Raus aus dem Hamsterrad!


Die Gruppe Haus Bartleby predigt den Abschied vom Arbeitswahn – doch auch Müßiggang macht Mühe

Mit der Absageagentur machte das Haus Bartleby Furore. Zwischen 2010 und 2012 eröffnete die Gruppe in verschiedenen Städten Büros, in denen Interessierte den Personalbüros nicht etwa ihre besonderen Qualifikationen anpriesen. »Wir bieten Ihnen einen effizienten Service, wenn es darum geht, problematische Stellenangebote zu erkennen und dauerhafte Lösungen zu finden«, so bewarb die ungewöhnliche Einrichtung ihre Dienste. Die Kunden der Absageagentur teilten verschiedenen Personalbüros mit, warum sie eine miese Stelle lieber nicht antreten wollten.

»Ich möchte lieber nicht« wurde zum Leitmotiv des Haus Bartleby, einer Assoziation junger Wissenschaftler, Künstler und Autoren. Als Namensgeber hatten sie sich einen Romanhelden des US-Schriftstellers Hermann Melville ausgesucht. Der Held seiner Erzählung »Bartleby, der Schreiber« hat jahrelang unauffällig als Rechtsanwaltsgehilfe gearbeitet, bis er alle Tätigkeiten mit einem schlichten Satz ablehnte: »I would prefer not«. Der Satz kann mit »ich möchte lieber nicht« oder schlicht und prägnant mit »nein danke« übersetzt werden.

Es ist ein gutes Motto für eine Generation hochqualifizierter, prekärer Wissensproduzenten, die sich nicht mehr meistbietend verkaufen wollten. »Viele von uns waren KarrieristInnen, oder zumindest Leute, die mit den vielbeschworenen ›Chancen‹ ausgerüstet sind, die bei Anpassung ans Konkurrenzsystem ein Leben im Wohlstand der 20-Prozent-Gesellschaft ermöglichen würden«, beschreibt Alix Faßmann vom Haus Bartleby ihre Klientel. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie »Sag alles ab – Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik«. In dem Band fordern KünsterInnen und PublizistInnen die Absage an die »Ideologie des Arbeitswahns« und die »Rückeroberung der eigenen Besinnung« (Martin Nevoigt). Stattdessen möge man den Müßiggang, die Eleganz und die Liebe pflegen. »Hamster, halte das Rad an«, fordert das Herausgeberkollektiv.

»Linkssein ist heute die totale Karriereverweigerung«, dieses Motto fand Anklang bei vielen Prekären, die sich im Alltag ganz pragmatisch ihren Weg durch den Projekte- dschungel bahnen mussten.

Mit den Niederungen der Projektfinanzierung machten auch die Mitstreiter von Haus Bartleby Erfahrungen. »Die Arbeit von Parteistiftungen, die so schillernde Namen wie Rosa Luxemburg und Heinrich Böll tragen, hat sich leider weitgehend als dysfunktional erwiesen, was uns im größeren Maßstab nicht überrascht, jedoch uns persönlich vor Probleme in diesem Jahr stellt«, erklärt der Soziologe und Mitbegründer des Haus Bartleby Hendrik Sodenkamp gegenüber »nd«.

Das Kapitalismustribunal war das größte Projekt des Haus Bartleby. Die genannten Stiftungen hatten, so Sodenkamp, den ersten Teil des Spektakels finanziell unterstützt. Zwischen 1. und 12. Mai 2016 wurden in Wien rund 400 Anklagen aus aller Welt gegen das derzeitige ökonomische System und die Gesetze, die es tragen, verlesen und verhandelt. Dutzende bekannte Wissenschaftler nahmen an der – nach Manier einer Gerichtsverhandlung gestalteten – Performance teil, die Weltöffentlichkeit konnte dem mitunter etwas ermüdenden Verfahren zusehen.

Für die Fortführung des Tribunals gab es allerdings keine Anschlussförderung durch die Stiftungen mehr. Die Pressesprecherin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Jannine Hamilton wollte sich gegenüber »nd« im Detail nicht dazu äußern. »Die Förderung eines Projektes in einem Jahr begründet keinen Automatismus für die weitere Förderung im Folgejahr. Auch beim ›Kapitalismustribunal‹ gab es zu keiner Zeit eine Zusage zur Fortführung an die AntragstellerInnen«, betont Hamilton.

Nun wollen die Aktiven des Haus Bartleby neue Sponsoren für den zweiten Teil des Kapitalismustribunals finden. Zwischen Oktober 2017 und Juni 2018 sollen in sieben öffentlichen Verhandlungen im Berliner Haus der Demokratie exemplarisch 28 Anklagen präsentiert werden. Der Ablauf ist bereits minuziös vorgeplant: Zu jedem Generalfall werden von einem Experten der Kapitalismusanklage Beweise in Form von Urkunden präsentiert. Im Anschluss hat die Verteidigung zehn Minuten, um darauf zu reagieren. Später soll dann in einem Wiener Theater das Urteil über den Kapitalismus gesprochen werden.

Die filmische Dokumentation des Wiener Auftakttribunals wurde in einer eben zu Ende gegangen Ausstellung im Kulturverein Neukölln gezeigt und kann beim Videoportal Youtube betrachtet werden. Ein Großteil der Anklagen blieb leider recht abstrakt. So verklagte ein Antragssteller den Kapitalismus, weil er ihm durch den Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, die Lebenszeit stehle. Ein anderer Kläger beschuldigte die Banken und die Geldwirtschaft des Verbrechens.

Das Haus Bartleby ist jetzt einmal wieder sehr praktisch mit den alltäglichen Sorgen im Kapitalismus konfrontiert. Es musste seine Arbeitsräume in Berlin-Neukölln aufgeben, weil die Miete zu teuer geworden ist.

Haus Bartleby (Hg.), Sag alles ab! – Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik, Nautilus, broschiert, illustriert,

160 Seiten

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1047107.raus-aus-dem-hamsterrad.html

Peter Nowak

Klassenkampf ist nicht passé

AGIT-KINO Neue Filmreihe widmet sich hiesigen Arbeitskämpfen, etwa an den Universitäten

Der Name der neuen Filmreihe ist Programm: „Cinéma Klassenkampf“ widmet sich aktuellen Arbeitskämpfen in Berlin. Bei der Auftaktveranstaltung an diesem Montag geht es um die hiesigen Hochschulen. Der Film „Ausbeutung an der TU-Berlin“ (17 Min, BRD 2016) lässt zwei Forscherinnen zu Wort kommen, die sich bei einem Arbeitseinsatz in Uruguay gegen gesundheitsgefährdende Bedingungen wehren wollen sowie gegen eine Projektleitung, die permanent Überstunden verlangt. Doch sie finden kein Gehör und werden als Querulantinnen abgestempelt und isoliert. Zurück in Berlin, wenden sie sich an die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU), und eine lange Auseinandersetzung beginnt. „Seit 2011 sammeln wir Filme aus der ArbeiterInnenbewegung und stellen sie auf der Seite labournet.tv kostenlos und mit Untertiteln zur Verfügung“, erklärt die Mitbegründerin Bärbel Schönafinger vom Kollektiv labournet. tv der taz. Mit der Veranstaltungsreihe wolle man neue Fördermitglieder für labournet.tv gewinnen, da dessen Finanzierung nur noch bis zum Jahresende gesichert sei. Nach den Filmen soll es Diskussionen geben: so am heutigen Montag über Organisationsversuche im prekären Wissenschaftsbereich unter anderem mit der FAU, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der kürzlich gegründeten Hochschulgewerkschaft unter_bau aus Frankfurt am Main.

Aktive kommen zu Wort

In den nächsten Monaten sollen Film- und Diskussionsveranstaltungen unter anderem zum Arbeitskampf an der Charité sowie zu Organisierungsansätzen im Niedriglohnsektor Gastronomie und bei den Kurierdiensten in Berlin folgen. Auch ein Rückblick auf die Bewegung „Nuit Debout“, die für einige Wochen im vorigen Jahr von Frankreich ausgehend auch hier für Aufsehen sorgte, ist in Vorbereitung. „Zu den Veranstaltungen wollen wir immer Menschen einladen, die aktiv an den Kämpfen beteiligt waren“, so Schönafinger. „Doch ich wünsche mir vor allem, dass die Filmreihe ZuschauerInnen ermutigt, sich anihren Arbeitsplätzen nicht alles gefallen zu lassen.

