmal in der Kritik von Grünen, SPD und auch Teilen ihrer eigenen Partei, weil sie im Interview mit dem Deutschlandfunk[3] erklärt hat, dass sie den Teil der AfD-Wähler gewinnen will, die aus Unzufriedenheit und nicht aus Überzeugung die Rechtspartei wählen.

Sie wolle denen signalisieren, dass es eine sozialere Gesellschaft nicht mit der AfD, sondern nur mit der Linken geben kann. Nun kann Wagenknecht mit Recht darauf verweisen, dass die Analysen der Wählerwanderungen deutlich machen, dass ein Teil der heutigen AfD-Wähler noch vor knapp 10 Jahren die Linke gewählt hat, weil es in ihnen in erster Linie darum ging, ihre Unzufriedenheit auszudrücken.

Doch die Frage, ob es einem Großteil von ihnen wirklich darum geht, soziale Unzufriedenheit auszudrücken , oder ob sich nicht in dem Wahlverhalten auch ein tendenziell rassistischer Erklärungsansatz ausdrückt, ist auf jeden Fall ein berechtigter Gegeneinwand. Das würde Wagenknecht nun aber noch nicht in AfD-Nähe bringen, wenn sie sich nach dem von ihr selber vorgestellten Drehbuch hält.

Es gehe darum, diesen Wählern aufzuzeigen, dass es mit der Linken eine sozialere Alternative gibt. Wenn die aber nicht angenommen wird, müsste auch klar sein, dass es gar nicht um einen sozialen Protest, sondern schlicht um die Ablehnung von Migranten geht.

Wenn dann aber mit dem Argument, wir müssten die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen, auch da noch weitere Angebote nachgeschoben werden, wäre die Kritik an Wagenknecht auf jeden Fall berechtigt. Tatsächlich wird sie bei aller Kritik diesen Wahlkampf der Linken weitgehend bestimmen. Das Ergebnis wird auch etwas darüber aussagen, welchen Einfluss sie nach den Wahlen noch in der Partei haben wird.

Erlangt die Linke ein deutlich zweistelliges Ergebnis, wie Wagenknecht im Deutschlandfunk-Interview als Zielmarge nannte, wird der Erfolg ihrer Strategie angerechnet werden. Stagniert die Linke oder verliert gar, wird auch dieser Malus ihr angerechnet. Die innerparteilichen Kritiker, die dann auf eine Entmachtung Wagenknechts drängen, warten auf jeden Fall auf ihre Chance.

Denn hier geht es auch um zwei unterschiedliche Politikentwürfe für die Linkspartei, die beide den Anspruch haben, für eine moderne linke Reformpolitik zu stehen .Wagenknecht gibt da eher die Traditionssozialdemokratin, die ihre Partei links von der SPD positioniert und sich vor allem auf Fragen von sozialer Gerechtigkeit konzentriert.

Den Kapitalismus stellt sie schon lange nicht mehr in Frage. Da waren die Jusos und selbst die IG-Metall vor 40 Jahren noch deutlich systemkritischer. Der andere Flügel will die Linke eher als Teil der ominösen offenen Gesellschaft nah bei den Grünen positionieren. Dort geht es eher um Teilhabe und um den Abbau von Diskriminierungen. Soziale Gerechtigkeit ist dort eher ein Thema von vorgestern.

Die Vorstellung, dass man auch in einem Reformprojekt, unabhängig davon, wie realistisch die Umsetzungschancen sind, Fragen von sozialer Gerechtigkeit und von Minderheitenrechten nicht konträr, sondern zusammendenken muss, scheint sich in der Praxis schwerer durchzusetzen, als das große Interesse an Didier Eribon, dessen Bestseller Rückkehr nach Reims[4] ja genau das zum Thema hat, vermuten lässt.

Solchen Diskussionen lässt sich natürlich gut aus dem Weg gehen, wenn man lieber die Kontrahenten zu Epigonen der AfD erklärt. Die AfD kann sich über diese Vergleiche freuen, zeigen sie doch, wie stark sie schon die Innenpolitik im Wahljahr 2017 bestimmt.


Ansonsten läuft für die Partei solange alles rund, solange die Islamfaschisten aktiv bleiben. Die haben ja schließlich auch das erklärte Ziel, die Rechte möglichst stark zu machen, damit die Lebensbedingungen für die Moslems, die sich in die Gesellschaft integrieren wollen, schlechter werden.

Solange aber die Mordtaten der unterschiedlichen Islamisten die Gesellschaft bestimmen, wird sich der Wahlkampf eher um Sicherheitsfragen, als um die Fragen von sozialer Gerechtigkeit drehen. Das ist das größte Risiko für die Strategie von Wagenknecht und anderen sozialdemokratischen Politikern, die sich auf soziale Themen stützen wollen.

Schon werfen sich SPD und Union gegenseitig vor, nicht genug für die Sicherheit getan zu haben. Dabei wird aber – wie meist, wenn es um die Sicherheitspolitik geht – über Placebos diskutiert. Ob es um die Videoüberwachung, die deutsche Leitkultur oder die weitere Einschränkung von Rechten von Geflüchteten und Migranten geht, solche Maßnahmen werden keine islamfaschistischen Anschläge verhindern, aber sie sollen den Wählern suggerieren, dass die Parteien etwas tun.

Auch hier kann sich die AfD freuen, weil ihre Forderungen immer ein Stück restriktiver sein werden als die von Union und SPD. So haben wir bereits in den ersten Tagen einen Vorgeschmack auf das Wahljahr 2017 bekommen. Die AfD hat schon viel Einfluss auf die Politik, obwohl sie noch nicht einmal im Bundestag sitzt.

Dabei hätte die vielzitierte Mehrheit links von der Union im Dezember einen sozialpolitischen Coup nur richtig verarbeiten müssen. Als in Berlin der parteilose Stadtforscher Andrej Holm zum Staatssekretär für Wohnungsfragen ernannt wurde, wurde auch für wenige Tage über die Möglichkeiten und Grenzen einer linken Reformpolitik diskutiert.

Allen war klar, ein Staatssekretär Holm würde keine Revolution auf dem Wohnungsmarkt auslösen, aber kann vielleicht dafür sorgen, dass sich auch Investoren an die eigenen Gesetze halten müssen. Aber bereits nach wenigen Tagen wurde nicht mehr darüber sondern über die Frage diskutiert, ob Holm als 18jähriger DDR-Bürger für die Stasi arbeiten durfte[5] und ob er sich danach an alle Details erinnern musste.

Es dauerte nicht lange und selbst in der Taz, die Holm erst einmal verteidigte, wurde kritisiert, dass das Vorleben des Kandidaten nicht ausreichend eruiert worden sei. Dabei brauchte man den Holm-Kritikern nur eine Frage stellen. Würden sie einen Politiker, egal welcher Partei, genauso kritisieren, wenn er sich irgendwann zur Mitarbeit für den BRD-Verfassungsschutz bereit erklärt hat?

Müsste dann auch bei allen künftigen Bewerbungen danach gefragt und eine falsche oder unvollständige Antwort sanktioniert werden? Und müssten alle, die dazu bereit waren, genau erklären, warum sie die BRD sogar durch Mitarbeit bei den Geheimdiensten verteidigen wollten. Genau das hatte damals Andrej Holm im Fall der DDR getan und das wird ihm schließlich vorgeworfen.


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[1] https://www.christian-lindner.de
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/kritik-an-fluechtlingspolitik-fdp-vizechef-kubicki-wirft-merkel-schwere-fehler-vor-13974899.html
[3] http://www.deutschlandfunk.de/interview-der-woche.867.de.html
[4] http://www.suhrkamp.de/buecher/rueckkehr_nach_reims-didier_eribon_7252.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Andrej-Holm-und-die-Stasi-Vergangenheit-3569321.html

»Wir sind stinksauer«

In der Lausitzer Straße 10 und 11 in Berlin-Kreuzberg sind diverse Alternativprojekte von der Verdrängung bedroht. Unter anderem befindet sich das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (Apabiz) in dem Gebäudekomplex. Die Jungle World hat mit Nenuschka, Lisa, Malte und Bini von »Lause bleibt e.V. i.G.« gesprochen.

