Krisenproteste in Frankfurt/Main weiter größtenteils verboten

Das Verwaltungsgericht folgte in weiten Teilen den Bedrohungsanalysen von Polizei und Politikern

Am Montagabend hat das Frankfurter Verwaltungsgericht ein erstes Urteil zu den von der Stadt Frankfurt ausgesprochenen Verboten der am kommendem Donnerstag beginnenden Krisenproteste in Frankfurt/Main gefällt. Danach wird die Großdemonstration am Samstag unter Auflagen erlaubt sein, auch ein Rave-Konzert am Mittwoch kann stattfinden.

Verboten bleiben allerdings weiterhin die Aktionstage am Donnerstag und Freitag, die eigentlich der Kern des Blockupy-Protestes sein sollen. An diesen Tagen soll das Bankenviertel gewaltfrei blockiert werden. In Schreiben an die Beschäftigten haben die Organisatoren schon deutlich gemacht, dass sich die Aktion nicht gegen sie sondern gegen die kapitalistischen Verwertungsinteressen richtet, denen sie selber unterworfen sind. Zudem haben die Organisatoren mehrmals betont, dass es sich um gewaltfreie Proteste des zivilen Ungehorsams handeln soll und von den Aktivisten keine Gewalt ausgehen wird. Trotzdem folgte das Verwaltungsgericht in weiten Teilen den Bedrohungsanalysen von Polizei und Politik.

Räumung des Occupy-Camps am Mittwoch

Auch die von den Ordnungsbehörden verfügte Räumung des Occupy-Camps vor der Europäischen Zentralbank hat das Gericht genehmigt. Sollten die Aktivisten den Platz nicht freiwillig verlassen, könnte am Mittwoch eine polizeiliche Räumung erfolgen. In diesem Fall sind Sitzblockaden angekündigt. Die Gerichtsentscheidung kann als Bestätigung der Linie der Ordnungsbehörden verstanden werden, wie es die meisten Medien auch kommentieren.

Die Aktivisten hingegen sprechen von einen Teilsieg vor Gericht und schüren damit Illusionen. Schließlich war klar, dass in erster Linie die Aktionstage verboten werden sollten. Schon in der Vergangenheit wurde sowohl von der Politik als auch den Ordnungsbehörden eine Großdemonstration anders behandelt als dezentrale Kleinaktionen. Mit dem Totalverbot haben die Behörden so einen Spielraum für das Gericht geschaffen, einige Verbote aufzuheben, aber den Teil der Protestagenda zu untersagen, die über Symbolpolitik hinausgeht.

Große Macht der Polizei

Zudem hat das Gericht ein Junktim zwischen dem Ablauf der Aktionstage und der Demonstration hergestellt, der der Polizei einen großen Ermessensspielraum gibt. Sollte es beispielsweise bei der Räumung des Occupy-Camps zu Auseinandersetzungen kommen, können alle Folgeaktionen, auch die Großdemonstration verboten werden. Die Protestorganisatoren haben angekündigt, vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof Berufung einzulegen. Die Begründung zeigt auch, dass die Organisatoren das Urteil nicht als Teilsieg sehen, wie sie in der Überschrift suggerieren.

„Wenn man die Beschlüsse des Gerichts liest, stellt man fest, dass es sich das allein auf die Aussagen und Gefahrenprognosen von Stadt und Polizei bezieht. Die Bedeutung des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit wird – anders als die Grundrechte der Berufsfreiheit und des Eigentums – nicht gewürdigt“, moniert Blockupy-Sprecher Martin Behrsing.

Mittlerweile wächst der Kreis der Unterstützer der Blockuppy-Aktionen. Das Komitee für Grundrechte hat für den 17.Mai in Frankfurt eine Kundgebung für ein uneingeschränktes Versammlungsrecht angemeldet.

Dort soll auch dagegen protestiert werden, dass über 400 Menschen ein Aufenthaltsverbot für Frankfurt während der Protesttage bekommen haben. So scheinen sich schon im Vorfeld der Aktionstage jene Warnungen zu bestätigen, die einen Zusammenhang zwischen der Durchsetzung einer neoliberaler Wirtschaftspolitik und eine autoritäre Innen- und Rechtspolitik sehen. Damit liegt Frankfurt im europäischen Trend. So wurde kürzlich bekannt, dass in Spanien die Gewerkschafterin Laura Gomez, die an der Vorbereitung des dortigen Generalstreiks beteiligt war, seit 29. März in Untersuchungshaft sitzt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152002

Peter Nowak

Israelis und Iraner demonstrieren in Berlin gegen Kriegsdrohungen

Die Demonstranten verstehen sich als Opposition gegen die herrschenden Regierungen in Israel und Iran und fordern eine atomwaffenfreie Region

Eine Demonstration von ca. 300 Menschen ist in Berlin nicht besonders groß. Doch wenn wie am letzten Samstag in Deutschland lebende iranische und israelische Staatsbürger gemeinsam auf die Straße gehen, um Gegen Sanktionen, Krieg und Besatzung“ zu demonstrieren, wie das Motto auf dem Leittransparent hieß, dann hat diese Manifestation schon einen besonderen Stellenwert. Sogar in der israelischen Tageszeitung Haaretz wurde die Berliner Demonstration wahrgenommen.

Mobilisiert wurde ohne die Mitwirkung von politischen Organisationen über Facebook. Die Initiative ging von der in Berlin lebenden israelischen Chemikerin Gal Schkolnik aus. Zu den zentralen Forderungen der Demonstranten gehört neben einem Ende des verbalen Säbelrasselns auf beiden Seiten eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten. Die iranischen Aktivisten, die sich an der Initiative beteiligen, verstehen sich als Teil der Opposition gegen das islamistische Regime. „Die Eskalation im Konflikt um eine mögliche Atombombe hilft der iranischen Regierung“, erklärte eine Aktivistin. Auch Gal Schkolnik sieht sich klar in Opposition zur gegenwärtigen israelischen Regierung und wollte mit der Aktion deutlich machen, dass nicht alle Israelis deren Politik unterstützen. Allerdings dürfen dabei auch die Unterschiede nicht verwischt werden. Während diese Opposition in Israel sicherlich marginal, aber Teil des demokratischen Prozesses ist, müssen Freunde der iranischen Oppositionellen in ihrer Heimat mit Gefängnis und Folter rechnen.

Inspiriert ist die Aktion in Berlin von einer Facebook-Kampagne, auf der sich Mitte März Menschen aus Israel und dem Iran gegenseitig versichert haben, nicht gegeneinander Krieg führen zu wollen. Während man dort aber explizit auf einer individuellen Ebene blieb und politische Statements vermied, argumentierten die Berliner Aktivisten politisch. Vermieden wurden einseitige Schuldzuweisungen. So gehört zu ihren Forderungen ein Ende der Kriegsdrohungen von allen Seiten und ein Stopp der Militarisierung des Nahen und Mittleren Ostens, was den Abbau aller nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen in der Region impliziert.

Streitpunkt Sanktionen gegen den Iran

Allerdings fällt auf, dass die konkreten Forderungen doch hautsächlich an Israel gerichtet sind. Man fordert Deutschland auf, die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen, und verlangt ein Ende aller Sanktionen gegen den Iran. Vor allem Letzteres dürfte auch bei Kriegsgegnern umstritten sein. So gibt es auch Stimmen, die gerade in einem konsequenten Boykott von Militärgütern gegen den Iran eine Chance für die Vermeidung einer militärischen Konfrontation sehen. Zudem ist schon länger bekannt, dass der Iran von deutschen Firmen mit Gütern beliefert wird, die auch zur Überwachung und Unterdrückung der Opposition dienen können. Daher ist es nicht ganz überzeugend, wenn in dem Aufruf zur gestrigen Demonstration behauptet wird, dass die Sanktionen lediglich die iranische Bevölkerung getroffen und der Oppositionsbewegung geschadet hätten.

