Der FDP-Parteivorsitzende findet keine deutlichen Worte zum Rücktritt Lindners
Wer erwartet hatte, dass die Erklärung des FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler eine Perspektive aus der durch den Rücktritt von Generalsekretär Christian Lindner erneut manifest gewordenen Krise der Partei erwartet hatte, sah sich getäuscht. Seine dürre Erklärung war gespickt mit Worthülsen.
So betonte Rösler, dass die Parteigremien nach vorne schauen und dass es jetzt auf Geschlossenheit in der Partei ankomme. Statt dieser Textbausteine, die zu jeder Gelegenheit wiederholt werden, hatten Journalisten erwartet, dass Rösler Aufklärung über die Hintergründe des Rücktritts liefere. Zum Streit zwischen Rösler und Lindner – der noch von dessen Vorgänger Westerwelle vorgeschlagen wurde und aus dessen Landesverband NRW kommt – schwieg sich der Parteivorsitzende ebenso aus wie über Lindners Nachfolge. Darüber solle am Freitag in den Parteigremien beraten werden. An diesem Tag will sich die Partei treffen und über das Ergebnis des Mitgliederentscheids zu den EU-Rettungsschirmen reden, dessen Prozedere zum auslösenden Moment für Linders Rücktritt wurde.
Ihm wurde angelastet, dass er schon das Scheitern der Befragung verkündet habe, bevor diese abgeschlossen war. Den gleichen Vorwurf kann aber auch Rösler selbst gemacht werden, der sich schließlich in einem BamS-Interview überzeugt zeigte, dass die Mitgliederbefragung das nötige Quorum nicht erreicht, bevor der zu Ende war. Daher bleibt der Titel des Interviews „Sind Sie nächste Woche noch Parteivorsitzender, Herr Rösler?“ auch nach den Rücktritt Lindners weiter aktuell. Zumal schon Forderungen nach dem kompletten Rücktritt des FDP-Vorstands laut werden.
Putin Rösler?
In dem BamS-Interview hatte Rösler sein Verbleiben auf seinen Posten noch an Bedingungen geknüpft: „Selbstverständlich. Wenn das Quorum scheitert, hat sich die Linie der Parteispitze und des Vorsitzenden durchgesetzt“, erklärte Rösler dort. Und wenn das Quorum doch erreicht wurde? Womöglich noch durch das Verhalten von Lindner und Rösler, die mit ihren vorzeitigen Siegesmeldungen den Eindruck erweckten, das Ergebnis stehe für sie schon fest..
In manchen Blogs wurde Rösler deswegen schon mit dem russischen Ministerpräsidenten Putin verglichen, der bekanntlich sehr eigene Vorstellungen von Wahlen hat. Doch selbst, wenn der Mitgliederentscheid das nötige Quorum verpasst hat, ist Rösler ein Parteivorsitzender auf Abruf. Spätestens nach dem nächsten Desaster der FDP bei einer Landtagswahl, vielleicht in Schleswig-Holstein, wird sein Posten wieder zur Disposition stehen.
Schließlich ist auch auffallend, dass, anders als Rösler, andere führende FDP-Politiker klare Worte zu Lindners Rücktritt fanden. So sprach die Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger von einem Schock für die Partei. Führende Liberale aus NRW sehen den Parteivorstand geschwächt.
Dort, wo viele noch Westerwelle und manche gar den vor Jahren unsanft gelandeten Jürgen Möllemann nachtrauern, könnten manche nun die Schonfrist für den glücklosen Rösler für beendet erklären. Wenn der NRW-Landesvorsitzende der FDP Daniel Bahr in einem Interview nach Lindners Rücktritt selbstbewusst erklärt „Der kommt wieder“, könnte man die Frage stellen: vielleicht als Nachfolger Röslers?
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151031
Peter Nowak
Der Fall Michael Braun – der Karrieresprung vom Mitternachtsnotar zum Justizsenator war in Zeiten der Bankenkrise nicht von Dauer
„Ich fordere Sie auf, überlassen Sie nicht alles den anderen. Lassen Sie uns Maßstäbe setzen!“ – Dieser Aufforderung des kulturpolitischen Sprechers der damals noch oppositionellen Berliner CDU, Michael Braun, kam der Politiker heute selber nach. Nach knapp zwei Wochen im Amt des Berliner Justizsenators trat Braun von seinem Amt zurück. Eigentlich sollte der Politiker heute Mittag ein Pressegespräch über den Verbraucherschutz führen, als die Ticker seinen Rücktritt vermeldeten.
Er war in den letzten Tagen nicht nur von den Oppositionsparteien, sondern auch von der SPD und schließlich von seiner eigenen Partei immer stärker unter Druck geraten, weil er als Notar Schrottimmobilien beglaubigt haben soll. Schon vor seiner Wahl protestierten Finanznachrichtendienste gegen den Aufstieg vom „Mitternachtsnotar zum Senator für Verbraucherschutz“.
Anfangs versuchte Braun sich trotz der Vorwürfe im Amt zu halten. „Soweit in den Medien Einzelfälle gravierender Baumängel dargestellt werden, weise ich darauf hin, dass es nicht zur Aufgabe eines Notars gehört, den baulichen Zustand einer Immobilie zu überprüfen“, versuchte der Politiker seine Arbeit zu verteidigen. Allein an diesem Satz wurde deutlich, dass der Senator nicht mehr lange zu halten war. Als er schließlich ankündigte, bis zur Überprüfungen seiner Notarsarbeit die Dienstgeschäfte in Sachen Verbraucherschutz an seine Staatssekretärin abzugeben, war sein Rücktritt nur noch eine Frage von Stunden.
SPD hatte Angst mit in die Affäre gezogen zu werden
Dass sein Abgang sehr schnell kam, lag auch an dem Druck der Berliner SPD. Schließlich befürchtete der größere Koalitionspartner, mit in eine Affäre hineingezogen zu werden, die Erinnerung an den West-Berliner Sumpf der 1980er und 1990er Jahre weckt. Daran war 2001 schließlich die große Koalition zerbrochen, als der damals noch neue Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit zunächst eine Koalition mit den Grünen antrat, um nach den für die CDU verlustreichen Neuwahlen ein Bündnis mit der PDS einzugehen.
Im noch vom Frontstadtklima geprägten West-Berlin war diese Entscheidung durchaus nicht risikolos. Doch Wowereit gelang es, die PDS und ihre Nachfolgepartei zu einem pflegeleichten Koalitionspartner zu domestizieren, der im Laufe der Regierungszeit mehr als die Hälfte ihrer Wähler verlor. Vor den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus gingen fast alle Analysten von einem von der SPD und den Grünen gestellten Senat aus. Umfragen ergaben auch, dass diese Konstellation von der Mehrheit der Wähler und Mitglieder beider Parteien gewünscht wurde.
Doch der Machtmensch Wowereit sah in der Union den weniger konfliktträchtigen Koalitionspartner und holte sich damit prompt den Berliner Sumpf der vergangenen Jahre zurück. Daher drohte die Affäre Braun auch zur Affäre Wowereit zu werden. In seiner knappen Erklärung nannte er Brauns Rücktritt „eine notwendige Entscheidung“. Auch die Berliner CDU dürfte über den schnellen Abgang Brauns erleichtert sein. Schließlich versuchte sie fast ein Jahrzehnt Distanz zum Berliner Sumpf zu gewinnen, mit dem sie durch die Affäre Braun nun wieder verbunden wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151019
Peter Nowak
Absender der Briefbombe sollen laut einem Bekennerbrief italienische Anarchisten gewesen sein, die angeblich noch zwei weitere Sprengsätze verschickt haben
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank Josef Ackermann ist nur durch Zufall einen Briefbombenanschlag entkommen. Wie das Hessische Landeskriminalamt mitteilte, enthielt der an ihn persönlich adressierte Brief, der am Mittwoch an der Poststelle der Deutschen Bank abgefangen wurde, eine funktionsfähige Briefbombe.
Laut LKA-Angaben enthielt die Postsendung ein Pulver, dass sich an der Luft entzünden und dabei schwere Verletzungen hätte hervorrufen können. Aus ermittlungstechnischen Gründen wurde zur genauen Zusammensetzung nichts gesagt. Ein LKA-Sprecher erklärte allerdings, es handle sich nicht um gewerblichen oder militärisch genutzten Sprengstoff, sondern um einen Eigenbau, wie er in Feuerwerkskörpern genutzt wird. Die explosive Sendung sorgt für Unruhe. So fragt sich der Börsenhändler Oliver Roth, ob der Anschlag der gesamten Finanzwelt galt.
Bekennerschreiben aufgetaucht
Mittlerweile ist das Bekennerschreiben einer Gruppe namens Informelle Anarchistische Föderation (FAI) aufgetaucht. In dem Schreiben wird von „3 Explosionen gegen Banken, Bankiers, Zecken und Blutsauger“ geredet. Daher sucht man nun nach den möglichen Empfängern weiterer Briefbomben in der Finanzwelt.
Nicht nur die in linken Kreisen unübliche Wortwahl der FAI stößt auf Ablehnung. Die Gruppe hatte sich bereits in der Vergangenheit zu Briefbombenanschlägen bekannt (Neuauflage der Strategie der Spannung?, Italienische Anarchisten sollen hinter Anschlag auf swissnuclear stecken).