Small Talk mit Mitgliedern des Vereins »Lause bleibt« über die Verdrängung aus Kreuzberg von Peter Nowak

Der dänische Investor Taekker will die Häuser Lausitzerstraße 10 und 11 verkaufen. Was bedeutet das für die Gewerbetreibenden und Mieter der Häuser?

Nenuschka: Taekker will die Gebäude an den meistbietenden Investor verkaufen. Eine solche Investition muss sich auch lohnen. Geplant sind Luxussanierungen und die Umwandlung der Gewerbeeinheiten in Lofts – die schicke Fabriketage als Single-Residenz. Die Gewerbetreibenden, das heißt auch alle Initiativen, Vereine, Projekte, würden direkt gekündigt. Die Mieterinnen der Wohnungen haben zwar mehr rechtlichen Schutz, aber auch für sie stiege der Verdrängungsdruck immens.

Taekker ist kein Unbekannter auf dem Berliner Immobilienmarkt. Was ist über die Unternehmensstrategie bekannt?

Nenuschka: Taekkers Strategie ist nicht anders als die anderer Immobilienunternehmen. Objekte wurden günstig aufgekauft, vollständig saniert und parzelliert als Eigentumswohnungen verkauft. Taekker hatte die Lausitzer Straße 10 vermutlich für etwa drei Millionen Euro vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg übernommen. Danach ist über zehn Jahre kein Geld hineingesteckt worden. Nun werden etwa 18 Millionen Euro verlangt – das wäre ein Gewinn von 600 Prozent.

In dem Gebäude haben zahlreiche Projekte wie etwa das Apabiz, die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, die Videowerkstatt »Autofocus« und das Umbruch-Bildarchiv ihre Büros. Was würde der Verkauf für sie bedeuten?

Lisa: All diese Projekte und Vereine sind auf niedrige Mieten angewiesen. Sie leben von ihrer Anbindung im Kiez und ihrer Verbindung untereinander. Im Falle eines Verkaufs würden sie in der Stadt versprengt, einige müssten von zu Hause aus arbeiten und würden aus der Öffentlichkeit verschwinden. Wir sind stinksauer.

Mittlerweile wurde der Verein »Lause bleibt« gegründet. Welchem Zweck dient er?

Malte: Von der Verdrängung sind weit über 100 Menschen bedroht. Es gibt in beiden Häusern eine gewachsene Hausgemeinschaft. Die meisten Mieterinnen kennen sich seit Jahren untereinander. Sie lassen sich nicht nach ihrem Status als Wohn- oder Gewerbemieterinnen oder an der Frage der Laufzeit von Verträgen auseinanderdividieren. In unserer vielfältigen Zusammensetzung besteht unsere Stärke. Die Gründung des Vereins ermöglicht es uns, mit einer Stimme zu sprechen.

Haben Sie Forderungen an die Politik in Kreuzberg und Berlin?

Bini: Dieselben Parteien, die vor zehn Jahren oft dieselben Gebäude verramscht haben, deren Mieterinnen heute bedroht sind, sind diesmal zur Abgeordnetenhauswahl mit Slogans wie »Und die Stadt gehört euch!« oder einer »wohnungspolitischen Wende« angetreten. An Beispielen wie unserem muss sich die jetzige Bezirks- und Landespolitik auf jeden Fall messen lassen. Überall, wo es kreativ und lebendig ist, ist auch das Kapital. Aber in der eisigen Umarmung des Kapitals erlischt eben das Lebendige, nach dem es gesucht hatte. Die Stadtteile, die es mit Geld versorgt, hinterlässt es nach seinem Vorbild: leer. »Lause bleibt« ist unsere konkrete Forderung gegen die Stadt des Kapitals. Der Druck in der Stadt steigt, das merken alle.

Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?

Malte: Bei uns wohnen viele stadtpolitische Aktivistinnen. Es gibt Kontakte zu diversen Initiativen sowie zu verschiedenen Medien und Politikerinnen. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder Erfolge gegen Verdrängung erkämpft, sei es bei »Bizim Kiez« oder in der Rigaer Straße. Widerstand lohnt sich.

http://jungle-world.com/artikel/2017/01/55496.html

Peter Nowak

Zutiefst braun – bis zu seinem Schlussschluchzer

Alfred J. Noll demaskiert den rechten Werkmeister aus dem Schwarzwald: Martin Heidegger

Martin Heidegger war ein durch und durch reaktionär-faschistischer Denker, von seinen neoscholastisch-theologischen Anfängen bis zu seinem Schlussschluchzer.« Die Haltung des Wiener Soziologen Alfred E. Noll ist klar. Er gehört nicht zu jenen, die Heideggers Sympathie für den Nationalsozialismus relativieren. In seinem Buch wird der Rektor der Freiburger Universität schonungslos demontiert.

Noll belegt sein Urteil anhand von Zitaten, teils aus einer Zeit, als es die NSDAP noch nicht gab. So schrieb der Philosoph bereits 1916 an eine Freundin: »Die Verjudung unsrer Kultur und Universität ist allerdings schreckerregend und ich meine, die deutsche Rasse sollte soviel innere Kraft aufbringen, um in die Höhe zu kommen.« Als dann 1933 der »nationale Aufbruch« marschierte und sich die KZ und Folterkeller der Gestapo füllten, belehrte er eine andere Freundin: »Wenn sie sich die grauenhafte Arbeit des Kommunismus in den letzten Jahren ansehen, dann werden sie sich über die Art des heutigen Ansturms nicht wundern. An uns ist es jetzt, dem Aufbau beizustehen, zu reinigen und zu klären, die Ziele und Maßstäbe wirksam zu machen.« Noll findet aber auch in Heideggers philosophischen Werken Belege für dessen zutiefst reaktionäres Denken. Seine ausdrückliche Orientierung auf das Ländlich-Provinzielle gegen das Industrielle, Städtisch-Urbane habe der nazistischen Blut-und-Boden-Ideologie zugearbeitet.

Natürlich studierte Noll auch die »Schwarzen Hefte«, jene Tagebücher, die Heidegger 1931 bis 1978 führte und die erst kürzlich veröffentlicht wurden. Sie haben in der Heidegger-Gemeinde für große Verwirrung gesorgt, weil dort deutlich wurde, dass jener auch nach seinem Rücktritt als Rektor der Freiburger Universität NS-Ideologie vertrat und sogar noch nach 1945 am »geistigen Nationalsozialismus« festhielt. Bis an sein Lebensende, auch dies verrät die Lektüre der »Schwarzen Hefte«, blieb Heidegger ein Antisemit. Vereinzelte Angriffe von NS-Philosophen auf dessen Werk wertet der Autor als Auseinandersetzung innerhalb der völkischen Bewegung.

Den Juden warf Heidegger vor, selber an ihrer Vernichtung Schuld zu sein. Für das Nachkriegsdeutschland hatte er kein gutes Wort übrig. Nach 1945 erging er sich wie so viele Deutsche, die das NS-System mitgetragen haben, in Selbstmitleid. Es waren die wenigen aktiven Nazigegner, die schon früh das wahre Gesicht des rechten Werkmeister aus dem Schwarzwald entlarvten. In dieser Tradition steht dieses Buch, das Noll einem Philosophen und Hegelforscher widmete, der sich dereinst auf die Seite der DDR gestellt hatte – seinem Lehrer Raimund Beyer: »Seine provozierenden und despektierlichen Heidegger-Kritiken sind, ignoriert von allen, bis heute ungeachtet ihres rüden und oftmals der Zeit des Kalten Krieges geschuldeten Tonfalls trefflicher als alles, was sonst über Heidegger geschrieben wurde.«

Alfred J. Noll: Der rechte Werkmeister. Martin Heidegger nach den Schwarzen Heften. Papyrossa. 238 S., br., 18 €.