Außerdem fällt auf, dass einerseits gegen Kriegsdrohungen von beiden Seiten Stellung genommen wird, die antiisraelische Rhetorik führender Exponenten der iranischen Eliten aber nicht direkt angesprochen wird. Dass die israelisch-iranische Initiative frei von jeglicher deutschen Befindlichkeit ist, dürfte auch der Grund dafür sein, dass ein Großteil der aktuellen deutschen Friedensbewegung, die auf ihren Ostermärschen noch Günther Grass für seine deutschzentrierte Israelschelte lobte, die Demonstration in Berlin ignorierte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151942
Peter Nowak

Auch in Holland wurden die Weichen vor den Wahlen gestellt

Auch in Holland wurden vor den Wahlen die EU-Sparprogramme durchgesetzt. Dabei hätte gerade ein Scheitern in diesem Land die Diskussion um eine andere EU beschleunigen können

Die holländische Regierung war zum Opfer der Eurokrise geworden. Weil die Rechtspopulisten um Geert Wilders den von Brüssel geforderten Sparkurs nicht mittragen wollte, hatte die aus Rechtsliberalen und Christdemokraten bestehende Regierung keine Mehrheit und musste Neuwahlen ausschreiben.

Allerdings sprangen mehrere kleine Parteien ein und verabschiedeten noch vor Beginn des Wahlkampfes das Sparprogramm. Neben den Regierungsparteien haben auch die Grün-Linken, die konservativen Christen-Union (CU) und der linksliberalen Partei D66 den Sparkurs unterstützt. So erhielt das Programm eine knappe Mehrheit von 77 der insgesamt 150 Parlamentssitze. Es sieht unter anderem Kürzungen bei den Renten und Sozialausgaben und eine Mehrwertsteuererhöhung vor.

Wilders hatte mit der populistischen Parole, sich lieber für die holländischen Rentner als für Brüssel zu entscheiden, die Regierungskrise ausgelöst und damit auch in den EU-Regierungen große Besorgnis ausgelöst. Holland gehört zu den Kernstaaten der EU, die immer gemeinsam mit Deutschland gegenüber den Ländern der europäischen Peripherie auf die Einhaltung der EU-Stabilitätskritierien beharrt haben.

Diskussion um eine Abkehr vom deutschen Kurs

Wenn ausgerechnet in einem solchen Land die Sparbeschlüsse scheitern, steht der EU-Sparkurs insgesamt in Frage. Diese Debatte hat in den letzten Wochen an Bedeutung gewonnen, nachdem der chancenreiche sozialdemokratische Kandidat für die französischen Präsidentschaftswahlen Hollande eine Neuaushandlung des Fiskalpaktes gefordert hat und damit auch bei den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften vieler EU-Länder auf Zustimmung stößt.

Sofort dekretierte die Bundesregierung, dass der Fiskalpakt nicht mehr verhandelbar sei. Dabei wurde mit der Macht des Faktischen argumentiert, weil der Pakt bereits in vielen Ländern durch die Parlamente verabschiedet worden ist. Dass dabei massiver Druck gerade von Staaten wie Deutschland und Holland nötig war, wurde ebenso wenig erwähnt, wie der genauso massive Widerstand von Teilen der Bevölkerung, der vom Parlament oft ignoriert wurde. Irland, das einzige EU-Land, in dem ein Referendum über den Fiskalpakt vorgeschrieben und das Ergebnis verbindlich ist, könnte die Pläne noch kippen. Viele politische Initiativen und Gewerkschaften rufen zur Ablehnung auf. Daher ist keinesfalls klar, wie die Abstimmung am 31. Mai ausgeht.

Wenn nun in der politischen Elite der EU-Zuchtmeister, in Frankreich und Holland, Streit über die Zumutungen aufbricht, die die EU-Sparprogramme für große Teile der Bevölkerung haben, ist das natürlich Munition für die Kritiker in Irland. Eine Abstimmungsniederlage dort wiederum würde die Debatte im ganzen EU-Raum neu entfachen. Selbst bei den DGB-Gewerkschaften regt sich Widerstand.

Deshalb war die deutsche Regierung natürlich besonders interessiert daran, dass im holländischen Parlament vor den Wahlen schon einmal klare Verhältnisse geschaffen wurden. Ob nun die Rechtspopulisten um Wilders, die jetzt ihre Rolle als Verteidiger „des holländischen Rentners gegen die Brüsseler Bürokratie“ ausspielen werden, bei den Wahlen profitieren können, ist wegen innerparteilicher Querelen unklar.

Mehr Technokratie wagen

Zumindest ist allerdings die Abstimmung in Den Haag klar geworden, dass auch in den Kern-EU-Staaten – und nicht nur in Griechenland und Italien – das Prinzip gilt, dass grundlegende Weichenstellungen nicht durch Wahlen entschieden werden. Ein Berliner Bündnis ruft einen Tag vor den Parlamentswahlen in Griechenland und der zweiten Runde der Präsidentenwahlen in Frankreich zu einer Demonstration unter dem Motto Mehr Technokratie wagen. Es gibt also auch noch Menschen, die sich angesichts der offensichtlich zur Schau gestellten Entdemokratisierung von Parlamenten nicht nur in Zynismus flüchten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151895
Peter Nowak

Werden Moslems in Europa diskriminiert?

Ein Amnesty Bericht dürfte die Diskussion über den Menschenrechtsbegriff wieder aufleben lassen

Die Diskriminierung von Moslems in Europa prangert ein von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International verfasster Bericht an. Besonders in der Kritik stehen die Niederlande, Frankreich, die Schweiz, Belgien und Spanien.

„Muslimischen Frauen werden Arbeitsplätze verweigert und den Mädchen die Teilnahme an regulärem Unterricht, weil sie traditionelle Kleidung, wie das Kopftuch tragen“, moniert Amnesty-Experte Marco Perolini. Er sieht vor allem die in mehreren dieser Länder gültigen gesetzlichen Bestimmungen, die das Tragen einer Burka oder anderen religiösen Bekleidungen in der Öffentlichkeit unter Strafe stellen, als Menschenrechtsverletzung.

„Das Tragen religiöser und kultureller Symbole und Kleidung ist Teil des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Es ist Teil des Rechts auf Freiheit der Religionsausübung oder Weltanschauung – und diese Rechte stehen allen Glaubensrichtungen gleichermaßen zu.“

Diese Version des Menschenrechtsbegriffes dürfte allerdings auch innerhalb von Menschenrechtsorganisationen kontrovers diskutiert werden. Besonders in Ländern wie Frankreich wird seit den Tagen der Französischen Revolution das Prinzip hochgehalten, dass die Verbannung bestimmter religiöser Symbole aus der Öffentlichkeit gerade dazu beitragen soll, dass möglichst niemand diskriminiert wird. Auch im Menschenrechtsdiskurs in Deutschland wird die Frage gestellt, ob es der Durchsetzung von Menschenrechten in der Praxis dienlich ist, wenn diese als ethnische religiöse Kollektivrechte formuliert werden.

„Der Islam ist okay, wenn nichts von ihm zu sehen ist“

Diese Problematik wird bei der heute vorgestellten Amnesty-Studie deutlich. Schließlich hat der Amnesty-Vertreter ausdrücklich betont, dass „Islam-Hass“ in Europa eher wenig verbreitet ist. Auch eine grundlegende Ablehnung des Islam sei nicht zu diagnostizieren. „In vielen Ländern ist die Meinung weit verbreitet, dass der Islam schon ok ist und die Muslime auch – solange nichts davon zu sehen ist“, bringt Perolini die Stimmung auf dem Punkt.

Doch gerade in dieser Haltung sieht er die Ursachen für die in dem Report beschriebenen Menschenrechtsverletzungen. Diese Kritik ist sicher berechtigt, wenn wie in Deutschland Nonnen in religiöser Kleidung in Schulen unterrichten dürfen, moslemische Lehrerinnen aber kein Kopftuch tragen dürfen. Wenn aber in einer säkularen Gesellschaft konsequent sämtliche religiösen Insignien in bestimmten öffentlichen Räumen verbannt würden, dürfte es fraglich sein, ob dann noch von Menschenrechtsverletzungen gesprochen werden könnte.

