Tod im Getreidefeld

Vor 20 Jahren wurden im Nordosten zwei Migranten getötet
Am 29. Juni 1992 wurden in Mecklenburg-Vorpommern zwei Migranten aus Rumänien angeblich bei einem Jagdunfall erschossen. Der genaue Tathergang wurde bis heute nicht aufgeklärt.

Heute wird es keine Gedenkveranstaltungen für Grigore Velcu und Eudache Calderar geben. Dabei jährt sich an diesen Tag ihr Tod zum zwanzigsten Mal. Die offizielle Version lautet, die beiden Roma aus Rumänien seien beim illegalen Grenzübertritt von Jägern erschossen wurden, die die in dem Getreidefeld auf ihren Transfer wartenden Menschen mit Wildschweine verwechselt habe. Nur einige Zeitungen berichteten darüber. Im Frühjahr diesen Jahres gab es plötzlich noch einmal größeres Interesse am Schicksal von Velcu und Calderac. Dafür sorgte Philipp Scheffners Film „Revision“, der auf der diesjährigen Berlinale erstmals gezeigt wurde und mittlerweile auf verschiedenen Filmfestivals Preise gewonnen hat.
Scheffner rekonstruiert den Tod der beiden Rumänien und stößt auf haarsträubende Ignoranz der Behörden.
Die Schützen konnten schnell ermittelt werden. Ein Ex-Polizist und passionierter Jäger aus der Region sowie ein Jäger aus Hessen wurde wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Nachdem das Verfahren über mehrere Jahre verschleppt wurde, erfolgte unbemerkt von jeder kritischen Öffentlichkeit die Einstellung. Auch eine Revision wurde verworfen. Es habe nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden können, wer den tödlichen Schuss abgegeben hat, der beide Männer getötet hat, lautet die Hauptbegründung für die Einstellung.
Dass die Jäger weder erste Hilfe für die von den Schüssen Getroffenen geleistet noch einen Rettungswagen verständigt hatten, wurde vom Gericht ignoriert. . Dabei atmete mindestens eines der Opfer noch, als er viele Stunden später gefunden wurde. Er starb erst am Weg ins Krankenhaus. Ob er überlebt hätte, wenn sofort lebensrettende Maßnahmen eingeleitet worden wären wurde nie geklärt.
Dass ist nur eine von vielen Ungereimtheiten, die Scheffner bei seiner Filmrecherche aufdeckt. So sagte eine Gutachterin aus, dass bei den Lichtverhältnissen in der Morgendämmerung Wildschweine von Menschen klar zu unterscheiden gewesen wären. Ein Augenzeuge, der zu der Flüchtlingsgruppe gehörte, in der sich auch Velcu und Calderar befanden, beharrt auch nach mehrmaligen Nachfragen auf seiner Version, dass der tödliche Schuss mit Zielfeuerwaffen von einem Polizeiauto erfolgt sei, dass am Rande des Felds gestanden habe,
Keiner der Augenzeugen, die mit den Opfern im Feld auf ihren Transfer wartete, wurde als Zeugen gehört. Die meisten waren zu diesem Zeitpunkt längst abgeschoben werden. Die Polizei hatte die Gruppe wenige Stunden nach den tödlichen Schüssen auf einer nahen Autobahnraststätte aufgespürt.
Die Verwandten der Opfer waren nie über ihre Rechte und einer ihnen zustehenden finanziellen Entschädigung informiert worden. Die Männer waren zum Arbeiten nach Deutschland gekommen und hatten mit ihren Einkommen ihre Familien in der Heimat unterstützt. Ihr Tod stürzte die Familien zusätzlich zu ihrer Trauer auch in große soziale Not. Frau Caldarar war ihren Kindern sogar zeitweise obdachlos.

Knapp zwei Monate nach dem Tod der beiden Rumänen belagerten Neonazis und Aktivbürgern in Rostock-Lichtenhagen ein Erstaufnahmelager für Migranten. Unter den Bewohnern, die in letzter Minute evakuiert wurden, nachdem es den Angreifern gelungen war, Teile des Gebäudes mit Molotow-Cocktails in Brand zu stecken, waren auch einige Augenzeugen der tödlichen Schüsse auf Calderar und Velcu. Der hat das rassistische Klima im Flüchtlingsheim Gelbersand selber spüren bekommen. Die Grabstätte seiner Mutter, die in dem Heim starb, war von Unbekannten verwüstet worden. Daraufhin entschloss er sich, in Rumänien die Formalitäten für die Überführung der Leiche seiner Mutter in ihre Heimat in die Wege zu leiten. Auf dem Rückweg nach Deutschland wurde b er im Getreidefeld erschossen. Das zerstörte Grabkreuz, lagerte in einer Kirche in der Umgebung. Auf Initiative einer Lehrerin aus der Region soll das Grab von Siminica Ecaterina wieder hergerichtet werden. Vielleicht wird es auch noch Velcu und Calderar Gedenkort geben. Im September 2012 startet Scheffners Film Revision in den deutschen Kinos.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/231102.tod-im-getreidefeld.html

Peter Nowak

„Krieg gegen das deutsche Volk“

Berlin – Unter dem Motto „Wir wollen nicht Zahlmeister Europas sein! Stoppt EMS! Raus aus dem Euro!“ hat die NPD am Freitagnachmittag zu einer Kundgebung am Potsdamer Platz in Berlin aufgerufen.

Unter den rund 30 Teilnehmern befanden sich auch Mitglieder der NPD-Landtagsfraktionen aus Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Zuerst sprach der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Arne Schimmer, der beklagte, dass Deutschland in den letzten Tagen zwei Niederlagen einstecken musste: beim Fußball und beim EU-Gipfel. Jetzt müsse Deutschland auch für korrupte griechische Reeder zahlen, so Schirmer, der den EMS einen neuen Versailler Vertrag nannte.

Während Schimmer den Part des Parteiintellektuellen mimte, der sogar Hannah Arendt zitierte, sorgte der NPD-Fraktionschef in Mecklenburg-Vorpommern Udo Pastörs für populistische Töne. Der EMS sei die Fortsetzung des Krieges gegen das deutsche Volk mit den Mitteln der Währung. Dagegen habe das deutsche Volk ein Widerstandsrecht. Pastörs beendete seine Rede mit dem Ausruf „Deutsches Volk steh’ auf!“

Nach den auch vom eigenen Anhang nur verhalten beklatschten Beiträgen war die Kundgebung beendet. Zunächst hatte die NPD eine Demonstration gegen den EMS geplant, scheint davon wegen mäßigen Interesses in den eigenen Reihen aber wieder abgekommen zu sein. Am Rande der Kundgebung gab es gelegentlich verbale Auseinandersetzungen zwischen NPD-Ordnern und Nazigegnern, die gegen den rechten Aufmarsch protestierten.

Erst am 7. Juni hatte sich die NPD an einer von verschiedenen rechtspopulistischen Initiativen organisierten Anti-ESM-Kundgebung vor dem Berliner Reichstagsgebäude beteiligt.
http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/
krieg-gegen-das-deutsche-volk

