Streit bei den Grünen um Ströbele-Nachfolgerin Canan Bayram

Rechte Grüne machen gegen linke Realpolitikerin mobil – Ein Kommentar

Bei den Grünen ist drei Wochen vor den Bundestagswahlen Panik ausgebrochen. Nicht nur, dass der Partei kein besonders hohes Wahlergebnis prognostiziert wird. Ihr droht sogar ein Status als viert- oder fünfstärkste Partei. Sie könnte von FDP und AFD überflügelt werden.

Nun haben die Grünen sogar mit dem Grundsatz gebrochen, wenigstens vor den Wahlen Geschlossenheit zu simulieren und die innerparteilichen Abrechnungen erst nach dem Wahlsonntag zu beginnen. Es wurden Chat-Protokolle von Parteirechten bekannt, die offen eine ihrer Berliner Spitzenkandidatinnen als unwählbar bezeichnen. Es handelt um die Direktkandidatin im Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg Canan Bayram.

Die Juristin war von der SPD zu den Grünen übergetreten und hatte sich dort am linken Flügel positioniert. Gegen sie intrigiert ihr Rechtsanwaltskollege Volker Ratzmann, der in den 1990er Jahren noch den Ruf als linker Anwalt hatte und auch in linken Zentren auftrat. Er hat sich bald als rechter Realpolitiker bei den Grünen bekannt gemacht und seinen Wirkungskreis nicht ganz freiwillig nach Baden-Württemberg verlegt, wo er seinem Vorbild Kretschmann nahe ist. Von dort hat er Bayram für nicht wählbar erklärt, weil sie zu eng mit der außerparlamentarischen Linken verbunden sei, und befeuert eine Debatte, die von rechten Medien schon längst in Gang gesetzt worden war und auch von der AfD aufgegriffen wurde.

Dass es bei den Streit nicht nur um Querelen eines in Berlin im parteiinternen Machtkampf unterlegenen Konkurrenten handelt, zeigte die Reaktion der Grünen zum Wahlplakat unter dem Motto „Die Häuser denen, die darin wohnen“, das nur im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg geklebt wurde. In einer Klarstellung betonte der Bundesvorstand der Grünen, dass er mit dem Plakat nichts zu tun haben und dass es missverständlich sei. Danach stellen sie noch einmal ihr gemäßigtes Mieterprogramm vor, das so auch von der Bezirksgruppe Kreuzberg/Friedrichshain unterstützt wird. Nur wissen die Stadtteilaktivisten, dass die Parole dort altbekannt ist und dass man damit auch noch Stimmen von links bekommt, die sie auch für Realpolitik brauchen. Doch darauf scheinen die Parteirechten immer weniger Rücksicht nehmen zu wollen.

Der linke Realpolitiker Ströbele und die Parteirechte

Sie wollen endlich das Vermächtnis eines Politikers entsorgen, der Vorbild für die gescholtene Bayram ist, wie sie auf dem Plakat sehr deutlich macht. Es ist der Grüne der ersten Stunde Hans-Christian Ströbele, der den Wahlkreis dreimal direkt gewonnen hat und aus Altersgründen nicht mehr kandidiert. Der Erfolg war ihm nur gelungen, weil er erfolgreich den Eindruck erweckte, eine Stimme für ihn sei nicht eine Zustimmung zum Kurs der Grünen insgesamt. So gab sich Ströbele als moderater Kritiker von Militäreinsätzen, die von den Grünen gebilligt wurden, und auch zur Agenda 2010 hatte er ein kritisches Verhältnis.

Doch die Partei wusste, was sie an ihrem lautesten internen Kritiker hatte. Schließlich mussten seine Wähler die Grünen wählen und Ströbele war in der Praxis immer Realpolitiker. An ihm platzte kein Regierungsbündnis, wenn es darauf ankam. Denn so klar sich Ströbele auch persönlich gegen Militäreinsätze wandte, die Regierungsfähigkeit seiner Partei hätte er dabei nie bedroht. Und wenn Ströbele, der mehrere RAF-Mitglieder verteidigte, bis heute die Todesumstände der RAF-Gründer am 18.10.1977 für ungeklärt hält, solange die Aufnahmen aus dem Isolationstrakt nicht freigegeben sind, sich als Kritiker gerierte, war er gleichzeitig derjenige, der einige wenige Linke noch an die Grünen binden konnte.

Wenn man so will, war Ströbele ein linker Realpolitiker, während die Parteirechte zu Unrecht mit diesem Begriff bezeichnet werden. Seit dem Austritt der Parteilinken wie Jutta Ditfurth und Thomas Ebermann vor mehr als 25 Jahren gibt es nur noch Realpolitiker bei den Grünen. Der Unterschied ist nur, dass der eine Flügel ein sogenanntes Reformlager mit der SPD und unter Umständen auch mit der Linkspartei bilden will, während die Parteirechte das historische Bündnis mit der Union wagen will. Politiker, die eine Regierungsbeteiligung mit welcher der beiden Variationen grundsätzlich ablehnen, spielen seit 25 Jahren bei den Grünen keine Rolle mehr.