Stiller Zwang zum Tragen religiöser Kleidung

Perolini betonte bei der Vorstellung des Berichts auch, dass natürlich niemand zum Tragen bestimmter religiöser Kleidung und Symbole gezwungen werden dürfe. Auch das würde eine Menschenrechtsverletzung darstellen. Allerdings geht er nicht auf begründete Einwände ein, die von einem faktischen Druck in religiösen Familien sprechen. Tatsächlich ist es leicht vorstellbar, dass beispielsweise liberal oder säkular eingestellte Familienmitglieder starken Pressionen ausgesetzt sind, wenn sie das Tragen religiöser Kleidung verweigern, obwohl es allgemeiner Brauch ist.

Ein solches Szenario ist durchaus in verschiednen religiösen Kulturen denkbar und macht deutlich, wie schnell religiöse Rechte mit individuellen Menschenrechten in Widerspruch geraten können. Der Amnesty-Bericht hat mit der Beschreibung gesellschaftlicher Diskriminierung in verschiedenen europäischen Ländern sicher Verdienste. So ist die Kritik an dem durch eine Volksabstimmung durchgesetztes Nein zum Bau von Minaretten nachvollziehbar. Die Debatte über den Menschenrechtsbegriff ist damit allerdings nicht beendet.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151867
Peter Nowak

Parteilich für die Leidenden

Zum 30. Todestag des langsam wieder entdeckten Sozialpsychologen und APO-Aktivisten Peter Brückner

Es gibt in diesem Jahr gleich zwei Gründe, an den Sozialpsychologen Peter Brückner zu erinnern. Der linke Wissenschaftler starb vor 30 Jahren, am 11. April 1982, mit 59 an Herzversagen. Am 12. Mai 2012 wäre er 90 Jahre alt geworden.

Brückner, der in Hannover lehrte und die 68er Jugendrevolte unterstützte, war in der Bundesrepublik eine Art »Symbolfigur für den linken Professor«. Bis kurz vor seinem Tod war er wegen seines politischen Engagements politischen Drucks ausgesetzt. Nicht nur die Springerpresse und konservative Politiker sahen in ihm einen Linken, der sich unter dem »Schutz« des Professorenstatus staatsfeindlich betätige. Bis weit in das liberale und sozialdemokratische Lager wurde Brückner als »Radikaler im öffentlichen Dienst« geschmäht. Gleich zweimal wurde Brückner als Professor vom Dienst suspendiert und seine Bezüge gekürzt. Die Universität verhängte sogar ein Hausverbot gegen ihn.

Es war die Zeit des sogenannten deutschen Herbstes, als im Zuge der Terrorismushysterie kritische Forschung und Lehre ins Visier der Staatsorgane gerieten. Wie vielen Linken wurde Brückner Unterstützung der RAF vorgeworfen. Distanzierung von jeglichem subversiven Gedankengut war angesagt. Doch Brückner lehnte das ab. Er verteidigte öffentlich den umstrittenen Buback-«Nachruf« eines anonymen Göttinger Studenten, bekannt als »Mescalero-Affäre«. Wegen dieser Schrift fanden damals Razzien, Hausdurchsuchungen und Ermittlungsverfahren statt. Intellektuelle, die mit der Herausgabe der Schrift ein Zeichen gegen die Repression setzen wollten, wurden eingeschüchtert und zogen ihre Unterschrift zurück. Brückner stand dazu.

Der Mann, der sich selbst als »antiautoritärer Sozialist« bezeichnete, war 1922 als Sohn einer jüdischen Künstlerin und eines liberalen Demokraten in Dresden geboren worden. Die Mutter und der Halbbruder konnten sich im Nationalsozialismus durch Emigration retten, der Vater hangelte sich von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Diese Familiensituation hat ihn politisch geprägt. »Ein so gebildetes Kind wird durch seine sozialen Erfahrungen auf dem Spielplatz, im Kindergarten und in der Schule zur Parteilichkeit genötigt: für die je Leidenden und gegen die Gewalt, die ihnen rücksichtslos angetan wird«, schrieb Brückner zwei Jahre vor seinem Tod in dem Aufsatz »Über linke Moral«.

Parteinahme für die Leidenden, das war auch das Credo seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit. Brückner gehörte zu den jungen linken Intellektuellen, die mit viel Hoffnung und Engagement nach 1945 für einen demokratischen Neuanfang eintraten. Als KPD-Mitglied beteiligte er sich am Neuaufbau der Leipziger Universität. Abgestoßen von autoritären Parteistrukturen ging er 1949 in den Westen. Bei aller Kritik, die er in vielen seiner Schriften am Realsozialismus übte, ließ er sich jedoch nicht zum Kronzeugen gegen die DDR machen. Brückner, der 1967 einen Lehrstuhl für Psychologie in Hannover annahm, wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt der außerparlamentarischen Bewegung. »Was heißt Politisierung der Wissenschaft und was kann sie für die Sozialwissenschaften heißen« war der Titel seiner 1972 veröffentlichten, sehr populären Schrift. »Wie kein anderer machte er sich zum Interpreten linker Erneuerung und wie kein anderer beobachtete und analysierte er ihren widersprüchlichen und langsamen Zerfall«, beschrieb der Historiker Christoph Jünke das Verhältnis Brückners zur antiautoritären Revolte der späten 60er Jahre, die weit über das studentische Milieu hinausging.

Wie viele linke Intellektuelle dieser Zeit war auch Brückner lange vergessen, bis er in den letzten Jahren wieder entdeckt wurde. So gab der Sozialpsychologe Klaus Weber 2004 Brückners Buch »Sozialpsychologie des Kapitalismus« neu heraus. Im Vorwort schrieb Weber, die Neuauflage solle Brückner und dessen Werk »dem Vergessen entreißen, für diejenigen, die immer die Befreiung der Menschen aus unmenschlichen Verhältnissen sich zum Ziel setzen«. Anfang März dieses Jahres ging die Neue Gesellschaft für Psychologie bei einem Kongress in Berlin der Frage nach, was an Brückners Erkenntnissen heute noch aktuell ist. An der Tagung nahmen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch linke Aktivisten teil. Der Berliner Psychologe Klaus-Jürgen Bruder wies dabei darauf hin, dass sich Brückner intensiv mit den Reaktionen der Menschen auf Krisen auseinandergesetzt habe. Demnach nimmt in Krisenzeiten die Loyalität der Menschen mit dem Staat zu, autoritäre Krisenlösungsmodelle stoßen dagegen auf mehr Zustimmung. Für das nächste Jahr ist ein weiterer Kongress geplant.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/223691.parteilich-fuer-die-leidenden.html

Peter Nowak

Gefährden Israels Atomraketen den Weltfrieden?

Günter Grass und Teile der deutschen Friedensbewegung üben sich in Israelkritik

Von dem Nobelpreisträger Günter Grass ist eigentlich seit einigen Jahrzehnten bekannt, dass er sich oft und gerne zu Wort meldet. Geschwiegen hat er höchstens zu lange über seine SS-Mitgliedschaft. Die ist allerdings nicht gemeint, wenn Grass heute in verschiedenen Zeitungen ein Gedicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“ veröffentlicht, dass mit dem Satz beginnt: „Warum schweige ich, verschweige zu lange.“

Grass prangert Israels Atomwaffen an und sorgt sich darum, dass damit die iranische Bevölkerung wegen des Maulheldentums ihres Präsidenten ausgelöscht werden könnte. Die eigentliche Sorge von Grass besteht aber darin, dass Deutschland sich daran mit einer U-Boot-Lieferung an Israel beteiligt. Deswegen hat Grass jetzt beschlossen, nicht mehr zu schweigen.