Peter Nowak

Rummelplatz will nicht weichen

Bewohner von Wagenburg in Friedrichshain in Verhandlungen mit Liegenschaftsfonds

Im westlichen Teil von Friedrichshain scheint die Zeit noch stillzustehen. Vom Trubel der Gegend um den Boxhagener Platz ist dort wenig zu spüren. Ein Ort der Ruhe ist auch der Rummelplatz, Berlins jüngste Wagenburg. Im Dezember 2011 hat der Berliner Liegenschaftsfond, dem das Grundstück gehört, den Bewohnern den Platz vermietet. Vorher hatten sie für mehrere Tage einen Platz in Rummelsburg besetzt. Aus dieser Zeit stammt ,der Name, der k so gar nicht zum ruhigen Idyll passen will.
Unter hohen Bäumen kann man dort auf einem schattigen Plätzchen Tee trinken. Die Bewohner haben zwischen den 13 Wägen Pflanzen angebaut. Auch mit der Nachbarschaft gab es bisher keine Probleme.
„Wir waren selber erstaunt, wie freundlich wir hier aufgenommen wurden“, meint Jutta Böhnig (Name auf Wunsch geändert). Das sei noch einmal beim Tag der offenen Tür deutlich geworden, den die Rummelplatz-Bewohner kürzlich veranstalteten. Blumen und andere Präsente wurden von den Nachbarn gebracht. Aber dabei ist es nicht geblieben. Zahlreiche Anwohner haben auch Postkarten unterschrieben, in denen sie sich bei den Behörden für einen Erhalt des Rummelplatzes einsetzen. Denn die Bewohner sollen den Platz bis zum Monatsende räumen, weil der Mietvertrag zum 31. Juli ausläuft.
„Wir haben lange gehofft, dass er verlängert wird“, betont Böhnig. Entsprechend groß ist jetzt die Enttäuschung, zumal auch wenige Tage vor dem Räumungstermin kein für die Bewohner geeigneter Platz zur Verfügung steht. „Wir haben hier unseren Lebensmittelpunkt und wollen nicht irgendwo weit außerhalb Berlins lumziehen“, bringt Jörg Strauss (Name auf Wunsch geändert) die Meinung aller Bewohner zum Ausdruck.
Doch die Pressesprecherin des Berliner Liegenschaftsfonds Anette Mischler kann ihnen wenig Hoffnung machen. Eine Verlängerung des Mietvertrages sei ausgeschlossen, weil das Grundstück zum Verkauf vorbereitet werden solle, betonte sie gegenüber nd. Konkrete Investoren gäbe es aber noch nicht. Der Liegenschaftsfond bemühe sich gemeinsam mit den Rummelplatz-Bewohnern weiter um einen neuen Platz. „Ich kann verstehen, dass die nicht an den Stadtrand wollen. Aber die geeigneten Grundstücke in Stadtnähe sind rar“, betont Mischler.
„Wir verhandeln weiter um geeignete Plätze“, bestätigt auch Jörg Strauss. Er betont allerdings, dass es Plätze für alternative Lebensweisen auch in Stadtnähe geben müsse. Deswegen sehen die Rummelplatz-Bewohner ihren Kampf für einen solchen Platz auch als Beitrag gegen eine Aufwertung, bei der nur noch Menschen mit viel Geld Anspruch auf die begehrten Grundstücke haben sollen. Auf zahlreichen Transparenten, die auf den Holzzaun und einzelnen Wägen angebracht sind, wird gegen die Gentrifizierung mobilisiert. Sie wurden auch auf einer Nachttanzdemonstration durch Friedrichshain mitgeführt, mit der am späten Abend des 21. Juni die Rummelpatzbewohner und ihre Unterstützer gegen die Verdrängung aus den Stadtteilen protestierten. Mehrere Hundert meist junge Leute schlossen sich an. Auf den Balkonen und aus den Fenstern winkten aber auch ältere Nachbarn freundlich herunter.
Der Grund für die Sympathie brachte eine Rentnerin zum Ausdruck, die schon am Nachmittag des vergangenen Donnerstag dem Rummelplatz einen Besuch abgestattet hat. Sie wohnt ganz in der Nähe und hat eine Modernisierungsaufforderung bekommen. „Ich befürchte, dass danach meine Miete so stark steigen wird, dass ich sie mit meiner Rente nicht mehr bezahlen kann“, meinte sie. Diese Sorge teilen viele Mieter der umliegenden Häuser, die teilweise schon seit Jahrzehnten dort leben. Auch sie wollen nicht einfach irgendwo weit weg ziehen und darin sind sie sich mit den Rummelplatz-Bewohnern einig.

aus Neues Deutschland 22,/23.6.2012
Peter Nowak

Steuerrecht als Verfassungsschutz?

Nichtregierungsorganisationen befürchten, dass ihnen die Gemeinnützigkeit mittels Steuerrecht aberkannt werden könnte

Änderungen im Steuerrecht interessieren in der Regel nur Fachpolitiker und Experten. Doch die im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2013 geplante Änderung des § 51 Abs. 3 AO sorgt schon im Vorfeld für heftige Debatten. In einen offenen Brief, den 60 Nichtregierungsorganisationen von Attac-Deutschland bis Robin Wood unterschrieben haben, wird unmissverständlich gefordert:

„Wir rufen Sie dazu auf, Ihre Stimme dem Gesetzesvorhaben zu verwehren und sich darüber hinaus für die ersatzlose Streichung des § 51 Abs. 3 AO einzusetzen!“

In der inkriminierten Klausel hieß es bisher: „Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 nicht erfüllt sind.“ Nun soll ein Wörtchen gestrichen worden, was nach Meinung der Unterzeichner des Offenen Briefes gravierende Folgen haben könnte:

„Durch die in der Gesetzesvorlage vorgesehene Streichung des Wortes ‚widerlegbar‘ würde, bei (auch unbestimmter) Nennung einer als gemeinnützig anerkannten Organisation in einem der 17 jährlich veröffentlichten Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder, bei den Finanzämtern der Automatismus einer Versagung der Steuervergünstigungen ausgelöst. Der bisherige Ermessensspielraum der Finanzämter vor Ort entfiele ebenso wie die Möglichkeit der betroffenen Organisation, bei Finanzgerichten Rechtsschutz zu suchen.“

Juristische Grauzone

Neben der kleinen Änderung mit möglicherweise großen Folgen kritisieren die NGO den 2009 eingeführten § 51 Abs. 3 AO generell. Er bewege sich in einer juristischen Grauzone, da der verwendete Begriff „Extremismus“ ein unbestimmter Rechtsbegriff sei, so die Kritiker. Mehrere Gutachter, darunter ein vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erstelltes, sind zu dem Schluss gekommen, dass die vom Verfassungsschutz verwendete Bezeichnung „Extremismus“ kein definierter Rechtsbegriff ist. Er werde in keinem einzigen Gesetzestext verwendet – mit Ausnahme des Steuerrechts.

Schon in der Vergangenheit gab es Versuche, Nichtregierungsorganisationen die Gemeinnützigkeit mittels Steuerrecht abzuerkennen. Betroffen davon war unter anderem die Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen, aber auch Anti-AKW-Initiativen mussten die Disziplinierung durch den Fiskus fürchten. Bisher sind solche Versuche nach öffentlichen Protesten schnell wieder aufgegeben worden. Ob der aktuelle Vorstoß auch ein so schnelles Ende findet, wird sich zeigen. Er ist ein Versuch, Nichtregierungsorganisationen auf staatliche Politiken auszurichten und hat disziplinierenden Charakter. Wer befürchten muss, durch den Kontakt zu einer missliebigen Initiative die Gemeinnützigkeit zu verlieren, woran die Existenz mancher Gruppe hängt, wird im Zweifel solche Kontakte unterlassen So wie die auch juristisch und politisch umstrittene Extremismusklausel ist auch der Verfassungsschutz mittels Steuerrecht Teil einer staatlichen Disziplinierungsstrategie, die in unterschiedlichen Formen in allen europäischen Ländern angewandt wird.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152296
Peter Nowak

Neugierige Mieter unerwünscht

SPREEUFER Anwohner fordern Auskünfte über ein mysteriöses Bauprojekt – ohne Erfolg

Die Neugier ist groß: 25 Menschen drängten sich in der Eingangstür der Immobilienfirma Agromex in der Chausseestraße am Montagnachmittag. Es sind MieterInnen aus Treptow und AktivistInnen der Stadtteilinitiative Karla Pappel aus Treptow und Mediaspree Versenken aus Friedrichshain-Kreuzberg. Sie wollten sich über die Bebauungspläne auf dem etwa 700 Quadratmeter großen Gelände der Fanny-Zobel-Straße am Spreeufer in Treptow informieren. Agromex hatte es 2011 erworben hat. Drei Hochhäuser mit Eigentumswohnungen und Hotels sollen errichtet werden.

Die Firma hat an diesem Montag einen Architekturwettbewerb ausgerichtet. „Fünf Architekturbüros stellen Vertretern des Investors, der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und des Bezirks Treptow-Köpenick ihre überarbeiteten Wettbewerbe vor“, erklärte vorab Corinna Kaspar von Business Network, die für die Pressearbeit des Projekts verantwortlich ist. „Die Anhörung ist in dieser Phase noch nicht öffentlich“, so Kasper. Nach den Sommerferien beginne dann das Bebauungsplanverfahren. Dann würden auch die NachbarInnen über die Pläne informiert.