FBI hat sich eingeschaltet
Wie ernst die Briefbombe genommen wird, zeigt sich auch daran, dass sich die US-Bundespolizei FBI in die Ermittlungen eingeschaltet hat. Die FBI-Ermittlungsgruppe für Terrorismus arbeitet mit den deutschen Behörden zusammen, um den Vorfall in Frankfurt aufzuklären und mögliche Bedrohungen gegen Menschen und Einrichtungen auszumachen“, bestätigte ein FBI-Sprecher. Denn in diesen Tagen sorgt ein versuchter Anschlag auf einen zentralen Bankier, der von vielen Aktivisten der Protestbewegungen für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wird, für besondere Aufmerksamkeit.
Zu den aktuell wichtigsten Bankenkritikern zählt die Occupy-Bewegung, die seit Wochen ihre Zelte vor der EZB in Frankfurt/Main aufgeschlagen hat .Von dort kann eine klare Verurteilung des versuchten Anschlags: „Ein zentrales Mittel der weltweiten Occupy-Bewegung in allen Städten ist der offene Diskurs, gerade auch bei gegensätzlichen Positionen und bei auf den ersten Blick unvereinbaren Gesprächspartnern. Gewalt, Hass und Ausgrenzung haben dabei keinen Platz“, heißt es dort.
Tatsächlich hat Occupy-Frankfurt Ackermann bereits Ende November zu Gesprächen eingeladen, nachdem es zuvor zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Bankier und Occupy-Aktivisten gekommen war. Dass die Einladung ernst gemeint ist, zeigte das Gespräch, das Besetzer aus Berlin mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel geführt haben und das mit dem Austausch von Handynummern endete . Auch die globalisierungskritische Organisation attac, ein weiteres Zentrum der Bankenkritik, distanzierte sich von dem Anschlagsversuch auf Ackermann.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/150994
Peter Nowak
In Bonn demonstrierten knapp viertausend Menschen gegen die Afghanistan-Konferenz und für den Abzug der Bundeswehr. In anderen Punkten waren sie sich weniger einig
Diesen Empfang hatte der Grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele nicht erwartet. Der Politiker, der gern als letzter Kriegsgegner in seiner Partei angesehen wird, konnte bei der Abschlusskundgebung einer bundesweiten Demonstration gegen die Afghanistan-Konferenz am vergangenen Samstag in Bonn erst im vierten Anlauf seine Rede verlesen. Ein Viertel der Zuhörer hatte ihm mit Sprechchören sowie Eier- und Tomatenwürfen zuvor deutlich gemacht, dass er hier eigentlich nicht erwünscht ist.
Der Vorfall sorgte für schlechte Stimmung unter den Organisatoren der Proteste. Monty Schädel von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner wollte die Querelen um Ströbele nicht kommentieren. Es sei im Vorfeld sehr ausführlich über die Rednerliste gesprochen worden – auch mit den Ströbele-Kritikern.
Hinter der Auseinandersetzung steckt auch ein Generationskonflikt. Während ältere Friedensaktivsten in Ströbele den letzten Aufrechten in seiner Partei sehen und als Anerkennung immer wieder einladen, wollen vor allem jüngere Antimilitaristen einen Trennungsstrich zu den Grünen ziehen. Dieser Partei und nicht dem Politiker Ströbele persönlich galt denn auch der Protest am Wochenende. So erinnerte eine Rednerin des Jugendblocks auf der Demonstration daran, dass die Grünen den Krieg in Afghanistan von Anfang an mehrheitlich mitgetragen haben.
Solche Auseinandersetzungen sind in der Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland nicht neu. Als sich in den achtziger Jahren am Widerstand gegen die vom damaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt forcierte Stationierung von Nato-Mittelstreckenraketen auch zunehmend oppositionelle Sozialdemokraten beteiligten, sorgten Protest-Auftritte von Erhard Eppler und später auch der von Willy Brandt für heftige Proteste unter den Demonstranten.
Demoskopische Mehrheit, protestierende Minderheit
Die zogen damals allerdings zu mehreren Hunderttausend auf die Straße und vor die US-Kasernen. Am vergangenen Samstag hatte die Friedensbewegung in Bonn knapp viertausend Menschen mobilisieren können. Damals, als sich die Bundesrepublik als mögliches erstes Opfer einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken wähnte, war es leichter zu mobilisieren, als heute, wo Deutschland selbst Kriege führt – wie den in Afghanistan.
Dass eine „selbstbewusste Nation“ mit „Weltgeltung“ auch militärisch intervenieren kann, wird von einer großen Mehrheit in der Bevölkerung nicht grundsätzlich infrage gestellt. Allerdings meinen viele, dass das Leben deutscher Solldaten nicht am Hindukusch geopfert werden soll. Daraus erklär sich das scheinbare Paradoxon, dass in Umfragewerte Kritik an der Afghanistan-Politik der Bundesregierung deutlich wird, eine große Bewegung gegen das deutsche Engagement aber nicht zustande kommt. Ein wenig hilflos wirkte es vor diesem Hintergrund, wenn der langjährige Friedensaktivist Reiner Braun darauf insistiert, dass es gelingen müsse, die Umfragewerte gegen die Afghanistanpolitik in Straßenproteste umzusetzen.
Dort würden neue Friedensbewegte sicher ein wenig erstaunt feststellen, dass es in der außerparlamentarischen Linken über die Beurteilung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr heftige Auseinandersetzungen gibt. Eine Strömung wirft den prinzipiellen Gegnern des deutschen Engagements am Hindukusch vor, die Augen davor zu verschließen, dass eine Rückkehr der Taliban durchaus nicht unrealistisch ist. Tatsächlich wurde die Forderung nach einer Dialogaufnahme mit den Taliban von verschiedenen Rednern auf der Protestdemonstration geäußert. Damit war man sich scheinbar auch mit den Protagonisten der offiziellen Afghanistan-Konferenz einig, die mehrheitlich einen Dialog zumindest mit einem Teil der Taliban forderten.
Verhandeln mit den Taliban?
Ganz anders sieht das die afghanische Menschenrechtlerin Malalai Joya, die auf einer in Bonn von der Linkspartei und Friedensgruppen gemeinsam organisierten Konferenz „für ein selbstbestimmtes Afghanistan“ vehement gegen jede Besatzung – aber auch jede Form vom Islamismus sprach. Der habe nicht zuletzt in den prowestlichen afghanischen Kreisen eine feste Burg, was von Vertreter der Friedensbewegung mitunter übergangen werde: Worüber sollte mit den allzu schnell in den Stand von Verhandlungspartner erhobenen Taliban eigentlich verhandelt werden? Es müsste wohl viel deutlicher ausgesprochen werden, dass den Rechten der Frauen und der politischen Linken in Afghanistan weder durch Besatzungssoldaten noch durch Islamisten geholfen ist.
Unterdessen gingen die Proteste gegen die Afghanistankrieg weiter. Während der Bonner Konferenz forderten Abgeordnete der Linkspartei lautstark einen Abzug der Truppen – und entrollten nach der Rede von US-Außenministerin Hillary Clinton vor den Vertretern von 85 Regierungen ein Transparent: „NATO = Terror – Troops out now“.
Nur 2000 nahmen am Protest der Friedensbewegung teil, der grüne Kriegsgegner Christian Ströbele wurde mit Eiern beworfen
Für die Musiker der niederländische Rockband Bots müssen wehmütige Erinnerungen aufkommen sein, als sie am Samstagnachmittag auf dem Bonner Kaiserplatz zum Abschluss einer bundesweiten Demonstration gegen die Afghanistankonferenz ihre Lieder gegen Krieg und Ungerechtigkeit spielten. Schließlich hatten sie knapp 30 Jahre zuvor nur wenige Meter entfernt im überfüllten Hofgarten ihre Auftritte.
Am Samstag war der ungleich kleinere Kaiserplatz nicht mal zur Hälfte gefüllt. Der Unterschied: Vor zwei Jahrzehnten hatte die deutsche Friedensbewegung gegen US-Raketen mobilisiert und sich als Opfer der Großmächte gesehen. Seit dem Ende der Nachkriegsordnung ist Deutschland endgültig als eigene Macht auf der internationalen Bühne präsent, und in diesen Kontext wird auch der Einsatz in Afghanistan von der deutschen Politik verstanden. Obwohl es seit Jahren durchaus Umfragemehrheiten gibt, die es zumindest ablehnen, dass Blut deutscher Soldaten in Afghanistan vergossen wird, sind noch nur wenige bereit, dagegen auf die Straße zu gehen. Denn gegen eine selbstbewusste Nation, die auch militärisch ihre Interessen vertritt, hat nun mal ein Großteil der deutschen Bevölkerung nichts einzuwenden. Deshalb waren auch die von einem deutschen Oberst zu verantworteten afghanischen Opfer eines Luftwaffenangriffs von Kunduz kein Grund für massenhafte Proteste in Deutschland.