Die von Grass bestimmt kalkulierte Kritik kam sofort. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden sprach von einer aggressiven Polemik und warnte vor einer Dämonisierung Israels. Der Publizist Henryk M. Broder konterte wie gewohnt weniger diplomatisch: „Nicht ganz dicht, aber ein Dichter.“ Broder wirft Grass vor, in dem Gedicht nur zusammengefasst zu haben, was er schon immer gedacht und gesagt hat:

„Ganztätig mit dem Verfassen brüchiger Verse beschäftigt, hat er keine der vielen Reden des iranischen Staatspräsidenten mitbekommen, in denen er von der Notwendigkeit spricht, das ‚Krebsgeschwür‘, das Palästina besetzt hält, aus der Region zu entfernen. Denn das ist nur ‚Maulheldentum‘, das man nicht ernst nehmen muss, so wie die Existenz einer einzigen Bombe ‚unbewiesen‘ ist, bis sie zum Einsatz kommt. In dem Falle würde Grass um die Opfer trauern und den Überlebenden Trost spenden, denn er fühlt sich dem Land Israel ‚verbunden‘.“

Lautsprecher des Mainstreams

Tatsächlich fallt auf, dass sich Grass mit der mehrmals wiederholten Floskel „Was gesagt werden muss“, „das allgemeine Schweigen“, als mutiger Mann zu inszenieren versucht, der zumal in Deutschland „mit letzter Tinte“ und Zittern vor eigenem Mut Israel vorwirft, den Weltfrieden zu gefährden. Nur ist Grass damit durchaus ein Lautsprecher einer Mehrheit nicht nur in Deutschland, sondern in vielen EU-Ländern, die Israel als Gefahr für den Weltfrieden bezeichnen. Die Gefahr einer Dämonisierung Israels ist also sehr real. Zumal das von Grass aufgeworfene Szenario eines Atomschlags, bei dem die iranische Bevölkerung umkommt, schon Teil einer Projektion ist. Schließlich sind bislang zielgenaue Anschläge gegen iranische Atomanlagen und nicht ein Atombombenabwurf gegen Teheran in der Diskussion. Bemerkenswert ist auch, dass Grass, der auch in dem Gedicht seine Verbundenheit mit Israel bekundet, keinen Gedanken daran verschwendet, dass ein Regime im Besitz von Atomwaffen gelangen könnte, dessen führenden Repräsentanten immer wieder dem Staat Israel ein schnelles Ende wünschen.

Dass Grass mit seiner einseitigen Israelschelte nicht allein ist, zeigte auch eine kürzlich in mehreren Zeitungen veröffentlichten „Erklärung aus der Friedensbewegung und der Friedensforschung“, in der ein Ende aller Kriegsdrohungen und Sanktionen gefordert wird und dabei Israel als das eigentliche Problem gebrandmarkt wird: „Das iranische Volk will – alle Indizien sprechen dafür – weder einen Krieg noch iranische Atombomben. Es wehrt sich allerdings gegen jede militärische Bedrohung von außen. Israels Atomarsenal und die militärische Einkreisung Irans durch die USA, die inzwischen in nahezu allen seinen Nachbarländern Militärbasen errichtet haben, sind wichtige Ursachen für die Rüstungsanstrengungen Irans.“

Der als langjähriger Kritiker der israelischen Rechten bekannte Publizist Micha Brumlik bezeichnete in der Tageszeitung den Aufruf als geschichtsvergessen. Warum Grass nicht einfach diese Erklärung unterschreiben, sondern aus seiner Israelkritik ein Gedicht machen musste, ist leicht zu erklären. Dann stände er nicht im Mittelpunkt der Diskussion – und das mag ein Günter Grass wohl nun mal gar nicht.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/151745
Peter Nowak

Aus Solidarität

Mit Kundgebungen in mehreren Städten wollen sich linke Gruppen in Deutschland mit dem heutigen Generalstreik in Spanien solidarisieren. »Wir wollen deutlich machen, dass auch Deutschland kein ruhiges Hinterland mehr ist«, sagt Jutta Sommer vom linksradikalen M31-Bündnis. Das Kürzel steht für einen antikapitalistischen Aktionstag, der in mehreren europäischen Ländern für den 31. März vorbereitet wird. In Deutschland wird die zentrale Demonstration an diesem Tag in Frankfurt am Main stattfinden.
Die Initiatoren der Solidaritätsaktionen sehen genug Gründe für Proteste in beiden Ländern. »Ziel des Streiks in Spanien ist es, der Kürzungspolitik und der fortgesetzten Auflösung sozialer Rechte durch die Regierung ein Ende zu setzen. Diese Politik wird auch von der EU und insbesondere der deutschen Regierung forciert«, betont Florian Wegner, Sekretär der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiterunion (FAU).

In Berlin soll es heute um 13 Uhr eine Kundgebung vor dem Haus der Wirtschaft geben. Denn die deutsche Wirtschaft, so FAU-Aktivist Wegner, verdanke ihren jüngsten Aufschwung wachsender Prekarisierung hierzulande sowie der Verarmung der Bevölkerung in Ländern wie Griechenland oder Spanien.

Auch in Stuttgart und Frankfurt am Main sind Solidaritätskundgebungen mit den Streikenden in Spanien geplant. Sie sollen nachmittags vor den spanischen Konsulaten stattfinden. Dazu rufen auch soziale Initiativen auf. Clara Sommer vom Frankfurter Bündnis spricht von einem »Praxistest für die sozialen Bewegungen«. Jetzt werde sich zeigen, ob sie ihre nationalstaatliche Begrenzung aufgeben und sich auf soziale Kämpfe in Europa beziehen könnten.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/222726.aus-solidaritaet.html
Peter Nowak

„In Griechenland wird zur Zeit ein Angriff auf die Lohnabhängigen geführt“

Auf einer Rundreise sprechen griechische Beschäftigte über die konkreten Folgen der Krisenpakete für große Teile der Bevölkerung

Eine Branche boomt in diesen Tagen in Griechenland: die Suppenküchen, wo Menschen, die teilweise keinerlei Einkünfte mehr haben, etwas Warmes zu Essen bekommen können. Allein in Athen nutzen täglich ca. eine viertel Million Menschen diese karitative Einrichtung. Auch die Zahl der Obdachlosen und der Menschen, die keinerlei Zugang zu medizinischen Leistungen haben, ist in den letzten Monaten rasant gewachsen.

Diese Zahlen nannte Konstantina Daskalopulou am Dienstagabend auf einer Veranstaltung im vollbesetzten Saal des Berliner IG-Metall-Hauses. Die Journalistin der linksliberalen Tageszeitung Eleftherotypi befindet sich mit vielen ihrer Kollegen seit mehreren Monaten im Streik. Schon seit August letzten Jahres haben sie keine Honorare mehr bekommen. Das Zeitungssterben ist Teil des griechischen Krisenprozesses. Doch nicht alle Redaktionen haben sich gewehrt wie das Redaktionsteam von Eleftherotypi.

Der Stahlarbeiter Panagiotis Katsaros gehört zu den griechischen Lohnabhängigen, die sich gegen die Krisenpolitik wehren. Er gehört zu der Belegschaft eines seit Monaten bestreikten und besetzten Stahlwerkes in der Nähe von Athen. Katsaros und Daskalopulou machen zur Zeit eine Rundreise durch verschiedene deutsche Städte. Auf ihrer ersten Station am Dienstagabend in Berlin betonten viele Veranstaltungsteilnehmer, sie hätten durch die Gäste plastisch vor Augen geführt bekommen, dass nicht der Großteil der griechischen Menschen gemeint ist, wenn die Politiker hierzulande von Griechenlandrettung reden.

Griechenland als europäisches Labor

Margarita Tsomou von der Initiative Real Democray Now – Berlin/Griechenland, die die Rundreise konzipierte, betonte auf der Veranstaltung, sie habe Verständnis, wenn in Deutschland Stimmen laut werden, dass man nicht für Griechenland zahlen wolle. Es gehe schließlich nicht um die Unterstützung der Mehrheit der dort lebenden Menschen, sondern um die der Banken.

Der griechische Arbeitsrechtler Apostolos Kapsalis, der in einem Forschungsinstitut des griechischen Gewerkschaftsbundes GSEE arbeitet, legte den Fokus auf die massive Aushöhlung der Gewerkschaftsrechte in Griechenland im Rahmen des Krisenpakets. Darauf haben bisher weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit Gewerkschafter hingewiesen. So hat die griechische Regierung auf Druck der EU-Troika ein Gesetz erlassen, das Lohnerhöhungen verbietet, bis die Arbeitslosigkeit auf 10 % zurückgegangen ist. Damit sei massiv in die Tarifhoheit eingegriffen worden. Kapsalis erläutert, dass vor allem die Branchentarifverträge, in denen die Beschäftigten eine reale Verhandlungsmacht haben, geschwächt werden und statt dessen betriebliche oder individuelle Vereinbarungen protegiert werden sollen.

