Statt Lohn nur Löhnchen

In Deutschland arbeitet inzwischen jeder Vierte im Niedriglohnsektor. Diese Entwicklung beeinflusst mittlerweile auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Arbeitslosigkeit und Prekarität.

Die Ergebnisse der Studie dürften jene, die sich mit der sozialen Entwicklung in Deutschland beschäftigen, nicht überrascht haben. Das zur Bundesagentur für Arbeit gehörende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat Ende Juli Zahlen vorgelegt, die belegen, dass Deutschland den zweitgrößten Niedriglohnsektor in Europa hat, nur in Litauen gibt es noch mehr Geringverdiener. Im Jahr 2010 verdiente hierzulande knapp ein Viertel aller Beschäftigten weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde. Damit ist der Anteil der Geringverdiener in Deutschland größer als in anderen westlichen EU-Ländern. Wenn man ausschließlich Vollzeitbeschäftigte berücksichtigt, ist der Anteil in Deutschland mit rund einem Fünftel zwar etwas niedriger, aber im Vergleich immer noch hoch.

Als sich das Fahren von Lieferwagen noch lohnte: In Zypern ist der Niedriglohnsektor kleiner als in Deutschland, aber dank des Sparprogramms deutscher Prägung hat die Anpassung schon begonnen (Foto: PA/ZB / Waltraud Grubitzsch)

