Sammelrezension Kommunismus

In den letzten Jahren haben zwei kleine Münsteraner Verlage Bücher herausgeben, die eine Debatte über einen Kommunismus jenseits von Stalin und Staat anregen wollen und die in der nominalsozialistischen Geschichtsschreibung getilgten dissidenten Strömungen in der kommunistischen Geschichte wieder zugänglich machen. Der von der Gruppe INEX herausgegebene Sammelband Nie wieder Kommunismus? und Hendrik Wallats Buch Staat oder Revolution wurden in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt. Vor einigen Monaten hat nun die Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) den Sammelband Was tun mit Kommunismus?! im herausgegeben. Soll ein Zusammenhang, der sich als Selbsthilfegruppe ausgibt und offensichtlich mit der holprigen Überschrift eine unkonventionelle Auslegung der Grammatikregeln demonstrieren will, wirklich Substantielles zur Kommunismusdebatte beizutragen haben? Doch bei Überschrift und Name handelt es sich eher um eine Mischung aus Ironie und Understatement, die nicht von der Lektüre abhalten sollte. Die Selbsthilfegruppe besteht aus einem kleinen Kreis außerparlamentarischer Linker, der im Herbst 2011 in Berlin drei gut besuchte Veranstaltungen unter dem Obertitel Was tun mit Kommunismus!? organisiert hat. Ihnen ging es darum, die vor dem Hintergrund der in der Wirtschafts- und Finanzkrise gewachsene Offenheit für antikapitalistische Kritik für eine Debatte um die Aktualität des Kommunismus zu nutzen. Dabei positionieren sich die Herausgeber in der Einleitung in klarer Abgrenzung zu staatskapitalistischen und nominalsozialistischen Kommunismusvorstellungen.
»Anlass für uns, einen kleinen Diskussionskreis von emanzipatorischen Linken zu gründen, aus dem die Initiative zu diesem Buch hervorgehen sollte, war jedoch nicht nur das neuerliche und in der Linken weitgehend geduldete Auftreten solch neostalinistischer Positionen. Es war auch die Beobachtung, dass angesichts der skandalösen sozialen und politischen Realitäten des Gegenwartskapitalismus und der Verlogenheit der bürgerlich-antikommunistischen Propaganda gerade bei jungen Leuten die Reinwaschung der Polizeistaaten des früheren Ostblocks auf fruchtbaren Boden fiel.«
Diese doppelte Frontstellung gegen Nominalsozialismus und Gegenwartskapitalismus bestimmte auch die Auswahl der ReferentInnen. Dem SEK ist es gelungen, einen Kreis von ReferentInnen, die selten gemeinsam auf Veranstaltungen diskutieren, zu finden. Die Liste reicht von der Autorin verschiedener Bücher zum Kommunismus Bini Adamczak über die Aktivisten der autonomen Bewegung Hauke Benner und Detlef Hartmann, Anarchisten wie Michael Wilk und Ralf Landmesser und den linken DDR-Oppositionellen Renate Hürtgen, Anne Seeck, Bernd Gehrke, Thomas Klein und Sebastian Gehrhardt. Aus dem Nahumfeld der Linkspartei und ihren verschiedenen Flügeln kommen Monika Runge, Lucy Redler und Helmut Bock. Aus dem linken akademischen Milieu haben Elfi Müller, Frank Engster und Christof Jünke Beiträge verfasst, aus operaistischer und linksgewerkschaftlicher Perspektive haben sich Christian Frings und Will Hajek geäußert. Die ReferentInnen sollten drei Fragestellungen beantworten. Wie stand die Linke in Westdeutschland zum real existierenden Sozialismus? Wie sozialistisch war der überhaupt? Die dritte Diskussionsrunde sollte sich dann konkreten Utopien jenseits des Kapitalismus zuwenden.
