Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor. Mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands ei drücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt. Manche von ihnen wurden in den Büchern von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organi-ierung des Proletariats einsetz- te. So heißt es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: „Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‚genialen Schneider‘ (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.“
Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen gestoßen sind. Inhaltich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schließlich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden. Dabei gehört er zu den wenigen Chronisten der frühen Arbeiterbewegung, deren überhaupt ei- nem größeren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt.
Schon im Klappentext des Buches heißt es über die AutorInnen: „Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozial- staatlichen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchistisch verunglimpft, weil sie nicht in die große Fortschrittsvision passen wollten“.
So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wie- der bekannt gemacht und mit großem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, dass auch für NichtakademikerInnen zu lesen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den Marxistinnen hinterfragen. Gerade, nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war. Dabei geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab genommen, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus obsolet geworden. Es war ein Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysiert haben. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in Wucherern sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.
Die Rückkehr des virtuellen Pauper
Ihm geht es um etwas Anderes, wie er im letzten Kapitel des Bu- ches, das unter dem Titel „Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus“ steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des „virtuellen Paupers“, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginäten zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen Arbeiterbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiterbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des „virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat“. Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel „Die andere Arbeiterbewegung“ veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der Arbeiterklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der Arbeiteraristokratie anwenden. Eiden-Offe zeigt, wie sich auch diese Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms Roman „Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes“ von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen präzise: „Ab jetzt sollte es keine ‚vaterlandslosen Gesellen‘, keine ‚heimatlose Klasse‘ mehr geben, sondern nur noch ‚deut- sche Arbeiter‘, die vaterlands- losen Gesellen‘, die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen: ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen“.
Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum „Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz“ wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. Allerdings zeigte sich in der letzen Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten. Es sind dort sehr viele Frauen aktiv, und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansät- zen diese bunte, gar nicht so heterogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird.
libertäre buchseiten
graswurzelrevolution oktober 2018/432
Peter Nowak