Peter Nowak

Flexibel ausgeliefert

Basisgewerkschaften rufen internationale Kampagne zur Vernetzung von Arbeitskämpfen bei Lieferdiensten ins Leben

In den letzten Monaten sorgten Arbeitskämpfe in verschiedenen europäischen Ländern für Schlagzeilen, mit denen Beschäftigte von Lieferdiensten wie Deliveroo und Foodora Erfolge bei der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen erreichen konnten. Jetzt haben Basisgewerkschaften aus verschiedenen Ländern mit deliverunion eine internationale Solidaritätskampagne zur Vernetzung dieser Kämpfe initiiert. Aus Deutschland beteiligen sich die Basisgewerkschaften Freie Arbeiter Union (FAU) und IWW (Industrial Workers of the World).

Ausgangpunkt des internationalen Solidaritätsprojektes war eine Konferenz in Bilbao, wo Basisgewerkschaften aus aller Welt über eine Neuorientierung debattierten. »Der Wunsch nach mehr konkreten gemeinsamen Projekten, intensiverem Austausch und praktischer Klassensolidarität auch über die Grenzen des syndikalistischen Spektrums hinweg prägten diese Diskussion«, hieß es in einem Kongressbericht. Deliverunion ist eines der beschlossenen Projekte. Dabei soll nicht nur auf Italien und Großbritannien geschaut werden, wo bereits Arbeitskämpfe von Beschäftigten bei Lieferdiensten stattfanden. »Auch in Deutschland haben sich die FahrerInnen bereits selbstorganisiert und sich dabei ohne große Vorkenntnisse bisher sehr klug verhalten«, betont Clemens Melzer, Sprecher der Berliner FAU, gegenüber »nd«. Die Beschäftigten hätten sowohl zu ver.di als auch zur FAU Kontakt aufgenommen.

Melzer sieht gute Chancen, dass sich die Kooperation zwischen den renitenten Lieferdienstfahrern und seiner Gewerkschaft vertieft. Er sieht in den Kämpfen der Lieferdienste Sprengkraft. Ein Pluspunkt sei ihre Internationalität. So nutzen viele der Beschäftigten, die von Deliveroo angebotenen Möglichkeiten, sich in andere Länder versetzen zu lassen. Melzer sieht hierin eine gute Gelegenheit, auch die Erfahrungen über Arbeitskämpfe zu verbreiten. Basisgewerkschaften wie die FAU, die bereits seit langem eine »Foreigner Sektion« besitzt, in der Beschäftigte aus den unterschiedlichsten Ländern organisiert sind, könnten hier eine wichtige Rolle bei der Vernetzung spielen.

Der ver.di-Gewerkschaftssekretär Detlef Conrad ist skeptischer, was die dauerhafte Organisationsbereitschaft der jungen flexiblen Lieferdienstmitarbeiter betrifft. »Für viele ist es zudem nur ein Zweitjob neben dem Studium«, gibt er zu bedenken. Die Dienstleistungsgewerkschaft konzentriere sich auf den Teil der Beschäftigten, die dauerhaft an einen Ort beschäftigt sind, betont er. Bei Deliveroo sei man mit der Organisierung ebenso auf einen guten Weg, wie bei dem Unternehmen Bringmeister. Auch bei den Postzustellern der Pin-AG habe seine Gewerkschaft bereits einen erfolgreichen Arbeitskampf geführt.

Anders als die FAU setzt Conrad nicht auf die jungen, flexiblen Lieferdienstmitarbeiter sondern auf Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit nicht mehr leisten können. Meist, weil ihnen nach Jahren auf dem flexiblen Rennrad, der kaputte Rücken einen Strich durch die Rechnung macht. Hier werden Folgekosten für eine krankmachende Arbeit auf die Gesellschaft abgewälzt, meint Conrad, der bei ver.di neben den Lieferdiensten auch für Senioren zuständig ist. Eine eigene bundesweite Verwaltungsstelle nur für die Lieferdienste hält Conrad für denkbar, wenn sich zeige, dass eine relevante Anzahl von Beschäftigten sich bei ver.di organisieren wolle.

Link zur Kampagne:

http://deliverunion.com/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037633.flexibel-ausgeliefert.html

Peter Nowak

Racial Profiling ist kein Mittel, um Sexismus zu bekämpfen

Oder: Was wir von Israel lernen können

Seit der islamfaschistische Terror auch in Europa für Schrecken sorgt, wurde verstärkt die Parole „Von Israel lernen“[1] ausgegeben. Dort ist die Bevölkerung schließlich seit Jahren einem solchen Terror ausgesetzt. Seit der junge israelische Soldat Elor Azari vom israelischen Militärgericht wegen Totschlag schuldig gesprochen wurde[2], hat die Parole eine spezifische menschenrechtliche Bedeutung bekommen.

Azari erschoss einen schon verletzt am Boden liegenden islamischen Messerattentäter, der zuvor einen anderen Soldaten schwer verletzt hat. Die Aussage von Azari, er habe befürchtet, der Attentäter könne auch ihn mit dem Messer attackieren, wurde als Schutzbehauptung zurückgewiesen. Der Soldat wurde schuldig gesprochen, obwohl es in der israelischen Bevölkerung durchaus nicht nur in rechten Siedlerkreisen viel Sympathie für ihn gab und auch manche Politiker der rechtskonservativen Regierung in den Ruf nach Freispruch einstimmten.

Doch das entscheidende Beweismittel für den Schuldspruch des Soldaten war ein Video eines Palästinensers, auf dem zu sehen ist, wie Azari dem am Boden liegenden Islamisten in den Kopf schießt. Was oft nicht erwähnt wird: Die Nichtregierungsorganisation B’tselem[3], welche die Palästinensern mit Kameras versorgt, um Übergriffe israelischer Soldaten oder Siedler zu dokumentieren, gilt der israelischen Regierung und auch vielen konservativen Medien und Institutionen[4] als eine jener von Ausland nicht zuletzt von der EU und Deutschland[5] finanzierten NGO, die für eine antizionistische Agenda verantwortlich sei[6].

So ist das Urteil gegen Azari auch eine Vertrauenserklärung in eine umstrittene und häufig angegriffene NGO. Das Urteil macht noch einmal deutlich, solche kritischen NGO sind der Lackmustest für eine Demokratie und mit ihrem Video hat die so häufig kritisierte Organisation B’tselem hier eine wichtige Rolle gespielt. Ohne das Video hätte es wahrscheinlich das Urteil nicht gegeben, vom dem das Signal ausgeht, dass auch in Zeiten der „Messer-Intifada“, als in Israel die Angst und Unsicherheit besonders groß war, ein Kopfschuss ein Verbrechen ist und bleibt. Es zeigt auch, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt.

In der vergangenen Kölner Silvesternacht gab es keine Kopfschüsse. Niemand ist ernsthaft körperlich verletzt wurden. Doch nach Meinung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International[7] (AI) stellt das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten eine Menschenrechtsverletzung da.

„Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in der Silvesternacht in Köln stellt einen Verstoß gegen das im deutschen Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot dar. Amnesty fordert eine unabhängige Untersuchung“, heißt es in einer AI-Erklärung[8]. Dort betont der deutsche Amnesty-Referent für die Themen Polizei und Rassismus, Alexander Bosch[9], zunächst, wie wichtig es war, dass die Polizei die sexistischen Übergriffe des vergangenen Jahres verhindert hat. Doch dann kommt er zum Kritikpunkt:

Gleichzeitig ist es auch Aufgabe der Polizei, Menschen vor Diskriminierung zu schützen – und diese Aufgabe hat die Polizei Köln ignoriert. Hunderte Menschen sind allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten nordafrikanischen Herkunft eingekesselt und kontrolliert worden. Das wichtigste Entscheidungskriterium der Polizisten ist das Merkmal der angenommenen Herkunft gewesen: Jeder Mensch, den die Beamten für einen Nordafrikaner gehalten haben, wurde in einen separaten Bereich geführt, viele von ihnen mussten dort laut Medienberichten stundenlang ausharren. Bei dem Einsatz der Polizei Köln handelt es sich also um einen eindeutigen Fall von Racial Profiling. Damit hat die Polizei gegen völker- und europarechtliche Verträge und auch gegen das im deutschen Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot verstoßen.