Diese Auskunft bekommen auch die MieterInnen und StadtteilaktivistInnen an der Bürotür von Agromex. Einen Kontakt zu einem Verantwortlichen des Architekturwettbewerbs wollen die BüromitarbeiterInnen nicht herstellen. „Wir sind die Zivilgesellschaft und möchten in die Planungen einbezogen werden, bevor alles entschieden ist“, empört sich Mischa Krieger von Mediaspree Versenken.

Steigen die Mieten?

Schon seit einem Jahr bemühten sie sich um konkrete Informationen über das Bauprojekt, sagt Mieter Jürgen Starke, der in der Fanny-Zobel-Straße wohnt. Vergeblich. Bei den 200 Mietparteien in der Gegend sei die Angst groß, dass durch Hotels und Eigentumswohnungen im hochpreisigen Segment die Mieten im gesamten Stadtteil drastisch steigen.

Auch das Bezirksamt verrät nichts. Wie Uta Löbel vom Stadtplanungsamt im Treptower Bezirksamt der taz sagte, habe es sich bei dem Architekturwettbewerb um eine private Veranstaltung gehandelt. Dem Bezirksamt sei deswegen keine Verlautbarung gestattet.

Nach etwa einer halben Stunde verlassen die AktivistInnen das Büro wieder. Am 14. Juli, dem vierten Jahrestag des erfolgreichen Bürgerentscheids von Mediaspree Versenken, planen die StadtteilaktivistInnen eine Demo, die an dem umstrittenen Bauprojekt in Treptow vorbeiziehen soll.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=
2012%2F06%2F27%2Fa0160&cHash=b13a722d1e

Peter Nowak

Armut trotz Lohnarbeit steigt

Subvention für Unternehmer: Hartz IV ist längst nicht mehr nur eine Art prekäre Grundsicherung für Erwerbslose, sondern auch für Erwerbstätige

Immer öfter reicht das Einkommen von Beschäftigten nicht mehr zum Leben und die Betroffenen müssen mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle DGB-Studie. Demnach ist das Verarmungsrisiko Erwerbstätiger in den letzten Jahren gestiegen und weist große regionale Unterschiede auf. In den alten Bundesländern waren Ende 2011 durchschnittlich fast 29 Prozent der Hartz-IV-Empfänger zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren es fast ein Drittel. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist sogar mehr als ein Drittel der Hartz-IV-Bezieher berufstätig. Zwischen 2007 und 2010 stieg die Zahl der Haushalte mit mindestens einem erwerbstätigen Hartz-IV-Bezieher in den alten Bundesländern um 14 Prozent und in Ostdeutschland um 11 Prozent.

Berlin: arm, aber Hartz IV

Am stärksten war der Anstieg von erwerbstätigen Hartz-IV-Empfängern in Berlin. „Arm, aber Hartz IV“, könnte man einen vielzitierten Spruch des amtierenden Regierenden Bürgermeisters variieren. Aber auch in Bremen, Hessen und Hamburg ist die Zahl der erwerbstätigen Hartz-IV-Empfänger stark gestiegen. Die Studie belegt einmal mehr eine in der Öffentlichkeit noch immer zu wenig wahrgenommene Tatsache: Hartz IV ist längst nicht mehr nur eine Art prekäre Grundsicherung für Erwerbslose, sondern auch für Erwerbstätige.

Die Vorstellung der klassischen Nationalökonomie, dass die Unternehmen für die Reproduktionskosten der bei ihnen Beschäftigten aufkommen müssen, wird so tendenziell immer häufiger außer Kraft gesetzt. Hartz IV ist so auch eine Subvention für die Kapitalseite. Schließlich sind die Reproduktionskosten für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Arbeitskraft der Beschäftigten unabdingbar. Genau diese Funktion kann in immer mehr Fällen nur noch mittels Hartz IV sichergestellt werden.

In einigen Branchen des boomenden Niedriglohnsektors mag es für die Unternehmen tatsächlich nicht möglich sein, die Reproduktionskosten der Beschäftigten zu tragen. Das trifft beispielsweise auf den boomenden Spätkaufsektor, aber auch für Internetcafes oder Friseurläden zu. In anderen Fällen bedeutet die Lohnsubvention durch Hartz IV einen Extraprofit für die Unternehmer, weil sie nicht einmal mehr für die Reproduktionskosten der Beschäftigten aufkommen müssen. Das ist auch eine Folge der fehlenden Verhandlungsmacht der Beschäftigten und der Gewerkschaften.

Es ist kein Zufall, dass der Anteil der erwerbstätigten Hartz-IV-Empfänger in den neuen Bundesländern besonders hoch ist. Schließlich wurde dort in den 1990er Jahren die Strategie des fast gewerkschaftsfreien Niedriglohnsektors durchgesetzt und dann auf die alten Bundesländer übertragen.

„Helft Heinrich“

Der DGB zieht aus den Ergebnissen der Studie das Fazit, dass ein Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker senken und zu einer finanziellen Entlastung der Kommunen und Gemeinden beitragen kann. Zudem würde er die Beschäftigten davor schützen, Lohnarbeit zu fast jeder Bedingung anzunehmen. Genau aus diesem Grunde aber sind Kapitalverbände, die FDP und Teile der Union strikt gegen diese Mindestlöhne. Schließlich hat der Hartz-IV-Bezug sanktionierende und disziplinierende Wirkung und führt zudem noch zur Stigmatisierung. Wenn BILD-Leser voller Stolz posten, keine Hartz IV-Bezieher in ihrem Bekanntenkreis zu haben, wie Christian Baron und Britta Steinwachs in ihrer kürzlich veröffentlichten Untersuchung von „Diskriminerung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Zeitungsleser“ dokumentieren, dann wird diese Funktion besonders deutlich. Auch die Autoren unterliegen dabei noch einem Irrtum: Nicht nur Erwerbslose, sondern auch Erwerbstätige mit Niedriglohn werden hier diskriminiert.

Angesichts der Studienveröffentlichung erscheint es gar nicht so absurd, dass belgische Gewerkschaften im letzten Jahr mit der Kampagne „Helft Heinrich“ vorgeschlagen haben, Arbeitnehmer in Deutschland beim Kampf für höhere Löhne zu [www.ak-gewerkschafter.de/2011/07/15/interview-mit-manni-engelhardt-zu-helft-heinrich/ unterstützen]. Auch die Begründung war bedenkenswert.

Höhere Löhne in Deutschland würden auch den Druck der deutschen Regierung vor allem auf die Staaten der europäischen Peripherie verringern, dort ähnliche Niedriglohnsektoren einzuführen. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass in Griechenland und Spanien kein Spielraum für die staatliche Lohnsubventionierung nach dem Hartz-IV-Äquivalent besteht und dort die Menschen in die nackte Armut getrieben werden.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152278
Peter Nowak

Populistische Kampagne

Die Gegner der Energiewende sammeln sich. Nicht immer zeigen sie ihre Opposition offen. Während aus der Wirtschaft über die Kosten geklagt und das Gespenst des Blackout an die Wand gemalt wird, finden sich in der Politik plötzlich merkwürdige Sachwalter der Interessen der Normalverbraucher. An vorderster Front dabei: Politiker von FDP und Union, die gegen jeden Beweis behaupten, einzig die Subvention Erneuerbaren sei an der Erhöhung der Strompreise schuld. Ausgerechnet die FDP entdeckt nun ihr Herz für die Geringverdiener und erklärt den Ausbau von Solar- und Windenergie zur Ursache einer zunehmenden Zahl von Stromabschaltungen in Haushalten von einkommensschwachen Menschen. Das ist eben die Partei, deren ehemaliger Vorsitzender Guido Westerwelle ein angebliches Anspruchsdenken der unteren Schichten mit der spätrömischen Dekadenz verglich. Doch die Häufung von Stromabschaltungen wegen unbezahlter Rechnungen ist auch eine Folge der politisch gewollten Verarmungspolitik mit Niedriglöhnen und Hartz IV.