Daher war auch das Vorbereitungskomitee, das die Proteste gegen die Petersberger Afghanistankonferenz organisierte, trotz der geringen Beteiligung recht zufrieden. Schließlich hatte neben den bekannten Gruppen aus der alten Friedensbewegung, linken Gruppen, jüngeren antiimperialistischen Kreisen und der Linkspartei auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit zu den Protesten aufgerufen. „Verdi ist hier mit einer klaren Botschaft: Der Krieg in Afghanistan muss ein Ende haben“, erklärte Wolfgang Uellenberg vom Verdi-Bundesvorstand.
Verhandlungen auch mit den Taliban?
Er sprach sich für Verhandlungen mit allen am Krieg in Afghanistan beteiligten Kräfte einschließlich der Taliban aus und bekam dafür viel Applaus. Als der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele inhaltlich das gleiche sagen wollte, gab es von ca. einem Drittel der Demoteilnehmer lautstarke Proteste. Sogar Obst und Eier wurden geworfen. Sie protestierten damit gegen die Grünen, denen sie vorwarfen, den Krieg in Afghanistan mitgetragen zu haben.
Die Appelle von der Bühne, auch von den beiden Delegierten der afghanischen Opposition, konnten die Empörten zunächst nicht beruhigen. Erst nachdem bei einer Abstimmung eine klare Mehrheit der Anwesenden Ströbele hören wollte, beruhigte sich die Lage. Wie der Vorfall im Bündnis diskutiert wird, ist offen. Der politische Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner, Monty Schädel, der zu den Demoorganisatoren gehört, betonte, dass im Vorfeld auch mit den Kritikern ausführlich über die Rede von Ströbele diskutiert worden sei.
Schon am Freitag hatten Kriegsgegner das Büro der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit für einige Stunden besetzt, um gegen eine „kriegerische Entwicklungspolitik“ und eine „zivilmilitärische Kooperation zwischen Bundeswehr und Nichtregierungsorganisationen“ zu protestieren. Auf einer gut besuchten internationalen Konferenz Für ein selbstbestimmtes Afghanistan hielt die afghanische Frauenrechtlerin Malalai Joya eine leidenschaftliche Rede gegen Besatzung und islamischen Fundamentalismus.
Vor ihr erinnerte der in Afghanistan geborene Wissenschaftler Matin Baraki daran, dass Ende der 70er Jahre eine linke Regierung in Afghanistan grundlegende Reformen durchführte und die Emanzipation der Frauen durchsetzte, dabei aber viele Fehler und Verbrechen beging. Heute werde diese Phase der afghanischen Politik zu Unrecht nur mit der sowjetischen Besatzung assoziiert, kritisiert Barak. Dabei hätte der dieser Versuch, eine emanzipatorische Politik durchzusetzen, die kritische Solidarität nötig gehabt.
Auf dem grünen Parteitag wurden grundlegende politische Diskussionen nicht geführt
Nach dem Parteitag der Grünen geht es zum Protest. Die Parteitagsregie und der Castorwiderstand machten es möglich, dass viele Delegierte des grünen Parteitags doch noch von Kiel in das Wendland fahren und zumindest symbolisch Präsenz zeigen konnten. Auf dem Parteitag wurde denn auch immer wieder über die Stationen des Castors informiert. Es sollte in der Öffentlichkeit gar nicht erst der Eindruck entstehen, dass die Grünen den Castorwiderstand für Vergangenheit halten.
Allerdings war dieser Eindruck nicht zuletzt durch ein Interview entstanden, das der neue grüne Hoffnungsträger, der erste grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Zeit gegeben hatte. „Der Protest macht keinen Sinn mehr“, wurde dort der von den Medien nach dem Parteitag mit Begriffen wie „grüner Papst“ titulierte Politiker zitiert. Auch auf dem Parteitag machten sich einige per Twitter über den Personenkult um Kretschmann lustig.
Hat die Partei also einen neuen Joschka Fischer? Wie beim Ex-Außenminister lässt sich auch bei Kretschmann schon jetzt feststellen, dass Inhalte ausgeblendet werden. So wurde auch der baden-württembergische Ministerpräsident auf dem Parteitag gefeiert, obwohl es im Vorfeld viel Kritik dafür gab, dass er bei der neuen Endlagersuche den Standort Gorleben nicht ausgeschlossen hatte. Nun hört sich die vehemente Forderung aus dem Wendland, dass unter allen Regionen Deutschlands ausgerechnet die dünnbesiedelte Gegend um Gorleben auf jeden Fall für ein Atommüll-Lager ungeeignet sein soll, nach dem Prinzip an: „Hautsprache nicht hinter meinen ökologisch gedüngten Kleingarten“.
Gorleben ist aber für die grüne Seele wichtig, weil viele dort schon mal demonstriert haben. Daher gab es im Vorfeld viel Kritik an Kretschmanns Kompromiss. Doch wie so oft in der grünen Geschichte ist für die grüne Seele seit Jahren Claudia Roth zuständig, wenn es um die Macht geht, wird dann doch Kretschmann bejubelt, wie ein Jahrzehnt vorher Fischer.
Ein Wunder oder ein Fiasko von Stuttgart?
Dabei ist die Position des ersten grünen Ministerpräsidenten gar nicht so sicher, wie es scheint. Vieles wird von dem heutigen Ausgang der Volksabstimmung über das Bahnprojekt Stuttgart 21 abhängen. Wird es mit der nötigen Quote abgelehnt, werden alle vom Wunder von Stuttgart reden und die Grünen werden ihren Politiker bei den schwierigen Verhandlungen der Abwicklung den Rücken stärken. Sollte es ein klares Votum für den Bau von Stuttgart 21 geben, wird die grüne Seele eine Nacht baumeln und dann wird die Partei ihre Regierungsfähigkeit damit begründen, dass sie einen Konflikt auf besondere Weise befriedet hat. Ein umstrittenes Projekt wird mit dem Bürgervotum geadelt gebaut, und wer weiterhin dagegen ist, wird marginalisiert. Ein solches Konfliktbearbeitungsmodell würde die Partei auch an anderen Brennpunkten interessant machen.
Doch was passiert, wenn das hohe Quorum der Volksbefragung in Baden-Württemberg knapp verfehlt, aber eine hohe Ablehnung des Bahnprojekts zustande kommt? Wie reagiert dann der Koalitionspartner SPD, der sich für das Projekt ausspricht? Und wird auch dann die grüne Basis still leiden und das Projekt ansonsten nicht mehr gefährden? Diese vielen offenen Fragen, die an der Zukunft von Kretschmann als Ministerpräsident hängen, dürfen bei dem großen Applaus für ihn in Kiel nicht außer Acht gelassen werden. Schnell kann das Wunder von Stuttgart zu einem Fiasko werden, wenn die Koalition am Streit um die Interpretation der Volksabstimmung zerbrechen sollte.
Wie schnell Hoffnungsträger bei den Grünen out sind, musste erst vor einigen Monaten Renate Künast in Berlin erleben. Als Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin mit viel Vorschusslorbeeren aufgestellt, wurde sie bald für alle Fehler des Grünen Wahlkamps in Berlin verantwortlich gemacht. Am Ende hatte die Partei eine innerparteiliche Polarisierung erlebt, wie er in der Partei eigentlich nach dem Austritt der Linken vor nun mehr als 20 Jahren nicht mehr für möglich gehalten wurde.
Nachdem bei der Vorstandswahl in Berlin die Realos alle Posten für sich reklamieren konnten, rebellierte der linke Flügel und meldete sich sogar mit einer eigenen Pressekonferenz zu Wort. Vorerst ist ein kalter Friede in der Berliner Partei verordnet worden, nachdem der Exponent des rechten Parteiflügels Volker Ratzmann von seinen Vorstandsposten zurücktrat. Der linke Flügel konnte sich allerdings auch nicht mit seiner Forderung nach einen eigenen Kandidaten durchsetzen, so dass jetzt die pragmatischer auftretende Ramona Pop die Vorstandsarbeit alleine ausführt.
Steuersatz wie unter Helmut Kohl zu radikal?
Solche grundlegenden politischen Differenzen kamen auf dem Parteitag gar nicht erst auf. Konflikte, die es um den neuen grünen Steuersatz gab, wurden schon im Vorfeld von der Parteitagsregie geglättet. So befürchteten wichtige Parteiexponenten, die guten Beziehungen zu der Wirtschaft könnten gestört werden, wenn auf dem Parteitag wie von der Grünen Jugend und einigen Wirtschaftspolitkern gewünscht, ein Spitzensteuersatz von 52 %, wie er unter der schwarz-gelben Bundesregierung unter Helmut Kohl galt, als künftige Richtschnur festgelegt worden wäre.
„Wir müssen mit der ausgestreckten Hand, nicht mit der Faust auf die Wirtschaft zugehen“, betonte der Parteivorsitzende Cem Özdemir, als sei die Kohl-Regierung ein Hort des Klassenkampfes gewesen. Doch seine Intervention hatte am Parteitag Erfolg. Die Delegierten sprachen sich mehrheitlich für einen Spitzensteuersatz von 49 % ab einem Jahreseinkommen von 80.000 Euro aus. Den grünen Schulterschluss mit der Wirtschaft symbolisierte der Generalsekretär des Handwerksverbandes, Holger Schwannecke, als einer der Hauptredner. Als Partner der Wirtschaft wollen die Grünen Deutschland in einen grünen Kapitalismus führen.
