Die Linke: Sozial für Alle?

In Berlin stellte die Linke ihr Wahlprogramm vor, während gerade in Berlin die rosa-rot-grüne Koalition in der ersten schweren Krise ist

Der Vorwahlkampf für die Bundestagswahlen ist schon überall im Gange und die Parteien versuchen, die Spannung aufrecht zu erhalten. So hat die SPD die Verkündung ihrer längst gefällten Entscheidung über die Spitzenkandidatur auch deshalb so lange hinausgeschoben, damit die Medien fleißig darüber rätseln. Die Grünen haben über ihren männlichen Part bei der Spitzenkandidatur sogar in einer Urabstimmung entscheiden lassen, die auch für eine begrenzte Spannung sorgt.

Bei der Linkspartei gibt es ein solches Spannungsmoment nicht, nachdem ein Streit über die Frage, ob ein Spitzenduo oder ein Spitzenteam die Partei in den Wahlkampf führt, mit einem Formelkompromiss beendet wurde. Die durchaus umstrittene Sahra Wagenknecht ist bei dieser Wahl die eindeutige Spitzenkandidatin und Dietmar Bartsch steht in ihrem Schatten. So wollte die Partei mit ihrem Programmparteitag deutlich machen, dass es ihr um Inhalte geht, wo andere einen Personenwahlkampf führen. Doch das Interesse am Programm der Linkspartei ist begrenzt, weil sie ja schließlich auf Bundesebene kaum Machtoptionen hat, um ihr Programm auch nur in Teilen umzusetzen.

Doch mit ihrem Programmparteitag hatte die Linke am vergangenen Wochenende auch noch besonderes Pech. Denn in allen Medien war die Rede von einer ernsten Krise im rosa-rot-grünen Berliner Bündnis, das von manchen in der Linkspartei schließlich als Testlauf für eine ähnliche bundesweite Regierungskonstellation verstanden wurde. Realistische Kräfte in- und außerhalb der Linkspartei sahen hierin eine Überfrachtung.

Doch klar ist, wenn es in Berlin schon nach wenigen Wochen kracht, ist an ein solches Bündnis auf Bundesebene, wo die Streitpunkte vor allem in der Außenpolitik viel größer sind, gar nicht zu denken. Zumal in Berlin der faktische Rausschmiss des Staatssekretärs Andrej Holm auch ganz klar das Signal setzen soll, dass Personen, die dem Kapital vielleicht dadurch gefährlich werden, dass sie nicht etwa eine Revolution anzetteln wollen, sondern schlicht und einfach auch die Investoren zur Einhaltung der Gesetze zwingen wollen, nicht geduldet werden. Holm kannte sich in den Detailfragen, den berühmten Stellschrauben, zu gut aus.

Da war den Kapitalvertretern das Risiko zu groß und Müller wusste natürlich als guter Sozialdemokrat, wo er in einer solchen Auseinandersetzung steht. Schließlich war er noch vor drei Jahren als Senator unter Klaus Wowereit dafür verantwortlich, dass er Mieter in der Berliner Beermannstraße[1], die sich gegen einen Autobahnbau wehrten, mit einem Enteignungsverfahren ihrer Rechte berauben wollte[2]. Das sorgte damals für Empörung, ist aber schon wieder vergessen.

Dass es bei der Entlassung von Holm nicht um seine kurzzeitige Stasimitarbeit und seinen missverständlichen Fragebogen ging, wird auch dadurch deutlich, dass Holm genau in dem Augenblick entlassen wurde, als sich die Aufregung darüber zu legen begann. Dazu haben auch Berichte beigetragen, die feststellen, dass dieser Fragebogen nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprach und daher eine Sanktionierung Holms für seine missverständlichen schon aus formalen Gründen nicht möglich und mittlerweile sowieso verjährt wäre.

Die Entlassung erfolgte also rechtzeitig, bevor die Stasikarte nicht mehr gezogen hätte. Da behielten die Unterstützer Holms Recht[3], die in den Angriffen gegen ihn einen Angriff auf eine Stadtpolitik im Interesse der Mehrheit der Mieter sah. Daher hatten auch hochrangige Nazis nach 1945 keine Schwierigkeiten, wieder in Amt und Würden zu kommen. Sie wurden dem Kapital nicht gefährlich. Einem Hans-Dietrich Genscher hat eine Parteimitgliedschaft der NSDAP sogar noch das Lob eingebracht, dass er sich danach besonders überzeugend zu einem Demokraten gewandelt habe.