Peter Nowak

aus Taz:

■■6. März, 19 Uhr, Kino Moviemento,

»Wir erlauben uns die Freiheit…«

– Neuer Film mit Originaldokumenten aus der Zeit der Autonomia“  in Italien

„Ich habe diesen Film gemacht, damit die ArbeiterInnen, die die Kämpfe führten,  nicht vergessen werden“, erklärte Pietro  Perroti bescheiden nach einer besonderen Filmpremier, auf der  über 300 Menschen in Berlin ein besonderes Dokument der  ArbeiterInnenbewegung gesehen haben. „Wir brauchen keine Erlaubnis“, lautet der programmatische Titel eines Films, der eine subjektive Geschichte der bewegen Jahre der ArbeiterInnenautonomie in den Jahren 1969 bis 1980  bei Fiat in Turin zum Thema hat.  Ohne Pietro Perroti wäre der Film nicht entstanden.  Als junger Arbeiter zieht er wie viele von Süditalien nach Turin, um bei Fiat zu arbeiten. Wie viele seiner KollegInnen wird er dort politisch aktiv und  kommt bald nicht nur mit dem Fabrikmanagement, sondern auch mit den klassischen Gewerkschaften in Konflikt, die die ArbeiterInnen vertreten wollen und mit  dem Engagement und dem Selbstvertrauen der jungen ArbeiterInnen wenig anfangen können. Denn diese wollten  sich keine Erlaubnis einholen, wenn sie aktiv werden wollen, weder vom Boss, noch von den VorarbeiterInnen noch von der Gewerkschaftsbürokratie.  So begann ab 1969 ein Jahrzehnt der Streiks, Besetzungen und Kämpfe, die Perroti mit einer kleinen Kamera  dokumentierte.
Dieses  wichtige Zeugnis  eines ArbeiteInnenaktivismus , an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, wurde nun auf Deutsch untertitelt.    Viele  der Beschäftigten kamen wie Perroti aus Sizilien   und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes bei FIAT in Konflikt. „Immer wieder wurden Kollegen  beim Verlassen der Fabrik von Aufsehen kontrolliert, nur die Haare zu lang schienen. Überall  waren Zäune wie im Gefängnis, “ erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol eines von starken Arbeiterfäusten auseinandergedrückten Zauns war häufig zu sehen.  Perroti dokumentiert  den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in der Defensive waren und  Zugeständnisse machen mussten. Deutlich wird aber auch die politische Breite, die nicht konfliktfrei war. Während UnterstützerInnen der  sich damals schon staatstragend gebenden Kommunistischen Partei ihren Vorsitzenden bei einer Rede zu jubelnden, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. .  Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war          ein von ihnen gesponserter Marsch der sogenannten „Schweigenden Mehrheit“. Mit italienischer Flagge vorneweg  demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier wurde  die historische Niederlag der Turiner ArbeiterInnenaktivisten   besiegelt.  Viele der Beteiligten  wollten mit Politik nichts mehr zu tun haben Doch Perroti distanziert sich nicht von den Utopien und Idealen, die die Bewegung prägte.  Das war auch der Grund, warum  er die Aufnahmen, die jahrelang im Schrank lagen, doch noch zu einem Film verarbeitete. Das wäre ohne die Unterstützung  des Istoreco Institut Reggio Emilia nicht möglich gewesen. Er zeigt auch, welche  künstlerischen Mittel die ArbeiterInnen bei ihren Aktionen einsetzen. So wurden auf Demonstrationen große Gummipuppen getragen, die die Fiat-Chefs darstellen und karikieren sollten. Später verlagerte sich der Protest auch an die Toilettenwände. Einige der frechen Sprüche gegen Management, VorarbeiterInnen und später auch StreikbrecherInnen werden im Film gezeigt.  Der Film ist aber nicht nur von  historischem Interesse. In der Diskussion nach der Berliner Premiere erinnerte ein Zuschauer  auf die aktuellen Arbeitskämpfe im Logistiksektor Norditaliens.
Peter Nowak

Wir brauchen keine Erlaubnis, von Pietro Peretti und Pier Milanese, Original mit deutschen Untertieln, 87 Minuten

Informationen und Bezug über: htpps://senzachiederepermesso.org/ Email: WirbrauchenkeineErlaubnis@gmx.de

http://www.labournet.de/express/

express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Ausgabe: Heft 01-02/2017


Dresdner Opfermythos trifft auf Installation eines syrischen Künstlers

"Das Monument" und viele Fragen, u.a.: Welche symbolische Botschaft geht von einer von Islamisten gegen eine repressive laizistische Regierung verteidigten Barrikade aus?

Vor dem Jahrestag zur Bombardierung Dresden marschieren die Rechten wieder in der sächsischen Stadt auf. Die Mobilisierung der Gegner[1] ist in diesem Jahr allerdings schwächer als im letzten Jahr. Das dürfte auch darin liegen, dass die Nazigegner mit den allwöchentlichen Pegida-Aufmärschen ständig zu tun haben.

„Dresdner Opfermythos trifft auf Installation eines syrischen Künstlers“ weiterlesen

»Wir brauchen keine Erlaubnis«

Pietro Perroti schmuggelte eine Kamera in das FIAT-Werk in Turin und dokumentierte das »rote Jahrzehnt« bei dem Autohersteller

Im August 1969 konnte man in einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« lesen: »Nach langen Jahren paradiesischen Arbeitsfriedens brach bei Italiens größtem Automobilkonzern, Fiat in Turin, der Krieg aus. Die ›Chinesen‹, so nennt die italienische Presse die Aufrührer, hatten im Frühjahr den Krieg angezettelt. Im Grunde ist es eine Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus chinesischer Prägung.«

Der Autor beschrieb damit den Beginn eines Jahrzehnts der Arbeitskämpfe im norditialienischen FIAT-Werk. Die Auseinandersetzung wurde von den Linken in Westeuropa mit großer Sympathie verfolgt. Ging es doch bei den FIAT-Kämpfen nicht nur um mehr Lohn, sondern auch um die Mitsprache der Arbeiter im Betrieb und ihr Recht, Versammlungen abzuhalten.

»Wir wussten, dass uns keine Gewerkschaft und keine Partei rettet, sondern dass die Arbeiter selber für ihre Rechte kämpfen müssen«, beschreibt Pietro Perroti die damalige Stimmung bei FIAT. Am Dienstag kam der ehemalige Arbeiter zur Deutschlandpremiere des Films »Wir brauchen keine Erlaubnis« nach Berlin.

Perroti ist Protagonist des Films. Als junger Arbeiter zog er nach Turin, um bei FIAT zu arbeiten und politisch aktiv zu werden. Er kaufte sich eine kleine Kamera, die er in die Fabrik schmuggelte, um dort den Arbeitsalltag in Bild und Ton festzuhalten. Dieses wichtige Zeugnis der Arbeitermilitanz, an der sich Zehntausende über Jahre beteiligten, ist nun mit Untertiteln auch in Deutschland zu sehen.

Viele der FIAT-Beschäftigten kamen damals wie Perroti aus Sizilien und gerieten mit den Normen des rigiden Fabrikregimes in Konflikt. »Immer wieder wurden Kollegen beim Verlassen der Fabrik von Aufsehern kontrolliert, nur, weil die Haare zu lang schienen. Überall waren Zäune wie im Gefängnis«, erinnert sich Perroti. Das von ihm kreierte Symbol – ein von starken Arbeiterfäusten auseinander gedrückter Zaun – war häufig zu sehen. Perroti dokumentierte den Aufschwung der Bewegung, als die Bosse in die Defensive gerieten und Zugeständnisse machen mussten.

Deutlich wird aber auch die politische Vielfalt der Kämpfenden, die nicht konfliktfrei blieb. Während Unterstützer der Kommunistischen Partei, die sich schon damals sehr staatstragend gab, ihren Vorsitzenden bei einer Rede zujubelten, setzten viele linke Gruppen auf die Selbstorganisation. Auch eine Fabrikguerilla, die militante Aktionen durchführte, hatte in der Fabrik Unterstützer.

Ende der 1970er Jahre schlugen Staat und Konzernleitung zurück. Während die Justiz zunehmend auch gewerkschaftliche Kämpfe verfolgte, wollte das FIAT-Management mit Massenentlassungen die Ordnung im Betrieb wieder herstellen. Höhepunkt war ein von ihnen gesponserter Marsch der »Schweigenden Mehrheit«. Mit italienischer Flagge vorneweg demonstrierten sie für das Ende der Arbeitskämpfe. Hier zeichnete sich die historische Niederlage der Turiner Arbeiteraktivisten ab. »Ich habe diesen Film gemacht, damit die Arbeiter, die die Kämpfe führten, nicht vergessen werden«, erklärte Perroti. Der Film hat jedoch nicht allein historischen Wert: Im Logistiksektor in Norditalien werden auch aktuelle Kämpfe von beiden Seiten mit großer Härte geführt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1039141.wir-brauchen-keine-erlaubnis.html

Peter Nowak

Digitale Selbstüberwachung

Self-Tracking ist zu einem schnell wachsenden Trend geworden.Immer mehr Menschen überwachen mittels tragbarer digitaler Geräte minutiös ihren Lebenswandel – und das freiwillig.

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: «Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 10 000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 15 000.» Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Schritte und die Demoroute genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er an der Demo verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen erfassungsämtern ungeahndete Überwachungsöglichkeiten offenlegen. Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Buch mit dem Titel «Digitale Selbstüberwachung – Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus» dieses Phänomen eingeordnet, in die Bemühungen, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.