Als Soforthilfe mit ökologischen Hintergrund hat die LINKE–Vorsitzende Katja Kipping eine Verschrottungsprämie für stromfressende Geräte vorgeschlagen. Dass solche Vorschläge von FDP und Union sofort abgelehnt wurden, verwundert nicht. Denn letztlich geht es ihnen nicht um von Stromabschaltungen betroffene Menschen. Die populistische Kampagne gegen die Erneuerbaren als angebliche Strompreistreiber macht aber deutlich, wie wichtig es ist, ökologische und soziale Fragen zu verbinden.

Der Kampf um Klimagerechtigkeit muss auch hierzulande geführt werden. Dazu gehört auch das Thema, dass den privaten Haushalten tatsächliche oder vermeintliche Kosten der Energiewende aufgebürdet werden, während die Industrie zum großen Teil davon befreit ist. Jeder Versuch hier Gerechtigkeit einzuführen wird schon im Ansatz mit dem Argument der gefährdeten Arbeitsplätze abgewürgt. Doch davon sollte sich eine linke Umweltbewegung nicht schrecken lassen.

http://www.neues-deutschland.de/
artikel/230689.populistische-kampagne.html

Peter Nowak

Widerstand im Dreiländereck

Hunderte Atomkraftgegner aus der Schweiz, Frankreich und- Deutschland haben am Wochenende für die sofortige Stilllegung des AKW Fessenheim und die Förderung erneuerbarer Energien demonstriert. »Mit der Tour de Fessenheim wird die Tradition des Widerstands im Dreyecksland neu belebt«, meint ein Freiburger Aktivist und verweist auf das nie in Betrieb genommene AKW Wyhl, dass Ende der 70er Jahre durch Aktivisten aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz verhindert worden ist.

Auf der Anti-AKW-Tour wurde de neugewählte französische Präsident Hollande an sein Wahlversprechen erinnert, Fessenheim so schnell wie möglich abzuschalten. Bei der ersten Sitzung der Überwachungskommission Fessenheim nach dem Regierungswechsel stellte sich aber heraus, dass die Abschaltung des AKW noch dauern wird. Ein zeitaufwendiges Verfahren sei nötig und zudem hat das Betreiberunternehmen Electricité de France (EDF) schon angekündigt, dass es bei einer Abschaltung eine Entschädigung fordern will.
Ingo Falk von der Anti-Atomgruppe Freiburg betonte bei einer Kundgebung in Colmar, dass es nicht reiche, ein AKW stillzulegen. Vielmehr sei eine Energiewende nötig. Daher forderten die AKW-Gegner nicht nur die Stilllegung von Fessenheim sondern besuchten auf ihrer Tour auch verschiedene Orte einer alternativen Energieerzeugung. So wurde eine Kleinwasserkraftwerkanlage in Emmendingen und ein Solardach in Pfaffenheim besichtigt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/230677.jeder-tag-birgt-das-risiko-
eines-super-gau.html
Peter Nowak

»Jeder Tag birgt das Risiko eines Super-GAU«

BUND-Aktivistin Elke Brandes über die Proteste gegen das französische AKW Fessenheim
Elke Brandes ist Mitglied der Umweltorganisation BUND Freiburg und gehört zum Organisations-Team der »Tour de Fessenheim«, einer grenzüberschreitenden Demonstration gegen den Betrieb des Atomkraftwerkes im elsässischen Fessenheim. Mit ihr sprach für »nd« Peter Nowak.

nd: Dem französischen Atomkraftwerk Fessenheim wurde vor wenigen Monaten bei einer Zehn-Jahres-Inspektion die Sicherheit für den weiteren Betrieb bescheinigt. Auch der neue französische Präsident François Hollande will den Meiler offenbar nicht vor 2017 stilllegen. Warum organisieren Sie weiter den Widerstand?
Brandes: Jeder weitere Tag, an dem dieses Atomkraftwerk in Betrieb ist, birgt das Risiko eines Super-GAU wie in Fukushima. In der Region um Fukushima hatten die Menschen noch Glück im Unglück, denn es wehte meist ein Wind in Richtung Meer, der dafür sorgte, dass die Todeszone auf einen Radius von 30 bis 40 Kilometer beschränkt blieb. Bei einem Super-GAU im AKW Fessenheim würde bei den vorherrschenden Windverhältnissen nicht nur die Region um das nur 24 Kilometer entfernte Freiburg unbewohnbar, sondern selbst Stuttgart, Schwäbisch Hall und Nürnberg könnten für Jahrzehnte unbewohnbar werden.

Ein Tsunami dürfte am Oberrhein wohl ausgeschlossen sein. Was könnte nach Ihrer Ansicht einen Super-GAU im AKW Fessenheim auslösen?
Es bedarf keiner Ursache von außen. Auch das AKW Fessenheim ist konstruktionsbedingt nur für eine Betriebsdauer von 25 Jahren ausgelegt. Diese Frist endete im Jahr 2002. Dabei wurden bereits in den ersten Jahren des Betriebs Risse in einem der beiden Reaktordruckbehälter und in dessen 54 Tonnen schwerem Deckel festgestellt. Der Reaktordeckel von Block 1 etwa wurde im Juli 1996 ersetzt – doch die Reaktordruckbehälter können nicht ausgetauscht werden. Dabei wird das Material durch den Neutronenbeschuss aus dem Kern immer brüchiger.

Welche Risiken sehen sie durch Erdbeben oder andere Ursachen?
Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 wurde durch ein Gutachten bestätigt, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist. Laut einer TV-Dokumentation auf France 2 hielt der Betreiber-Konzern einen internen Bericht zurück, in dem Untersuchungsergebnisse über den Rheinseitenkanals zu lesen sind.

Warum bleibt das AKW dennoch am Netz?
In einem Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also insgesamt rund 600 Millionen Euro im Jahr. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb. Bekanntlich unterstützt auch die französische kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Kürzlich wurde aufgedeckt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Strom-Konzerns EDF finanziert.

Was unternimmt die Anti-AKW-Bewegung?
Elsässische, Nordschweizer und badische Anti-AKW-Initiativen treffen sich regelmäßig, um ihre Arbeit zu koordinieren. Dabei wird auch Wert gelegt auf die Unterstützung der Initiativen gegen die geplanten atomaren Endlager in Benken in der Nordschweiz, in Bure in Lothringen und in Gorleben im Wendland. Wichtig ist für uns zudem, dass in Baden-Württemberg die Atomkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg stillgelegt werden. Neben Großdemonstrationen ist die »Tour de Fessenheim«, die wir in diesem Jahr zum siebten Mal organisierten, für uns eine Möglichkeit, das Bewusstsein für das Restrisiko wachzuhalten und zugleich auf die gerade im hiesigen Dreyeckland vielfältigen Initiativen zur Energiewende hinzuweisen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/230677.
jeder-tag-birgt-das-risiko-eines-super-gau.html

Interview: Peter Nowak

Bild, Deutschlands frechster Arbeitsloser und „Volkes Stimme“

Kann Bild „nur Trends verstärken, aber keine eigenen setzen“, wie Ex-Bundeskanzler Schröder meint?

„Ich habe meinen Frieden mit Bild gemacht“, erklärt Ex-Kanzler Gerhard Schröder in der Geburtstagsausgabe von Bild, die am Samstag kostenlos in Millionen Haushalte verschenkt wurde. Das Schröder-Interview steht dort gleich am Anfang. Dabei wird deutlich, dass der Autokanzler, Bild nie den Krieg erklärt hat. Schließlich hat er das Bonmot geprägt, dass man zum Regieren „Bild, Bams und Glotze“ braucht.. Dass hat der BILD-Redaktion so gut gefallen, dass sie es gleich für den Titel des Interviews verwenden. Dort wird Schröder noch einmal daran erinnert, dass nicht nur seine Frau bei Bild ihre journalistische Laufbahn begonnen hat, sondern auch sein Pressesprecher von dort kam und danach dort weitermachte.