Partei der moderaten deutschen EU-Interessen
Auch die Frage der Finanzmärkte soll in enger Kooperation mit der Wirtschaft angegangen werden. Die Grünen gaben sich ein betont EU-freundliches Programm und sprachen sich im Gegensatz zur Bundesregierung, aber im Einklang mit vielen Politikern anderer EU-Staaten für Eurobonds aus.
Als einer der bejubelten Gastredner nahm der vor wenigen Wochen von den EU-Gremien gestürzte griechische Ministerpräsident Papandreou am grünen Parteitag teil. Gerade die Weichenstellung als Pro-EU-Partei könnte die Grünen als Regierungspartner auch für die Eliten aus der Wirtschaft interessant werden lassen. Die Bundesregierung hat sich mittlerweile mit ihrer Ablehnung von Eurobonds und ihrer Betonung des Wirtschaftsliberalismus nicht nur bei großen Teilen der Bevölkerung in den EU-Staaten, sondern auch bei vielen Politikern und Ökonomen isoliert. Es könnte sich bald erweisen, dass sie sich damit in eine Sackgasse manövriert hat. Dann könnten die Grünen als Partei, die die deutschen Interessen in der EU scheinbar moderater und mehr im Einklang mit den Partnerländern treffen will, an Bedeutung gewinnen.
Wenn in immer mehr EU-Staaten, nicht nur an der Peripherie, von einen deutschen Diktat geredet und selbst in Frankreich Unmut über die Merkel-Linie laut wird, kommt eine Partei, die die anderen EU-Ländern nicht von Anbeginn das Gefühl gibt, sie seien nur untergeordnet, gut an. Was die grüne EU-Linie in der Praxis für große Teile der Bevölkerung bedeutet, steht auf einem anderen Blatt. Von der vielfältigen Protestbewegung gegen die sozialen Zumutungen des wirtschaftlichen EU-Diktats, die es in Griechenland, Spanien und Portugal gibt, wurde auf dem Parteitag wenig Notiz genommen.
Eingeknickt vor der Verwertungsindustrie?
Auch der Versuch grüner Netzpolitiker, das Urheberrecht gründlich zu reformieren, wurde zunächst vertagt. Ihr Antrag, das Urheberrecht auf 5 Jahre auf Veröffentlichung zu begrenzen, fand keine Mehrheit („VermittlerInnen“ und „ProduzentInnen“). „Grüne fürchten den Zorn der Kreativen“, titelten die Medien schon im Vorfeld.
Doch es war wohl eher die kreative Lobbyarbeit der Rechteverwertungsindustrie, die ihre Interessen gerne mit schlecht bezahlten Künstlern begründet, die das Votum der Delegierten beeinflusst haben dürfte. Der Berliner Konzertagent und Publizist Bertold Seliger hat kürzlich mit seinem Artikel über diese ideologische Verknüpfung in der Zeitschrift Konkret eine Debatte ausgelöst, bei der neben Polemik auch viele bedenkenswerte Argumente ausgetauscht wurden.
Auf dem Parteitag der Grünen wurde hingegen der Antrag zur Verkürzung des Urheberrechts lediglich unter den Blickpunkt vertagt, wie man es vermeiden kann, bei der Wirtschaft anzuecken. Dieses Prinzip galt auch für die Debatte um ein erneutes NPD-Verbotsverfahren. Nur, wenn es erfolgreich zu Ende geführt werden kann, lautet die Formel, die zur Zeit aus allen politischen Lagern zu hören ist. Da aber in einer juristischen Auseinandersetzung ein Erfolg nicht sicher sein kann, heißt das, es wird kein neues Verfahren geben.
Ob das Prinzip „Schulterschluss mit der Wirtschaft und bloß nirgendwo anecken“, auf die Dauer ausreicht, um auf der grünen Erfolgswelle der letzten Monate weiter zu surfen, ist fraglich. Der Einschnitt bei der Berliner Wahl ist ein erstes Zeichen, dass die Partei wieder in der Realität angekommen ist und zur Kenntnis nehmen muss, dass sie ein festes Wählerpotential von knapp 10 % hat.
http://www.heise.de/tp/artikel/35/35954/1.html
Peter Nowak
Occupy-FDP ruft zum Entern bzw. zu einer freundlichen Übernahme der Liberalen durch einen Masseneintritt in die Partei auf
Die Tage werden kürzer und kälter und das Leben der Occupy-Aktivisten in ihren Zelten dementsprechend härter. Da scheinen einige auf die Idee gekommen zu sein, mal die FDP zu besetzen. Platz genug ist dort ja, seit die Partei in der Wählergunst zur Splittergruppe degradiert wird. Ist sie am Ende auch mathematisch das ominöse 1% in der Gesellschaft, gegen das die Occupy-Bewegung mobil macht?
Wer auf der Homepage von Occupy-FDP dazu Antworten erwartet, wird allerdings enttäuscht sein. Dort heißt es:
„Wir zeigen der FDP, was freie Märkte bedeuten. Wir übernehmen die Mehrheit der FDP und stellen sie auf ein neues Fundament. Oder wir lösen sie auf.“
Unter den Zielen wurde aus der ursprünglichen feindlichen mittlerweile die freundliche Übernahme. Als erstes wollen die Initiatoren 65.000 Mitglieder gewinnen, soviel wie die FDP bereits hat. Um auch niemanden auszuschließen, wird den potentiellen Neueintritten versichert, dass sie die FDP ja nicht wählen müssen. Zudem sollen Personen, „die einen sozial, ökologisch und ökonomisch verantwortungsvollen Kurs nicht unterstützen“, aus allen Schlüsselpositionen entfernt werden. Doch auch wenn die FDP die Besetzer nicht hereinlässt, sehen sich die Besetzer als Sieger. Am Ende des Absatzes heißt es dann fast kämpferisch: „Der Angriff auf die FDP ist also in jedem Fall erfolgreich.“
Da ist das Interview, das zwei FDP-Besetzer mit den Alias-Vornamen Guido und Philipp der Süddeutschen Zeitung gegeben haben, mehr auf das neue Zielobjekt zugeschnitten.
„Wir sind keine Anarchisten, sondern kommen aus der bürgerlichen Mitte“, bekennt Philipp. Sein Mitbesetzer ergänzt. „Wir sind keine linken Spinner, die mit Schildern auf der Straße stehen, sondern mittelständische Unternehmer, teils auch mit Familie. Was die Anonymität angeht, ist es wichtig zu betonen, dass es nicht um einzelne Köpfe, sondern um die Gemeinschaft geht.“
Bei solchen Statements fragt man sich, warum sie nicht einfach einen Mitgliedschein ausfüllen. Aber es scheint zur Zeit besonders angesagt, überall Occupy-Label dranzuheften. Die Phrasendichte im Interview reicht auch bei den Neubesetzern schon an die etablierter Politiker. So darf die Leerformel, dass der Mensch systemrelevant ist, nicht fehlen. Auch einige Kostproben ihrer männlichen Steherqualitäten haben Guido und Philipp schon abgegeben:
„Die FDP ist ein sehr sinnvoller Übernahmekandidat. Es gibt eine Regierungsbeteiligung, aber es fehlt an kompetentem Personal. Wenn Angela Merkel etwas passieren würde, wäre Philipp Rösler Kanzler – mit null Prozent Unterstützung in der Bevölkerung. Hätte die FDP Eier in der Hose, hätte sie längst aufgehört.“
Vielleicht gelingt es den Neueinsteigern damit, die Frauenquote in der FDP in Richtung Piratenpartei zu senken.
Vorbild „Projekt Absolute Mehrheit“ scheiterte
Die Frage, ob es sich hier um eine freundliche oder feindliche Übernahme handelt, ob hier Occupy-Aktivisten über den Winter ein warmes Plätzchen suchen oder gelangweilte Mittelständler ihren Parteieintritt modisch zelebrieren, dürfte bald uninteressant werden. Schließlich gibt es für die Aktion ein Vorbild.
Während des Studierendenstreiks 1998 riefen einige Berliner Bildungsaktivsten das Projekt Absolute Mehrheit aus. Auslöser war ein Taz-Beitrag des Politologen Tobias Dürr, in dem er schrieb, die Teilnehmerzahl eines überfüllten Proseminars würde genügen, um in Orts- und Kreisverbänden der etablierten Parteien neue Mehrheiten zu schaffen und andere Themen auf die Tagesordnung zu setzen.
Während vor allem die konservativen FDP-Bezirke die studentische Übernahme mit allen bürokratischen Mitteln behinderten, freuten sich andere auf den Zulauf. Nach einigen Monaten haben die Organisatoren ihr Projekt offiziell für gescheitert erklärt. Der Initiator wechselte zu den Grünen. Für ihre Wiedergänger 12 Jahre später stünde dann wohl die Piratenpartei bereit.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/150909
Peter Nowak
Die »Occupy«-Bewegung entspricht voll und ganz dem »postideologischen« Common Sense großer Teile der Gesellschaft. Kein Wunder also, dass sich die krudesten Sekten und Milieus dort wiederfinden.