Den Feind in Dir bekämpfen

«Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Joggingrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.» Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters «Runtastic» Selbstbezichtigungen dieser Art: «Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spass und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.» Auch Diätprogramme werben mit dem Grundsatz, dass mit eisernen Willen alles zu schaffen ist . Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Sehr überzeugend hat Schupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus für die Bezeichnung der aktuellen Rgulationsphase eingeführt, der anders griffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertungslogik dominiert. Schaupp bezeichnet Self-Tracking als «Teil einer kapitalistischen Landnahme, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und dann als Ware zu verkaufen». Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ «Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles» so verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür sorgen, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten, werden aber nie ganz verschwinden. Die Situation ist vergleichbar mit einer Grossdemonstration, bei der die eigenen OrdnerInnen für Ruhe und Ordnung sorgen. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn man es doch nicht mehr als so an genehm empfindet, immer und überall kapitelgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von aussen. Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. «RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält, über ihre wertvollste Ressource», heisst es auf der Webseite der Zeitmanagement-Software. Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet, tatsächlich handelt es sich aber um eine sehr ein seitige Form der Transparenz. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immerhin wenigstens noch einige Nischen, in denen sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.

Self-Tracking per Rezept

Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Grossbritannien Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, ihren PatientInnen Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, «damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verntwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen». Krankenkassen belohnen besonders eifrige Self-TrackerInnen mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission hofft, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen. Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, die Kybernetik im emanzipatorischen Sinne verwendet werden könnte. Eine Antwort gibt er nicht. Er hätte die Frage mit Blick auf ein historisches Beispiel bejahen können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte. Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und grossen Teilen der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die «Unidad Popular»-Regierung beendete den Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Im Hier und Jetzt drängt sich nach der Lektüre von Schaupps empfehlenswerten Buch eine andere Frage auf: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?

Peter Nowak

vorwärts – 23. Dez. 2016

SIMON SCHAUPP: DIGITALE SELBSTÜBERWACHUNG – SELF-TRACKING IM KYBERNETISCHEN KAPITALISMUS. VERLAG GRASWURZEL-REVOLUTION, HEIDELBERG 2016. 14,90 EURO

Der Artikel ist auf Schattenblick dokumentiert:

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1252.html

Humor eint Polizei und Autonome

Kurt Jotter will die Mieterbewegung durch Spaßguerilla-Aktionen unterstützen

»Das Lachen im Halse« lautete der Titel einer Ausstellung mit Plakaten von Ihnen im Kreuzbergmuseum. Welche Rolle spielt Humor Ihrer Arbeit?

Der spielt sicher eine große, weil übergreifende Rolle, wenn man als Multi-Media- und Aktionskünstler arbeitet, der zwischen Performance, Plakatkunst, Video, Theater und Event-Gestaltung wechselt. Ich suche zu den jeweiligen politischen, wie gesellschaftlichen Themen die passenden Formen und Kombinationen heraus. Ich sehe die Aktionen als Real-Montage im Öffentlichen Raum – als theatralische Inszenierung mit Biss und oft auch mit Satire. Das Lachen soll im Halse stecken bleiben und dadurch entsteht der Anreiz, sich mit der Sache zu befassen. Es geht auch darum, unter den Akteuren ein Gefühl der Befreiung und Erhabenheit zu erzeugen, ganz im Sinne zweier meiner Vorbilder John Heartfield und Dario Fo: »Es wird ein Lachen sein, dass sie beerdigt.«

Haben Sie auch Bekanntschaft mit der Linken oft vorgeworfenen Humorlosigkeit gemacht?

Wir agierten Mitte der 70er bereits in der damals schnell wachsenden Alternativbewegung, die sich von der Realitätsferne und Humorlosigkeit der K-Gruppen-Bewegung abgestoßen fühlte. Mit unserer künstlerischen Arbeit schufen wir andere Formen der Auseinandersetzung. Für uns gab es die Trennung in Kunst und Politik nicht. Gemeinsam mit der 2014 tragischerweise verstorbenen Kulturwissenschaftlerin Barbara Petersen gründete ich 1977 die Künstlergruppe »Foto, Design, Grafik, Öffentlichkeit« ( FDGÖ). Der Name und das Logo spielten auf die viel zitierte freiheitlich-demokratische Grundordnung und Berufsverbote an. Aber wir haben auch Aktionen ganz ohne Humor in packenden Bildern gezeigt. Beispielsweise »Schaut auf diese blutenden, leidenden TV-Geräte!« zum Golfkrieg vor der Berlinale-Eröffnung. Ein Turm mit blutgefüllten Fernsehern wurde umgestoßen, die Geräte von Sanitätern verbunden und anschließend auf Bahren vom Feld getragen – eine Metapher auf die damalige Kriegs-Berichterstattung in der Manie von Videospielen.

Mit dem 1987 gegründeten Büro für ungewöhnliche Maßnahmen bekamen Sie Preise und viele Berichte in den Medien. Was waren die Höhepunkt Ihrer Arbeit?

Da gab es am 11. Juni 1987 unsere Startaktion »Der Mauerbau auf der Kottbusser Brücke« zur Abriegelung von Kreuzberg während des Reagan-Besuchs. Auch die B750-Parade mit 3000 teilnehmenden Parodisten aus der gesamten politischen Szene als Abgesang auf die 750Jahr-Feiern war eine vielbejubelte Aktion. Danach kamen unsere Aktionen zum IWF 1988 in Berlin. Einen persönlichen Höhepunkt habe ich dann bei meinem Comeback vor drei Jahren erlebt, als ich in Realmontage einer Merkel-Performance zwei Großdemos besucht habe. Es war das bislang erhebendste Gefühl, hinter einer Maske durch zwei kleine Schlitze zusehen zu dürfen, wie sich 50 000 Demonstranten vor Lachen biegen. Der Mauerbau und »Merkel goes to demo« sind auch auf YouTube zu sehen.

Hat denn die Polizei Ihren Humor verstanden?

Ich bekam wegen dem Anti-Kreuzberger-Schutzwall eine Anzeige wegen einer nichtgenehmigten Demonstration. Der zuständige Einsatzleiter der Polizei sprach sich für einen Freispruch aus und hat sich dann oft für den Dienst bei unseren Aktionen einteilen lassen. Wir gehörten zu den einzigen, die gleichzeitig bei weiten Teilen der Autonomen und der Polizei beliebt waren. Der Humor scheint also beiden Seiten gemeinsam zu sein.

Aber es kam doch auch zu Festnahmen. War da nicht Schluss mit lustig?

Nein, Schluss war da nie. Bei meiner Solo-Aktion als lebende Karikatur auf Jörg Haider beispielsweise, der live – nur mit braunem Mantel, transparenter Strumpfhose und mit Blauem FPÖ-Schal bekleidet – als Exhibitionist mit einem dicken Hakenkreuz vorm Geschlechtsteil im öffentlichen Salzburger Raum seinen Salon-Faschismus demonstrieren durfte – bis zur Festnahme. Man lotet vorher aus, wo rechtliches Unheil droht und reizt das dann aus. Da ist dann die Berufung auf die Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit auch ein wichtiges Mittel. Also kann eine Festnahme sogar die Fortsetzung der Kunstaktion sein.

Was bedeutete der Fall der Berliner Mauer für Ihre Arbeit?

Wir weiteten unser Aktionsfeld sofort auf Ostberlin aus und nahmen Kontakt mit den oppositionellen Gruppen und den Kunststudenten aus Weißensee auf, die sich ja schon sehr kreativ auf der ersten DDR-Großdemo zeigten. Wir organisierten das Alternativen-Festival »Alles Gute wächst von Unten« und wehrten uns mit vielen aus den Kulturbereichen gegen den »Anschluss«. Wir waren mehr für eine gleichberechtigte Fusion auf Basis des Runden Tisches und gegen ein »Unheilbares Deutschland«, wie eine unserer Aktionen hieß.

Aktuell sind Sie vor allem in Mieten- und stadtpolitischen Berliner Initiativen aktiv. Wie lassen sich dort ihre Grundsätze und Vorgehensweise – auch im Zuge der aktuellen Vereinigungsprozesse der Initiativen – umsetzen?

Der Grundsatz einer gleichberechtigten Fusion gilt für alle, die nicht möchten, dass andere bei solchen Prozessen über den Tisch gezogen werden. Wir haben mit dem Hearing bereits einen Prozess eingeleitet, bei dem alle gleichberechtigt ihre Anliegen präsentieren konnten. Hierin hat uns gerade Andrej Holm sehr unterstützt. Deshalb kämpfen wir alle darum, dass er beim Senat unser Ansprech-Partner ist und bleibt. Soviel Vertrauen muss sein – von allen Seiten! Aber es ist auch das Vertrauen in ein »Gemeinsam statt Einsam« und ein Neues Wir-Gefühl, das altes Grabenkämpfen und Vormacht-Denken beiseite schiebt. »Wir müssen als verantwortlich handelnder, wichtiger Teil der Stadtpolitik wahr und ernst genommen werden. Das geht nur wenn wir uns als Teile einer Bewegung gegenseitig selbst wahr und ernst nehmen« – heißt es im Vernetzungsaufruf. Arbeitsgruppen sind gebildet und das nächste Treffen festgelegt. Damit wird dann natürlich auch die PR-Arbeit mit künstlerischen Aktionen wieder erheblich effektiver. Come together – That’s dialektik.