Ein Gedanke, dem auch entschiedene Bild-Kritiker zustimmen dürften, fand sich aber denn noch in dem Schröder-Gespräch. Bild könne „nur Trends verstärken, aber keine eigenen setzen. Es muss immer eine Stimmung da sein, an die Bild anknüpfen kann“.

Zumindest die Soziologen Britta Steinwachs und Christian Baron werden dieser Einschätzung zustimmen. Sie haben im Rahmen der Reihe Kritische Wissenschaften in der edition assemblage unter dem Titel „Faul, frech, dreist“ eine Untersuchung zur „Diskriminierung von Erwerbslosen durch Bild-Leserinnen und -leser“ herausgebracht. Zur Grundlage haben sie dabei die Berichterstattung über den von Bild zu „Deutschlands frechsten Arbeitslosen“ stilisierten Arno Dübel genommen und dabei erstmals auch die Postings auf Bild-Online untersucht und in ihre Studie mit einbezogen. Auf mehr als 20 Seiten sind sie zum Teil im Anhang abgedruckt. Auch wenn dieser Anhang etwas lang geraten ist, ist die Lektüre doch sinnvoll, weil man hier einen ungefilterten Eindruck von „Volkes Stimme“ bekommt.

Lohnarbeit um jeden Preis als Strafe

Denn die Internetpostings drücken anders Leserbriefe aus, was relevante Teile der Bevölkerung über Menschen denken, deren höchstes Ziel eine Lohnarbeit um jeden Preis und zu allen Bedingungen ist. Genau das aber fordern viele derjenigen, die sich zu Dübel bei Bild.de geäußert haben, von ihm ein. Es wird von vielen geradezu als Unverschämtheit angesehen, nicht jede Arbeit zu machen. Selbst Krankheit und Alter sind dabei kein Milderungsgrund. Mindestens zur „Pappe aufheben im Park“ oder Einkaufswägen zusammenstellen, musste er nach ihrer Meinung verurteilt werden .

Dabei wird deutlich, dass es den meisten Dübel-Gegnern um Sanktionierung und Strafe ging. Manche wollten ihn mit einer stupiden Arbeit bestrafen, andere wünschten, dass er im Winter unter Brücken schlafen muss oder „ganz weggesperrt“ wird. Mehrere bekundeten, dass ihnen nicht Dübel, sondern nur sein Hund leid tue. Oft verwiesen diejenigen, die sich besonders gegen Dübel hervortaten, darauf, dass sie auch zu jedem Preis arbeiten und keine staatlichen Hilfen in Anspruch nehmen würden. Einige betonten, dass sie keine Hartz-IV-Empfänger in ihren Freundes- und Bekanntenkreis hätten. Selbst unter der Minderheit, die Dübel gegen besonders harte Anwürfe in Schutz nahm, argumentierten viele, er sei doch so kaputt und krank, dass man „den armen Mann“ mit seinen Hartz IV-Satz dahinvegetieren lassen solle. Nur ganz wenige erinnerten an internationale Konventionen und Gesetze, die es verbieten, einen offensichtlich kranken Mittfünfziger mittellos auf die Straße zu setzen. Einige sahen gerade darin eine besondere Perfidie des Sozialstaates und beendeten ihre Postings nicht selten mit dem Aufruf „Armes Deutschland“.

Diskriminierung von Erwerbslosen durch Lohnabhängige?

So begrüßenswert es ist, dass Baron und Steinwachs die Rolle der Bildleser in den Mittelpunkt ihre Untersuchung zu stellen und damit plumpe Manipulationsthesen den Boden entziehen, so bleiben doch bei ihren Erklärungsansatz einige Fragen offen. Sie bevorzugen den Ansatz des Klassismus und sehen in den Hassmails auf Dübel ein Beispiel für die Diskriminierung von Erwerbslosen durch Lohnabhängige. Allerdings ist schon die Trennung schwierig und nicht wenige der Poster dürften pflichtbewusste Erwerbslose gewesen sein, die ihre ständige Suche nach Lohnarbeit von jemand wie Dübel lächerlich gemacht sehen.

Zudem bleibt bei dem Klassismusansatz die Rolle von Bild unklar. Plausibler wäre es, die Bild-Berichterstattung im Fall Dübel als ein Beispiel von Sozialchauvinismus zu interpretieren, wo sich ein Bündnis von Elite und Teilen der Bevölkerung gegen missliebige Minderheiten austobt. Dass es nicht nur virtuell bleibt, zeigte sich, als Dübel von einer betrunkenen Rentnerin in Mallorca tätlich angegriffen wurde, weil sie wie Bild der Meinung war, er verprasse dort ihre Steuergelder.

Bild hat im Fall Dübel nicht nur immer die passenden Schlagzeilen geliefert und Dübel über Monate ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt, wobei dieser allerdings auch bereitwillig mitspielte. Selbst als er einen Bügeljob angenommen hatte, war Bild gleich wieder an Ort und Stelle und sorgte so schnell dafür, dass er den wieder aufgab.

Hier bilden sich Analogien zur Rolle vom Bild bei der Hetze gegen zwei Männer, die ihre Strafen wegen Sexualdelikten verbüßt hatten und in einem Haus in einer Kleinstadt von Sachsen-Anhalt wohnen. Bild hat diese Männer und ihren aktuellen Wohnort immer wieder an die Öffentlichkeit gezerrt, ein Bündnis von Teilen der Bevölkerung und offenen Neonazis versuchten in den letzten Wochen mehrmals dieses Haus zu stürmen. Als einer der Männer einen neuen Wohnort in einer größeren Stadt wählte, stand ein Bild-Reporter sofort vor der Haustür, so dass dieser fluchtartig zurück in die Kleinstadt von Sachsen-Anhalt zog.

Die bei edition assemblage veröffentlichte Studie zeigt ebenso wie eine im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung erstellte Untersuchung, dass für Bild bei aller nach außen vermittelten Lockerheit und Selbstironie auch nach 60 Jahren ihr Geschäftsgeheimnis darin besteht, die regressiven Stimmungen in Teilen der Bevölkerung in Schlagzeilen zu gießen, kampagnenfähig zu machen und zu verstärken. Dass dabei zu einer ungeliebten Minderheit erklärte Menschen zu Opfern werden, wird in Kauf genommen.

Christian Baron/Britta Steinwachs: Faul, frech, dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen. Edition Assemblage, Münster 2012, 143 Seiten, 14,80 Euro.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/152269
Peter Nowak

Werte aus Beton

Anfang der Woche fand in Berlin die Jahrestagung deutscher Immobilienunternehmen statt. Mieter haben dagegen protestiert.

Auf der Jahrestagung der Immobilienwirtschaft, die Anfang der Woche vom Handelsblatt im Hotel Ritz am Potsdamer Platz in Berlin veranstaltet wurde, war auch die Wirtschaftskrise ein Thema. Selbstverständlich ist das nicht, verzeichnete doch der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen im vergangenen Jahr zweistellige Wachstumsraten.

In Zeiten der Finanzkrise gelten Gebäude als relativ sichere Anlage für Kapital, das sich anderweitig nicht mehr investieren lässt. Diese Flucht in den Beton treibt die Preise in die Höhe. Schon warnen Analysten vor dem Platzen einer Immobilienblase. Axel Gedaschko, ein langjähriger CDU-Politiker und der derzeitige Präsident des Bundesverbands Deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, möchte jedoch nicht von einer Blase auf dem Immobilienmarkt sprechen. »Eine Blase wird man immer daran festmachen können, ob die Mietenentwicklung und die Entwicklung der Kaufpreise in einer Korrelation stehen. Solange das gegeben ist, ist der Kaufpreis real. Wenn er sich abkoppelt, kriegen wir eine Blasenentwicklung. Da sind wir noch nicht.« Für Gedaschko ist die Rechnung sehr einfach: »Bislang wirkt der Markt gesund, auch dort, wo die Preise explodieren – solange diejenigen, die in den Wohnungen wohnen, sie bezahlen wollen.« Am Beispiel der Stadt München, die bei den Mietpreisen schon seit Jahren bundesweit an der Spitze liegt, präzisiert Gedaschko: »Derjenige, der dort baut, zu extrem hohen Kosten, kriegt auch die extremen Mieten.«
So lässt es sich wohnen. Allerdings nur, wenn man das nötige Geld hat. Die Immobilienbranche lässt vorwiegend Luxuswohnungen bauen, wie in diesem Gebäude in Berlin
So lässt es sich wohnen. Allerdings nur, wenn man das nötige Geld hat. Die Immobilienbranche lässt vorwiegend Luxuswohnungen bauen, wie in diesem Gebäude in Berlin (Foto: PA/dpa )

Schließlich erfährt der Wohnungsneubau in Deutschland die großen Zuwächse bei teuren und luxuriösen Projekten für Menschen, die sich solche extremen Mieten leisten können.