»Wir möchten ein Forum für alle Bürger schaffen, um offen zu diskutieren, wie wir in Zukunft anders wirtschaften können, damit nicht die Gewinnmaximierung einiger weniger auf Kosten der Allgemeinheit geht. Echte Demokratie zum Wohle aller. Wir sind das Volk und möchten endlich mitreden. Wir möchten friedlich demonstrieren – denn wir wollen einen friedlichen Wandel. Eines unserer Anliegen ist es, ein neues globales Bewusstsein zu schaffen. Ohne Ideologie durch unterschiedliche politische Lager hinweg. Wir sind alle Menschen und wir müssen alle umdenken.«
In diesen Sätzen aus der Selbstdarstellung, die im Oktober auf der Homepage des Berliner »Occupy«-Camps zu lesen war, kommt die Grundeinstellung der neuen Bewegung, so heterogen sie auch sein mag, sehr gut zum Ausdruck. Es geht ihr nicht um politische Interessen, die es gegen andere Interessengruppen durchzusetzen gilt. Im Diskurs der »Occupy«-Bewegung wird vielmehr von einem globalen Bewusstseinswandel, an dem alle irgendwie teilhaben sollen, schwadroniert. Zugleich werden die Interessen der Allgemeinheit beschworen und »das Volk« wird zum Mitreden aufgefordert. Das sind dann wohl die vielzitierten 99 Prozent. So vage wie die Ziele sind auch die Aktionen dieser Bewegung, die auch schon mal »Meditationen für ein friedvolles Wirtschaftssystem« auf ihrer Website bewirbt.
Dass sich in einer solchen Szene Verschwörungstheoretiker und Esoteriker aller Couleur finden, kann kaum verwundern. Sie müssen die Bewegung nicht unterwandern, sondern einfach nur an ihren Bewusstseinsstand anknüpfen. Eine dieser Gruppierungen nennt sich »Zeitgeistbewegung«. Sie wurde 2007 von dem in den USA lebenden Peter Joseph gegründet, propagiert eine Abkehr von jeder Politik und Ideologie und will mit technischen Mitteln das nebulöse Ziel einer »ressourcenbasierten Wirtschaft ohne Geld« erreichen. Joseph stammt aus dem politischen Umfeld des rechtslibertären Politikers Ron Paul. Der Name seiner Bewegung leitet sich von dem Film »Zeitgeist« ab, der 2007 von Joseph kostenlos ins Internet gestellt und schnell weltweit populär wurde. Darin werden Verschwörungstheorien über die Anschläge vom 11. September 2001 mit zünftigem Bankenbashing vermischt. In einem Milieu, in dem »Loose Change«, ein weiterer weltweit zirkulierender verschwörungstheoretischer Film über 9/11, als Aufklärung, und die Duisburger Querfront-HipHop-Truppe »Die Bandbreite« als kritische Band gilt, können die Anhänger Josephs auf reges Interesse stoßen.
Schon seit Jahren tummelt sich durchaus nicht nur am Rande eines subkulturellen Milieus eine politische Szene, die sich selbst »Freigeistler« nennt und regelmäßig Festivals organisiert. Auf der als Alternative zur Loveparade organisierten Fuckparade in Berlin haben sie Filmkopien von »Loose Change« verteilt und für verschwörungstheoretische Projekte wie »Infokrieg« und »Schall und Rauch« geworben. Neben der angeblich »unterdrückten Wahrheit« über die Anschläge von 9/11 wird dort auch über den Klimaschwindel und die inszenierte Bankenkrise lamentiert.
Mit den »Occupy«-Protesten wurde die »Zeitgeistbewegung« erstmals auch in Deutschland von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen und bekam sogar ein Gesicht: Wolfram Siener, der sich als Blogger aus dem Rhein-Main-Gebiet vorstellte, schaffte es als Sprecher der Frankfurter »Occupy«-Bewegung ins Fernsehen und wurde sogleich als »Gallionsfigur« (Taz) bzw. »charismatische Führungsfigur« (Der Spiegel) der Protestbewegung »gefeiert wie ein Popstar« (Der Spiegel). Die Medien hatten ihren Ansprechpartner und versäumten nicht zu betonen, dass Siener nicht dem Klischee des radikalen Linken entspreche. Doch als Sieners Verbindung zur »Zeitgeistbewegung« bekannt wurde, gab es auch unter den »Occupy«-Aktivisten deutliche Kritik, so dass der Anführer in spe bald wieder in der medialen Versenkung verschwand. Dies macht deutlich, dass es falsch wäre, die gesamte »Occupy«-Bewegung als zeitgeistgesteuert zu bezeichnen. Viele Aktivisten sehen in »Zeitgeist« auch nur eine weitere Organisation, die sie vereinnahmen möchte.
Doch gewichtiger ist die Übereinstimmung in vielen Grundannahmen, mit denen die »Zeitgeistbewegung« den Common Sense vornehmlich junger Menschen ausdrückt, die eine gewisse Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Verhältnissen verspüren, aber weder bereit sind, sich theoretisch mit der Verfasstheit von Staat, Kapital und Nation auseinanderzusetzen, noch sich kollektiv dagegen zu wehren. Die Erfahrung, gemeinsam für soziale Forderungen zu kämpfen, fehlt heute immer mehr Menschen. Darin liegt auch der Grund für die Attraktivität der »Occupy«-Bewegung. So vereinzelt, wie sie oft in ihren Jobs, in den Arbeitsagenturen und in ihrem Alltag agieren, zelebrieren sich die jungen Menschen auch in ihrer Rolle als Protestler. In der »Occupy«-Bewegung geht es gerade nicht darum, gemeinsame Interessen zu formulieren und eine Durchsetzungsmacht zu entwickeln. Die Camper und Besetzer gerieren sich vielmehr als protestierende Ich-AG, die ganz individuell ihre Befindlichkeiten ausdrücken möchte. Zwei Berliner Protestcamper haben ihr Anliegen mit einem Schild vor ihrem Zelt gut auf den Punkt gebracht. »Dominik und Saskia sind empört«, steht da. Eine andere Demonstrantin zeigte ein Plakat mit der Aufschrift: »Ich bin so empört, dass ich sogar dieses Schild gemalt habe.«
Die »Zeitgeistbewegung« ist aber nur ein Profiteur dieser empörten Ich-AGler ohne Theorie und kollektive Praxis. Ein Großteil des Klientel der Piratenpartei kann ideologisch und kulturell ebenso in dieses »postideologische« Milieu eingeordnet werden wie die Fangemeinde des Wikileaks-Gründers Julian Assange. Natürlich sind es nicht unbedingt dieselben Menschen, aber die verschiedenen Empörten teilen einen bestimmten Blick auf die Gesellschaft. Die Ablehnung aller Ideologien und der Politik im Allgemeinen gehört dazu. Dabei sind es vor allem in der emanzipatorischen linken Bewegung in langen Auseinandersetzungen durchgesetzte Praktiken, die unter Ideologieverdacht gestellt werden. So wie viele Assange-Fans die Vergewaltigungsvorwürfe der schwedischen Frauen konsequent ignorieren und die Piratenpartei in Sachen Frauenquote noch hinter der CSU rangiert, so wird auch die Forderung der Abgrenzung nach rechts unter Ideologieverdacht gestellt. Auch in der »Occupy«-Bewegung wird immer wieder betont, dass die Kategorien rechts und links keine Rolle mehr spielten. Davon profitieren vor allem die Rechten aller Schattierungen. Gab es noch vor 15 Jahren heftige Auseinandersetzungen darum, ob ein Mitarbeiter der Jungen Freiheit (JF) als Zuhörer an Veranstaltungen linker Gruppen überhaupt teilnehmen dürfe, so saß nun auf einer von der von Jürgen Elsässer herausgegebenen verschwörungstheoretischen Querfrontzeitschrift Compact organisierten Veranstaltung in Berlin mit Karl Feldmeyer ein gelegentlicher JF-Autor auf dem Podium, wo er dem CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler seinen besonderen Respekt zollte. Nach ihm ergriff dann auch Bastian Menningen für »Occupy«-Berlin das Wort. Natürlich problematisierte er weder die Beteiligung eines JF-Autors an der Veranstaltung noch die rechtspopulistische Veranstaltung an sich. Vielmehr war man sich auf dem Podium einig in der Ablehnung des Euro und der EU.
Angesichts einer solchen politischen Konstellation kann es nicht darum gehen, den »Politikantenstadl der diversen zumeist trotzkistischen Parteien und Gruppen« in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen, wie es Peter Jonas in seinem Beitrag (44/2011) tut. Denn dabei dominiert die Vorstellung, dass die Ablehnung von Parteien und Großorganisationen wie Gewerkschaften durch die »Occupy«-Bewegung schon fast anarchistisch, auf jeden Fall aber sympathisch sei. Dabei wird übersehen, dass es ein großer Unterschied ist, ob eine solche Ablehnung aus einer rätekommunistischen oder anarchistischen Position heraus erfolgt oder ob damit einer diffusen Ablehnung von Ideologien und Parteien, ja von Politik an und für sich, das Wort geredet wird. Linke Gewerkschafter berichteten, dass ihnen von den »Occupy«-Aktivisten in Frankfurt am Main verboten wurde, ihr Banner zu zeigen, während junge Männer mit dem Aufnäher »Stolz, ein Deutscher zu sein« auf der Jacke in Hörweite gestanden und über das Politikverbot für die Roten gefeixt hätten.