Interview: Peter Nowak

Kein Herz für Arbeiter

Buchbesprechung

Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016, 288 Seiten, 13 Euro, ISBN 978-3-360-01311-8

Der Aufstieg des Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern ruft unter Linken  Besorgnis hervor. Besonders seit klar ist, dass ein Teil ihrer Wählerbasis aus der alten Arbeiterklasse kommt. Dabei handelt es sich oft um Regionen, in denen mit den fordistischen Fabriken auch die alte Arbeiterkultur verschwunden ist. So hat der Front National in Frankreich dort, die bis in die 1970er Jahre dominierende Kommunistische Partei beerbt und wurde zur Partei des in seinem Stolz verletzten zu Proleten herabgesunkenen Proletariats. In dem Buch „Rückkehr nach Reims“ stellt sich der Soziologe Didier Eribon die Frage, warum das Band der Linken zur Arbeiterklasse durchtrennt wurde und welchen Anteil die Politik der linken Parteien daran hat (siehe Rezension in GWR 412). Eriborn spart den subjektiven Faktor nicht aus. Er beschreibt, wie er selber als Kind einer Arbeiterfamilie im akademischen Milieu von Paris Fuß fasste, bevor er als linker Akademiker in seine Heimatstadt zurückkehrt.

Nun hat Christian Baron, der Feuilletonredakteur des Neuen Deutschland, auf Eribons Spuren seine Rückkehr nach Kaiserslautern vollzogen. Gleich das erste Kapitel seines im Verlag „Das Neue Berlin“ erschienenen Buches mit dem Titel „Proleten, Pöbel, Parasiten“ beginnt mit einer Szene, die eigentlich eine Antwort auf seine im Untertitel vertretenen These sein könnte: „Warum die Linken die Arbeiter verachten“.

Das erste Kapitel beschreibt, wie der achtjährige, asthmakranke Christian von seinem betrunkenen Vater geschlagen und gegen die Wand geschleudert wird. Die Szene hat sich Christian Baron eingeprägt, weil er erstmals Widerstand und sich mit einem Holzscheit vor seinen Vater aufbaute. Das scheint den Mann mit den Kräften eines Möbelpackers zumindest so beeindruckt zu haben, dass er von seinem Sohn für dieses Mal abließ. Dass es sich bei der Gewalttätigkeit um keine Ausnahme handelte, wird im Buch deutlich. Baron zieht einen Zusammenhang zwischen dem frühen Krebstod seiner Mutter und dem gewalttätigen Vater. Hier liefert Baron Gründe, warum Linke bestimmte Aspekte des realen proletarischen Lebens ablehnen. Damit wäre er auch ganz nah bei Eribon, der als Schwuler den Kontakt zu seinem homophoben Vater abgebrochen hatte und der aktuell vor einer linkspopulistischen Politik warnt. Die Flucht aus Reims bzw. aus Kaiserslautern war also zunächst ein Akt der individuellen Befreiung. Doch bei Baron wird die Szene des gewalttätigen Vaters im ersten Kapitel nicht weiter aufgegriffen. Es dominiert die steile These, dass die Linken die ArbeiterInnen hassen und damit implizit mit dafür verantwortlich sind, dass diese rechts wählen. „Warum gewinnt ausgerechnet die AfD die Stimmen der Arbeiter?“, lautet eine der Fragen auf der Rückseite des Buches. Dass diese WählerInnen, egal aus welcher Schickt sie kommen, womöglich ein rassistisches Weltbild haben könnten, wird gar nicht zur Diskussion gestellt. Stattdessen wird die Verantwortung bei einer Linken gesucht, die das Band zu den ArbeiterInnen gekappt habe. Mit seinen subjektiven Berichten aus dem Studierendenalltag kann Baron zumindest den Hass auf die ArbeiterInnen nicht belegen.

Ressentiment gegen Intellektuelle

Doch politisch fataler ist, dass Baron in dem Buch ein Ressentiment gegen Intellektuelle bedient, die Gedanken formulieren, die nicht gleich allgemein verständlich sind. Das wird im Kapitel „Arbeiter vergraulen und Adorno rezitieren“ besonders deutlich. Dort verteidigt er Deutschlandfahnen schwingende Fußballfans gegen Überlegungen von Adorno, die dieser in einen Radiobeitrag über den deutschen Fußballpatriotismus entwickelt hatte: „Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen.

Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens.“ Dafür schmäht Baron Adorno als „einen Lehnstuhlphilosophen mit greiser Glatze und klobiger Brille“, der sich „geschwollen ausdrückt und über etwas redet, von dem er offenbar keine Ahnung hat“.

Warum der aus dem Exil zurückgekehrte Adorno nicht in das „Wir sind wieder wer“-Geschrei einstimmen wollte, das nach dem als „Wunder von Bern“ gefeierten WM-Sieg der BRD-Mannschaft 1954 einsetzte, scheint Baron keiner Überlegung Wert. Er sieht hier eine Arbeiterkultur angegriffen und geht in die Verteidigungshaltung. Doch wer wirklich einen Beitrag zur Emanzipation der ArbeiterInnen leisten will, sollte Adornos Erkenntnisse den Menschen nahebringen, die sich für einige Wochen im Fußballrausch ergehen, nur noch Deutschland sein sollen und manchmal gleich mehrere schwarz-rot-goldene Fahnen mit ihren Autos spazieren fahren.

Es ist nicht arbeiterInnenfeindlich, Kritik an dieser Zurichtung für die Interessen von Staat und Nation zu formulieren.

Es zeugt eher von einer Verachtung der ArbeiterInnen, wenn man ihnen dabei noch auf den Rücken klopft und ihnen zuruft, bleibt wie ihr seid. Wenn dann in einen der letzten Buchkapitel Christian Baron mit zwei seiner ehemaligen JugendfreundInnen, die in Kaiserslautern geblieben sind, in einer Busstation spricht, dann erinnert das an Rapper, die sich ein Gangsterimage geben, obwohl sie längst in einem Bungalow leben.

„Kein Herz für Arbeiter“ lautet der Titel des Kapitels, in dem sich auch die Adorno-Schelte findet. Mit dem Spruch bewirbt der Eulenspiegel-Verlag auch das Buch. Die Analogie zur Bild-Kampagne „Ein Herz für Kinder“ ist sicher nicht zufällig. Andere bekundeten ein Herz  für Tiere. Weder Verlag noch Autor scheint aufgefallen zu sein, dass diese paternalistische Parole wenn nicht Hass so doch Verachtung für die Arbeiter ausdrückt.

Linke Intellektuelle könnten eine ÜbersetzerInnenfunktion einnehmen

Dabei könnten linke Intellektuelle, zumal, wenn sie aus dem Arbeitermilieu kommen, tatsächlich zur Emanzipation der ArbeiterInnen beitragen. Tatsächlich ist es ein großes Problem, dass soziologische, politische und philosophische Texte oft außerhalb des akademischen Milieus schwer verständlich sind. Dafür sind auch „Das Kapital“ und andere Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels wichtige Beispiele. Dass diese Schriften in großen Teilen der Arbeiterklasse rezipiert wurden, war das Verdienst einer sozialistischen Bewegung, für die Bildung ein zentrales Anliegen war, um die Welt zu erkennen und zu verändern. Der Soziologe Jürgen Kuczynski hat in seinem Monumentalwerk „Die Lage der Arbeiter unter den Kapitalismus“ sehr gut beschrieben, welche Rolle diese Bildungsbewegung für die Entstehung eines politischen Bewusstseins bei großen Teilen des organisierten Proletariats hatte.

In Arbeiterbildungsschulen wurden literarische, philosophische aber auch naturwissenschaftliche Schriften gelesen, interpretiert und diskutiert. Linke Intellektuelle spielten als InterpretInnen und ÜbersetzerInnen der oft schwierigen Texte eine wichtige Rolle. So könnten auch heute linke AkademikerInnen aus der ArbeiterInnenklasse, wie Baron, aktuelle Texte zu Klasse und Geschlecht, zu Antisemitismus und Nationalismus so übersetzen, dass sie auch jenseits des akademischen Milieus verstanden werden. Das wäre ein realer Beitrag zur Emanzipation der ArbeiterInnen.

In den 1970er Jahren, als linke JungakademikerInnnen vor den Fabriken agitierten, gab es mehrere Strömungen. Die meisten Mitglieder der kommunistischen Gruppen passten sich bis auf die Haarlänge der vermeintlichen ArbeiterInnenkultur an und hatten doch wenig Erfolg.

Vor allem jüngere Beschäftigte hatten andere Vorstellungen von ArbeiterInnenemanzipation. Viele ließen sich die Haare wachsen und erhofften sich durch den Kontakt mit den jungen Linken einen Zugang zur linken Subkultur. Nicht wenige tauschten die Fabrik mit der linken Wohngemeinschaft.