In der Studie wird darauf hingewiesen, dass eine Beschäftigung im Niedriglohnsektor nicht unbedingt mit Armut einhergehen müsse: »Die Armutsgefährdung hängt nicht nur vom individuellen Bruttolohn, sondern auch von anderen Einkünften, von der Wirkung des Steuer- und Transfersystems und vom Haushaltskontext ab«, heißt es dort. Dabei bleibt jedoch unerwähnt, dass es sich bei einem Großteil dieser zusätzlichen Transferzahlungen um Leistungen nach dem SGB II handelt. Die Zahl der Geringverdiener hat in Deutschland bereits seit den neunziger Jahren deutlich zugenommen, richtig groß wurde der Niedriglohnsektor jedoch mit der Einführung von Hartz IV. Weil die Lohnarbeit nicht mehr dazu reicht, den Lebensunterhalt zu bestreiten, müssen sich immer mehr Beschäftigte dem Hartz-IV-Regime unterordnen. Mit den Folgen dieser Entwicklung beschäftigen sich auch 23 Sozialstaats- und Armutsforscher in einem kürzlich von Mechthild Bereswill, Carmen Figlestahler und Lisa Yashodhara Haller herausgegebenen Sammelband »Wechselverhältnisse im Wohlfahrtsstaat«. Detailliert werden dort die Veränderungen des Sozialsystems untersucht. Dabei konzentrieren sich die Autoren und Autorinnen auf die Relevanz der immer schlechter bezahlten Erwerbsarbeit, die Erosion des männlich konnotierten Alleinverdienermodells sowie die Durchsetzung des sogenannten Aktivierungsparadigmas in immer mehr Bereichen des Sozialstaates. Die Soziologen Wolfgang Ludwig-Mayerhofer und Ariadne Sondermann untersuchen die Ungleichheit in der Arbeitsverwaltung, die durch die Ausweitung der Transferleistungen immer mehr Macht erhält. Die beiden Wissenschaftler der Universität Siegen stellen dabei fest: »(Relativ) eindeutige Rechte haben Arbeitslose nur noch auf die finanziellen Unterstützungsleistungen, während nahezu alle anderen Leistungen rechtlich nur noch als Kann- oder allenfalls als Sollleistungen normiert sind.« In ihrer Untersuchung der Organisation in den Jobcentern kommen sie zu dem Fazit, dass es bei der Jobvermittlung eine Bevorzugung von Erwerbslosen gebe, die auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen haben. Die in der Verwaltungssprache als »Beratungs- und Betreuungskunden« bezeichneten Erwerbslosen mit schlechten Aussichten auf dem freien Arbeitsmarkt würden auch im Jobcenter vor allem Frustration ­erleben. Ludwig-Mayerhofer und Sondermann sprechen von einer »Drei-Klassen-Gesellschaft« bei der Jobvermittlung. Mehrere Beiträge des Sammelbands gehen auf die feministische Kritik an der Erwerbszentrierung der bisherigen Arbeitslosen- und Prekaritätsforschung ein. So kritisieren die Kasseler Soziologen Julia Weber und Marko Perels nach ihrer Auseinandersetzung mit historischen Arbeiten der Erwerbslosenforschung, dass das Lohnarbeitsverhältnis als gesellschaftliche Norm festgesetzt wurde. Äußerungen von Erwerbslosen würden dabei lediglich als Defiziterfahrung wahrgenommen. Weber und Perels beschäftigen sich unter diesem Aspekt mit der Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« von 1933, die sich mit den Folgen von Arbeitslosigkeit beschäftigt und als Klassiker der empirischen Sozialforschung gilt. Während dort vor allem die Hoffnungslosigkeit nach dem Verlust von Arbeitsplätzen betont werde, seien die Versuche der Bevölkerung, auch in Zeiten der Krise die sozialen Zusammenhänge aufrechtzuerhalten, zu wenig gewürdigt worden. Allerdings warnen die Autoren, die sich kritisch mit der Erwerbszentrierung auseinandersetzen, davor, der Lohnarbeit überhaupt keine Relevanz zuzusprechen. Das würde auch den Ergebnissen vieler Langzeitstudien über die Situation der Bezieher von Transferleistungen wie Hartz IV widersprechen. So berichten Andreas Hirseland und Philipp Ramos Laboto vom IAB: »Die hier im Fokus stehende Gruppe von Befragten erlebte ihre lang andauernde Arbeitslosigkeit und den Grundsicherungsbezug zumeist als eine mit vielfältigen alltäglichen Restriktionen verbundene Zeit.« Hirseland und Laboto weisen besonders auf den mit den materiellen Einschränkungen verbundenen Verlust von sozialen Kontakten und Beziehungen hin. »Dem Zwang zu sparsamer Haushaltsführung aufgrund der geringen finanziellen Spielräume fallen außerhäusliche (Freizeit-)Aktivitäten zum Opfer.« Die unterschiedlichen Beiträge der Publikation liefern einen guten Einblick in die Diskussionen der derzeitigen Prekaritäts- und Erwerbslosenforschung. Allerdings kommt auch dort ein Aspekt zu kurz, auf den die Studie des IAB ihre Aufmerksamkeit legt. Gerade in Deutschland wächst der Anteil derjenigen Menschen, die trotz regelmäßiger Lohnarbeit auf Transferleistungen wie Hartz IV angewiesen sind. Sie sind nicht nur mit den gleichen finanziellen Einschränkungen konfrontiert, sondern auch den gleichen Zwängen des Hartz-IV-Regimes unterworfen. Die Zunahme der Transferleistungen auch für Beschäftigte lässt daran zweifeln, dass die Lohn­abhängigen und ihre Gewerkschaften in Deutschland noch tarifmächtig sind. Zumindest macht es den Eindruck, dass die Gewerkschaften nicht in der Lage sind, für ihre Mitglieder Löhne durchzusetzen, die zumindest die Reproduktionskosten decken. Angesichts dessen ist ein Vorschlag, den belgische Gewerkschaften unter dem Motto »Helft Heinrich« (Jungle World 50/2011) bereits vor drei Jahren in die Diskussion brachten, durchaus bedenkenswert. Die Idee hinter dieser Kampagne ist einleuchtend. Weil der Niedriglohnsektor nicht nur die Beschäftigten in Deutschland betreffe, sondern auch zu geringeren Löhnen und einer Verschlechterung von Arbeitsrechten in der gesamten EU führe, sei eine Unterstützung deutscher Arbeitnehmer beim Kampf um höhere Löhne nicht nur eine Sache gewerkschaftlicher Solidarität, sondern auch im Interesse der Beschäftigten anderer EU-Länder, argumentierten die belgischen Gewerkschafter. Nach der Veröffentlichung der IAB-Studie nahmen hierzulande einige Medien irritiert zur Kenntnis, dass in Deutschland der Niedriglohnsektor größer ist als in Zypern. Dabei ist die Erklärung dafür einfach. In Zypern existierten starke Gewerkschaften, die lange hohe Löhne und gute Arbeitsbedingungen durchsetzten, bis im Zuge der Krise die von Deutschland beeinflusste sogenannte Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds auch auf Zypern deutsche Verhältnisse anordnete.

http://jungle-world.com/artikel/2013/32/48235.html

Peter Nowak