Eine emanzipatorische linke Intervention in die »Occupy«-Bewegung müsste in erster Linie in der grundsätzlichen Kritik ihrer gesellschaftspolitsichen Vorstellung bestehen. Wenn aber, wie von einigen Aktivsten aus der »Interventionistischen Linken« in der Anfangsphase der »Occupy«-Bewegung, den radikalen Linken empfohlen wird, zu schweigen und zuzuhören, ist sie schon fast im Zeitgeist angekommen.
http://jungle-world.com/artikel/2011/47/44397.html
Peter Nowak
In Berlin kämpft seit Jahren ein vom Verfassungsschutz bespitzelter Mann um Einblick in seine Akte. Nun hat er einen juristischen Rückschlag erlitten
Das Berliner Sozialforum spielt heute in der politischen Arena keine Rolle mehr, was auch ein kurzer Blick auf den Internetauftritt des Forums zeigt. Wie in anderen Städten auch, scheint sich in der Hauptstadt die Sozialforumsbewegung überlebt zu haben. Doch noch immer trifft sich eine Gruppe ehemaliger Aktivisten des Sozialforums. Sie fordern Einsicht in ihre Verfassungsschutzakten. Denn seit der Gründung des Berliner Sozialforums bis zum Sommer 2005 hatten mindestens fünf V-Leute des Bundes- und des Landesamts für Verfassungsschutz die Aktivisten und ihr Umfeld ausgeforscht.
Nachdem die Bespitzelung bekannt geworden war, stellten 20 Personen beim Landesamt für Verfassungsschutz Anträge auf Auskunft über Überwachung und Akteneinsicht. Sie waren entweder im Sozialforum aktiv oder hatten Veranstaltungen der Initiative besucht und können dadurch ins Visier der Beobachter geraten sein. Diese Anträge wurden nicht nur ausgesprochen schleppend bearbeitet – sie wurden allesamt mit der pauschalen Begründung abgelehnt, dass sie Aufschlüsse über die Arbeitsweise und Quellen des Verfassungsschutzes ermöglichen würden. Die Behörde hatte sich nur dazu bereit erklärt, elektronisch gespeicherte Informationen über die Betroffenen zu löschen. Eine umfassende Einsicht in Unterlagen lehnte die Behörde mit der Begründung ab, ihre Arbeit könne gefährdet werden.
Dagegen hatte das Sozialforumsmitglied Wilhelm Fehse geklagt und im Januar 2008 einen Teilerfolg errungen. Das Verwaltungsgericht urteilte damals, die Behörde könne solche Auskünfte nur verweigern, um die Enttarnung von V-Leuten zu verhindern. Das müsse sie allerdings in jedem Einzelfall begründen. Eine grundsätzliche Ablehnung von Auskunftsansprüchen sei nicht möglich, so der Vizegerichtspräsident Hans-Peter Rueß in der Begründung. Damals äußerte sich der Kläger begrenzt zufrieden:
„Mit dem Urteil wird weder die blinde Sammelwut der Verfassungsschützer gebremst noch eine generelle Akteneinsicht ermöglicht. Insgesamt bleibt der Verfassungsschutz weiter ohne öffentliche und parlamentarische Kontrolle. Zumindest aber wurden die Rechte der Bürger gegenüber der Behörde gestärkt.“
Auch Fehses Verteidiger, der Berliner Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, drückte damals die Hoffnung aus, dass die Behörden bei den Anträgen auf Akteneinsicht künftig deutlich auskunftsfreundlichere Maßstäbe als bisher anwenden müssen.
Rückschlag für den Kampf um mehr Transparenz
Doch die Zuversicht war verfrüht. Denn das Urteil wurde nicht rechtskräftig, weil die Innenverwaltung Berufung beim Oberverwaltungsgericht einlegte. Das wies nun Fehses Klage in letzter Instanz ab. Der war nach der Entscheidung sehr enttäuscht. „Das Gesetz ist nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben steht“, lautete sein Kurzkommentar. Fehse will jetzt mit seinem Anwalt beraten, ob es Möglichkeiten einer Revision gibt. Dazu ist allerdings eine gründliche juristische Prüfung nötig. Denn die ist nur bei nachgewiesenen Rechtsfehlern möglich.
Auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die auf mehr Transparenz auch bei den VS-Behörden gehofft hatten, sehen in dem Urteil einen Rückschlag. Am Ende siegt doch die Sicherheitslogik. Dabei zeigt die Aufdeckung des Neonaziuntergrunds und die unklare Rolle von VS-Organen, wie notwendig die Transparenz der Behörden ist. Diejenigen, die sagen, dass die Verfassungsschutzämter nicht reformiert, sondern abgeschafft gehören, werden sich durch das Berliner Urteil bestätigt sehen.
Nicht überall ist das Verhältnis zwischen den alten sozialen Bewegungen und den jungen Empörten konfliktfrei
Am vergangenen Samstag ist der Protest gegen die Banken auch in Deutschland wieder auf die Straße getragen worden. Nach Polizeiangaben mehrere Tausend, nach Angaben der Veranstalter ca. 18000 Menschen beteiligten sich in Frankfurt/Main und Berlin an symbolischen Protesten. Während in der Hauptstadt das leere Regierungsviertel umzingelt wurde, war es in Frankfurt das Bankenviertel.
Das Aktionsbündnis „Banken in die Chancen“ und die globalisierungskritische Organisation Attac sprachen von einem unüberhörbaren Protest, den die Menschen gegen Politik und Wirtschaft formuliert hätten. Linke Kritiker monierten hingegen, die Parolen seien nicht über „Brecht die Macht der Banken und Konzerne“ und „Keine Macht der Banken“ hinausgegangen. Dabei wurden diese Slogans vom antikapitalistischen Teil der Protestkette gerufen. In den Aufrufen zu den Aktionen war nur von einer besseren Regulation der Banken die Rede. Die Konzerne wurden gar nicht erwähnt.
Der reine Symbolcharakter der Aktion war auch Gegenstand der Kritik. So erinnerten Aktivisten aus Frankfurt/Main an den, im letzten Jahr am 18. Oktober eine Blockade des Bankenviertels an einen Wochentag zu organisieren. Das Projekt wurde nach einer mehrmonatigen Vorbereitungsphase auch deshalb abgebrochen, weil zentrale Organisationen, die am 12. November auf der Straße waren, damals eher bremsten. Die geplante Blockade im letzten Jahr sollte der Höhepunkt eines Herbstes der Krisenproteste sein, der dann doch relativ bescheiden ausfiel.
Nach diesen Erfahrungen waren ursprünglich in diesem Herbst keine Proteste geplant. Dass es jetzt doch dazu gekommen ist, hat zweifellos einen Grund in den weltweiten Events der Empörten, die im Frühsommer von Spanien aus in andere Länder überschwappten. Dabei dauerte es aber in Deutschland besonders lang. Noch im Hochsommer versuchten beispielsweise vergeblich kleine Gruppen nach dem spanischen Vorbild Zelte auf zentralen Plätzen Berlins aufzubauen. Es bedurfte erst des Umwegs über die USA bis die Aktionen nun als Occupy-Bewegung auch in Deutschland eine gewisse Resonanz fanden, die aber immer medial größer als in der Realität war.
„Wir packen unsere Fahnen nicht ein“
Über die Frage, ob die Aktionen vom Samstag Teil der Occupyberlin.de sind, gibt es auch unter den Aktivisten unterschiedliche Antworten. So wird im Aufruf für die Menschenkette in Berlin die Gemeinsamkeit herausgestellt. Die Aktionen seien ein Beitrag zu den Protesten und Demonstrationen, die seit Wochen durch die Occupy-Bewegung auf die Beine gestellt werden. Gemeinsam solle „echte Demokratie“ erkämpft werden, hieß es dort.
Wesentlich konfliktreicher gestaltet sich das Verhältnis zwischen der Occupy-Bewegung und Teilen der sozialen Bewegung in Frankfurt. Besonders Basisgewerkschaftler] wollen sich nicht dem Verdikt der Occupy-Bewegung beugen, auf von ihnen veranstalteten Aktionen ohne ihre Organisationsfahnen und -banner aufzutreten. Der Ruf „Wir lassen uns unsere Banner und Fahnen nicht verbieten“ hatte auch eine Diskussionsveranstaltung zwischen Vertretern der Occupy-Bewegung und Gewerkschaftern im Frankfurter DGB-Haus Anfang November bestimmt. Dort beklagte ein Gewerkschafter, ihm sei das Tragen der Gewerkschaftsfahne verboten wurden, während drei junge Männer unbehelligt eine Armbinde mit der Aufschrift „Stolz ein Deutscher zu sein“ tragen konnten.
Am Wochenende wird zum symbolischen Massenprotest aufgerufen, zahlreiche Wissenschaftler fordern eine andere EU-Wirtschaftspolitik
Um die Occupy-Bewegung ist es zumindest in Deutschland ruhig geworden. Dabei gibt es durchaus noch Menschen, die auch bei der spätherbstlichen Witterung weiter draußen campen wollen. In Berlin haben sie erreicht, ihre Zelte sogar näher an das Zentrum der Macht zu rücken. Während sie in den letzten Wochen auf der Wiese im toten Winkel von Berlin-Mitte campierten, haben sie jetzt ihre Zelte am Bundespressestrand im Regierungsviertel aufgestellt. Bis Ende November können sie wohl bleiben.