Peter Nowak

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 415, Januar 2017, www.graswurzel.net

Gedenkort zu Wohnungen

KREUZBERG  Widerstand  gegen Baumaßnahmen  in der ehemaligen  NS-Dienststelle für  jüdische Zwangsarbeit

Mehr als 26.000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden zwischen 1938 und 1945 in der „Zentralen Dienststelle für Juden“ in Fontanepromenade 15 in Kreuzberg für die Zwangsarbeit in verschiedenen Betrieben eingeteilt. Die Volkswirtin Elisabeth Freund war eine von ihnen. In ihren Aufzeichnungen „Als Zwangsarbeiterin in Berlin“ schrieb sie, dass die NS-Behörde in der Fontanepromenade von den Betroffenen „Schikanepromenade“ genannt wurde Die Historikerin Sieglinde Peters klassifizierte die „Zentrale Dienststelle für Juden“ bei der Einweihung des Gedenkzeichens 2013 als „eine zivile Behörde mit Handlangerdiensten zur Selektion, Ausbeutung und Vernichtung“. Doch die vor der Jahren eingeweihte Stele ist zurzeit verhüllt – und es ist nicht sicher, ob und wann sie wieder zugänglich sein wird. Denn im Frühjahr 2015 wurde das geschichtsträchtige Gebäude für knapp 800.000 Euro an die „Fontanepromenade 15 GbR“ verkauft. Und Ende August 2016 erteilte das Bezirk samt Friedrichshain-Kreuzberg der Gesellschaft eine Baugenehmigung. Vor einigen Wochen haben die Bauarbeiten an dem historischen Gebäude nun begonnen. Geplant ist der Umbau „in  Büros und Wohnungen“, wie auf einem Zettel vor Ort zu lesen ist.

Die vor drei Jahren eingeweihte Gedenkstele ist zurzeit verhüllt

Die Stadtteilinitiative „Wemgehört Kreuzberg“ fordert in einem Offenen Brief einen Baustopp und die Rücknahme der Baugenehmigung. „Wir halten es für einen absoluten Skandal, dass ein solcher Geschichtsort der Immobilienspekulation geopfert und nicht als Gedenkort zur jüdischen Zwangsarbeit und zum Holocaust öffentlich genutzt wird“, heißt es in dem Schreiben. Dort werden der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und das Land Berlin dafür kritisiert, dass sie die Chance nicht genutzt habe, durch einen Kauf des Gebäudes dafür zu sorgen, dass es als Geschichtsort erhalten bleibt. Die Stadtteilinitiative will sich nicht damit zufrieden geben, dass der einstige Bezirksamtssprecher Sascha Langenbach die Hoffnung äußerte, dass auch der private Investor das Gebäude seiner historischen Bedeutung entsprechend nutzen wird. Lothar Eberhardt, der seit Langem in der Geschichtsarbeit engagiert ist, nennt im Gespräch zwei Gebäude, die in letzter Zeit durch die Immobilienwirtschaft enthistorisiert worden seien: das ehemalige Berliner Arbeitshaus in Rummelsburg und das ehemalige NS-Kriegsgericht in Charlottenburg. Die kürzlich gegründete Initiative Gedenkort Fontanepromenade sieht noch eine Chance, eine solche Entwicklung in  Kreuzberg zu verhindern. Ihre Mitglieder haben Schreiben an die Berliner SenatorInnen für Kultur und Bauwesen gerichtet. Und warten nun auf die Antworten.

Taz 19.12.2016

PETER NOWAK

Rebellisches Schlesien. Geschichte über soziale Kämpfe in Oberschlesien

DVD von Darius Zalega polnisch mit Untertiteln

Der Film stellt eine Region als Ort von Kämpfen und Streiks vor, die oft mit deutschnationalen Ansprüchen konnotiert ist

Der Titel mag manche Linke irritieren. Denn wenn es um Schlesien geht, sind oft die Vertriebenenverbände nicht weit und deren Rebellion gegen die Anerkennung von historischen Tatsachen nach der Niederlage des NS ist manches noch in schlechter Erinnerung. Doch darum geht in dem Film nicht. Er ist vielmehr eine einstündige Lektion in Geschichte von Unten in einer Region in Polen, die einmal Schlesien hieß. Der Film beginnt am Ende der Epoche, die die HistorikerInnen aus Verlegenheit Mittelalter genannt haben. Der Begriff soll nur dazu diesen, eine Brücke zwischen der Antike und der Neuzeit herzustellen. Was weniger bekannt ist: Mitte des 16. Jahrhunderts gab es wichtige Neuerungen im Bergbau –  und massive Kämpfe der Beschäftigten. Mit den blutig niedergeschlagenen Protesten der Bergleute beginnt der Film und endet in den 90er Jahren als sich erneut Lohnabhängige gegen die Abwicklung ihrer Arbeitsplätze wehren. Dazwischen finden sich fast 500 Jahre Geschichte von Unten am Beispiel einer Region, die ein Zentrum der ArbeiterInnenklasse war.

Abwechselnd auf Deutsch und Polnisch berichten die ChronistInnen von den unterschiedlichen Kämpfen. Was sich viele Jüngere vielleicht nicht vorstellen können. Es gab ein Leben vor dem Internet und auch damals verbreitete sich die Kunde von Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen schnell. Dafür sorgten unter Anderem Lieder, in denen die Kämpfe besungen, AusbeuterInnen verspottet und Opfer der Repression des Staates und der Polizei besungen wurden. Wir lernen in dem Film auch davon einige dieser Lieder kennen.

Regisseur des Filmes, der bereits vor Wochen in Katowice Premiere hatte, ist Dariusz Zalega. Er stößt damit auch eine Diskussion über eine Gedenkpolitik an. Schließlich gibt es bis heute keinen Erinnerungsort für die 17 vom Militär während eines Streiks im Januar 1919 Ermordeten. Sie demonstrierten für Lohnerhöhungen im damaligen Königshütte, dem heutigen Chorzów, als das Militär schoss. Nun sollte sich in Deutschland bloß niemand über eine ungenügende Gedenkpolitik in Polen empören. Für die über 40 Toten, die vor Januar 1920 vor dem Reichstag erschossen wurden, als Berliner ArbeiterInnen gegen die Entmachtung der nach der Novemberrevolution gestärkten ArbeiterInnenräte protestieren, gibt es bis heute ebenfalls keinen Erinnerungsort. Es gäbe viele Beispiele mehr. Rebellisches Schlesischen macht an einen Landstrich deutlich, dass es eine Geschichte der Kämpfe und Revolte gab, die durchaus nicht abgeschlossen ist. Wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen, sollten wir uns auch fragen, ob wir die unabgegoltenen Forderungen der damaligen Kämpfe heute nicht noch immer aktuell sind. So sollte eine aktuelle Beschäftigung mit der rebellischen Geschichte in Schlesien und anderswo nicht bei einer Diskussion über Gedenkorte stehen bleiben Am besten erinnern wir an die Kämpfe und die, die daran beteiligt waren, die in diesen Kämpfen verfolgt, verwundet und ermordet wurden, wenn wir die damaligen Forderungen heute wieder aufnehmen und dabei auf darauf verweisen, dass dafür schon lange vor uns Menschen auf den Barrikaden gestanden haben. Es ist die alte Frage, woher wir kommen, wohin wir gehen. Dafür ist es notwendig, dass wir die Kämpfe von damals kennen, dass wir mehr über die ProtagonistInnen erfahren, ihre Träume, ihre Utopien, ihre Erfolge und ihre Niederlagen. Daher sind Filme wie „Rebellisches Schlesien“ so wichtig.

Artikelübersicht Dezember 2016

Peter Nowak

„Alle Wärme geht vom Menschen aus“

Aktionskunst Mit seinem Büro für ungewöhnliche Maßnahmen begleitete Kurt Jotter die Alternativbewegung. 2013 gab es ein Comeback des Büros – derzeit ist Jotter mit Performances vor allem beim Mietenthema aktiv

taz: Herr Jotter, Sie haben zuletzt zahlreiche Performances mit MietrebellInnen gemacht. Warum engagieren Sie sich in diesem Gebiet so stark?

Kurt Jotter: Es gehört zu den Grundstandards der Menschlichkeit, eine Wohnung zu haben. Sie ist gewissermaßen die dritte Haut des Menschen. 85 Prozent der MieterInnen in Berlin sind existenziell auf bezahlbare Wohnungen und die Mieterrechte angewiesen. Zu diesem gesellschaftlichen Bewusstsein möchte ich mit künstlerischen und medialen Mitteln beitragen.

Sie haben bereits vor fast 30 Jahren in Westberlin eine MieterInnenbewegung unterstützt. Was hat sich seitdem geändert?