Durch die große Anzahl der ReferentInnen blieb es nicht aus, dass einige PublikumsteilnehmerInnen die Kontroverse vermissten und die Veranstaltungen vorzeitig verließen. Das Buch bietet nun die Chance, die Positionen nachzulesen und die eingeforderte Debatte nachzuholen. Streitpunkte gibt es in Hülle und Fülle. Nur einige Beispiele. Während die sächsische Landtagsabgeordnete der Linkspartei Monika Runge ein Plädoyer für linke Realpolitik verfasst, setzt Landmesser auf die Bildung dezentraler Kollektive außerhalb der staatlichen Institutionen. Christian Frings und Detlef Hartmann sehen die Träger revolutionärer Veränderungen im globalen Rahmen eher in der Landbevölkerung Afrikas oder Asiens als in Europa. Für Sebastian Gerhardt hingegen kann eine revolutionäre Veränderung mit Aussicht auf Erfolg nur »in den Zentren des modernen Kapitalismus angegangen werden«.
Gerhardt widmet sich in seinem Beitrag den Modernen Sozialisten, einer Gruppe von WissenschaftlerInnen, die in der Spätphase der DDR bereits jene sozialdemokratische Realpolitik konzipierten, die nach dem Ende der DDR zum Programm der Reformfraktion in der PDS wurde. Dass da kein Platz für eine grundsätzliche Kritik an Herrschaft und Ausbeutung sondern allerhöchstens für deren Abmilderung war, versteht sich von selbst.
Anne Seck beschreibt in ihrem Beitrag den Alltag der bürokratisierten DDR-Gesellschaft der späten 80er Jahre aus der Perspektive eines Mitglieds der DDR-Subkultur und einer Ausreisewilligen. Sie habe die DDR »als militarisierte Gesellschaft und eine Arbeitsgesellschaft mit Sozialpaternalismus« wahrgenommen. Doch in ihren »zwiespältigen Erinnerungen« bezeichnet Seeck die Enteignung der Großgrundbesitzer, den fehlenden Druck den Arbeitsplatz oder die Wohnung zu verlieren und die geringe Einkommensspreizung als sozialistische Elemente in der DDR und kommt zu dem Schluss: »Dass ich in die Subkultur Freiräume erobern konnte, war aber nur möglich, weil es in der DDR keinen existentiellen Druck gab.« Damit meint sie das Fehlen des stummen Zwangs der Marktgesetze, der heute auf einen viel größeren Teil der Bevölkerung im Gegenwartskapitalismus Druck ausübt als die staatliche Repression.
Symbol einer verratenen Revolution
Für die Historikerin Elfriede Müller war der Realsozialismus »nicht nur die hinter der Mauer versteckte DDR, sondern auch das Symbol einer verratenen Revolution«. Dieser Topos habe sich nie auf die DDR bezogen, in der keine Revolution stattgefunden hat, »sondern vor allem auf die frühe Sowjetunion, auf die Zeit, als es noch verschiedene politische Strömungen gab, sie sich auseinandersetzen, die Räte noch nicht zum Begriff erstarrt und nur formal existent waren und die Weltrevolution noch Programm war«, erinnert Müller an die Frühphase der Sowjetunion. Damit hebt sie sich wohltuend von Vorstellungen ab, die die Oktoberrevolution als autoritäres Projekt von Anfang an oder gar als Putsch einer kleinen Clique bolschewistischer Funktionäre abqualifizieren. Dabei wird oft vergessen, dass die Bolschewiki als linker Flügel der Vorkriegssozialdemokratie natürlich nicht von deren Fehlern und Halbheiten  frei war. Doch ihre strikte Ablehnung der Politik der Vaterlandsverteidigung hatte ihr die Sympathie linker Kräfte der damaligen Zeit eingebracht. Diese Zusammenhänge sind heute in linken Kreisen ebenso wenig bekannt, wie die innenpolitische Situation des zaristischen Russlands im Jahr 1917. Daher ist es umso erfreulicher, dass der Mehring Verlag die umfangreiche Studie »Die Sowjetmacht – die Revolution und die Bolschewiki« von Alexander Rabinowitch in deutscher Sprache herausgegeben hat. Der US-Historiker hat dort die wenigen Wochen zwischen dem Juni und dem November 1917 so anschaulich beschrieben, dass sie auch Menschen anspricht, zu deren Lieblingslektüre historische Werke nicht zählen. Rabinowitch grundlegende Studie kann gut neben der Geschichte der Oktoberrevolution von Leo Trotzki stehen. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied. Trotzki nahm als entscheidender Protagonist der Oktoberrevolution und der ersten zehn Jahre der jungen Sowjetunion von Anfang an Partei in der Auseinandersetzung. Das wird vor allem in den letzten Teilen seines Buches deutlich wird, wo er sich gegenüber den innerparteilichen Gegnern um Stalin rechtfertigt. Rabinowitch hingegen hatte sich als Anhänger menschewistischer Positionen mit der Geschichte der Oktoberrevolution befasst und revidierte nach Sichtung der Quellen und Dokumente seine gegenüber den Bolschewiki sehr kritischen Positionen. In der Einleitung beschreibt er, wie er durch seine wissenschaftlichen Forschungen mit der im Westen vorherrschenden antibolschewistischen Ansichten gebrochen hat. Diese Korrekturen des Geschichtsbildes beziehen sich bereits auf den Juliaufstand 1917, der gerne als gescheiterter Putsch Lenins bezeichnet wird und mit der Oktoberrevolution vollendet worden sei. Die Stärke von Rabinowitchs Studie ist, dass er sein Augenmerk nicht nur auf die bolschewistischen Funktionäre richtet, sondern auf die Bauern und Arbeiter, auf die Soldaten und Matrosen. Auch bei seinen Studien innerhalb der bolschewistischen Partei interessiert ihn nicht in erster Linie das Zentralkomitee sondern das Agieren der regionalen Gruppen. Dabei stellt er fest, dass diese sehr auf ihre Autonomie achteten und die auch im Vorfeld der Revolution durchsetzen konnten. Auch das Bild einer einheitlich handelnden monolithischen bolschewistischen Partei verweist Rabinowitch in das Reich stalinistischer Geschichtsmythen, die bis heute von dessen entschiedenen Kritikern oft unhinterfragt übernommen werden. In dem Buch wird nachgewiesen, wie zerstritten die Bolschewiki in den entscheidenden Monaten des Jahres 1917 oft waren und wie sich die Partei in demokratischen Prozessen ein Aktionsprogramm gab. Damit erreichte sie eine wachsende Zustimmung, die allerdings auch schnell schwinden konnte, wie Rabinowitch an der Reaktion auf die Diffamierung Lenins als deutschen Spion nach dem Juli-Aufstand aufzeigt. Ihr schneller Wiederaufstieg lag nicht an autoritärer Machtpolitik, sondern daran, dass sie als einzige Partei die so disparaten Kämpfe auf dem Land, in den Fabriken und Garnisonen mit ihrem Programm verbinden konnten. Gerade, wenn man mit Rabinowitch feststellt, dass die Bolschewik im Jahr 1917 eine linke sozialistische Partei mit einer relativ entwickelten innerparteilichen Demokratie war, stellt sich umso dringlicher die Frage, wie sie sich kaum zehn Jahre später zur Kaderpartei Stalin`schen Typus transformieren lassen konnte. Debatten, wie sie die SEK mit ihren Buch anregen will, können von dem Grundlagenwissen, das Rabinowitch bietet, gut profitieren.
Peter Nowak
aus Phase 2
Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK), Was tun mit Kommunismus?! Kapitalismus, real existierender Sozialismus, konkrete Utopien heute, Münster 2013, Unrast Verlag, 388 S.,   18.