Doch wenn sie auch noch so trotzig auf ihrer Webseite behaupten: „Wir sind die 99 %“, so könnte man in der Zahlengabe ohne das Prozentzeichen noch eine gewisse Annäherung an die Realität erkennen. Mit Meditationen für ein friedvolles Wirtschaftssystem scheint die spirituelle Fraktion langsam die Oberhand zu bekommen. Über einen Zelt steht ein Schild mit der Aufschrift: „Dominik und Saskia sind empört.“
Viel Symbolik, wenig Inhalt
Am kommenden Samstag dürfte es für die Camper noch einmal ein Protest-Highlight geben. Die globalisierungskritische Organisation Attac und die NGO Campact rufen bundesweit zu einer Umzingelung des Berliner Regierungs- und des Frankfurter Bankenviertels auf. Mit mehreren zehntausend Menschen wird gerechnet. Mittlerweile haben auch der DGB, verschiedene Einzelgewerkschaften, Umweltgruppen, die Grünen und die Linkspartei aufgerufen.
Die symbolische Aktion im am Samstag leeren Regierungs- und Bankenviertel soll der Höhepunkt der neuen Krisenproteste sein, die in Deutschland wesentlich später als in anderen europäischen Ländern in Gang kamen und auch mit der Occupy-Bewegung wenig zu tun haben. Allerdings wird dieser Begriff jetzt gerne verwendet und unter Plakate und Aufrufe gesetzt, weil er mittlerweile als Platzhalter für weltweit völlig unterschiedliche Protest- und Widerstandsformen benutzt wird.
Inhaltlich geht der Aufruf zur Bankenumzingelung nicht die über die Forderungen hinaus, die mittlerweile in allen Parteien diskutiert werden. „Das Wohl der Menschen, nicht der Unternehmen muss wieder im Mittelpunkt der Politik stehen“, heißt einer der Sätze, denen kaum jemand widersprechen wird. Auch dass Großbanken in kleinere Einheiten aufgeteilt und das Investmentbanking von anderen Kreditgeschäften getrennt werden sollen, wird mittlerweile sogar unter konservativen Ökonomen diskutiert. So ist eigentlich unklar, gegen wen mit der Aktion Druck ausgeübt werden soll. Zumal in dem Aufruf jeder Verweis auf das Machtgefälle innerhalb der EU-Staaten fehlt. Dass dabei nicht abstrakt Banken, sondern wirtschaftlich einflussreiche Länder wie Deutschland massiven Druck auf Staaten wie Griechenland und Italien ausüben, wird nicht erwähnt .und folgerichtig auch nicht kritisiert.
Zurück zur Sozialdemokratie der 70er Jahre?
Da ist eine Stellungnahme zur Krisenpolitik der EU konkreter, die von zahlreichen Wissenschaftlern unterschrieben wurde:
„Die von der EU verordneten Kürzungsprogramme haben in den betroffenen Ländern das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen sollten. Nicht nur die Wirtschaftskrise wurde verschärft, sondern auch noch die Schuldenkrise selbst. Die betroffenen Länder werden systematisch in die Rezession getrieben. Schuldenbremsen und Stabilitätsversprechen sind in einer solchen Situation reine Augenwischerei.“
Das ist ein Verriss der EU-Politik gegen Länder wie Griechenland und Italien. Für die Unterzeichner steht die EU vor der Alternative, entweder auseinander zu fallen oder eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die eine Abkehr von den Dogmen des Ordoliberalismus bedeutet. Neben einer Transaktionssteuer und Kapitalkontrollen werden auch die Einführung eines Mindestlohns und eine Entschuldung gefordert.
Das Programm liest sich wie ein Regierungsprogramm der Sozialdemokraten der 70er Jahren, als Reformen noch mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen und nicht mit weiteren Kürzungen und Belastungen assoziiert wurden.
Linke DDR-Oppositionelle organisieren Debatten auch heute noch nach einem alten Prinzip
DDR-kritisch, links, libertär und marxistisch, weder Partei noch autonom – frühere DDR-Dissidenten bilden ein Netzwerk, das sich kaum einem politischen Spektrum zuordnen lässt. Das ist so gewollt.
Was tun mit Kommunismus? Dieser etwas sperrige Titel war das Motto einer Veranstaltungsreihe, die politische Spektren zusammenbrachte, die sonst selten gemeinsam diskutieren. Der autonome Aktivist Hauke Benner debattierte mit der sächsischen Linksparteiabgeordneten Monika Runge und das Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei, Helmut Bock, saß mit dem libertären Publizisten Ralf Landmesser in einer Diskussionsrunde. Zum Abschluss trafen Lucie Redler von der trotzkistischen SAV, Christian Frings und die autonomen Aktivsten und Theoretiker Detlef Hartmann und Michael Wilk aufeinander.
Organisiert wurden die Veranstaltungen in Berlin von einem Kreis, der sich als »zweifach quotiert« beschreibt: Ost und West, Marxisten und Libertäre. Einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen dürften die linken DDR-Oppositionellen in der Vorbereitungsgruppe gehabt haben. Als festen Zusammenschluss mit Vereins- und Internetadresse gibt es sie nicht mehr. Doch nach wie vor existiert ein Freundes- und Bekanntenkreis, der bei der Organisierung von Debatten nach dem Prinzip »Zwischen allen Stühlen« verfährt. Ihnen geht es nicht um Organisationsidentitäten, weder um die von Parteien noch von autonomen Gruppen.
Dieser Ansatz hat Geschichte. Bereits 1990 gründeten Linke aus Ost und West eine Gruppe mit dem zungenbrecherischen Namen Zasilo, das Kürzel für »zwischen allen Stühlen«. Sie hatten zum Teil schon vor dem Mauerfall Kontakte geknüpft, als auf beiden Seiten der Stadt gegen die IWF-Tagung 1988 in Westberlin protestiert wurde. »Die Selbstverständigung untereinander ist bescheiden und unbescheiden zugleich. Bescheiden, weil die Teilnehmer keine besondere Organisation anstreben, die Zugehörigkeit nicht durch formelle Mitgliedschaften entscheiden wollen; unbescheiden, weil sie die momentanen Organisationsgrenzen nicht anerkennen und quer zu den Parteiläden mit Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen zusammenarbeiten wollen«, diese Grundsatzerklärung der Zasilo-Gruppe 1990 behält auch zwei Jahrzehnte später bei den Neuformierungsversuchen einer linken Opposition ihre Gültigkeit.
Das damalige Scheitern von linken Kooperationsansätzen wird von vielen als verpasste Chance gesehen. Schließlich setzten sich noch bis zum Sommer 1990 viele Fabrikbelegschaften in der DDR für eine Arbeiterselbstverwaltung ein, wie sie auch die VL forderte. Der einzige VL-Abgeordnete im Bundestag, Thomas Klein, schrieb damals unmittelbar nach den Wahlen vom 18. März 1990: »Die Abwahl der DDR haben wir nicht verhindern können … Die sozialen Kämpfe sind bereits in Sicht … Geben wir uns nochmals die Chance zusammenzugehen und nicht wieder einzeln geschlagen zu werden.« Klein bezog damals die »Kräfte der Erneuerung in der PDS« in sein Bündnisangebot ausdrücklich mit ein.
Die Zusammensetzung der Veranstaltungsreihe, bei der auch Klein referierte, erscheint wie eine Fortführung dieses Ansatzes. In der Vorbereitungsgruppe war mit Bernd Gehrke ein Mitbegründer der Vereinigten Linken (VL) in der DDR beteiligt. Gehrke arbeitet als Teamer für Gewerkschaften und bezeichnet sich als Ökosozialist. Dass sich derzeit in vielen Teilen der Welt Menschen auf die Suche nach einem Ausweg aus dem Kapitalismus machen, sehen Gehrke und seine Mitstreiter mit großer Sympathie. »Die Veranstaltungen sollten auch verhindern, dass diese jungen Aktivisten in die Sackgasse autoritärer staatssozialistischer Modelle tappen«, meint Anne Seeck, libertäre Dissidentin in der DDR und heute Erwerbslosenaktivistin. Sie wollten ihre Erfahrungen aus mehr als zwei Jahrzehnten Widerstand weitergeben. Schließlich setzten sie sich nach dem Ende der DDR nicht zur Ruhe. Sie waren an der von Ostberlin ausgehenden Mieterbewegung »Wir bleiben alle« ebenso beteiligt wie an den Demonstrationen der »Widerspenstigen«. So nannten sich linke Aktivisten und Gewerkschafter aus Ost und West, die mehrere Jahre am 1. Mai eine Demonstration organisierten. Sie fanden sich in den braven DGB-Demonstrationen ebenso wenig wieder wie in den subkulturell geprägten Aufzügen der Autonomen. Zwischen allen Stühlen war auch hier ihre Verortung. Hat Zasilo 2011 noch eine Chance? Die Frage bleibt offen. Die Veranstaltungsreihe zeigte aber, dass dieser Ansatz auf Interesse stößt.