Alexander Bosch[10]

Tatsächlich gehört der Kampf gegen Racial Profiling seit Jahren zu den Aktivitäten von Organisationen, in denen sich schwarze Menschen in Deutschland und anderen Ländern engagieren. Sie wurden dabei zunehmend von antirassistischen Gruppen unterstützt. Es war eine zähe, aber nicht erfolglose Arbeit.

2012 wurde von Johanna Mohrfeldt und Sebastian Gerhard aufgezeigt, wie Racial Profiling zur normalen Polizeiarbeit auch in Deutschland gehörte[11]. Erst neueren Datums sind Empfehlungen von Menschenrechtsorganisationen an die Polizei[12], wie eine solche Praxis zu verhindern oder zumindest zu minimieren ist.

Daher ist es ein Rückschlag für diese Bemühungen einer möglich diskriminierungsarmen Polizeiarbeit, wenn nun offen nicht nur in Medien der Rechten einer Praxis des Racial Profiling offen das Wort geredet wird. In der Welt[13] wird auch gleich der umstrittene Begriff Nafri für unbedenklich erklärt. Das sei eben eine Abkürzung in der Polizeiarbeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann andere Begriffe, die viele der davon Betroffenen als diskriminierend bezeichnet haben, so wieder offiziell in die alltägliche Behördenarbeit zurückkehrt. Inoffiziell waren sie nie verschwunden.

Nun wird die berechtigte Empörung über die sexistischen Übergriffe von Köln genutzt, um hart erkämpfte Fortschritte im Bereich des Antirassismus zu schleifen. Der Shitstorm, der auf die Grünen-Vorsitzende Sabine Peters niederging, als sie es wagte, Kritik am Kölner Polizeieinsatz zu äußern, hat noch einmal deutlich gemacht, dass es in bestimmten Zeiten zumindest politisch gefährlich sein kann, wenn eine Oppositionspolitikerin ihren Job macht.

In der Taz hat Inlandsredakteur Daniel Bax noch einmal daran erinnert[14], dass Kritik an rassistischen Polizeikontrollen Bürgerpflicht sein sollte. Auch hier könnte man die Parole „Von Israel lernen“ ausgeben. So wie in Hochzeiten der Messer-Intifada das Video, das von einer durchaus umstrittenen NGO ermöglicht wurde, mithalf, Rechtsgeschichte zu schreiben, kommt auch der Kritik an Racial Profiling in dem Augenblick besondere Bedeutung zu, in dem sie massenhaft angewandt wird.


Wenn dagegen die Kritik mit dem Argument abgetan wird, es sei doch vor allem darum gegangen, dass die sexistischen Angriffe sich nicht wiederholen, hat man die Logik schon akzeptiert, dass die Zwecke die Mittel heiligen. Stattdessen gilt es Methoden zu finden, die solche Angriffe verhindern, ohne andere Menschen rassistisch zu diskriminieren.

Sehr eindrucksvoll schilderte Birgit Gärtner, was die Kölner Silvesternacht im letzten Jahr für viele Frauen bedeutete und dass für sie bestimmte Räume jetzt angstbesetzt sind – siehe: Frau Merkel, wir haben ein Problem[15]. Solche Schilderungen sind auch immer wieder von Menschen zu hören, die nicht in das deutsche Leitbild passen, egal ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht.

Es gibt Gegenden in vielen Städten, das diese Menschen schlicht meiden. Es wäre jetzt die wichtige Aufgabe von außerparlamentarischen Gruppen eine antisexistische und antirassistische Praxis zusammenzubringen. Da ist es sicher eher ein hilfloser Versuch, wenn die Silvesternacht von Köln mit sexistischen Übergriffen am Münchner Oktoberfest relativiert werden sollen. Aber die Versuche verschiedener Gruppen gerade auch in Köln deutlich zu machen, dass der Kampf gegen Sexismus keine Hautfarbe und Nation und der Kampf gegen Rassismus kein Geschlecht hat, ist dabei eine wichtige Maxime.

In der Debatte der außerparlamentarischen Linken wurden schon vor mehr als drei Jahrzenten Bausteine für eine solche Kritik bereit gelegt. Es gab schon in Zeiten, als der Begriff Multikulturalismus noch in großen Teilen des liberalen und linken Milieus positiv besetzt war, Kritik daran. Die machte sich daran fest, dass Menschen bestimmten Kulturen zugeordnet werden und die Multikulturalisten diese auch in Europa nebeneinander leben lassen wollten.

Doch gerade die Zuordnung bestimmter Menschen auf ihre angebliche Kultur ist das Problem, das Multikulturalisten auch unfähig macht, Kritik am Islamismus und dessen Unterdrückungsformen adäquat zu kritisieren. Besonders absurde Beispiele gibt es, wenn Sexismus und Frauenunterdrückung als einer bestimmten Kultur zugehörig bezeichnet wird und damit angeblich aus der Kritik genommen werden soll.

Der andere Theoriebaustein, der für ein Zusammendenken einer antirassistischen und antisexistischen Praxis nützlich sein kann, ist der Triple-Oppression-Ansatz[16], der davon ausgeht, dass Rassismus, Sexismus und kapitalistische Ausbeutung drei Unterdrückungsverhältnisse sind, die unabhängig voneinander von unterschiedlichen Gruppen ausgeübt werden und nicht einander bedingen.

Dieser Ansatz grenzte sich von traditionslinken Vorstellungen ab, wonach die kapitalistische Ausbeutung der Hauptwiderspruch und Rassismus und Patriarchat Nebenwidersprüche seien. Nach dem Triple-Opression-Ansatz können Männer, die selber rassistisch unterdrückt sind, sexistische Unterdrückung ausüben, wie in Köln und anderen Städten geschehen. Frauen, die Opfer sexistischer und patriarchaler Gewalt sind, können selber wiederum rassistische Unterdrückung ausüben und verstärken.

Die Soziologin und antirassistische Aktivistin Angela Davis zeigte[17] im Buch Rassismus und Sexismus[18] an der Geschichte der USA auf, dass das Wahlrecht für Frauen erst in dem Augenblick von der weißen, männlichen Elite akzeptiert wurde, als für sie Gefahr bestand, dass schwarze Männer zahlenmäßig an Bedeutung gewinnen könnten.

Auch am Beispiel der Kölner Silvesternacht wird versucht, den notwendigen Kampf gegen alle Formen des Sexismus gegen den antirassistischen Kampf auszuspielen. Es wird die Aufgabe einer außerparlamentarischen Bewegung sein, hier Konzepte zu entwickeln, die beide Unterdrückungsformen gleichermaßen angehen.