Mit der Lichtkunstaktion „Berlin wird helle“ haben wir damals zum Frühjahrsbeginn 1987 mit dem Berliner Mieterverein gegen die Aufhebung der Mietpreisbindung in Westberlin protestiert. Wir projizierten auf Hunderte Häuserwände Protest-Dias der Mieter und Entwürfe eines großen Künstlerwettbewerbs. Das war im Rahmen einer Kampagne, die mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und den Oppositionsparteien und allen Initiativen ein erfolgreiches Bürger-Mieter-Begehren startete. Das macht deutlich, dass die Aktionen von einer Massenbewegung unterstützt wurden, die es heute nicht gibt.

Wie würden Sie Ihre künstlerische Arbeit beschreiben?

Ich sehe mich als politischen Aktions-, Konzept- und Multi-Media-Künstler und arbeite interdisziplinär zwischen Print, Theater, Video und Performance – im Sinne von „Realmontagen“ im öffentlichen Raum. Meine frühkindliche Heimat liegt bei den dadaistischen Rebellen, John Heartfield, der frühe Meister der Fotomontage, war der erste Impulsgeber. Das Bild wird zur Gesamtmontage, als theatralische Inszenierung mit Humor, sodass das Lachen im Hals stecken bleibt. Dadurch entsteht der Anreiz, sich mit der Sache zu befassen. Es geht auch darum, ein Gefühl der Befreiung zu erzeugen im Sinne von Dario Fo: „Es wird ein Lachen sein, das sie beerdigt.“

Humor und Politik, das harmoniert ja nicht immer. Hatten Sie nicht manchmal Probleme mit Ihren Aktionen bei den linken AktivistInnen?

Wir agierten innerhalb der damals schnell wachsenden Bürgerinitiativ- und Alternativbewegung, die sich von der Realitätsferne und Humorlosigkeit der K-Gruppen frühzeitig abgesetzt hatte. Unsere damals entstandenen Plakate waren in dieser ständig wachsenden Bewegung sehr gefragt und finanzierten unsere Arbeit über Jahre. Gemeinsam mit der 2014 verstorbenen Kulturwissenschaftlerin Barbara Petersen gründete ich 1977 die Künstlergruppe „Foto, Design, Grafik, Öffentlichkeit“ (FDGÖ) – der Name spielte auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Berufsverbote an.

Mit dem 1987 gegründeten Büro für ungewöhnliche Maßnahmen (BfM) bekamen Sie Preise, es wurde in Spiegel, „Tagesschau“ und vielen anderen Medien über verschiedene Aktionen berichtet. Was waren die Höhepunkt Ihrer Arbeit?

Am 11. Juni 1987 der Mauerbau auf der Kottbusser Brücke als „Anti-Kreuzberger-Schutzwall“ gegen die Abriegelung Kreuzbergs beim Berlinbesuch von Ronald Reagan, danach die Jubelparade als Abgesang auf die Berliner 750-Jahr-Feiern mit 5.000 ParodistInnen aus der gesamten Szene und vieles andere mehr, einiges ist auch auf Wikipedia zu lesen. Auch Soloaktionen erregten Aufsehen: zum Beispiel eine lebende Haider-Karikatur in Salzburg, die in blauem FPÖ-Schal als Exhibitionist mit einem Hakenkreuz vorm Geschlechtsteil dessen Salon-Faschismus demonstrierte – bis zur Festnahme.

Nach einer längeren Pause machte sich das Büro für ungewöhnliche Maßnahmen seit 2013 mit Aktionen wieder an ein Comeback. Gerade eben waren Sie aber auch Mitorganisator des stadtpolitischen Hearings der Initiativen zu den Koalitionsverhandlungen. Geht es jetzt in die Realpolitik?

Bei mir gab es nie diese Trennung von Kunst und Politik oder Form und Inhalt. Ich bin froh, wieder in Berlin aktiv zu sein und hoffentlich wieder in der Heimstätte des „Büros“, der ehemals besetzten Fabrik „Kerngehäuse“. Hier denkt man wieder an den Druck und die Kraft der alten Zeiten und weiß, was alles möglich sein kann.

Was ist Ihr persönlicher Antrieb bei Ihren Aktivitäten?

Für mich waren immer zwei Faktoren entscheidend: Gerechtigkeit und Effektivität. Eine noch so gute künstlerische Public Relations nützt überhaupt nichts, wenn das zu stärkende Subjekt als Bewegung zersplittert und keine relevante Kraft mehr ist. Hier können Impulse zur Vernetzung und Vereinigung für die PR entscheidend sein. Was bleibt, ist auch die Rückbesinnung auf die Grundlagen der Menschlichkeit. Zum Schluss unseres Textes „Das Lachen im Halse“ heißt es: „Erster Vorschlag zur notwendigen Neuauflage der Energie-Debatte: Alle Wärme geht vom Menschen aus – der Rest kommt von der Sonne.“

1950 geboren, ist seit Ende der 1970er Jahre als Aktionskünstler im politischen Kontext aktiv. 1987 gründete er mit Barbara Petersen das Büro für ungewöhnliche Maßnahmen (BfM). Für seine Aktionen erhielt das Büro 1988 den Kulturpreis der Kulturpolitischen Gesellschaft zugesprochen. 2013 hat Jotter die aktionskünstlerische Arbeit des Büros wieder aufgenommen. Aktuell ist er vor allem in der MieterInnenbewegung aktiv

http://www.taz.de/!5362194/

Interview Peter Nowak

Self-Tracking und kybernetischer Kapitalismus

Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp[1] eine bezeichnende Episode, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: „Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1.000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1.500.“ Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen, und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er für die Demonstration verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen Verfassungsämtern ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten bieten.

Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Nicht Datenschutz und Datenminimierung, sondern die ungebremste Offenlegung ganz privater Daten sind Kennzeichen einer Bewegung, die ihr Leben von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf von digitalen Geräten minutiös aufzeichnen und überwachen lässt und die Daten dann noch via Facebook weiterverbreitet.

Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenem Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self Tracking im kybernetischen Kapitalismus“[2] dieses Phänomen eingeordnet: in die Bemühungen nämlich, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.

„Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.“

Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters Runtastic[3] solche Selbstbezichtigungen:

Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spaß und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.

Runtastic-User

Jede Woche warte ich gespannt auf meinen Fitnessbericht. Grüne Zahlen & Pfeile motivieren mich immer wieder aufs Neue! Ich will mich ja schließlich jede Woche verbessern!

Runtastic-User

„Entdecke die Geheimnisse des Superhelden“, fordert eine andere Werbeseite[4] für potentielle Selbstoptimierer, die immer und überall die Gewinner sein wollen. Auch Diätprogramme[5] arbeiten nach dem Prinzip, wonach mit Disziplin und mit eisernen Willen alles zu schaffen sei. Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Auf anderen Self-Tracking Werbeanzeigen finden sich Bergsteiger, die mit Erfolg und vielen Strapazen einen Gipfel erklommen haben.

Es ist bezeichnend, das mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen Role-Models für das Self-Tracking sind, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben. Die Botschaft ist klar: Beim Rattenretten im kapitalistischen Alltag ist Schonung von Gesundheit und Leben etwas für Loser und Versager. Und sie sind in der Werbewelt der Self-Tracker wohl auch das Schlimmste, was man sich denken kann.

Sehr überzeugend hat Schaupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus als Bezeichnung der aktuellen Regulationsphase eingeführt, der, anders als bekannte Begriffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertung dominiert. Die These von Schaupp lautet, dass das Self-Tracking „Teil einer kapitalistischen Landnahme ist, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und als Waren verkaufen“.

Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ „Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles“ verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür gesorgt haben, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten. Verschwinden werden sie aber nicht.

Die Situation ist vergleichbar mit einer Großdemonstration, bei der die eigenen Ordner für Ruhe und Ordnung sorgen. Dann bleibt die Polizei manchmal in den Seitenstraßen und ist im ersten Augenblick nicht sichtbar präsent. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn es jemand nicht mehr so angenehm empfindet, immer und überall kapitalgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von außen.

Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt auf der Webseite der Zeitmanagement-Software[6].

Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet. Tatsächlich handelt es sich um eine einseitige Form der Transparenz. Der Kapitalbesitzer bekommt den Zugriff auch auf die letzten Geheimnisse der Lohnabhängigen. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immer noch einige Nischen, wo sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.


Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Großbritannien Ärzte aufgefordert, sie sollten ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“.

Schon längst haben die Krankenkassen begonnen, besonders eifrige Self-Tracker mit Prämien zu belohnen. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission setzt angesichts von prognostizierten 3,4 Milliarden Menschen, die 2017 ein Smartphone benutzen, große Hoffnungen darauf, dass mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget erzielt werden können.

Hier wird schon deutlich, dass in der nächsten Zeit Self-Tracking-Methoden Teil der Politik werden können. Wer sich dem verweigert, muss zumindest mit höheren Krankenkassenprämien rechnen. Es könnte allerdings durchaus auch staatliche Sanktionen für Tracking-Verweigerer geben.