Die Union schafft mit ihrem Antrag zum Mindestlohn Distanz zur FDP und verringert die Hürden für große Koalitionen
Die SPD wird sich anstrengen müssen, um im Wahlkampf deutlich zu machen, wie sie sich noch von der Union unterscheidet. Bei den letzten Wahlen spielte das Thema Mindestlöhne noch eine zentrale Rolle. Doch jetzt hat die Union das Thema entdeckt. Auf den nächsten Parteitag Mitte November in Leipzig soll dort ein Antrag verabschiedet werden, der die Einführung einer branchenübergreifenden Lohnuntergrenze fordert. Er soll allerdings nicht vom Staat festgelegt, sondern von den Tarifpartnern ausgehandelt werden.
Bundeskanzlerin Merkel, die den Antrag unterstützt, will damit propagandistisch punkten. Denn für diese Legislaturperiode hat das Thema keine Relevanz. Die FDP warnte schon vor einem Linksruck und verwies auf den Koalitionsvertrag, in dem ein einheitlicher Mindestlohn abgelehnt wird. Doch der Beschluss zielt auf die Zeit nach den nächsten Wahlen und gibt ein eindeutiges Signal. Während eine Hürde gegenüber der SPD abgebaut wurde, wird ein neuer Streitpunkt zur FDP aufgebaut. Da die Zukunft der FDP zur Zeit ungewiss und eine schwarz-gelbe Mehrheit nicht in Sicht ist, werden schon mal programmatisch die Weichen für eine große Koalition gestellt.
Der Zeitpunkt war also mit Blick auf die nächsten Wahlen für die CDU klug gewählt. Inhaltlich war die Positionierung nicht so überraschend. Es zeugt von der Hegemonie wirtschaftsliberaler Ideologie, dass in der öffentlichen Meinung in Deutschland die Befürwortung eines Mindestlohns fast schon in die Nähe einer antikapitalistischen Politik gerückt und als Verstoß gegen die Marktwirtschaft angesehen wird. In der Realität gehört Deutschland zu den 7 von 27 EU-Staaten, die keinen Mindestlohn eingeführt haben. Dabei hat das gewiss nicht antikapitalistische Luxemburg den höchsten Mindestlohn, gefolgt von dem konservativ regierten Frankreich. Danach kommen die Niederlande und Belgien. Auch in Irland und Großbritannien kommen die Lohnabhängigen in den Genuss eines solchen Mindestlohns.
Gewerkschafter gegen Mindestlohn
Wenn jetzt die CDU-Mindestlohnbefürworter vehement zu beweisen versuchen, dass sie sich damit mit den Theoretikern der Marktwirtschaft im Einklang befinden, so soll damit der unionsinterne Widerstand vor allem aus dem einflussreichen industrienahen Flügel gedämpft werden, der mit der Berufung auf Ludwig Erhard strikt gegen staatlich festgesetzte Löhne agiert. Andererseits zitieren Unionspolitiker aus dem Grundlagenwerk zur Marktwirtschaft von Alfred Müller-Armack: „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“.
„Es ist marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch, als sogenannte Ordnungstaxe eine staatliche Mindesthöhe zu normieren, die sich im wesentlichen in der Höhe des Gleichgewichtslohns hält, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden.“
Vehement gegen einen Mindestlohn war lange der DGB. Die Festsetzung der Löhne sollte eine Sache der eigenen Kampfkraft sein. Erst als die Macht in manchen Branchen so stark gesunken war, dass sie zu tarifvertragsfreien Zonen wurde, entdeckten die Gewerkschaften den Staat und wandelten sich zu den entschiedensten Mindestlohnbefürwortern. Auch die SPD hat den Mindestlohn erst nach dem Ende der Regierung Schröder entdeckt. Der „Genosse der Bosse“ sah darin Gift für die Wirtschaft und lehnte ihn ab. Bei der Union gab es seit 2005 Stimmen, die sich für Mindestlöhne in bestimmten Branchen einsetzten. Wenn jetzt auch die Wirtschaftsverbände wieder vehement vor einem Mindestlohn warnen, so sind die Reihen dort längst nicht so geschlossen. Angesicht der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU sehen auch manche Industrielle in einem gesetzlichen Mindestlohn einen Schutz vor der Konkurrenz.
Die Occupy-Bewegung stößt in Deutschland an ihre Grenzen
In mehreren Städten in Deutschland gingen am Samstag Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Krisenlösungsmodelle zugunsten der großen Banken zu demonstrieren. Dabei gehen wie üblich die Meldungen über die Teilnehmerzahlen weit auseinander. Nach Polizeiangaben waren in Berlin 1000 und in Frankfurt/Main 2500 Menschen auf der Straße. Die Veranstalter gaben hingegen für die Mainmetropole 5000 und für die Hauptstadt 3000 Demonstranten an.
Dort hatte ein Bündnis unter dem Motto „Die Krise heißt Kapitalismus“ mit konkreten sozialpolitischen Forderungen aufgerufen, in dem verschiedene linke Gruppen, aber auch die Linkspartei und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vertreten sind. Das Krisenbündnis hatte in den vergangenen zwei Jahren mehrmals Demonstrationen organisiert, zuletzt im November 2010. Die Occupy-Proteste haben zu einer Reanimierung des Bündnisses geführt. Dabei gibt es allerdings über die Beurteilung dieser neuen Proteste unterschiedliche Einschätzungen. Während einige Gruppen vom Beginn einer neuen eigenständigen Bewegung sprechen, deren Eigendynamik ernst zu nehmen sei, gehen andere davon aus, dass sie eher ein Medienhype als eine machtvolle Bewegung ist.
Auch in ihrer Hochburg Frankfurt/Main stößt die Mobilisierungsfähigkeit der Occupy-Bewegung an ihre Grenzen. Dass der harte Kern der Aktivisten beschlossen hat, das Camp an der EZB zu verlängern, dürfte der milden Witterung und der Eigendynamik des Campkosmos geschuldet sein. Für viele Aktivisten handelt es sich um ein einschneidendes Ereignis, das möglichst lange erhalten bleiben soll. Dabei spielen eher gruppendynamische Prozesse als politische Erwägungen die zentrale Rolle. Ein wichtiges Zeichen dafür ist die Herausbildung einer eigenen Campidentität, wie sie gerade bei der Occupy-Bewegung zu beobachten ist. Dazu gehört das vielzitierte menschliche Mikrophon, bei dem die Teilnehmer einer Versammlung die Worte des jeweiligen Redners nachsprechen. Was aus einer Notlage entstanden ist, weil den Campern in den USA das Benutzen von Mikrophonen verboten war, wurde bald zum heftig verteidigten Markenzeichen der Campbewegung. Allerdings fiel mittlerweile vielen Besucher der Camps auf, dass diese Art der Kommunikation auch eine bestimmte Herrschaftstechnik ist. Es wird ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt und verstärkt, wenn man auch Positionen, die man selber ablehnt, nachsprechen soll, grundlegende inhaltliche Auseinandersetzungen sind mit dieser Methode aber kaum möglich.
Ressourcen statt Politik, Ideologie und Geld
Mittlerweile wird darüber diskutiert, dass „obskure“ Gruppen in der scheinbar so spontanen Bewegung Einfluss zu nehmen versuchen. So stellte sich heraus, dass der Sprecher des Frankfurter Camps, der es sogar in die Tagesschau geschafft hatte, gute Beziehungen zu der 2008 gegründeten Zeitgeistbewegung hat, die sich für eine Abkehr von jeder Politik und Ideologie einsetzt und das Ziel einer „ressourcenbasierten Wirtschaft ohne Geld“ verfolgt. Mit Filmen werden in der letzten Zeit besonders intensiv die Zeitgeist-Ideen verbreitet, die auf Jacque Fresco und sein Venus-Projekt zurückgehen. Kritiker warnen vor verschwörungstheoretischen und strukturell antisemitische Tendenzen in den Filmen und der Bewegung.
Die Abneigung vieler Aktivisten gegen jegliche politische Organisationen und Ideologien kommt den Intentionen dieser Bewegung entgegen und wird von ihr auch stark gefördert. So gehörte der Frankfurter Sprecher zu denen, die immer besonders auf die Unabhängigkeit der Occupy-Bewegung vor allem zu linken Bewegungen, aber auch zu Parteien und Gewerkschaften pochte.
Wenn Komi E. seine Freundin in Berlin besuchen will, muss er zahlreiche bürokratische Hürden überwinden. Er lebt als Flüchtling in Halle und ist der Residenzpflicht unterworfen. Wenn er den Landkreis verlassen will, muss er bei der zuständigen Ausländerbehörde einen Antrag auf Genehmigung stellen. Die verlangt dafür eine Gebühr von 10 Euro und stützt sich auf die Aufenthaltsverordnung. Das Verwaltungsgericht Halle hatte im Februar 2010 entschieden, dass diese Gebühr zu Unrecht erhoben wurde. Dagegen ist der Landkreis in Berufung gezogen. Am heutigen Mittwoch wird das Oberverwaltungsgericht Magdeburg über die Frage entscheiden. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie fordert vom Gericht die Ablehnung der Gebühren. Nicht nur die Gebühren, auch die Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen einschränkt, gehöre abgeschafft.