Die genannten theoretischen Bezugspunkte sind hier eher Steinbrüche, von denen man sich bedienen kann als wirklich systematische Theorien. Bis es zu einer fundierten Theorie und Praxis kommt, sei allerdings allen geraten, von Israel zu lernen. So wie bei der Messer-Intifada der Kopfschuss kein Mittel ist, so ist – auf einer anderen Ebene – auch beim Sexismus von Köln Racial Profiling nicht zu akzeptieren, sondern zu kritisieren.

https://www.heise.de/tp/features/Racial-Profiling-ist-kein-Mittel-um-Sexismus-zu-bekaempfen-3589318.html?view=print

Peter Nowak


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/europas-terror-dilemma-von-israel-lernen-ld.107710
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/israel-soldat-elor-azaria-fuer-kopfschuss-schuldig-gesprochen-14604257.html
[3] http://www.btselem.org/
[4] http://www.ngo-monitor.org/
[5] http://www.ngo-monitor.org/ngos/b_tselem
[6] http://www.deutschlandfunk.de/antisemitismusvorwurf-umstrittenes-deutsches-ngo-engagement.886.de.html?dram:article_id=317342
[7] https://www.amnesty.de
[8] http://www.amnesty.de/2017/1/2/koelner-polizeieinsatz-ist-eindeutiger-fall-von-racial-profiling
[9] http://www.amnesty.de/bilder/alexander-bosch-amnesty-referent-fuer-die-themen-polizei-und-rassismus
[10] http://www.amnesty.de/2017/1/2/koelner-polizeieinsatz-ist-eindeutiger-fall-von-racial-profiling
[11] https://kop-berlin.de/beitrag/alltagliche-ausnahmefalle-zu-institutionellem-rassismus-bei-der-polizei-und-der-praxis-des-racial-profiling
[12] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Studie_Racial_Profiling_Menschenrechtswidrige_Personenkontrollen_nach_Bundespolizeigesetz.pdf
[13] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article160799587/Ja-zu-Racial-Profiling-es-kann-Leben-retten.html
[14] https://www.taz.de/Debatte-Silvester-in-Koeln/!5367432/
[15] https://www.heise.de/tp/features/Frau-Merkel-wir-haben-ein-Problem-3583164.html
[16] http://www.archivtiger.de/downloads/maennerarchiv/viehmann.pdf
[17] https://www.kritisch-lesen.de/rezension/rassismus-und-feminismus-in-den-usa
[18] https://www.eurobuch.com/buch/isbn/3885200937.html

Alles auf Leben

Sabine Hunziker über eine Kampfform, bei der die Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen und die nicht nur im Knast angewandt wird.

„Hungerstreik“ steht noch immer mit großen Lettern auf einem Laken gegenüber dem Bundesaußenministerium in Berlin-Mitte. Es erinnert an den Ein-Mann-Protest von Mustafa Mutlu. Er hatte 2012 mehrere Wochen vor dem Ministerium campiert und war in einen Hungerstreik getreten, weil er sich als Bauunternehmer von einem Geschäftspartner betrogen sah. Hunger heißt ein preisgekrönter Filmessay des Regisseurs Steve McQueen. Er erinnert an den Hungerstreik zahlreicher Gefangener der irischen Nationalbewegung IRA in den britischen Hochsicherheitsknästen in Irland im Jahr 1981. Der Kampf, bei dem mehrere Gefangene starben, darunter Bobby Sands, polarisierte das gesamte Land. Wochenlang gab es Solidaritätsaktionen, Streiks und militante Proteste. Einige der Gefangenen wurden sogar ins britische Parlament gewählt. Ob als wenig beachtete Soloprotestaktion oder als Kampfform von Gefangenen, hinter denen eine Massenbewegung steht, der Hungerstreik ist immer ein Kampf um Leben und Tod.

„Es gibt nicht viele Möglichkeiten, im Knast zu protestieren. Die Verweigerung von Nahrung – oft Hungerstreik oder Hungerfasten genannt, ist eine davon“ (S. 7), schreibt die Schweizer Journalistin Sabine Hunziker in der Einleitung ihres kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buches, das den Anspruch, eine „Einführung zum Hungerstreik in Haft“ zu geben, erfüllt. Der Buchtitel „Protestrecht des Körpers“ verdeutlicht, dass Menschen, die keine andere Möglichkeit zum Widerstand haben, ihren Körper zur Waffe machen. Das betrifft neben Gefangenen zunehmend auch Geflüchtete, die in den letzten Jahren mit Hunger- und teilweise auch Durststreiks auf ihre Situation aufmerksam machten. So besetzten im Sommer 2010 Geflüchtete gemeinsam mit antirassistischen Unterstützer_innen einen Platz in der Nähe der Schweizer Bundesregierung in Bern. Um ihren Forderungen nach einem Bleiberecht Nachdruck zu verleihen, traten drei iranische Geflüchtete in einen Hungerstreik, der mehrere Wochen andauerte. Hunziker begleitete die Aktion, erlebte, wie die gesundheitliche Situation der Aktivist_innen immer kritischer wurde und wie sie noch lange nach dem Abbruch der Aktion mit den körperlichen Folgen zu kämpfen hatten. „Aus dem Spital entlassen, versuchten die Iraner in der Wohnung einer solidarischen Person eine Suppe zu essen, die sie bald wieder erbrachen“ (S. 13), schreibt Hunziker. Nach diesen Erlebnissen stellte sie sich die Frage, warum Menschen zu dieser Kampfform greifen. In dem Buch sammelt sie viele Zeugnisse von Hungerstreikenden aus den unterschiedlichsten sozialen und politischen Kontexten. Aktivist_innen aus Kurdistan, Nordirland und der Schweiz kommen ebenso zu Wort wie ehemalige Gefangene aus militanten Gruppen in der BRD. Dabei wird deutlich, dass es bei dem Kampf oft um Menschenwürde geht. „Wir machen hier einen Hungerstreik, um zu zeigen: dass wir nicht jede Schweinerei hinnehmen werden ohne zu mucken“, schrieb eine Gruppe weiblicher Gefangener aus den bewaffneten Gruppen RAF und Bewegung 2. Juni im Jahr 1973. Der Wiener Mathematiker Martin Balluch begründete seinen Hungerstreik nach seiner Verhaftung wegen seiner Aktivitäten in der Tierrechtsbewegung im Jahr 2008: „Der unmittelbare Anlass war meine Hilflosigkeit, in der ich dieser Ungerechtigkeit gegenüberstand.“ (S. 98)

Der Körper als Waffe

Auch der RAF-Gefangene Holger Meins, der nach Tagen im Hungerstreik gestorben ist, wird von Hunziker angeführt. Das Bild des toten Meins, der nur noch 39 Kilo gewogen hat, auf der Bahre brannte sich in das Gedächtnis vieler Zeitgenoss_innen ein. Zudem wurde Meins zwangsernährt und ihm wurden dabei lebensnotwendige Nährstoffe vorenthalten. „Mit seinem Tod wird deutlich, dass die Leute an der Macht über Leichen gehen würden, um ihre Ordnung durchzusetzen“ (S. 92), zitiert Hunziker das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo. Er wurde, wie viele andere, durch den Tod von Holger Meins in seiner Totalopposition gegen die Gesellschaft bestärkt. Als Gefangener beteiligte sich Dellwo dann selber an mehreren Hungerstreiks und begab sich dabei mehrmals in Lebensgefahr. In der Türkei und Kurdistan fordert das Todesfasten, wie die Hungerstreiks dort genannt werden, immer wieder viele Opfer. Es ist die „ultimative Aktion auf Leben und Tod“ (S. 87), wie der ehemalige sozialistische Bürgermeister von Diyarbakir, Mehdi Zana, die Aktion nannte. Er war nach dem Militärputsch von 1980 wegen „Separatismuspropaganda“ verhaftet worden und hat sich an mehreren Todesfastenaktionen beteiligt. Nur in einem kurzen Abschnitt erwähnt Hunziker das wohl längste und opferreichste Todesfasten der jüngeren Geschichte, das Ende 1999 begann und bis 2007 andauerte. Damit sollten die sogenannten F-Typ-Zellen verhindert werden, mit denen nach dem Vorbild des Hochsicherheitsgefängnisses Stammheim in Westdeutschland die Gefangenen isoliert werden sollten. Erfreulich ist, dass Hunziker mit Andrea Stauffacher, eine politische Aktivistin der linken Organisation Revolutionärer Aufbruch, die selber mehrmals an Kurzhungerstreiks teilgenommen hat, zu Wort kommen lässt. Sie betont, wie wichtig eine gute Planung der Aktion ist und dass auch die mediale Verbreitung genau vorbereitet werden muss, damit ein Hungerstreik politisch erfolgreich ist. „Wichtig ist, dass bei Beginn die politische Vermittlung sofort anläuft, man mobilisiert und sich so die Initiative politisch vermittelt“. Stauffacher ist auch überzeugt, dass diese Kampfform mit dem eigenen Körper kein Auslaufmodell ist. „Der Hungerstreik bleibt eine Kampfform, die drinnen und draußen verbindet.“ (S. 95) Doch es gibt in der politischen Linken auch andere Stimmen.