In der Öffentlichkeit werden sie schon jetzt als Menschen klassifiziert, die mit ihrer Lebensweise unverantwortlich umgehen und die sozialen Systeme unverhältnismäßig belasten. Unter dem Begriff Quantified Self hat der Publizist Sebastian Friedrich[7] die unterschiedlichen Tracking-Methoden in sein kürzlich erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft[8] aufgenommen.

Es steht dort neben Einträgen wie „Rennrad“ oder „Marathonlauf“, die in kurzen Kapiteln als Teil der neoliberalen Alltagspraxis vorgestellt werden. Die Stärke des Büchleins besteht darin, Alltagsbeschäftigungen aufzunehmen, die sich auch im kritischen Milieu reger Zustimmung erfreuen und die oft gar nicht mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden.

Dabei zeigt Friedrich überzeugend, wie der erste Marathonlauf in New York wenige Hundert Interessierte anlockte, bevor er zu jenen Massenaufläufen wurde, die heute weltweite ganze Stadtbereiche lahmlegen. Mittlerweile beteiligen sich daran ganze Firmenbelegschaften daran, die so ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit unter Beweis stellen. Eine Verweigerung würde sich wohl äußerst negativ für die Karriere auswirken. Das ist auch ein zentraler Begriff im Lexikon der Leistungsgesellschaft.

Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, Self-Tracking-Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnte. Doch eine Antwort gibt er darauf nicht.

Dabei hätte er vielleicht einen Hinweis darauf geben können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt[9] beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte.

Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und großer Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung beendete diesen Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Das durch den Roman von Sascha Rehs Roman „Gegen die Zeit“[10], in dem dieses Projekt im Mittelpunkt steht, wurde es auch hierzulande wieder bekannt[11].

Es ist schade, dass Schaupp darauf nicht zumindest kurz hinweist, weil in seinem theoretischen Teil Stafford Beer schließlich eine wichtige Rolle spielt.

Er stellt nur klar, dass Self-Tracking in den aktuellen Machtverhältnissen eine wichtige Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese Alltagspraxen der Leistungsgesellschaft sind eine Antwort auf die Frage, warum der Neoliberalismus so stark ist und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.

Schon lange wird die Phrase vom Neoliberalismus in den Köpfen strapaziert. Der Self-Tracking-Boom ebenso wie die Marathonwelle zeigt deutlich, was damit gemeint ist. Dann stellt sich auch die Frage, ob es nicht Zeit für eine Bewegung ist, die sich diesen Self-Tracking-Methoden bewusst verweigert.

Wenn Menschen offen erklären, sich nicht ständig optimieren zu wollen, nicht den Anspruch zu haben, immer mehr Rekorde und Höchstwerde aus sich herausholen zu wollen, dann würde sicher nicht gleich der kybernetische Kapitalismus in eine Krise geraten.

Aber man darf auch nicht vergessen, dass konservative Theoretiker die wachsende Alternativbewegung der 1970er Jahre für die Krise des Fordismus mitverantwortlich machten. So könnte auch eine No-Tracking-Bewegung zumindest das Image ankratzen, das sich heute alle ganz freiwillig und mit großer Freude für den Sport, das Unternehmen und die Nation Opfer bringen.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Self-Tracking-und-kybernetischer-Kapitalismus-3491907.html?view=print


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Links in diesem Artikel:
[1] http://turn-de.academia.edu/SimonSchaupp
[2] http://www.graswurzel.net/verlag/digital.php
[3] https://www.runtastic.com/de/premium-mitgliedschaft/info
[4] https://www.flowgrade.de/
[5] http://www.fitforfun.de/tests/ausprobiert/abnehmen/weight-watchers-abnehmen-in-der-punkte-welt_aid_13221.html
[6] https://www.rescuetime.com/
[7] http://www.sebastian-friedrich.net/
[8] https://www.edition-assemblage.de/lexikon-der-leistungsgesellschaft
[9] http://www.cybersyn.cl/imagenes/documentos/textos/Eden%20Medina%20JLAS%202006.pdf
[10] https://www.schoeffling.de/buecher/sascha-reh/gegen-die-zeit
[11] http://www.deutschlandradiokultur.de/sascha-reh-gegen-die-zeit-ein-historisches-experiment.950.de.html?dram:article_id=328089

Aus der Reihe getanzt

»Anna Estorges dite Rirette Maîtrejean 1887 – 1968« steht auf der Gedenktafel eines Urnengrabs auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Dort liegt die in Deutschland bisher unbekannte französische Anarchistin begraben.

Lou Marin hat nun im Verlag Graswurzelrevolution die erste deutschsprachige Biographie von Rirette Maitrejean herausgebracht. Damit erinnert er an eine jahrzehntelang in der anarchistischen Bewegung tätigen Frau, die bald aus der Reihe tanzte und dafür in den eigenen Kreisen angefeindet wurde. Schließlich hatte sie eine scharfe Kritik an dem Flügel der anarchistischen Bewegung formuliert, der vor mehr als 100 Jahren Attentate, bewaffnete Raubüberfälle und Bombenanschläge als »Propaganda der Tat« verherrlichte.

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Wenn deutsche Geopolitik mit Menschenrechtspolitik verwechselt wird

Warum besuchen die Bundesabgeordneten nicht Grup Yorum statt einen Bundeswehrstandort, wenn sie sich für die Menschenrechte in der Türkei einsetzen wollen?

Spätestens seit der Repression gegen die liberale Presse in der Türkei ist die Kritik an der Menschenrechtspolitik der Erdogan-Regierung wieder unüberhörbar. Der Streit, wie sich die deutsch-türkische Kooperation gestalten soll, wird wieder lauter.

Oppositionspolitiker und Medien monieren, dass die Erdogan-Regierung schon viele rote Linien überschritten habe, und rufen dazu auf, die Beziehungen mit ihr zu überdenken. So fragt die Badische Zeitung in einen Kommentar nach einer roten Linie:

Wie sollen die Partner und Verbündeten der Türkei damit umgehen? Erdogan testet offenbar aus, wie weit er gehen kann. Er weiß: Die EU braucht ihn in der Flüchtlingskrise. Das stimmt. Aber es darf kein Freibrief für den Staatschef sein, der immer mehr zum Despoten mutiert. Die Europäer müssen Erdogan genauer auf die Finger sehen. Deutsche Abgeordnete sollten nicht nur die Bundeswehrsoldaten in Incirlik besuchen, sondern sich auch für die Zustände in türkischen Gefängnissen, das Schicksal verhafteter Journalisten und Foltervorwürfe interessieren.

Badische Zeitung[1]

Die Zeitung spricht im letzten Satz tatsächlich ein reales Problem an. Politiker aller Parteien, einschließlich der doch vorgeblich bundeswehrkritischen Linken[2], melden sich in den letzten Wochen zum Besuch auf dem Bundeswehrstützpunkt Incirlik an und beschweren sich, wenn der Besuch von der türkischen Regierung verweigert oder verzögert wird. So können sich die Politiker der unterschiedlichen politischen Parteien auch noch ein wenig als Opfer des Erdogan-Regime gerieren. Doch was hat der Truppenbesuch eigentlich mit der türkischen Menschenrechtspolitik zu tun?

Dass deutsche Abgeordnete überall dort selbstverständlich Einlass begehren, wo die die Bundeswehr ihr Camp aufgeschlagen hat, hat etwas mit deutschen Geopolitik sowie der Nato-Strategie zu tun. Es gibt seit Jahren Kritik an der Rolle der Bundeswehr in Incirlik sowohl in Deutschland[3] als auch in der Türkei. Vor allem dort ist die Kritik meist antimilitaristisch motiviert. Die Nato und die Bundeswehr verweisen[4] darauf, dass Incirlik eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den IS spielt. Antimilitaristische Gruppen bezeichnen es hingegen als paradox, dass die Nato von dem Stützpunkt den IS bekämpft, während die türkische Regierung zumindest bis vor wenigen Monaten den IS unterstützte und noch heute andere Islamisten deckt.

Tatsächlich gäbe es für Bundeswehrbesuche von Abgeordneten, die sich mit Opfern der Repression des Erdogan-Regimes solidarisieren wollen, aktuell viele Orte, die sie besuchen können. Incirlik gehört nicht dazu.

Da wäre ein Istanbuler Kulturzentrum zu nennen, das am 21. Oktober von der Polizei gestürmt wurde, weil dort die linke türkische Band Grup Yorum gespielt hat. Nachdem die Polizei abgezogen war, hinterließen sie ein verwüstetes Kulturzentrum und zerschlagene Musikinstrumente. In dem Video „Zerschlagene Instrumente[5] ist zu sehen, wie die Musiker von Grup Yorum mit den zerstörten Instrumenten die Melodie eines in der Türkei beliebten Kampf- und Freiheitsliedes einstimmen.