Mittlerweile hat die Immobilienwirtschaft berechtigte Hoffnungen, dass bald noch mehr Wohnungen zu dieser Kategorie des Luxussegments zählen werden. Das Zauberwort heißt energetische Sanierung. Das von der Bundesregierung verfolgte Konzept der Gebäudesanierung zur Minimierung des Energieverbrauchs bietet für die Immobilienwirtschaft gleich mehrere Vorteile. Die Mieten steigen und die Rechte der Miete werden eingeschränkt, denn bei der energetischen Sanierung wurden deren Einspruchsrechte beschnitten.

Doch auf der Tagung wurde auch Kritik an der Politik laut, die doch eigentlich von der Union bis zur Linkspartei, wo sie denn in Regierungsverantwortung stand, alles für die Rendite der Immobilienwirtschaft unternommen hat. Dennoch mahnen deren Vertreter eine höhere Förderung für die Gebäudesanierung an und lamentieren über eine Benachteiligung gegenüber den Erzeugern erneuerbarer Energien, die es leichter hätten, vom Staat Geld zu erhalten. Wenn es um Mieterrechte geht, wünscht man sich so wenig Staat und so viel Markt wie möglich, aber eine noch umfangreichere staatliche Förderung wird auch von überzeugten Wirtschaftsliberalen gefordert.

Hier unterscheidet sich die Immobilienwirtschaft nicht von anderen Branchen. Ohne staatliche Subventionen würden die selbst gesteckten Klimaschutzziele nicht ereicht, behaupten deren Sprecher und schieben so die Ökologie vor, um die besten Verwertungsbedingungen für ihre Klientel zu schaffen.

Auch die Menschen mit wenig frei verfügbarem Einkommen, die Mieter, die sich die extremen Mieten nicht leisten können, wurden auf der Tagung der Immobilienwirtschaft nicht vollständig vergessen. Die Bundesregierung und die Länder müssten verhindern, dass Hartz-IV-Empfänger durch die Gebäudesanierung vertrieben werden, so Gedaschko. Dort, wo kein Ausgleich von Mehrkosten durch staatliche Transferleistungen möglich sei, müsse durch die Höhe der Förderung »der Effekt vermieden werden, dass der preiswerte Wohnraum in Deutschland energetisch wegsaniert wird«, sagte der Verbandspräsident.

Die etwa 700 Demonstranten, die am vergangenen Montag gegen die Tagung der Immobilienwirtschaft demonstrierten, hätte er mit solchen Bekundungen nicht beeindrucken können. Mehrere Redner von linken Gruppen, Stadtteil- und Mieterinitiativen sprachen von einer drohenden »energetischen Segregation«.

Mit dieser Einschätzung befinden sie sich in guter Gesellschaft. Seit Monaten schlagen auch Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften und Mieterverbände Alarm und warnen, dass die Anzahl der Wohnungen, die für Menschen mit einem geringen Einkommen noch bezahlbar sind, durch den energetischen Wohnungsbau weiter sinke. Sie fordern eine Wiederaufnahme für den sozialen Wohnungsbau, den es in Deutschland längst nicht mehr gibt. Wie in vielen Städten haben sich auch in verschiedenen Berliner Bezirken Mieterinitiativen gegründet, die beim Protest vor dem Hotel Ritz dabei waren. Die Mitglieder der Gruppe »Fulda-Weichsel« aus Neukölln präsentierten sich mit selbstgebastelten Straßenschildern, sie wehren sich seit Monaten gegen die sozialen Folgen einer energetischen Sanierung.

»Lernt eure Nachbarn kennen«, beendete eine Rednerin von Fulda-Weichsel ihren Redebeitrag bei der Demonstration. Diesen Ratschlag haben die Mieter, die in den Wohnblöcken am Kottbusser Tor im Berliner Bezirk Kreuzberg leben, längst befolgt. In den siebziger Jahren wurden diese Wohnblöcke mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus gefördert, nun können sich viele der Bewohner die steigenden Mieten und Nebenkosten nicht mehr leisten. In einer seit Ende Mai vor den Wohnblöcken errichteten Holzhütte diskutieren die Anwohner über Wohnungspolitik und Möglichkeiten, sich gegen die Mietsteigerungen zu wehren. Gemeinsam werden Nachtwachen organisiert (Jungle World 24/12). Das »Kotti-Gecekondu«, wie die Hütte auch genannt wird, ist inzwischen mehr als ein Nachbarschaftstreff. »Mittlerweile ist es ein Ort geworden, an dem Menschen aus unterschiedlichen Stadtteilen über Mieterwiderstand reden. Auch aus anderen Städten sind schon Menschen angereist«, sagt eine Mieterin, die sich am Protest beteiligt. Den Stadtsoziologen Andrej Holm verwundert dieses Interesse nicht: »Der Mieterwiderstand braucht öffentliche Orte, an denen er sichtbar wird«, sagte er am Sonntag bei einer Veranstaltung zu den Mieterprotesten am Kottbusser Tor.

Das »Kotti-Gecekondu« könnte man auch als Gegenmodell zum »BMW Guggenheim Lab« betrachten, das am Wochenende im Prenzlauer Berg eröffnet wurde. Zum Thema »Confronting Comfort« sollen dort in den kommenden Wochen Veranstaltungen stattfinden. Während auf der Homepage des »Guggenheim Lab« viel von »Urbanität« und »nachhaltigen Lösungen für das Stadtleben« die Rede ist, diskutieren die Mieter in Kreuzberg darüber, was hinter Slogans wie »Recht auf Stadt« und »eine Stadt für alle« steht, die im Mieterwiderstand sehr populär sind. Wie schnell solche Slogans an ihre Grenzen stoßen, haben Mietergruppen aus dem Wedding erfahren müssen. Sie organisierten am Vortag des 1. Mai eine »Mieten­stopp«-Demonstration, an der sich etwa 4 000 Menschen beteiligten. Doch von der mit dem Quartiersmana­gement verbundenen Initiative der Gewerbetreibenden wurden sie in der Stadtteilzeitung Ecke als auswärtige Randalierer diffamiert. Dass zeigt, dass auch die Selbstorganisation im Kiez nicht immer solidarisch ist.

http://jungle-world.com/artikel/2012/25/45680.html

Peter Nowak

Demografie und Arbeitswelt


Tarifpartner wollen Modelle für alternsgerechtes Arbeiten im Dienstleistungsbereich entwerfen

Alle reden davon, dass die Zahl der jüngeren Menschen in unserer Gesellschaft zurückgeht. Was bedeutet die Entwicklung für die Arbeitswelt? Dieser Frage widmete sich eine Konferenz in Berlin.

Mit einer Konferenz in Berlin wurde diese Woche der Startschuss für das bislang größte Demografie- und Tarifprojekt zur Zukunft der Dienstleistungsbranche in einer alternden Gesellschaft gegeben. Getragen wird es von der Gewerkschaft ver.di, Branchenverbänden und Politik. Unter dem Namen »Zusammen wachsen, Arbeit gestalten« sollen bis 2014 für fünf große Dienstleistungsbereiche – Handel, Pflege, Erziehungs- und Sozialdienst, ÖPNV und Straßenmeistereien – Modelle für alternsgerechte Arbeit entwickelt und erprobt werden. Experten aus 50 Tarifgebieten sind beteiligt.