Aber zum sozialdemokratischen Politiker Wilhelm Dröscher[4] schreibt seine Biografin[5] über dessen Umgang mit Nazibiographien: Er habe Entnazifizierungsverfahren ablehnend gegenübergestanden. „Hier wollte er nicht mitmachen, sondern lediglich im gegebenen Fall zur Entlastung beitragen. So ging er in der Folgezeit auch mit den vielen kleinen Tätern aus seiner Umgebung durchaus schonend um.“

Bei den erwähnten „kleinen Tätern“ handelt es sich um Menschen, die teilweise an Mord und Folter beteiligt waren. Dass heute einem Andrej Holm eine mehrmonatige Stasimitarbeit nicht verziehen wird, obwohl ihm keine konkrete Spitzeltätigkeit nachgewiesen wurde, vermittelt nur ein Signal. Ein ehemaliger Nazi, der sich auch später für Kapitalinteressen einsetzt, ist tragbar. Ein ehemaliger Stasimitarbeiter, der auch danach kapitalismuskritisch geblieben ist, hingegen nicht.

Für die Linkspartei vermittelt der Fall Holm: Es gibt keine Spielräume, auch nur die kleinsten Reformen umzusetzen, die der Mehrheit der Bevölkerung nutzen. Sie wird höchstens dazu gebraucht, um wie bei der vorigen rosa-roten Regierungskoalition in Berlin den Widerstand gegen Privatisierungen von Wohnungen und Sozialkürzungen klein zu halten.

Daher wissen alle, dass das am Wochenende beschlossene Wahlprogramm samt Finanzierungsvorschlag[6] das Programm einer Oppositionspartei ist. Nur wollte sich die Linke nicht so deutlich positionieren und es lieber allen recht machen. Die Linke wollte weder einen reinen Oppositions- noch einen Regierungswahlkampf führen.

Der Schwerpunkt des Programms ist der Wiederaufbau des Sozialstaats. Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger, der schon als Gewerkschaftler in Stuttgart sozialpolitische Akzente setzte, forderte einen Bruch mit der Austeritätspolitik und der Politik der Sozialkürzungen, die seit mehr als 25 Jahre dominieren. Konsequenterweise fordert die Linke auch eine Rücknahme der Schuldenbremse, womit sich die Politik selber knebelt.

Zudem soll eine Finanztransaktionssteuer von 0,1 Prozent, eine Steuer auf Vermögen ab einer Million Euro von fünf Prozent sowie eine Erhöhung der Körperschafts- und die Reform der Erbschaftssteuer beschlossen werden. So könnte der Staat nach der Rechnung der Linken jährlich 180 Milliarden Euro mehr einnehmen und hätte sogar Geld für Reformen, die den Subalternen nutzen und nicht neue Zumutungen aufherrschen.

Als Gegenmittel zur vieldiskutierten Altersarmut schlägt die Linke eine Rentenversicherung vor, in die alle einzahlen müssen. Damit würde mit der aktuellen Praxis Schluss gemacht, dass Gutverdienende sich der solidarischen Finanzierung des Rentensystems durch den Eintritt in Privatversicherungen entziehen. Der Mindestlohn soll nach den Willen der Linken bei 12 Euro Stundenlohn liegen. Es handelt sich also um ein eindeutig sozialdemokratisches Regierungsprogramm, das den Sozialstaat in den Mittelpunkt stellt.

Das Problem ist nun, dass die Linke nicht eindeutig als Oppositionspartei in den Wahlkampf geht. Damit schürt sie Illusionen, es wären auch nur relevante Teile des Programms durch eine Regierungsbeteiligung möglich. Ob der Fall Holm hier mehr Klarheit über die tatsächlichen Machtverhältnisse bringt, muss sich zeigen. Ein solches Programm könnte eine Orientierung für eine Partei sein, die in engem Kontakt mit einer außerparlamentarischen Bewegung steht, die diese und andere Forderungen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.


Eine solche außerparlamentarische Bewegung ist heute weit und breit nicht zu entdecken. Noch vor einigen Jahren gab es unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“[7] bundesweite Demonstrationen mit mäßiger Teilnahme, die aber ganz eingeschlafen sind. Auch bundesweite Studierendenproteste sind schon seit mehr als 10 Jahren Geschichte. Daher ist schwer vorstellbar, mit wem die Linke ihr Programm durchsetzen will.

Genau darüber aber müsste sie sich Gedanken machen, wenn es mehr sein sollte als ein Wahlprogramm, das bald wieder vergessen ist. Der Aufbau einer außerparlamentarischen Bewegung rund um den Kampf für den Wiederaufbau des Sozialstaats wäre auch eine Antwort auf den Rechtspopulismus, die mehr als Moral oder Antifa-Rhetorik ist. Beides hat im Fall der AfD versagt.

Gerade die Spitzenkandidatin Wagenknecht steht für diese Linie, die AfD beim Kampf um den Sozialstaat zu stellen. Ihre Zielsetzung ist es, Wähler, die einmal die Linke gewählt haben und nun zur AfD gewechselt sind, zurückzuholen. Dabei handelt sie sich Kritik jener ein, die die Linke in einen Pool mit den grünalternativen Freunden einer sogenannten Offenen Gesellschaft bringen wollen.