Der Besuch eines Politikers, dem es um die Menschenrechte in der Türkei geht, bei der Band und in dem Kulturzentrum, wäre schon deshalb sehr hilfreich, weil die Repression gegen die international bekannten linke Band in den hiesigen Medien nicht erwähnt wurde. Diese selektive Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen ist nicht verwunderlich. Schließlich verstehen sich die Musiker als Teil einer linken Bewegung, die in der Türkei seit Jahren die Schließung des Nato-Stützpunktes Incirlik fordert. Deswegen muss Grup Yorum auch in Deutschland mit Repressalien und rigiden Auflagen rechnen. Das letzte Beispiel war ein Konzert der Band in Fulda Anfang Juli[7]. So durften nach den Auflagen der Stadt[8] weder T-Shirts noch DVDs der Band verkauft oder durch Spenden weitergegeben werden. Auch eine Gage durfte der Band nicht gezahlt werden.Der Politiker der GrünenAnton Hofreiter[9], der wenige Stunden vor dem Auftritt der Band beim gleichen Fest eine Rede[10] gehalten hatte, ließ eine Pressenachfrage unbeantwortet, ob er von den Auflagen gegen die Grup Yorum Protest eingelegt hat. Da muss es nicht verwundern, wenn da auch kein Bundestagsabgeordneter in der Türkei die Band besucht, wenn ihre Konzerte gestürmt und ihre Instrumente von der Polizei zerschlagen werden. Sie besuchen lieber alle „unsere Truppe“ in der Türkei und verwechseln deutsche Geopolitik mit dem Kampf für die Menschenrechte in der Türkei.


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Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.badische-zeitung.de/kommentare-1/leitartikel-nahe-an-der-roten-linie–129312038.html
[2] http://www.zeit.de/news/2016-09/21/deutschland-auch-linken-politiker-neu-reist-mit-bundestags-ausschuss-nach-incirlik-21120802
[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-in-incirlik-omnid-nouripour-warnt-vor-eskalation-a-1103057.html
[4] http://www.einsatz.bundeswehr.de/portal/a/einsatzbw/!ut/p/c4/LYvBCoMwEET_KGtoIdSbwUuvvVR7kdUssjQmkq4VpB_fBJyBgZnHwAuyA355RuEY0EMH_cT1uKtxdzQQhw_KkSu-ZSPvz4nkIHiWsyM1xUBSUigI55wTSkxqjUl8IVtKmSh20Fe6tdpcq1P61xhjb53Wl_ZuH7AuS_MHlSnIzQ!!/
[5] http://weltnetz.tv/video/954-zerschlagene-instrumente
[6] https://www.facebook.com/grupyorum1985/posts/1145213442229550
[7] http://osthessen-news.de/n11535006/riebold-nennt-buergermeister-wehner-der-verlaengerte-arm-erdogans.html
[8] http://fuldawiki.de/fd/index.php?title=Stadtverordnetenversammlung_Juli_2016#Aktuelle_Stunde:_Auflagen_zu_Grup_Yorum_.28T.C3.BCrkische_Musikgruppe.29
[9] http://toni-hofreiter.de/
[10] https://www.gruene-fulda.de/verschiedenes/

Künstlerische Selbstjustiz gegen Google

Über das Elitebewusstsein von Hipster-Protesten

„You(Tube, Einf.d.A.) censors inside“ und „Demokratie ist in deinem Land nicht verfügbar #Erdogan# Türkei“  lauteten die Parolen[1], die am Dienstag auf die Google-Zentrale in Hamburg projiziert wurden.

Verantwortlich für den Lichtprotest ist das Künstlerkollektiv Pixelhelfer-Foundation[2], das auf seiner Homepage erklärt, man wollte mit den „Idealen der Freimaurer“ die Prinzipien der französischen Revolution verteidigen.

Unsere Selbstjustiz der Kunst bietet alle Möglichkeiten für eine nachhaltige Veränderung innerhalb der Gesellschaft.Pixelhelper

Pixelhelper

Mit der Lichtkunst-Aktion an der Google-Zentrale sollte gegen das zu Google gehörende Online-Video-Portal Youtube protestiert werden, das ein ZDF-Interview in der Türkei gelöscht hat, teilt der Lichtkünstler und Pixelhelper-Aktivist Oliver Bienkowski mit. Es ist nicht das erste Mal, dass die Lichtkünstler gegen Zensur, Menschenrechtsverletzungen und Geschichtsrevisionismus in der Türkei protestieren.

Lichtkunst-Aktion am Eingang zur Google-Zentrale. Bild: Pixelhelfer

Am  31. Mai 2016 machte das Künstlerkollektiv mit einer Aktion am Bundeskanzleramt auf den Umgang der türkischen Politik mit den Genozid an den Armeniern aufmerksam. Auch Zitate des berühmten Böhmermann-Schmähgedichtes, von dem sich der türkische Präsident Erdogan so sehr beleidigt fühlt, dass er noch immer gegen den Moderator klagt, hat Pixelhelper Ende Mai an die türkische Botschaft projiziert, nicht ohne darüber zu informieren, dass die Passagen vom Hamburger Landgericht erlaubt worden seien.

Mit einer ähnlichen Aktion an der Botschaft von Katar in Berlin wurde auf die desaströsen Bedingungen aufmerksam gemacht, mit denen die Stadien und Anlagen für die Fußball-Weltmeisterschaft von einen multinationalen Heer von Lohnabhängigen errichtete werden müssen.

Politisierung der Hipster?

Es handelt sich also um eine durchaus begrüßenswerte Erweiterung der Protestagenda, die hier vorgeführt wird. Sie könnte auch zu einer Politisierung der Hipster beitragen, die eben mit ihren Mitteln und unter ihren Bedingungen politischen Protest versuchen.

Doch, ähnlich wie neuere Kunstprotestaktionen, so z.B. das Zentrum für politische Schönheit[3], kommt auch Pixelhelper mit einem Gestus daher, als hätte man dort den politischen Protest erst erfunden und es hätte davor nichts gegeben.

Unsere Selbstjustiz der Kunst bietet alle Möglichkeiten für eine nachhaltige Veränderung innerhalb der Gesellschaft.Pixelhelper

Pixelhelper

Der selbstgewisse Ton, der anscheinend von keinem Zweifel angerührt wird, erinnert an Äußerungen von Zentralkomitees der unterschiedlichen kommunistischen Gruppen in der Vergangenheit, nur dass heute, wenn von Revolution die Rede ist, die bürgerliche Demokratie als Ziel gemeint ist. Dabei werden politisch äußerst fragwürdige Analogien gezogen. So wurde beim Lichtprotest an der türkischen Botschaft Erdogan mit Hitler-Bart ausgestattet.

„Pixelhelper reagiert auf die Gefängnisstrafe für Can #Dündar und Erdem #Guel in der Türkei. Eine Lichtprojektion von Adolf #Hitler und #Erdogan steht symbolisch für die schlimmen Verbrechen gegen die Menschenrechte die Erdogans Politik ausmachen“, heißt es zur Begründung. Ist den Verantwortlichen bis heute nicht aufgefallen, dass sie damit die Verbrechen des Nationalsozialismus relativieren, der eben nicht nur einige Intellektuelle und Journalisten ins Gefängnis gebracht hat?

Hier zeigen sich auch die politischen Grenzen der neuen Protestgruppen, die viel von Demokratie und Verteidigung des Humanismus reden, mit „Leidenschaft für eine bessere Welt“ eintreten, aber über Kapitalismus und Unterdrückungsverhältnisse nichts wissen wollen.

Bürgerliches Avantgardebewusstsein

Mit dem Zentrum für politische Schönheit teilen auch die Pixelhelper die Überzeugung, dass nur eine kleine Minderheit die Gesellschaft nachhaltig verändern kann. „Zweifeln Sie niemals daran, dass eine kleine Gruppe ernsthafter und engagierter Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich sind sie die einzigen, die dies vermögen“, wird auf der Homepage prominent die US-Ethnologin Margareth Mead[4] zitiert.

Nun ist es evident, dass kleine Gruppen von Menschen, wichtige Impulse für die Veränderung der Gesellschaft geben können. Dass sie aber die einzigen sein sollen, die das können, zeugt von einem bürgerlichen Elitebewusstsein, das gar nicht davon ausgeht, dass alle Menschen selber Geschichte schreiben und Verhältnisse kritisieren sollen – weil sie dazu angeblich nicht in der Lage sind?

Dieses Bewusstsein einer Elite für das Gute wird wiederholt, wenn Spenden mit dem Satz eingeworben werden: „Seien Sie dabei, wenn eine kleine Gruppe von Menschen eine große Veränderung in der Gesellschaft anstößt.“

Kommunistische Parteien hatten mit ihren Avantgardekonzept noch den Anspruch, eine Revolution voranzutreiben. Heute muss das bürgerliche Avantgardekonzept schon dazu herhalten, um die Menschenrechte zu verteidigen. Wenn die Ziele, die sich Pixelhelper setzt, tatsächlich nur noch die Sache einer kleinen Gruppe sind, dürfte es schlecht um die Verwirklichung aussehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49681/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

https://drive.google.com/drive/folders/0B56kcv_8jha2endLVTRMOWViYzg?usp=sharing

[2]

http://pixelhelper.org/de

[3]

http://politicalbeauty.de

[4]

http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/margaret-mead/