»Der zu erwartende Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um gut fünf Millionen in den kommenden 15 Jahren macht deutlich, dass die Zeit drängt«, erklärte Projektleiterin Tatjana Fuchs. Als einen wichtigen Schritt nannte sie eine Verständigung über Bedingungen für ein gesundes und motivierendes Arbeiten »vom Berufsstart bis zum Renteneintritt«. Wie ver.di-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger erklärte, sollen Beschäftigte »auch in Zukunft gesund und sozial abgesichert in Rente gehen können«.

Davon können allerdings viele Arbeitnehmer schon heute nur träumen. Vor allem im Einzelhandel und im Pflegebereich sind niedrige Löhne und der Arbeitsdruck besonders stark ausgeprägt. Deshalb könnten sich die Bedingungen für die Beschäftigten sogar verbessern, wenn durch die demografische Entwicklung Arbeitskräftemangel herrscht. Es war der Vertreter des Unternehmerlagers, der diesen Punkt offen ansprach. Bald werde die Zeit vorbei sein, so Rainer Marschaus, Tarifexperte der Metro AG, wo Mitarbeiter mit der Drohung eingeschüchtert werden können, es warteten Hunderte, die seine Stelle gerne übernehmen würden.

Verbessern sich durch diese Situation die Kampfbedingungen für Gewerkschaften? Die Antwort von ver.di-Frau Nutzenberger fiel zurückhaltend aus. Einerseits bekräftigte sie die Kritik ihrer Gewerkschaft an der Rente mit 67. Andererseits ließen gleich mehrere Podiumsteilnehmer durchblicken, dass sie von einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit ausgehen – den Kampf also verloren geben. Nutzenberger betonte an dieser Stelle erneut, dass die Arbeitsbedingungen derart verbessert werden müssten, dass gute Arbeit von der Ausbildung bis ins hohe Alter möglich würde. Die Frage nach dem Beginn des Rentenalters blieb hierbei offen. Auch von der Notwendigkeit des lebenslangen Lernens und Weiterbildens sprachen mehrere Podiumsteilnehmer. Auch hier wurde die Frage ausgeblendet, wie aus einem Recht eine Pflicht zum lebenslangen Lernen wird.

Der Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium Gerd Hoofe blieb mit seiner Argumentation ganz dem Standort Deutschland verpflichtet, wenn er davor warnte, dass ein durch die demografische Entwicklung bedingter Arbeitskräftemangel die Wirtschaft Deutschlands gefährde. Unternehmen, die kräfteschonende Arbeitsbedingungen schaffen und das Wohlbefinden der Beschäftigten in den Mittelpunkt stellen, sind für ihn daher gleich ein Beitrag zur Stärkung des deutschen Wirtschaftsstandorts.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/230445.demografie-und-arbeitswelt.html
Peter Nowak

Es gibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb des AKW Fessenheim

Widerstand im Dreiländereck gegen ältestes französisches AKW

Elke Brandes ist Mitglied der Umweltorganisation BUND und gehört zum Organisations-Team der Tour de Fessenheim. Aufgerufen wird zu einer grenzüberschreitenden Demonstration gegen den Betrieb des Atomkraftwerkes im elsässischen Fessenheim, die an diesem Wochenende stattfindet.

Dem Atomkraftwerk (AKW) Fessenheim wurde vor wenigen Monaten bei einer 10-Jahres-Inspektion die Sicherheit für den weiteren Betrieb bescheinigt. Auch der neue französische Präsident François Hollande will den Meiler offenbar nicht vor 2017 stilllegen. Warum organisieren Sie weiter den Protest?

Elke Brandes: Jeder weitere Tag, an dem dieses Atomkraftwerk in Betrieb ist, birgt das Risiko eines Super-GAU wie in Fukushima. In der Region um Fukushima hatten die Menschen noch Glück im Unglück, denn es wehte meist ein Wind in Richtung Meer, der dafür sorgte, dass die Todeszone auf einen Radius von 30 bis 40 Kilometer beschränkt blieb. Bei einem Super-GAU im AKW Fessenheim würde bei den vorherrschenden Windverhältnissen nicht nur die Region um das nur 24 Kilometer entfernte Freiburg unbewohnbar, sondern selbst Stuttgart, Schwäbisch Hall und Nürnberg könnten für Jahrzehnte unbewohnbar werden. Das AKW Fessenheim enthält ein radioaktives Inventar, das 1.760 Hiroshima-Bomben entspricht.

Ein Tsunami dürfte am Oberrhein wohl ausgeschlossen sein. Was könnte nach Ihrer Ansicht einen Super-GAU im AKW Fessenheim auslösen?

Elke Brandes: Zunächst einmal: Es bedarf keiner Ursache von außen. Auch das AKW Fessenheim ist konstruktionsbedingt nur für eine Betriebsdauer von 25 Jahren ausgelegt. Diese Frist endete im Jahr 2002. Dabei wurden bereits in den ersten Jahren des Betriebs Risse in einem der beiden Reaktordruckbehälter und in dessen 54 Tonnen schwerem Deckel festgestellt. Der Reaktordeckel von Block 1 etwa wurde im Juli 1996 ersetzt – doch die Reaktordruckbehälter können nicht ausgetauscht werden. Dabei wird das Material durch den Neutronenbeschuss aus dem Kern immer brüchiger.

…und welche Risiken sehen Sie durch Erdbeben oder andere äußere Ursachen?

Elke Brandes: Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die von Fessenheim rund 35 Kilometer entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 wurde durch ein Gutachten bestätigt, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist. Laut einer TV-Dokumentation auf France 2 hielt der Betreiber-Konzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Und auch gegen einen möglichen Terrorangriff nach dem Vorbild des 11. September 2001 ist das Atomkraftwerk nicht ausreichend geschützt. Seine Betonhülle mit einer Stärke von 80 Zentimetern kann nicht einmal dem gezielten Absturz eines Cessna-Kleinflugzeugs standhalten. Dies sind nur drei Beispiele aus einer ganzen Reihe von nicht zu leugnenden Gefahren.

Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW dennoch am Netz?

Elke Brandes: In einem Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also insgesamt rund 600 Millionen Euro im Jahr. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandzeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb. Bekanntlich unterstützt auch die französische kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Kürzlich wurde aufgedeckt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Stromkonzerns EdF finanziert.

Was unternimmt die Anti-AKW-Bewegung?

Elke Brandes: Elsässische, Nordschweizer und badische Anti-AKW-Initiativen treffen sich regelmäßig, um ihre Arbeit zu koordinieren. Dabei wird auch Wert gelegt auf die Unterstützung der Initiativen gegen die geplanten atomaren Endlager in Benken in der Nordschweiz, in Bure in Lothringen und in Gorleben im Wendland. Auch Kontakte zu Gruppen aus dem CASTOR-Widerstand werden gepflegt. Wichtig ist für uns zudem, dass in Baden-Württemberg die Atomkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg stillgelegt werden.

Neben Großdemonstrationen ist die „Tour de Fessenheim“, die wir in diesem Jahr zum siebten Mal organisieren, für uns eine Möglichkeit, das Bewusstsein für das sogenannte Restrisiko wachzuhalten und zugleich auf die gerade im hiesigen Dreieckland vielfältigen Initiativen zur Realisierung der Energiewende hinzuweisen: kleine Wasserkraftwerke, Windkraftwerke, Solarzellen, Sonnenkollektoren und so weiter. Für einen Atomausstieg, der auch in Deutschland erst noch erkämpft werden muss, ist nicht zuletzt entscheidend, ob wir den Umstieg auf die Vollversorgung durch erneuerbare Energien durchsetzen können.

http://www.heise.de/tp/artikel/37/37135/1.html
Peter Nowak

Pranger gegen Panzerfamilie?

„Wer hat Informationen, die zur Verurteilung dieser Menschen führen?“ – eine Kunstinitiative stellt Eigentümer der Rüstungsfirma Krauss Maffei Wegmann bloß

Ein Banner in den Berliner Kunstwerken, wo noch bis zum Monatsende im Rahmen der Berlin-Biennale Occupy seinen Spagat zwischen Kunst und Politik versucht, sorgt für Aufregung und zeigt Wirkung. „Endlich geben wir dem deutschen Panzerhandel ein Gesicht!“, begründen die Politikkünstler von Zentrum für Politische Schönheit ihre durchaus nicht unumstrittene Outing-Aktion, mit der sie in Form eines Steckbriefs die Familie hinter der Waffenschmiede Krauss Maffei-Wegmann exponiert. Dazu wird im Stil von XY-Ungelöst aufgerufen, alles über die abgebildeten Personen zu melden.