Er sieht bei der Durchsetzung von neoliberalen Standards gegenwärtig Griechenland als europäisches Labor. Schon würden ähnliche Programme auch für Spanien, Portugal, Italien und vielleicht auch bald für Frankreich geschrieben, warnte der griechischen Gewerkschafter. Im Prinzip stimmte dieser Einschätzung auch Dierk Hirschel vom ver.di-Bundesvorstand zu, der in den letzten Wochen in verschiedenen Zeitungen die These vertreten hat, dass eine kämpferische, in Lohnerhöhungen mündende Tarifrunde hierzulande eine Unterstützung für die Lohnabhängigen an der europäischen Peripherie wäre.

Auf der Veranstaltung in Berlin stießen seine Ausführungen allerdings nicht nur auf Zustimmung. Schließlich legte er dort den Schwerpunkt auf das Erläutern der Probleme, die seiner Meinung nach europaweite Krisenproteste erschweren. Als er dann aber Proteste in Deutschland mit Beteiligung der DGB-Gewerkschaften frühestens für Herbst 2012 in Aussicht stellte, gab es Buhrufe. Schließlich planen Basisgewerkschaften und soziale Initiativen bereits für den 31.März und für Mitte Mai europaweite Aktionstage des Krisenprotestes.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36587/1.html
Peter Nowak

Nestlé und der Tod des Gewerkschafters

Juristen werfen Konzern Mitschuld an der Ermordung von Luciano Romero vor
In Kolumbien ist die Ermordung von Gewerkschaftern durch Paramilitärs traurige Realität. Erstmals soll jedoch die Mitverantwortung eines internationalen Großkonzerns juristisch aufgearbeitet werden.

Luciano Romero war am Morgen des 11. September 2005 in der nordkolumbianischen Provinzstadt Valledupar schwer misshandelt worden, bevor er durch die zahlreichen Messerstiche starb. Sein Tod erfolgte wenige Tage bevor der langjährige Nestle-Gewerkschafter auf einem internationalen Tribunal über den Nestle-Konzern aussagen sollte. Romero wäre einer von über dreitausend kolumbianischen Gewerkschaftern, die in den letzten Jahren von Paramilitärs getötet worden sind. Doch sein Fall hat heute schon Rechtsgeschichte geschrieben. Die Juristenvereinigung European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat kürzlich gemeinsam mit der kolumbianischen Gewerkschaft Sinaltrainal, deren Mitglied Romero war, bei der Schweizer Justiz Anzeige gegen Verantwortliche des Nestle-Konzern gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, den Tod des Gewerkschafters „durch pflichtwidriges Unterlassen fahrlässig mit verursacht zu haben. „Der Mord geschah im Kontext eines bewaffneten Konflikts, in dem Gewerkschafter und andere soziale Gruppen systematischer Verfolgung, vor allem durch Paramilitärs und staatliche Stellen ausgesetzt sind“, heißt es in der Begründung der Anzeige. So sei Romero vor seinem Tod von Nestle-Verantwortlichen fälschlich in die Nähe der kolumbianischen Guerilla gerückt worden. Ein solcher Verdacht sei unter den damaligen Verhältnissen in Kolumbien fast ein Todesurteil gewesen. Auf einer Pressekonferenz in Berlin erklärte der Sinaltrainal-Anwalt Leonardo James, dass ein kolumbianische Richter in dem Prozess gegen zwei Mitarbeiter des Geheimdienstes auf die Verantwortung von Nestle hingewiesen habe. Der Jurist sei danach ebenfalls von den Paramilitärs bedroht worden und musste das Land verlassen.
Der Sinaltrainal-Vertreter Carlos Olava zitierte bei den Pressegespräch den Ausspruch eines Paramilitärs, der bekräftigte, die Gewerkschafter seien systematisch getötet würden, weil sie der Wirtschaft gefährlich werden könnten. Tatsächlich habe die Ermordung von Romero und anderen Gewerkschaftern einen schweren Rückschlag bei den Organisierungsbemühungen zur Folge gehabt. Die Menschen hätten danach Angast gehabt, sich überhaupt noch zu organisieren.. Olava sieht auch keinen Widerspruch darin, den juristischen Weg zu gehen und trotzdem für eine kämpferische Interessenvertretung einzutreten.
Der Berliner Rechtsanwalt und ECCHR-Vertreter Wolfgang Kaleck betonte, dass mit der Anzeige juristisches Neuland betreten werde. Es gebe aber nicht um ein Medienspektakel. Neben der Aufklärung der Wahrheit über die Ermordung des Gewerkschafters soll auch die Verantwortung von Konzernen thematisiert werden. Hier könnte die Klage eine Türöffnerfunktion bekommen, hofft Kaleck, „Unternehmen wie Nestle wissen, in welchen Gefahren ihre Arbeiter schweben, wenn sie sich gewerkschaftlich organisieren und ihre Rechte als Arbeiter verteidigen. Wenn sie solche Verbrechen hinnehmen, werden sie zu schweigenden Komplizen“, heißt es in einer in der Pressemappe dokumentierten Stellungnahme. Mittlerweile hat Nestel in einer Pressemitteilung erklärt, dass der Konzern immer gegen Gewalt eingetreten sei, lehnte aber jede Verantwortung für den Tod Romeos ab.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/220947.nestle-und-der-tod-des-gewerkschafters.html Peter Nowak

Tod im Getreidefeld

Im Juni 1992 wurden in Mecklenburg-Vorpommern zwei Migranten aus Rumänien getötet. Der genaue Tathergang wurde bisher nicht aufgeklärt. Nun erinnert ein Dokumentarfilm an die Opfer.

Die Namen Grigore Velcu und Eudache Calderar kannte bisher kaum jemand. Das könnte sich bald ändern. In wenigen Monaten wird der Dokumentarfilm »Revision« in die Kinos kommen, der den bislang ungeklärten Tod der beiden Roma aus Rumänien in einem Getreidefeld in Mecklenburg-Vorpommern in den frühen Morgenstunden des 29. Juni 1992 zum Thema hat. Schon auf der Berlinale sorgte Philip Scheffners Film für Diskussionen. Vielleicht auch, weil die Männer den falschen Pass hatten, gab es in den Medien damals nur eine kurze Meldung zum Tod Velcus und Calderars. Die offizielle Version lautet, die beiden Männer seien beim illegalen Übertritt der deutsch-polnischen Grenze von Jägern erschossen worden, die die Gruppe, die in dem Getreidefeld auf ihren Transfer wartete, mit Wildschweinen verwechselt hätten. Die Schützen konnten schnell ermittelt werden. Ein ehemaliger Polizist und passionierter Jäger aus der Region sowie ein Jäger aus Hessen wurden wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Nachdem das Verfahren über mehrere Jahre verschleppt worden war, erfolgte ohne jede kritische Öffentlichkeit die Einstellung. Auch eine Revision wurde verworfen. Es habe nicht mit letzter Sicherheit geklärt werden können, wer die tödlichen Schüsse abgegeben habe, die beide Männer getötet haben, lautet die Hauptbegründung für die Einstellung.

Dabei leisteten die Jäger den von den Schüssen Getroffenen weder Erste Hilfe, noch verständigten sie einen Rettungswagen. Mindestens einer der Männer atmete noch, als er etliche Stunden später von Erntehelfern gefunden wurde, er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Ob er überlebt hätte, wenn sofort lebensrettende Maßnahmen eingeleitet worden wären, wurde nie geklärt.