Alternativen zum Hungerstreik

Der politische Aktivist Fritz Teufel, der sich auch an mehreren Hungerstreiks beteiligte, suchte schon in den 70er Jahren nach Alternativen zu einer Kampfform, in der es schnell um Leben und Tod geht. Die 2014 gegründete Gefangenengewerkschaft könnte eine solche Alternative bieten. Nicht ihr Körper, sondern ihre Arbeitskraft, die sie hinter Gittern besonders billig verkaufen müssen, könnte so dann zur Waffe der Gefangenen werden. Hunziker hat mit ihrer kleinen Geschichte des Hungerstreiks einen guten Überblick gegeben. Es ist zu hoffen, dass andere Autor_innen daran anknüpfen. Eine Geschichte der Hungerstreiks von politischen Gefangenen in den letzten fünf Jahrzehnten in der BRD muss noch geschrieben werden. Es wäre auch ein Stück der weitgehend vergessenen Geschichte der außerparlamentarischen Linken.

Peter  Nowak

Sabine Hunziker 2016:
Protestrecht des Körpers. Einführung zum Hungerstreik in Haft.
Unrast Verlag.
ISBN: 978-3-89771-585-1.
106 Seiten. 9,80 Euro.

aus:

kritisch-lesen.de

https://www.kritisch-lesen.de/rezension/alles-auf-leben

Das Brexit-Bashing bei Linken und Liberalen geht weiter


Vor allem in Deutschland wird EU-Kritik als moderne Form des Vaterlandsverrats hingestellt

Wenn Linke oder Liberale auflisteten, was ihnen im vergangenen Jahr so besonders sauer aufgestoßen ist, fehlte das Brexit-Votum selten. Die Entscheidung einer knappen Mehrheit der britischen Bevölkerung, sich aus der EU zu verabschieden, rangiert neben der Trump-Wahl und dem internationalen Bedeutungszuwachs von Erdogan und Putin als Indikator für einen weltweiten Rechtsruck.

Nun ist nicht zu bestreiten, dass die Brexit-Kampagne mit großer Mehrheit mit nationalistischen Argumenten geführt wurde. Die Lexit-Kampagne[1] linker Gruppen und einiger kleinerer Gewerkschaften, die mit ganz anderen Argumenten ebenfalls für den Austritt aus der EU warben, hatte es schon in Großbritannien schwer, wahrgenommen zu werden.

Doch in Deutschland wurde sie vor und nach dem Brexit-Votum gezielt ignoriert.

Das zentrale Argument der Lexit-Kampagne wurde nicht einmal diskutiert und kritisiert, sondern einfach nicht beachtet. Es lautet: Die EU in ihrer aktuellen Form ist ein Desaster für Arbeiter-, Gewerkschafts- und Flüchtlingsrechte. Sie ist also gerade nicht die von vielen Linken und Liberalen so hochgelobte Alternative zur nationalistischen Brexit-Kampagne, sondern nur die andere Seite der Medaille.

Deswegen hat das Lexit-Bündnis für einen Austritt aus der EU geworben und kämpft jetzt darum, Mitstreiter dafür zu gewinnen, dass ein Großbritannien außerhalb der EU eben nicht die Flüchtlingsrechte weiter einschränkt. Auch Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte werden nicht am grünen Tisch, sondern in der konkreten Auseinandersetzung verteidigt. Wenn man mitbekommen hat, wie in den letzten Monaten die Arbeitskämpfe in Großbritannien in verschiedenen Bereichen zugekommen haben, könnte das auch schon ein kleiner Erfolg für die Lexit-Kampagne sein, obwohl viele der Streikenden sich selber gar nicht so positionieren wollten.

Schon vor einigen Monaten sorgten Londoner Mitarbeiter von einm Lieferservice-Start-Up mit ihrem Arbeitskampf[2] für Aufmerksamkeit[3]. Vor Weihnachten führten Streiküberlegungen von Beschäftigten der Post, Bahn und des Flugverkehres bei den herrschenden Torys zu Überlegungen, die Notstandsgesetze einzusetzen[4].

Das wäre doch für eine Linke, der angeblich so viel an Europa liegt, eigentlich eine Gelegenheit gewesen, diese transnationale Solidarität mal umzusetzen. Doch die Arbeitskämpfe und die Drohungen der Regierungen dagegen, wurden kaum registriert. Dafür ist noch immer das Lamento über den Brexit groß. Da wird auch die Generationengerechtigkeit ins Spiel gebracht.

Ältere Wähler hatten jüngeren Menschen um ihre Rechte als EU-Bürger gebracht, wird immer wieder behauptet. Um welche Rechte es genau geht, wird natürlich nie spezifiziert. Wenn es den Kritikern ernst wäre, müssten sie auf die deutsche Regierung Druck machen, dass die Briten auch nach einem Austritt nicht sanktioniert werden. Dann würden die vielzitierten jüngeren Briten auch nicht ihre EU-Rechte verlieren.

Aber dieselben Medien, die darüber klagen, setzen sich für harte EU-Austrittsverhandlungen ein und fordern, dass ein Exempel statuiert werden müsse, damit das britische Votum nicht etwa Nachahmer finden könnte. Da gäbe es vor allem in den Ländern der europäischen Peripherie sicher noch einige Kandidaten.


Es sind Länder wie Griechenland, Spanien, Italien, Portugal, wo durchaus nicht mehr so klar ist, wie ein Votum über die EU heute oder in einigen Monaten dort ausgehen würde. Ja selbst in Griechenland, wo vor zwei Jahren noch viele Syriza gewählt hatten, weil sie hofften, der Austerität zu entkommen und trotzdem in der EU und sogar in der Eurozone bleiben zu können, ist die Ernüchterung mittlerweile groß.

Die Niederlage von Syriza gegen die von Deutschland dominierte EU und deren Austeritätspolitik hat dazu geführt, dass die Enttäuschung auch in die Milieus eingedrungen ist, die noch hofften, es könnte eine andere, einer sozialere EU geben. Doch der Block der „Deutsch-EU“, hier verkörpert von Schäuble, hat die griechischen Politiker vor die Alternative gestellt, Unterwerfung oder ihr müsst die Eurozone verlassen. Seitdem werden die Rechte und Perspektiven vor allem der jüngeren Generation weiter geschmälert, Gewerkschafts- und Arbeitsrechte werden entgegen griechischem Recht weiter eingeschränkt.

So wie in Griechenland passierte und passiert es in Spanien und Portugal. Über einen längeren Zeitraum gab der portugiesische Autor Miguel Szymanski mit seiner Kolumne[5] in der Taz einen Einblick in das Ausmaß von Verzweiflung und Entrechtung, das gerade junge Menschen in diesen Ländern durch die Austeritätspolitik von Deutsch-Europa zu ertragen haben.

Aber merkwürdigerweise wird über diese Rechte junger Menschen, die ihnen durch die konkrete Politik der EU genommen werden, bei denen nicht geredet, die jetzt darüber klagen, die Brexit-Entscheidung habe jungen Briten Rechte als EU-Bürger genommen. Und es scheint auch wenig wahrscheinlich, dass die beeindruckenden Schilderungen der Folgen der Austeritätspolitik, die Szymanski in seinen Kolumnen darlegte, bei manchen bedingungslosen EU-Befürwortern auch nur zum Nachdenken geführt haben könnte.

Denn inhaltlich widerlegt wurde Szymanski nie, es gab keine Gegenargumente, wenn er Kolumne für Kolumne schilderte, wie die Austeritätspolitik seine Länder verarmt und vielen Menschen nicht nur die Hoffnung, sondern auch die Perspektiven raubt. Doch mit seinen Texten wurde so umgegangen wie mit den Argumenten der Lexit-Befürworter. Sie wurden „nicht einmal ignoriert“.