Ströbele konnte deshalb einen Reim verbreiten lassen, nachdem seine Wahl Fischer quält. Solange er im entscheidenden Moment Fischer nicht die Stimme entzog, wurde das unter Wahlrhetorik abgebucht. Doch seiner Nachfolgerin will man den leicht abgewandelten Spruch „Bayram wählen, heißt Investoren quälen“ nicht durchgehen lassen. Denn die politische Gemengelage hat sich auch für die Grünen verändert. Da wird vermutet, dass die Union schon im Vorfeld abgeschreckt ist und schließlich sei auch nicht garantiert, dass Bayram als direkt gewählte Kandidatin einen Pakt mit der Union ihre Zustimmung geben würde. Da will man sie lieber scheitern sehen und zieht die Parteirechte Renate Künast vor, mit der es in dieser Beziehung keine Probleme geben wird. Sie hat schon mehrere Wahlen verloren und könnte wegen der Besonderheiten des Wahlgesetzes leer ausgehen, wenn Bayram ein Direktmandat gewinnt.

Wer sich vom grünen Sarrazin Boris Palmer nicht distanziert, soll zu Sahra Wagenkecht schweigen

Mit der Stabilisierung der Linkspartei war für die linken Realpolitiker bei den Grünen eine Alternative entstanden, wenn sie nicht die linke Flankendeckung für eine rechte Parteiführung geben wollten. Deswegen musste die Parteirechte, die die Führung bei den Grünen innehat, sich besonders deutlich von den Linken distanzieren und deren zentrale Politikerin Sahra Wagenknecht in die rechte Ecke stellen.

Dabei überschreiten ihre Aussagen zur Flüchtlingspolitik an kaum einer Stelle die aktuelle Regierungspolitik, die in den Bundesländern von den Grünen, in Baden-Württemberg sogar an exponierter Stelle, mitgestaltet werden. Interessanter ist noch, dass einige der Wagenknecht-Kritiker keinen Anstoß an Boris Palmer nehmen, den grünen Tübinger Bürgermeister, der sich mit seinen ständigen Interventionen für eine Flüchtlingspolitik im Interesse Deutschlands längst den Ruf als grüner Sarazzin erworben hat.

Wer sich davon parteiintern nicht distanziert, soll auch zu Wagenknechts Positionen in der Flüchtlingspolitik schweigen. Es ist interessant, dass der Inland-Redakteur der Taz, Martin Reeh, der oft und meistens mit Recht Wagenknecht kritisiert, richtig erkannt hat, warum die SPD Wagenknecht in die rechte Ecke zu stellen versucht.

Wagenknecht erscheint den Sozialdemokraten wie der Rächer aus dem Horrorfilm „I know what you did last summer“, wenn sie immer wieder erwähnt, dass es die SPD war, die Hartz IV und Rentenkürzungen durchgesetzt hat. Sie konterkariert den SPD-Gerechtigkeitswahlkampf, an dessen Spitze mit Schulz, Scholz und Heil Personen stehen, die den Sozialabbau zu Schröder-Zeiten durchgewinkt haben … Die SPD will eine Linkspartei, die so zahm ist, dass sie überflüssig wird. Weil Wagenknecht dem im Weg steht, wird sie als Populistin angegriffen.

Martin Reeh
Diese Einschätzung ist sehr präzise. Gilt aber auch für die Grünen. Wenn selbst die zum linken Flügel der Grünen zählende Europapolitikerin der Grünen Ska Keller das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Umverteilung von Migranten innerhalb der EU als Meilenstein lobt, ohne zu erwähnen, dass es impliziert, dass diese Menschen gegen ihren Willen in Länder gebracht werden soll, die sie nicht wollen und wo sie nicht hinwollen, ihnen also das Recht auf Bewegungsfreiheit genommen wird, dann ist das genau so der Realpolitik und nicht den Interessen der Migranten geschuldet wie kritisierbare Auslassen von Wagenknecht.

Es ist bezeichnend, dass Bayram parteiintern vorgeworfen wird, dem grünen Sarrazin Palmer auf einem Parteitag geraten hat, er solle mal den Mund halten. Dass dieselben Politiker Wagenknecht gegenüber von Palmer noch moderaten Äußerungen in die Nähe der AfD rücken, ist einfach Wahlkampf.

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Peter Nowak
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[1] http://www.tagesspiegel.de/berlin/vor-der-bundestagswahl-gruenen-fluegel-zoffen-sich-im-wahlkampf/20286562.html
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[5] http://www.bz-berlin.de/berlin/verbot-linksunten-indymedia-warum-solidarisiert-sich-gruenen-abgeordnete-bayram-mit-linksextremisten
[6] http://www.sueddeutsche.de/news/politik/extremismus—berlin-gruenen-politikerin-fuer-linksuntenindymedia-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-170828-99-812500
[7] https://www.facebook.com/GrueneXhain/posts/1435680813182284
[8] http://bayram-gruene.de/
[9] http://www.stroebele-online.de/
[10] http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-11956/christian-stroebele-stroebele-waehlen-fischer-quaelen_aid_336012.html
[11] https://www.renate-kuenast.de/
[12] http://www.borispalmer.de/
[13] http://www.tuebingen.de/palmer
[14] http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.buendnis-90-die-gruenen-palmer-eckt-mit-fluechtlings-buch-an.4945e41f-15f8-471d-b4cd-8982679f89ef.html
[15] http://www.taz.de/!5440586/
[16] http://www.skakeller.de
[17] http://www.skakeller.de/themen/migration-und-flucht/eugh-urteil-zur-umverteilung-von-fluechtlingen-meilenstein-fuer-eu-fluechtlingspolitik.html
[18] http://www.focus.de/politik/deutschland/parteitag-in-nach-fresse-halten-attacke-tuebingens-ob-boris-palmer-knoepft-sich-gruene-vor_id_7254676.html