Das ist nur eine von vielen Ungereimtheiten, die Scheffner aufdeckt. So sagte eine Gutachterin aus, dass bei den Lichtverhältnissen in der Morgendämmerung Wildschweine von Menschen klar zu unterscheiden gewesen seien. Auch die Ursache für einen Brand des Getreidefeldes nach den Schüssen bleibt offen. Angeblich soll ein Mähdrescher der Grund dafür gewesen sein. Vor der Kamera bestreiten zwei Feuerwehrleute, die an der Löschung beteiligt waren, dass ein Mähdrescher vor Ort gewesen sei. Scheffner befragte auch einen Freund der Getöteten, der sich mit ihnen auf den Weg nach Deutschland gemacht hatte und Augenzeuge ihres Todes wurde. Auch nach mehrmaligem Nachfragen beharrt er darauf, dass die tödlichen Schüsse mit Zielfeuerwaffen aus einem Polizeiauto erfolgt seien, das am Rande des Felds gestanden habe. Diesen Umgereimtheiten wurde in dem Verfahren, das nur drei Verhandlungstage dauerte, nie nachgegangen. Keiner der Augenzeugen, die mit den Opfern im Feld auf ihren Transfer warteten, wurde als Zeuge gehört. Die meisten von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt längst abgeschoben worden. Die Polizei hatte die Gruppe wenige Stunden nach den tödlichen Schüssen an einer nahen Autobahnraststätte aufgespürt.

Vor der Kamera wollte keiner der Schützen Stellung zu dem Vorfall nehmen oder den Angehörigen der Opfer wenigstens nachträglich Beileid aussprechen. Während der hessische Jäger erklären ließ, er habe kein Interesse an einem Kontakt mit dem Filmemacher, beauftrage der ehemalige Polizist aus Mecklenburg-Vorpommern einen Anwalt, um mitzuteilen, dass der Fall rechtsstaatlich geprüft und längst zu den Akten gelegt worden sei. Auch die versicherungsrechtlichen Ansprüche seien mittlerweile verjährt, betonte der Jurist. Schließlich hätten die Angehörigen keine finanziellen Ansprüche geltend gemacht.

Die Verwandten der Opfer waren allerdings nie über ihre Rechte informiert worden. Dabei hätte eine finanzielle Entschädigung ihr Leben vielleicht etwas erleichtern können. Velcu und Calderar waren zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, weil sie in Rumänien keine Perspektive sahen. Sie hätten mit den Einkommen ihre Familien unterstützt. Ihr Tod stürzte ihre Angehörigen zusätzlich zur Trauer auch in große soziale Not. Frau Calderar war mit ihren Kindern zeitweise obdachlos.

Der Filmemacher stellt das Ereignis auch in einen politischen Zusammenhang. Knapp zwei Monate nach den tödlichen Schüssen im Sommer 1992 belagerte ein Mob aus Nazis und Bürgern in Rostock-Lichtenhagen ein Erstaufnahmelager für Migranten. Unter den Bewohnern, die in letzter Minute evakuiert wurden, nachdem es den Angreifern gelungen war, Teile des Gebäudes mit Molotow-Cocktails in Brand zu stecken, waren auch Augenzeugen der tödlichen Schüsse auf Calderar und Velcu. Wenige Monate später wurde das Asylrecht »reformiert«, oder besser gesagt: abgeschafft.

Das rassistische Klima hatte auch Velcu schon zu spüren bekommen. Er war mit seiner Familie 1989 nach Deutschland gekommen und lebte in einem Flüchtlingsheim in Gelbensande. Seine Mutter, die in dem Heim starb, wurde auf dem Dorffriedhof begraben. 1992 wurde die Grabstätte von Velcus Mutter mehrmals von Unbekannten verwüstet. Daraufhin entschloss Velcu sich, nach Rumänien zu reisen, um die nötigen Papiere für die Überführung der Leiche seiner Mutter in das Land zu besorgen. Er starb auf seinem Rückweg nach Deutschland im Getreidefeld. Das zerstörte Grabkreuz ist bis heute in einer Kirche in der Umgebung deponiert, auf Initiative einer Lehrerin aus der Region soll das Grab von Si­minica Ecaterina wieder hergerichtet werden. Scheffner sieht darin eine erste Reaktion auf die Diskussionen um seinen Film. In diesem Jahr jährt sich der Tod von Velcu und Calderar zum zwanzigsten Mal, ebenso wie die Angriffe auf das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen.
http://jungle-world.com/artikel/2012/10/45018.html
Peter Nowak

Griechische Hochrüstung im Zeitalter der Krise

Noch 2010 gab Griechenland eine Milliarde Euro für Waffen aus

Eine Studie aus Brüssel war für die Bild-Zeitung wieder einmal ein Grund für Häme über die „Pleitegriechen“, die noch 2010 genug Geld hatten, um 1 Milliarde Euro für Rüstungsgüter ausgeben zu können. Größter Lieferant war Frankreich mit 876 Millionen Euro, gefolgt von Italien und den Niederlande. Auf Platz 4 folgt Deutschland mit insgesamt 35,8 Millionen Euro.

Schon länger ist bekannt, dass führende deutsche Rüstungskonzerne wie die Panzerfabrik KMW oder die Kieler Howalds-Werke-Deutsche Werft zu den Profiteuren der griechischen Militärpolitik gehören.

Der überproportional hohe Anteil der Rüstungsausgaben hat geopolitische und auch historische Gründe. Denn zwischen den beiden Natomitgliedern Griechenland und Türkei herrscht lediglich ein kalter Friede, der in der Vergangenheit schon mehrmals akut gefährdet war. Zypern ist seit langer Zeit ein Streitfall zwischen den beiden Ländern. Zudem gibt es Streit um die Abgrenzung der beiderseitigen See- und Lufthoheit in und über der Ägäis. Die Aufrüstung ist allerdings auch noch eine Erblast des kalten Krieges, als sowohl die Türkei als auch Griechenland an der „Südostflanke Europas“ massiv aufgerüstet wurden.
Verordnete außenpolitische Neuorientierung?

Im Zuge der Sparpolitik soll auch der Rüstungsetat um zunächst 300 Millionen Euro gekürzt werden, was allerdings nur ein erster Schritt sein dürfte. Schon wird auch von deutschen Kommentatoren wie Lothar Rühl in der FAZ gefordert, Griechenland müsse jetzt sein Verhältnis zum feindlichen Verbündeten Türkei grundsätzlich ändern.

Natürlich ist es naheliegend, die Reduzierung der Rüstungsausgaben in einem Land zu fordern, in dem zur Zeit massive Einschnitte bei den Löhnen, den Renten und Sozialleistungen umgesetzt werden. Die Reduzierung der Rüstungsausgaben müsste eine zentrale Forderung der griechischen Protestbewegung sein, die sich in den letzten Wochen im Widerstand gegen das von der EU diktierte Sparpaket lautstark zu Wort gemeldet hat. Schließlich sind Forderungen nach Einsparungen beim Militär statt auf sozialem Gebiet oder der Bildung weltweit ein grundlegendes Element sozialer Protestbewegungen.

Wenn solche Forderungen nicht gestellt werden, könnte das darauf hindeuten, dass die zentralen außenpolitischen Prämissen der griechischen Politik von einem großen Teil der Bevölkerung geteilt werden. Eine Kehrtwende in der türkisch-griechischen Zusammenarbeit kann aber nicht von außen diktiert werden, sondern muss zumindest von einem relevanten Teil der griechischen Bevölkerung unterstützt und eingefordert werden. Sollte dagegen eine Rüstungsausgabensenkung und ein neuer Politikansatz gegenüber der Türkei als EU-Diktat interpretiert werden, könnte es das Erstarken einer nationalistischen Rechten begünstigen, die schon längere Zeit nicht erfolglos durch die Krise verunsicherte Teile der Gesellschaft anspricht. Die Propaganda gegen eine EU, die nicht nur auf die Wirtschafts-, sondern auch die Außen- und Verteidigungspolitik Griechenlands Einfluss nehmen will, könnte solche Kräfte stärken.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151570
Peter Nowak

Kein Guantánamo im Mittelmeer

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde über europäische Flüchtlingspolitik entschieden
Italien hätte afrikanische Flüchtlinge, die noch auf See abgefangen wurden, nicht einfach zurück schicken dürfen. Das entschied am Donnerstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Damit stellten die Richter klar, dass das Meer kein rechtsfreier Raum ist.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasste sich auch mit der Kooperation der EU-Staaten mit dem Gadhaffi-Regime bei der Abwehr von Flüchtlingen, die heute gerne verschwiegen wird. Dabei waren Gadaffis Dienste als europäischer Grenzwächter sehr gefragt, nicht nur von der italienischen Regierung. Flüchtlinge wurden erst gar nicht auf europäischen Boden gelassen. Ihre Boote wurden gleich im Meer zur Rückkehr gezwungen.