Stattdessen geben ökoliberale Vordenker wie der Taz-Publizist mit guten Kontakten ins grüne Milieu, Peter Unfried, die Parole aus, dass links nur sein könne, wer bedingungslos für EU und Nato ist. Konkret auf die innergrüne Debatte bezogen hat Unfried die Frage auf die Personalien „Merkel versus Wagenknecht“ zugespitzt. Sollten die Grünen – wenn es dafür Mehrheiten gäbe – also eher mit einer Merkel-Union oder mit SPD und einer Linkspartei, in der Wagenknecht eine wichtige Rolle spielt, koalieren?

Für Unfried ist die Antwort klar, Die Grünen werden mit Merkel gehen. Neben dem Credo, links kann nur für die EU und ihre Vertiefung sein, ist das Verhältnis zu Russland ein zweiter Knackpunkt. Dabei leben alte antirussische Klischees wieder auf, mit denen schon die Mehrheit der SPD mit Hurra in den ersten Weltkrieg gezogen ist. Dabei ging es damals nicht darum, das reaktionäre zaristische Regime zu verteidigen – wie auch die Ablehnung, sich aktuell in eine antirussische Mobilisierung einzureihen, natürlich nicht bedeutet, irgendwelche Sympathien mit dem reaktionären Putin-Regime zu haben.

Dabei sollte man nicht verschweigen, dass diese notwendige Trennschärfe auch manche vermeintlich Linke vermissen lassen, die sich gegen die neue antirussische Frontstellung wenden. Und dass heute fast alle rechts von Merkel, bis auf einige Vertriebenenfunktionärinnen wie Erika Steinbach, Putin huldigen, sollte noch einmal mehr verdeutlichen, dass emanzipatorische Politik und Putin-Hochjubelei nicht zu vereinbaren sind. Das Einreihen in die antirussische Front, bei der heute die Grünen an vorderster Linie stehen, allerdings ebenso wenig.


Genau so ist es mit der Haltung einer emanzipatorischen zur real-existierenden „Deutsch-EU“. Genau die sollte immer so benannt werden, wenn gerade deren Befürworter von der EU oder von Europa reden und den Gegnern unterstellen, sie wären ja gegen ein transnationales Bündnis und für die Wiederherstellung von Nationalstaaten.

Nein, es geht gegen diese „Deutsch-EU“, wie sie hier und heute existiert, vielen Menschen Rechte und Chancen nimmt, und in Deutschland eine Schicht von Gewinnern und Nutznießern hat entstehen lassen, die natürlich genau diese Privilegien verteidigen. Dazu gehört ein Großteil dr Grünen, aber auch ehemalige Aktivisten und Funktionäre von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von „Deutsch-Europa“ kooptiert wurden.

Für sie ist eine Infragestellung der „Deutsch-EU“ gleichbedeutend mit dem, was für die Deutschnationalen jeglicher Couleur der Landesverrat war. Und tatsächlich sind die Parallelen frappierend. In der aktuellen EU sind die deutschen Interessen so dominant, dass eine Infragestellung der EU in ihrer heutigen Form auch eine Infragestellung Deutschlands ist. Daher auch die Vehemenz und die Härte, mit der diese Auseinandersetzung geführt wird, die sich nach dem Brexit noch verschärft hat.

Denn nicht das rechte Nein ist es, was dabei stört, sondern die Tatsache, dass Menschen entscheiden, dieses „Deutsch-Europa“ wollen wir nicht mehr, es hat für uns mehrheitlich seine Mythos verloren. Schon 2013 titelte der Spanien-Korrespondent der Taz, Reiner Wandler, „Europa ist am Ende“[6] und hat eigentlich „Deutsch-Europa“ gemeint. Ansonsten liefert er genug Argumente für die Antwort auf Frage, ob es links ist, für oder gegen diese EU zu sein.

War einst von Solidarität die Rede, um das Projekt Europa zu verkaufen, ist jetzt klar, dass diejenigen Recht hatten, die die Union als ein Projekt der Märkte geißelten. In guten Zeiten fielen Brosamen für den Süden ab, in schlechten Zeiten zeigt sich klar, wem Europa nützt. Der deutschen Wirtschaft und den deutschen Banken. Sie verdienten und spekulierten in den heutigen Krisenländern fleißig mit. Während ihre Kunden, die Banken und Sparkassen in Südeuropa bankrott gehen, hat die Austeritätspolitik „Made in Germany“ die Geldgeber aus Deutschland und Frankreich aus der Schusslinie genommen.

Reiner Wandler[7]

Nein, diese Deutsch-EU muss nach dem Brexit hoffentlich noch einige weitere Niederlagen einstecken, damit sich ein transnationales europäisches Projekt entwickeln kann, das bestimmt nicht von Brüssel und Berlin vorgegeben wird. Wann und wie es sich entwickelt, hängt von der Bereitschaft ab, wie wir uns mit den Kämpfen von Menschen und Bewegungen solidarisieren.

Die Unterstützung der kleinen britischen Lexit-Kampagne bei ihren Bemühungen, nicht den Rechten und Nationalisten in einem Großbritannien ohne EU das Feld zu überlassen, könnte ein Anfang ein. Wenn in Großbritannien oder wo auch immer Streikenden mit Notstandsgesetzten gedroht wird, und es folgt eine solidarische Antwort, wäre das auch ein Baustein für ein solches Europa der Basis, das sich gerade deshalb zu verteidigen lohnt, weil es kein „Deutsch-Europa“ ist sondern eine Konsequenz von dessen Scheitern.

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Peter Nowak


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[1] http://www.leftleave.org
[2] http://www.taz.de/!5330318/
[3] http://www.labournet.de/internationales/grossbritannien/arbeitskaempfe-grossbritannien/der-streik-bei-deliveroo-britische-selbststaendige-radkuriere-setzen-ein-signal-gegen-einen-boss-der-keine-app-ist/
[4] http://www.nzz.ch/international/europa/arbeitskaempfe-in-grossbritannien-aerger-ueber-streiks-an-weihnachten-ld.135465
[5] http://www.taz.de/!5260894/
[6] http://www.taz.de/!5069936/
[7] http://www.taz.de/!506993

Das Versagen der kritischen Öffentlichkeit im Fall Navid B.

Dass ein Geflüchteter aus Pakistan für zweieinhalb Tage zum Terrorverdächtigten wurde und er nach seiner Freilassung wegen erwiesener Unschuld erst einmal untertauchte, interessierte in Deutschland kaum jemand

Die politische Klasse und die meisten Medien haben sich in den letzten Tagen selber kräftig auf die Schulter geklopft für die Besonnenheit, mit der die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland auf den islamistischen Anschlag reagiert habe. Tatsächlich blieben die Stimmen derjenigen, die sich mit dem Terroristen im Krieg wähnten, in der Minderheit. Einige vorlaute CDU-Politiker aus der dritten Reihe wurden schnell auf Linie gebracht.

Dass die CSU weitere Verschärfungen von Migranten gefordert hat, ist kein Zeichen mangelnder Besonnenheit. Schließlich nutzt sie jede Gelegenheit, um die Verschärfung der Flüchtlingsrechte zu propagieren. Auch dass manche Politiker eine neue Debatte über die deutsche Leitkultur anfeuern wollten, obwohl diese Islamfaschisten bestimmt nicht von ihrem Tun abhält, ist Normalität in Vorwahlkampfzeiten – und die gibt es in Deutschland irgendwo fast immer.

Dass mit Navid B. ein Geflüchteter aus Pakistan für zweieinhalb Tage zum Terrorverdächtigten wurde, dass seine Unterkunft durchsucht wurde und er dann nach seiner Freilassung wegen erwiesener Unschuld erst einmal untertauchte, interessierte in den deutschen Medien kaum jemand. Nur seine Freunde und Leidensgenossen machten sich Sorgen, als der Mann nach seiner Freilassung für mehrere Tage nicht erreichbar war.

Auch die wenigen kritischen und liberalen Zeitungen wie die Taz hat das Schicksal des Mannes kaum thematisiert. Sie versuchten auch gar nicht zu erkunden, warum unter den vielen Menschen in der Gegend zwischen Weihnachtsmarkt und Großer Stern in Berlin ausgerechnet Navid B. festgenommen worden war und warum er ohne Beweise so lange als Hauptverdächtigter galt.