Mittlerweile gibt es Erklärungen ehemaliger Wähler der Linken, die wegen dieses Kurses von Sahra Wagenknecht dieses Mal der Partei nicht ihre Stimme geben wollten. So schreibt der Publizist Jan Ole Arps[8]:

Anfang Dezember hat die Linkspartei ihre Spitzenkandidat_innen für die Bundestagswahl 2017 gekürt. Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch sind es geworden. Ich gehöre zu den Wählern, die die Linkspartei damit verliert. Sahra Wagenknecht bedient systematisch rassistische Ressentiments in der Bevölkerung, und das nicht erst seit gestern. Kritik prallt an ihr ab…

Jan Ole Arps, Neues Deutschland

So recht er hat, wenn er dieses Konzept als Teil einer ausgrenzenden Politik bezeichnet, die nationalen Sozialstaatsgrenzen eigen sind, so problematisch ist der Betriff des Rassismus, den Arps gleich mehrmals verwendet.

Ein nationalstaatlicher Sozialstaatsgedanke ist eben noch kein Rassismus. Zumal Arps selber schreibt.

Sahra Wagenknecht betont, die Grenzen der Belastbarkeit seien politisch verschiebbar – „etwa durch eine Wohnungspolitik, die bezahlbaren Wohnraum schafft und auch verhindert, dass es Ghettoisierungen gibt, ganze Stadtteile mit Parallelwelten entstehen“. „Parallelgesellschaften“, noch so ein rechter Kampfbegriff.

Jan Ole Arps, Neues Deutschland

Statt dass Arps den Gedankengang von Wagenknecht genauer analysiert und vielleicht auch kritisiert, dass mehr Wohnungen, mehr Soziales, mehr Stellen auf Ämtern für alle Menschen gebraucht werden, damit die Migration gelingen kann, hängt er sich am Begriff der Parallelgesellschaften auf. Der ist allerdings nicht nur ein Kampfbegriff der Rechten, sondern in manchen Stadtteilen durchaus Realität. Es sind auch kritische Rassismusforscher und Sozialarbeiter, die davor warnen, dass durch die Austeritätspolitik, durch den Rückzug des Sozialstaats auch solche Parallelgesellschaften entstehen. Zum rechten Kampfbegriff werden sie erst, wenn die Migranten einseitig dafür verantwortlich gemacht werden. Wenn aber die Austeritätspolitik in den Fokus gerückt wird, die sowohl für Altersarmut als auch für Parallelgesellschaften verantwortlich ist, dann könnte der Begriff auch sinnvoll genutzt werden.

Auffällig ist, dass Arps immer nur von Geflüchteten und nicht von Migranten redet, was die Menschen auch zu Hilfesuchenden macht. In Wirklichkeit war es für die Mehrheit der Migranten die Entscheidung, sich wegen eines besseren Lebens und nicht wegen existentieller Verfolgung auf den Weg zu machen. Das ist durchaus ihr Recht, aber man sollte auch so ehrlich sein, dies nicht zu verschweigen.

Der Sozialaktivist Michael Prütz[9] gab in der Debatte den Gegenpart und verteidigte Wagenknecht teilweise. Er erinnerte an manche in bestimmten linken Biotopen nicht gerne gehörten Fakten:

Was bei diesen Debatten leicht vergessen wird: Ihre Ausstrahlungskraft geht weit über das traditionell linke Milieu hinaus. Wagenknechts Veranstaltungen sind überfüllt und es kommen Menschen, die sich ganz und gar nicht als links verstehen würden.

Michael Prütz

Prütz erinnert daran, dass eine Linke, die eine gesellschaftliche Kraft sein will, genau ihre Nischen verlassen muss. Dabei müsste man aber fragen, ob Wagenknecht die Linke als gesellschaftliche Kraft, als Teil einer Regierung oder einer Opposition sieht. Davon hängt auch ab, wie man ihre Politik beurteilt. Gegenwärtig peilt sie ein Wahlergebnis deutlich im zweistelligen Bereich an. Davon hängt auch ihre weitere politische Zukunft ab.

Wenn sie mit ihrem ehrgeizigen Wahlziel scheitert, wird sich die Kritik an ihrem Kurs verstärken. Für ihren Erfolg kommt die Kritik von inner- und außerhalb der Partei sicher ganz recht. So kann sich Wagenknecht als Politikerin gerieren, die auch Widerständen nicht ausweicht.

https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-Sozial-fuer-Alle-3596836.html

Peter Nowak


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[3] http://www.holmbleibt.de
[4] http://www.wilhelm-droescher.de/vorw.html
[5] http://dietz-verlag.de/isbn/9783801204723/Wer-sagt-dass-Zwiespalt-Schwaeche-sei-Das-Leben-des-jungen-Wilhelm-Droescher-1920-ndash1948-Barbara-Droescher
[6] https://www.die-linke.de/die-linke/wahlen/wahlprogramm-2017/erster-entwurf-des-wahlprogramms-2017/
[7] http://www.heise.de/tp/news/Wir-zahlen-nicht-fuer-Eure-Krise-2021422.html
[8] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037745.eine-linke-mit-sahra-wagenknecht-kann-ich-nicht-waehlen.html
[9] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037755.raus-aus-dem-politischen-exil-mit-sahra-wagenknecht.html