Kritiker sprachen von einem Guantánamo auf hoher See, weil auf den Schiffen alle Rechte der Flüchtlinge suspendiert waren. So zum Beispiel im Mai 2009: Eine Gruppe von 227 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea wurde von Libyen kommend 35 Seemeilen vor der italienischen Insel Lampedusa von der italienischen Grenzpolizei und Marine aufgebracht. Zunächst dachten die Flüchtlinge, sie seien in Sicherheit, als sie auf die Schiffe der Marine gebracht wurden. Doch die transportierten sie sofort zurück nach Tripolis. Das Gericht entschied, dass die Flüchtlinge dadurch unmenschlicher Behandlung und Folter in den libyschen Flüchtlingslagern ausgesetzt wurden.

Die italienische Rechtsregierung sah in der Maßnahme einen großen Erfolg. Schließlich war es die erste Aktion nach dem Rückübernahmeabkommen mit Libyen. Deshalb fuhren mit der Grenzpolizei auch Journalisten mit, die für die mediale Verbreitung sorgen sollten. Schließlich gab es bei den Anhängern der italienischen Rechtsparteien, die damals die Regierung stellten, sogar Stimmen, die eine Bombardierung der Flüchtlingsboote forderte.

Schiffe kein rechtsfreier Raum

Die Anwesenheit von zwei französischen Journalisten auf dem Polizeiboot sorgte dafür, dass diese Rückführung den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof beschäftigte. Sie recherchierten in Libyen weiter, was mit den Abgeschobenen geschehen ist. Dort bekamen sie auch die Vollmachten von 24 Abgeschobenen, mit denen die Klagen eingereicht wurden. Der Europäische Gerichtshof stellte jetzt fest, dass mit der Rückführung gleich gegen mehrere Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen worden sei.

So seien die Flüchtlinge durch die Rückführung in Gefahr gebracht worden, weil ihnen unmenschliche Behandlung sowohl in Libyen als auch in ihren Herkunftsländern drohte. Es sei bekannt, dass in Eritrea Flüchtige mit Haft bestraft werden, nur weil sie das Land verlassen. Auf Zusagen der libyschen Regierung, wonach für den Schutz der Flüchtlinge gesorgt werde, hätte sich die Grenzpolizei schon deshalb nicht verlassen dürfen, weil das Land weder die Genfer Konvention zum Schutz der Flüchtlinge unterzeichnet, noch das örtliche Büro des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) anerkannt hatte.

Schließlich hätte Italien auch die Menschenrechtskonvention beachten müssen – den Flüchtlingen sei nämlich kein Rechtsmittel gegen ihre Zurückweisung nach Libyen ermöglicht worden. Ein solches Rechtsmittel hätte eine aufschiebende Wirkung haben müssen, so die Richter.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151490
Peter Nowak

Seltene Erden statt Menschenrechte

Kasachstan, deren Diktator heute in Berlin auf Staatsbesuch weilte, steht nicht im Fokus von hiesigen Menschenrechtsinterventionisten

Der Versuch, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen, endete in einem Blutbad, bei dem es nach Angaben von Beteiligten der Protestbewegung mindestens 70 Tote gegeben hat. Die Regierung spricht von 10 Todesopfern. Sondereinsatztruppen des Innenministeriums seien im Einsatz gewesen (Der Fluch des Öls in Kasachstan).

Nein, die Rede ist nicht von Syrien, sondern von Kasachstan. Die blutigen Vorfälle ereigneten sich vor knapp zwei Monaten, während des Streiks der Ölarbeiter in der kasachischen Stadt Zhanaozen. Selbst kritische Kommentatoren sehen die Hauptfehler der trotzkistisch orientierten Gewerkschaft und ihrer Unterstützer darin, zu naiv gewesen zu sein und die Arbeiter damit der Repression des autokratischen Regimes des Präsidenten Nursultan Nasarbajew ausgeliefert zu haben. Der hat am Mittwoch einen Staatsbesuch in Berlin absolviert.

Zu den wenigen Kritikern gehörten linke Solidaritätsgruppen und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Schon 2010 hieß es im Länderbericht dieses aus der Erbmasse der Sowjetunion entstandenen Staates: „Es gab nach wie vor zahlreiche Berichte über Folter und andere Misshandlungen, obwohl die Regierung zugesichert hatte, mit einer ‚Null-Toleranz-Politik‘ dagegen vorgehen zu wollen.“ Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Right Watch hat sich die Situation der Menschenrechte in dem Land in der letzten Zeit sogar noch verschlechtert. Nach einer Verfassungsänderung darf Nasarbajew sich so lange wie er will zum Präsidenten wählen lassen. Schon bisher konnte von demokratischen Wahlen keine Rede sein.

Doch beim Staatsbesuch spielte nicht das Menschenrechtsthema, sondern der Abschluss von Wirtschaftsverträgen die zentrale Rolle. Kasachstan ist ein wichtiger Partner für die Wirtschaftsmacht Deutschland (Rohstoffpartner Kasachstan). Das Land verfügt über seltene Rohstoffe. Neben großen Mengen an Öl- und Gasvorkommen sind es seltene Erden. Das sind Metalle, die sehr selten vorkommen und für die Produktion moderner technischer Geräte wichtig sind. So wird Samarium für den Bau von Lasergeräten benötigt, Neodym steckt in Festplatten und Lanthan in Akkus für Elektro- und Hybridautos.

Der Chinabesuch, den Merkel mit einer großen Wirtschaftsdelegation .vor wenigen Tagen beendete, diente ebenfalls der Anbahnung von Verträgen zur Sicherung dieser seltenen Erden. Doch seit das Land seine Exporte drosselt, wird Kasachstan zunehmend zu einem gefragten Handelspartner.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151386
Peter Nowak

Was stört die EU-Kommission an Ungarns Rechtsregierung?

In der ungarischen Opposition gibt es unterschiedliche Auffassungen zum Eingriff der EU

Lange Zeit konnte Ungarns Rechtsregierung augenscheinlich schalten und walten, wie sie wollte. Mit einer komfortablen Mehrheit im Rücken machte sie sich an den konservativen Staatsumbau. Die Proteste im Innern waren überschaubar und Kritik vom Ausland schien die Rechtskonservativen in ihrer Bunkermentalität nur zu bestärken. Doch seit sich in Ungarn die Folgen der Wirtschaftskrise bemerkbar machen und das Land dringend neue Kredite braucht, kann Ministerpräsident Viktor Orban die Kritik aus dem Ausland nicht mehr ignorieren.

Jetzt hat die EU-Kommission rechtliche Schritte gegen die ungarische Regierung eingeleitet. Gleich auf drei Feldern sieht sie das EU-Recht verletzt: bei der Unabhängigkeit der Notenbank, beim Pensionseintrittsalter von Richtern und bei der Unabhängigkeit des Datenschutzes.

Politische Beobachter gehen davon aus, dass Orban am ehesten bei der Bankreform zu Kompromissen gezwungen und bereit dafür ist. Er hat auch schon angedeutet, das Bankgesetz im Sinne der EU zu verändern. Am schwersten dürfte es der Regierung vor allem bei der Justizreform, einem Kernstück des Staatsumbaus, fallen, den Brüsseler Kritikern nachzugeben. Schließlich muss die Regierung dem eigenen Anhang gegenüber fürchten, das Gesicht zu verlieren, wenn sie einerseits gegen ausländische Einmischung polemisiert und Oppositionelle als Handlager des Auslands diffamiert, um dann selbst Brüsseler Vorgaben zu erfüllen.

Zumal mit der Jobbik-Bewegung eine rechte Opposition in Ungarn bereitsteht, die bereits Demonstrationen und Aktionen gegen die EU organisiert und Vergleiche zwischen Moskau vor 1989 und Brüssel zieht. Diese rechtspopulistischen Kräfte könnten von einer Schwächung des Orban-Regimes profitieren.