Auch Details der persönlichen Lebensführung gehören ausdrücklich dazu. Auf der Homepage der Kampagne wird dieses Schnüffeln im Privaten damit begründet, dass in Deutschland der Handel mit schweren Kriegsgerät nicht strafbar ist. Also hoffen die Kunstaktivisten, dass ein anderes Vergehen bekannt wird, beispielsweise eine Steuerhinterziehung oder die unangemeldete Beschäftigung einer Hausangestellten, damit sie die Personen doch noch ins Gefängnis bringen können.

„Wer hat Informationen, die zur Verurteilung dieser Menschen führen?“, heißt es auf der Homepage. Die Ähnlichkeit mit Denunziationsaufrufen sticht ins Auge. Das wirft die Frage auf, ob ein politisch unterstützenswertes Ziel – wie die Skandalisierung des Waffenhandels im Allgemeinen und des Waffendeals an Saudi-Arabien – solche Mittel rechtfertigt. Die Beteiligung am Outing scheint nicht besonders hoch. Auf der Kampagnenhomepage zumindest heißt es auf den Steckbriefen der Panzerfamilie, es seien noch keine Angaben eingetroffen. Andererseits finden sich zu einzelnen Mitgliedern teilweise sehr detaillierte biographische Angaben.

Waffenhändler mit Apo-Vergangenheit

So wird der Mozartliebhaber Volkmar von Braunbehrens gefragt, wie er seine Rolle als Miteigentümer einer Waffenschmiede mit seiner Funktion als Vorstandsmitglied der linksliberalen Menschenrechtsorganisation Humanistische Union vereinbaren kann. Braunbehrens Vergangenheit als Aktivist der Studentenbewegung um 1968 wird ebenso aufgeführt, wie seine Strafanzeigen gegen Freiburger Hausbesetzer 2009. Bis vor kurzem gehörte auch Burkhard von Braunbehrens zur Panzerfamilie. Doch vor wenigen Tagen hat er sich öffentlich gegen den Panzerdeal mit Saudi-Arabien gestellt. In einem Interview mit der Tageszeitung erklärte er:

„Ich halte die mögliche Lieferung von Panzern an Saudi-Arabien für eine schlimme Antwort auf die arabische Rebellion. Sie verstößt sowohl gegen die deutschen als auch gegen die europäischen Interessen.“

Ansonsten gibt er sich in dem Interview allerdings sehr wortkarg. Meldungen, dass Burkhard von Braunbehrens nach seiner öffentlichen Distanzierung vom Panzer-Deal mit Saudi-Arabien vom Aufsichtsrat als Mitgesellschafter gefeuert worden sein soll, wollte er weder bestätigten noch dementieren. Erstaunlich zugeknöpft gab sich der Apo-Veteran bei Fragen zu anderen Waffendeals von Krauss-Maffei Wegmann. So wollte er ausdrücklich nicht kritisieren, dass das Unternehmen auch vom Wettrüsten zwischen Griechenland und der Türkei profitiert. In einer Stellungnahme geht der Apo-Veteran allerdings in die Offensive.

„Sie haben in mir eine Person, die die öffentliche Herausforderung annimmt, und die sich und ihr Tun und Lassen im Einklang mit dieser Republik, ihrer Verfassung, ihrer mehrheitlich demokratisch beschlossenen Politik und ihrer Gesetze sieht“, schreibt Braunbehrens, der auf der Internetseite vor einem Panzer aus eigener Produktion steht.

„Ich persönlich bin unbedingt dafür, dass Europa eine eigene Waffenproduktion unterhält, solange es Waffen auf der Welt gibt. Um diese Produktion auf hohem technologischen Niveau aufrecht zu erhalten, ist Export notwendig, weil der heimische und europäische Markt allein zu klein ist.“

In seiner Entgegnung zeigt der durch die Apo sozialisierte von Braunbehrens auch die Problematik einer rein moralisch aufgeladenen Kritik. So kritisiert er, dass in einem Brief die alliierten Bombardierungen deutscher Städte in der Endphase des zweiten Weltkriegs als Argument gegen den Waffenhandel genommen wurden, mit Recht als populistische Argumentation, weil doch gerade der Krieg gegen den NS ein Beispiel für eine historische Situation ist, wo es Schlimmeres als einen Krieg gebe.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/152245

600 Euro teure Unterschrift

Amtsgericht verurteilt Castor-Gegner zu einer Geldstrafe
Allein die Absicht zum »Schottern« ist strafbar. Hermann Theisen kommt sein schriftlicher Widerstand gegen Atommülltransporte teuer zu stehen.

Das Amtsgericht Lüneburg hat am 18. Juni den Heidelberger Anti-AKW-Aktivisten Hermann Theisen zu einer Geldstrafe von 600 Euro verurteilt, weil er die Absichtserklärung »Castor? Schottern! 2010? mit unterzeichnet hatte. Dort hatten ca. 1000 Aktivisten bekundet, zur Verhinderung der Castortransporte in das Wendland Steine aus dem Gleisbett der Bahn entfernen zu wollen. Das Gericht folgte der Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass er damit zur Störung öffentlicher Betriebe aufgerufen habe.
Die Verteidiger von Theisen hatten dagegen argumentiert, dass es während der Castortransporte keinen öffentlichen Bahnverkehr gäbe. Zudem sei die Absichtserklärung kein Aufrufung sondern eine Erklärung zum eigenen Handeln.
Bereits Mitte März war Gotthilf Lorch (nd berichtete) und am 31. Mai Olaf Meyer ebenfalls wegen Aufforderung zu einer Straftat zu Geldstrafen verurteilt worden. Während das Gericht bei Meyer allerdings die Busse in 16 Tagessätze aufgliederte, verhängte das Gericht gegen Theisen 15 Tagessätze. Diese kleine Differenz kann juristische Folgen haben.
Bis zu 15 Tagessätzen kann das Gericht entscheiden, ob es eine Revision zulässt oder wegen Geringfügigkeit ablehnt. Ab 16 Tagessätze ist ein zweites Verfahren zwingend vorgeschriebne, wenn eine der Prozessparteien dies fordert.
Herman Theisen spricht deshalb von juristischen Tricks und will gegen eine mögliche Ablehnung der Revision Rechtsmittel prüfen lassen. Auch politisch gibt sich Theisen kämpferisch.
„Meiner Meinung nach liegt weder ein Aufruf vor, noch stellt Schottern eine Straftat dar. Ich habe mit meiner Unterschrift meinen Widerspruch zur herrschenden Atompolitik öffentlich bekundet. Schottern ist eine Aktionsform unter vielen, dessen Ziel es ist den Castortransport zu verzögern, um den gesellschaftlichen Widerstand gegen die menschenverachtende Atomenergie sichtbar zu machen,“ sagte er unmittelbar nach dem Urteil.
Die Pressesprecherin der Kampagne „Castor? Schottern!“ Hannah Spiegel sieht die Justiz in der Defensive:
„Das Urteil lässt darauf schließen, dass die Justiz einerseits die Prozesse um „Castor? Schottern!“ vom Tisch haben will, da ihnen klar ist, dass sie rechtlich schlechte Karten haben. Andererseits würde aber eine Einstellung oder gar ein Freispruch ihre Hetze gegen „Castor? Schottern!“ als politische Kriminalisierung und Einschüchterung entlarven.“.

Für die große Mehrheit der Unterzeichner wird ihre Unterschrift keine juristischen Folgen haben, betont Spiegel. Allerdings stehen noch gerichtliche Verfahren gegen mehrere Personen an, de Plakate zur Aktion „Castro? Schottern!“ geklebt haben sollen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/
230265.600-euro-teure-unterschrift.html

Peter Nowak