Daher ist es nur konsequent, dass nun der liberale britische Guardian Navid B. erstmals selber zu Wort kommen[1] lässt. Demnach war B. auf dem Weg zur Bahn, als er von der Polizei aufgegriffen wurde. Man habe ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihn zur Polizeistation gebracht. Er erinnert sich, dass zwei Polizeibeamte „die Hacken ihrer Schuhe gegen meine Füße gedrückt“ hätten, ein weiterer Mann habe „großen Druck mit der Hand auf meinen Nacken ausgeübt“, so der Mann gegenüber dem Guardian. Diese Methoden dürften bei Festnahmen üblich sein. Brisanter ist was Navid B. noch über das Polizeiverhalten berichtet.

So heißt es im Guardian: „They undressed him and took photographs. ‚When I resisted, they started slapping me.'“ Ob diese Methoden, wenn sie sich denn bestätigen, gesetzlich gedeckt sind, darf bezweifelt werden. Sehr eindringlich schildert der Mann, wie er sich nach der Festnahme an die politische Situation im pakistanischen Belutschistan erinnert, wo immer wieder auch Unbewaffnete ermordet[2] werden.

Anders als im Syrienkonflikt gibt es in Deutschland kaum relevante politische Kräfte, die sich dafür interessieren. Daher ist wohl auch kaum bekannt, dass die Opposition[3] in Belutschistan nicht zu den islamfaschistischen Kräften gehört, was umgekehrt nicht heißt, dass sie in irgendeiner Weise emanzipatorisch sein muss. Das spielt im konkreten Fall auch keine Rolle.

In einer kurzen Erklärung reagierte ein Berliner Polizeisprecher auf die Aussagen des Mannes im Guardian und betonte[4]: „Der Mann ist definitiv von keinem Mitarbeiter misshandelt worden.“

Die Aussagen müssen sich nicht einmal widersprechen. Denn was B. schilderte, können polizeiliche Maßnahmen zur Durchsetzung von Durchsuchungen sei. Dabei wird durchaus Gewalt ausgeübt, aber es handelt sich aus der Sichtweise der Polizei keinesfalls um eine Misshandlung. Wo bei solchen Maßnahmen die Grenzen sind, ist Sache der Gerichte. Zudem lässt die Formulierung des Polizeisprechers aufhorchen, dass B. von keinem Mitarbeiter der Berliner Polizei misshandelt wurde.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei der Festnahme eines Mannes, der für einige Zeit als Top-Terrorist galt, auch andere Behördenvertreter anwesend sind. Will der Polizeisprecher vielleicht mit seiner Formulierung andeuten, dass die fürs Grobe zuständig waren? Zumindest ist die Erklärung mehrdeutig. Klären könnte das vielleicht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der von dem grünen Bundestagsabgeordneten Ströbele und Politikern der Linken ins Gespräch gebracht wurde[5]. Doch wichtiger wäre, wenn die Reste der antirassistischen Bewegung ihre Wächterfunktion wahrnehmen, die sie sonst beim Umgang der deutschen Staatsapparate, nicht nur der Polizei, gegenüber Migranten und Geflüchteten an den Tag legen. Bisher hat man da wenig gehört. Schließlich will sich ja niemand nachsagen lassen, er mache sich zu Helfershelfer derjenigen, die für den Anschlag in Berlin verantwortlich sind.

Doch abgesehen davon, dass das für Navid B. nicht zutrifft, muss man wohl doch wieder an den Grundsatz erinnern, dass auch der Attentäter Rechte hat und dass, wer daran erinnert, sich nicht mit ihm und seiner Tat gemein macht. Da ging der US-Journalist Mumia Abu Jamal[6] kürzlich in seiner wöchentlichen Kolumne[7] in der jungen Welt mit guten Beispiel voran, in dem er auch gegen die drohende Todesstrafe von Dylan Roof[8] Einspruch erhebt. Roof ist der US-Nazi, der im Juni 2015 neun Menschen in einer Kirche erschossen hat, wo sie beteten. Er hatte sich vorher das Vertrauen der Gemeinde erschlichen. Er wollte so viele Menschen wie möglich umbringen, weil sie schwarz waren. Es gibt also zwischen den Nazis in der Tradition des Ku-Klux-Clans und den Aktivisten der schwarzen Emanzipationsbewegung keinerlei politische Berührungspunkte. Mumia beschreibt seine Motivation für die Kampagne:

Als jemand, der sein halbes Leben im Todestrakt zubringen musste, ist meine Haltung eindeutig: Selbst in einem Fall wie diesem kommt meine Opposition dagegen, dass der Staat Leben nimmt, nicht ins Wanken. Ja, selbst in diesem Fall eines vom weißen Überlegenheitsdenken getragenen rassistischen Gewaltaktes gegen neun christliche Gläubige der Emanuel African Methodist Episcopal Church!

Mumia Abu Jamal

Hier setzte Mumia Abu Jamal menschenrechtliche Standards, an denen sich nicht nur die Staatsapparate, sondern auch die Zivilgesellschaft in Deutschland messen lassen müssen.

Im Fall von Navid B. stellt sich die Frage, wieso gerade er in der Menge der Menschen festgenommen wurde und, mehr noch, warum er mehr als zwei Tage als Täter galt und der Bundesinnenminister ihn noch zu einem Zeitpunkt als Täter bezeichnete, als eigentlich schon klar war, dass es nicht stimmt. So gab B. an, dass er keine Fahrerlaubnis hat und also einen solchen Wagen niemals hätte bedienen können. Eine solche Aussage müsste ja eigentlich in wenigen Stunden überprüft werden können.

Doch neben dieser Aufklärung stünden jetzt konkrete Forderungen an, um den Schaden, den nicht Navid B. selber durch die falschen Verdächtigungen erlitten hat, zu begrenzen. Er schilderte, wie er durch die Festnahme an die Situation der Gewalt in seiner Heimat erinnert wurde. Man kann hier von einer Retraumatisierung sprechen. Er beschreibt, dass auch seine Familie in Pakistan jetzt in Gefahr sei, weil durch die Festnahme erst bekannt wurde, dass er geflohen ist. Zudem dürfte auch in Pakistan die Festnahme für mehr Schlagzeilen gesorgt haben als die Berichte über seine Unschuld. So müsste die logische Forderung als Wiedergutmachung sein, dass Navid B. in Deutschland Asyl bekommt und seine Verwandten, die jetzt durch die öffentlichen Berichte in Gefahr sind, ebenfalls. Diese aus rechtsstaatlicher Warte zwingenden Maßnahmen werden aber in Deutschland von der Politik sicher nicht auf den Weg gebracht. Dazu bedarf es einer kritischen Öffentlichkeit, die im Fall von Navid B. fast vollständig gefehlt hat. Es ist zu hoffen, dass die Veröffentlichungen im Guardian hier etwas bewegen.

https://www.heise.de/tp/features/Das-Versagen-der-kritischen-Oeffentlichkeit-im-Fall-Navid-B-3583198.html

Peter Nowak


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[1] http://www.theguardian.com/world/2016/dec/29/naveed-baloch-man-wrongly-arrested-berlin-attack-fears-for-his-life
[2] http://www.theguardian.com/world/2016/oct/24/gunmen-attack-police-cadet-hostel-in-quetta-pakistan
[3] http://www.thebnm.org/
[4] http://www.welt.de/politik/deutschland/article160724011/Polizei-weist-Vorwurf-der-Ohrfeigen-nach-Festnahme-zurueck.html
[5] http://www.deutschlandfunk.de/anschlag-von-berlin-linke-und-gruene-erwaegen.447.de.html?drn:news_id=693944
[6] http://www.freemumia.com/who-is-mumia-abu-jamal/
[7] http://www.jungewelt.de/2016/12-27/029.php?sstr=mumia
[8] http://edition.cnn.com/2015/06/19/us/charleston-church-shooting-suspect/