Weder Orban noch EU

Wesentlich schwieriger noch ist es für die liberale und linke ungarische Opposition, sich gegen die EU-Vorgaben zu positionieren. Von den liberalen Kräften wird das Vorgehen Brüssels weitgehend begrüßt. Dort wurde schon längerem ein Eingreifen gefordert. Manche Liberale wünschen sich noch stärkeren Druck aus den USA. Der ungarische Philosoph und Linksoppositionelle Gáspár Miklós Tamás warnt allerdings in einem Beitrag, erschienen in der liberalen ungarischen Zeitung hvg davor, im Kampf gegen Orban auf die EU zu setzen. Tamás warnt:

Das in der Vergangenheit schon so oft enttäuschte ungarische Volk könnte in der „Causa Demokratie“ nur das i-Tüpfelchen auf dem von den westlichen Mächten verordneten Sparmaßnahmenkatalog sehen. Letztere scheinen sich eher um Finanzstabilität zu sorgen. Wenn der Schutz der demokratischen Institutionen zwangsläufig mit einer Verarmung des ungarischen Volkes einhergeht, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Bürger nicht für eine Wiederherstellung der liberalen Demokratie begeistern, die ihnen mehr Armut bringt.

Die Stichhaltigkeit seiner Argumente kann man an der EU-Kritik am ungarischen Bankengesetz deutlich machen. Die EU-Kommission wirft der ungarischen Regierung Verstöße gegen Artikel 130 des EU-Vertrags vor, der die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken vorschreibt, sowie gegen Artikel 127, der bei Gesetzesänderungen Konsultationen mit der Europäischen Zentralbank (EZB) verlangt.

Im Detail bemängelt die Kommission, dass der Finanzminister direkt an den Sitzungen des geldpolitischen Rats teilnehmen kann, was der Regierung die Möglichkeit geben könnte, die Notenbank von innen zu beeinflussen. Auch müsse die Bank der Regierung vorab ihre Tagesordnung vorlegen, was vertrauliche Erörterungen behindere. Die Bezahlung des Notenbankpräsidenten werde schon jetzt, statt erst zur nächsten Amtszeit, verändert, was die Gefahr berge, dass auf diese Weise politischer Druck auf ihn ausgeübt werde. Problematisch sei auch, dass der Präsident und die Mitglieder des geldpolitischen Rats auf Ungarn und dessen Interessen vereidigt würden, obwohl der Präsident auch Mitglied des Erweiterten Rats der EZB sei.

Diese Kritik ist auch in dem Sinne zu lesen, dass die EU-Kommission die unabhängige Finanzpolitik eines Landes begrenzen oder gar verhindern will. Jede Regierung, mag sie auch durch Wahlen von der Bevölkerung legitimiert sein, die eine Banken- und Fiskalpolitik einschlägt, die nicht mit den Interessen der EU-Kernländer harmoniert, könnte sanktioniert werden.

Es ist nicht der von EU-Kommissionspräsident Barroso beschworene ominöse Geist der EU, der hier verletzt wird, sondern es sind Interessen von mächtigen Ländern in der EU, die hier tangiert werden. Die EU-Kommission hat nicht protestiert, als der griechischen Bevölkerung im Dezember vergangenen Jahres das Recht genommen wurde, über das Krisenprogramm abzustimmen. Dem griechischen Ministerpräsidenten Papandreous kostete der in populistischer Absicht gestartete Demokratieversuch das Amt.

Wenn Ungarns Liberale jetzt hoffen, dass auch Orban durch Druck aus Brüssel sein Amt verliert, stehen auch nicht Fragen zur Demokratie, sondern wirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt. Anders als die Liberalen positioniert sich die kleine, aber in Großbetrieben verankerte Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei in einer aktuellen Erklärung Gegen Urban, EU und IWF.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36256/1.html
Peter Nowak

Proteste gegen IWF-Politik in Rumänien

Wie in Ungarn könnte auch in Rumänien die extreme Rechte vom Unmut über der Bevölkerung profitieren

Die Proteste gegen die Sparpolitik der rumänischen Regierung weiten sich aus. Am Sonntagabend kam es in der Hauptstadt Bukarest erstmals zu militanten Auseinandersetzungen, nachdem Demonstranten die Polizeiketten durchbrochen hatten. In den Medien wird von mehr als 50 Verletzten gesprochen, die große Mehrheit waren Demonstranten. 29 Personen wurden festgenommen.

Sofort war irreführend von unpolitischen Fußballfans und Hooligans die Rede. Die Teilnahme von rechtsgerichteten Fußballfans, die nationalistische Parolen wie „Rumänien erwache“ riefen, ist sicher ein Ausdruck davon, dass Parteien und Gewerkschaften in Rumänien bei der Protestbewegung keine große Rolle spielen. Doch schon immer waren Fußballclubs auch in Rumänien mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung. Sie haben auch als Ersatz für politische Organisationen gedient. Schon lange ist dort die großrumänische Ideologie auf fruchtbaren Boden gefallen. Die scheinbaren Verlierer der Wende richten ihren Frust gegen Roma, Juden und andere Minderheiten und träumen von einem Großrumänien. Solche Stimmungen wurden in der Vergangenheit von unterschiedlichen rumänischen Regierungen instrumentalisiert und gegen die Opposition eingesetzt.

Schon in den frühen 90er Jahren mobilisierte die als Sozialdemokraten firmierenden Nachfolger der Nationalkommunisten nationalistische Bergarbeiter aus der rumänischen Provinz nach Bukarest, um die Proteste der konservativen und liberalen Opposition niederzuschlagen. Mittlerweile haben diese Kräfte schon lange die Regierungsgewalt in Rumänien inne und bewiesen, dass sie genau so populistisch, machthungrig und bestechlich sind wie die Nachfolger Ceausescus. So lieferten sich im Jahr 2007 monatelang zwei Politiker des konservativ-liberalen Lagers einen Machtkampf ohne Rücksicht auf die staatlichen Institutionen. Dabei setzte sich der rechtspopulistische Präsident Traian Basescu gegen den nicht minder konservativen Ministerpräsidenten Calin Popescu Tariceanu durch. Der Präsident erwies sich als der geschicktere Populist und konnte einen großen Teil der Bevölkerung auf seine Seite bringen und dabei die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) erfüllen. Diese Fähigkeit scheint ihm jetzt abhanden zu kommen. Die Proteste der letzten Tage richten sich vor allem gegen den Präsidenten. Sein Rücktritt wird gefordert.

IWF-Diktat in der Kritik

Zu den vom IWF aufoktroyierten Wirtschaftsmaßnahmen gehörte die Einfrierung der Renten, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Privatisierung des Gesundheitswesens. Der unmittelbare Anlass für die Proteste war die vom Präsidenten geplante Privatisierung des nationalen Rettungsdienstes und die Entlassung eines parteilosen Staatssekretärs, der dagegen opponierte.

Für einen Großteil der Bevölkerung brachte diese Wirtschaftspolitik eine noch stärkere Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Schließlich sind in den letzten Jahren die Preise und Lebenshaltungskosten erheblich gestiegen. Bei den Löhnen gehört Rumänien noch immer zu den europäischen Schlusslichtern. Lange Zeit hat die Hoffnung auf einer Besserung der sozialen Situation durch eine EU-Mitgliedschaft einen großen Teil der Bevölkerung von Protesten abgehalten. Die Freude über die EU-Mitgliedschaft war in großen Teilen der Bevölkerung weit verbreitet. Anders als etwa in Polen oder Ungarn hält die rumänische Regierung noch immer an einer baldigen Einführung des Euro fest.

Doch die Geduld der Bevölkerung scheint zu Ende zu gehen. Es wird sich zeigen, ob sich der wendige Präsident noch einmal halten kann und der Aufruf zu einem nationalen Dialog Gehör findet. Eine politische Alternative hat auch die parteipolitische Opposition nicht zu bieten. Daher könnte wie in Ungarn auch in Rumänien die immer schon starke, offen chauvinistische Rechte vom Unmut der Bevölkerung, von der Diskreditierung aller großen Parteien und vom Fehlen emanzipatorischer Perspektiven in der Gesellschaft profitieren.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151234
Peter Nowak