Rabinowitch Alexander, Die Sowjetmacht, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Essen 2012, Mehring Verlag, 542 S.,   34,90.

Zwischen allen Stühlen

Linke DDR-Oppositionelle organisieren Debatten auch heute noch nach einem alten Prinzip
DDR-kritisch, links, libertär und marxistisch, weder Partei noch autonom – frühere DDR-Dissidenten bilden ein Netzwerk, das sich kaum einem politischen Spektrum zuordnen lässt. Das ist so gewollt.

Was tun mit Kommunismus? Dieser etwas sperrige Titel war das Motto einer Veranstaltungsreihe, die politische Spektren zusammenbrachte, die sonst selten gemeinsam diskutieren. Der autonome Aktivist Hauke Benner debattierte mit der sächsischen Linksparteiabgeordneten Monika Runge und das Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei, Helmut Bock, saß mit dem libertären Publizisten Ralf Landmesser in einer Diskussionsrunde. Zum Abschluss trafen Lucie Redler von der trotzkistischen SAV, Christian Frings und die autonomen Aktivsten und Theoretiker Detlef Hartmann und Michael Wilk aufeinander.

Organisiert wurden die Veranstaltungen in Berlin von einem Kreis, der sich als »zweifach quotiert« beschreibt: Ost und West, Marxisten und Libertäre. Einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen dürften die linken DDR-Oppositionellen in der Vorbereitungsgruppe gehabt haben. Als festen Zusammenschluss mit Vereins- und Internetadresse gibt es sie nicht mehr. Doch nach wie vor existiert ein Freundes- und Bekanntenkreis, der bei der Organisierung von Debatten nach dem Prinzip »Zwischen allen Stühlen« verfährt. Ihnen geht es nicht um Organisationsidentitäten, weder um die von Parteien noch von autonomen Gruppen.

Dieser Ansatz hat Geschichte. Bereits 1990 gründeten Linke aus Ost und West eine Gruppe mit dem zungenbrecherischen Namen Zasilo, das Kürzel für »zwischen allen Stühlen«. Sie hatten zum Teil schon vor dem Mauerfall Kontakte geknüpft, als auf beiden Seiten der Stadt gegen die IWF-Tagung 1988 in Westberlin protestiert wurde. »Die Selbstverständigung untereinander ist bescheiden und unbescheiden zugleich. Bescheiden, weil die Teilnehmer keine besondere Organisation anstreben, die Zugehörigkeit nicht durch formelle Mitgliedschaften entscheiden wollen; unbescheiden, weil sie die momentanen Organisationsgrenzen nicht anerkennen und quer zu den Parteiläden mit Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen zusammenarbeiten wollen«, diese Grundsatzerklärung der Zasilo-Gruppe 1990 behält auch zwei Jahrzehnte später bei den Neuformierungsversuchen einer linken Opposition ihre Gültigkeit.

Das damalige Scheitern von linken Kooperationsansätzen wird von vielen als verpasste Chance gesehen. Schließlich setzten sich noch bis zum Sommer 1990 viele Fabrikbelegschaften in der DDR für eine Arbeiterselbstverwaltung ein, wie sie auch die VL forderte. Der einzige VL-Abgeordnete im Bundestag, Thomas Klein, schrieb damals unmittelbar nach den Wahlen vom 18. März 1990: »Die Abwahl der DDR haben wir nicht verhindern können … Die sozialen Kämpfe sind bereits in Sicht … Geben wir uns nochmals die Chance zusammenzugehen und nicht wieder einzeln geschlagen zu werden.« Klein bezog damals die »Kräfte der Erneuerung in der PDS« in sein Bündnisangebot ausdrücklich mit ein.

Die Zusammensetzung der Veranstaltungsreihe, bei der auch Klein referierte, erscheint wie eine Fortführung dieses Ansatzes. In der Vorbereitungsgruppe war mit Bernd Gehrke ein Mitbegründer der Vereinigten Linken (VL) in der DDR beteiligt. Gehrke arbeitet als Teamer für Gewerkschaften und bezeichnet sich als Ökosozialist. Dass sich derzeit in vielen Teilen der Welt Menschen auf die Suche nach einem Ausweg aus dem Kapitalismus machen, sehen Gehrke und seine Mitstreiter mit großer Sympathie. »Die Veranstaltungen sollten auch verhindern, dass diese jungen Aktivisten in die Sackgasse autoritärer staatssozialistischer Modelle tappen«, meint Anne Seeck, libertäre Dissidentin in der DDR und heute Erwerbslosenaktivistin. Sie wollten ihre Erfahrungen aus mehr als zwei Jahrzehnten Widerstand weitergeben. Schließlich setzten sie sich nach dem Ende der DDR nicht zur Ruhe. Sie waren an der von Ostberlin ausgehenden Mieterbewegung »Wir bleiben alle« ebenso beteiligt wie an den Demonstrationen der »Widerspenstigen«. So nannten sich linke Aktivisten und Gewerkschafter aus Ost und West, die mehrere Jahre am 1. Mai eine Demonstration organisierten. Sie fanden sich in den braven DGB-Demonstrationen ebenso wenig wieder wie in den subkulturell geprägten Aufzügen der Autonomen. Zwischen allen Stühlen war auch hier ihre Verortung. Hat Zasilo 2011 noch eine Chance? Die Frage bleibt offen. Die Veranstaltungsreihe zeigte aber, dass dieser Ansatz auf Interesse stößt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/210691.zwischen-allen-stuehlen.html

Peter Nowak