Geht es um den spanische Anarchismus, fällt stets der Name Buenaventura Durruti. Doch wer kennt Amparo Poch y Gascón? Martin Baxmeyer hat nun eine lesenwerte Biographie der 1968 in Frankreich verstorbenen Mitbegründerin der libertären Frauenorganisation Mujeres Libres verfasst, die auch deutlich macht, warum die Medizinerin und anarchistische Publizistin heute wenig bekannt ist. Baxmeyer schildert den Kampf, den selbstbewusste Frauen auszufechten hatten, um sich innerhalb der männerdominierten anarchistischen Bewegung zu behaupten, und beschreibt den Einfluss des militanten Antifeminismus des französischen Soziologen Pierre-Joseph Proudhon auf die Bewegung. Doch auch nach dem Zurückdrängen dieser Strömung mussten die Mujeres Libres um Anerkennung kämpfen. Die libertären Frauen lehnten den Feminismus als Bewegung wohlhabender Frauen aus dem Bürgertum ab.
Daher kritisiert Baxmeyer den Begriff Anarchofeminismus, mit dem die Mujeres Libres in den siebziger Jahren etikettiert wurden. »Keine der Aktivistinnen der dreißiger Jahre bezeichnete sich so«, betont der Autor. Kritisch geht er auch mit dem anarchistischen Mythos der bewaffnet kämpfenden Frau um. Auf den während der Spanischen Revolution verbreiteten Fotos seien Fotomodelle in Uniform abgebildet gewesen. Mit der Realität auch innerhalb der libertären Kolonnen, die gegen die Faschisten kämpften, habe das nur wenig zu tun gehabt.
Zu solchen Behauptungen hätte man sich mehr Belege gewünscht. Insgesamt aber gelingt Baxmeyer eine kritische Auseinandersetzung mit Mythos und Realität der libertären Bewegung. Poch y Gascón selbst sparte nicht mit Kritik. Davon zeugen einige im Buch dokumentierten Artikel der Publizistin. Dort spottete sie über die Bürokratie der Bewegung und die Gepflogenheit ihrer Genossen, Konflikte in ein eigens gegründetes Komitee abzuschieben.
Martin Baxmeyer: »Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der spanischen Revolution«
Der entstehende Kapitalismus brachte nicht nur massenhaftes Elend hervor. Mit ihm bildeten sich in den unteren Klassen auch neue Formen der Dichtung und des Erzählens heraus, in denen die Misere der Gegenwart und Formen des Widerstands ei drücklich beschrieben werden. Nur wenige dieser Schriften sind heute noch bekannt. Manche von ihnen wurden in den Büchern von Marx und Engels zitiert, beispielsweise der Arbeiterdichter Wilhelm Weitling. Marx würdigte ihn als einen der ersten, der sich für die Organi-ierung des Proletariats einsetz- te. So heißt es auf der Homepage www.marxist.org über Weitling: „Trotz späteren Auseinandersetzungen achteten Marx und Engels den ‚genialen Schneider‘ (Rosa Luxemburg) sehr hoch und betrachteten ihn als ersten Theoretiker des deutschen Proletariats.“
Allerdings wird gleich auch betont, dass Weitlings Ansätze an theoretische und praktische Grenzen gestoßen sind. Inhaltich gibt es für diese Kritik gute Gründe, doch hat der Umgang mit Weitling in der marxistischen ArbeiterInnenbewegung auch etwas Paternalistisches. Schließlich blieb Weitling sein Leben lang Schneider, hatte nie eine Universität besucht und schon deshalb hatten seine Arbeiten es schwerer, wahrgenommen und gehört zu werden. Dabei gehört er zu den wenigen Chronisten der frühen Arbeiterbewegung, deren überhaupt ei- nem größeren Kreis bekannt ist. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat in seinem Buch „Die Poesie der Klasse“ viele der frühen Texte der ArbeiterInnenbewegung dem Vergessen entrissen. Er beklagt, dass sie lange Zeit nur durch die Brille des Marxismus gesehen und als romantischer Antikapitalismus beiseite gelegt.
Schon im Klappentext des Buches heißt es über die AutorInnen: „Die buntscheckige Erscheinung, die Träume und Sehnsüchte dieser allen ständischen Sicherheiten entrissenen Gestalten fanden neue Formen des Erzählens in romantischen Novellen, Reportagen, sozial- staatlichen Untersuchungen, Monatsbulletins. Doch schon bald wurden sie – ungeordnet, gewaltvoll, nostalgisch, irrlichternd und utopisch, wie sie waren – von den Arbeiterbewegung als reaktionär und anarchistisch verunglimpft, weil sie nicht in die große Fortschrittsvision passen wollten“.
So verdienstvoll es von Patrick Eiden-Offe ist, diese Texte wie- der bekannt gemacht und mit großem Engagement in einem Buch präsentiert zu haben, dass auch für NichtakademikerInnen zu lesen Freude und Erkenntnisgewinn bereitet, so muss man doch die Kritik des Autors an den Marxistinnen hinterfragen. Gerade, nach der Lektüre der Texte zeigt sich, dass diese Kritik oft berechtigt war. Dabei geht es gerade nicht darum, den VerfasserInnen der Texte zu unterstellen, sie wären reaktionär. Es geht vielmehr darum, zu analysieren, dass sie in ihren Texten ihre Vorstellungen von der Welt und dem hereinbrechenden Kapitalismus zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben dabei Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab genommen, die sie aus dem Feudalismus und der ständischen Gesellschaft übernommen hatten. Nur waren diese Vorstellungen mit dem Einzug des Kapitalismus obsolet geworden. Es war ein Verdienst von Marx und Engels, dass sie die Ausbeutung und nicht den Wucher als zentrales Unterdrückungsinstrument im Kapitalismus analysiert haben. An einem romantischen Kapitalismus festzuhalten wäre dann nur anachronistisch und birgt noch die Gefahr einer reaktionären Lesart der Kapitalismuskritik, die die Schuldigen für die Misere nicht im kapitalistischen Konkurrenz- und Profitstreben, sondern in Wucherern sieht. Das war übrigens ein Schwungrad für den modernen Antisemitismus. Dem Autor sind solche Bestrebungen fern. Dass Eiden-Offe auf diese Gefahren eines romantischen Antikapitalismus nicht besonders eingeht, liegt wohl vor allem daran, dass er voraussetzt, dass seine LeserInnen mit der Problematik einer reaktionären Kapitalismuskritik vertraut sind.
Die Rückkehr des virtuellen Pauper
Ihm geht es um etwas Anderes, wie er im letzten Kapitel des Bu- ches, das unter dem Titel „Die Rückkehr des romantischen Antikapitalismus“ steht, erläutert: Wenn es seit dem Vormärz eine Uniformierung und Normierung des Proletariats gegeben hat, dann wird diese Klassenfiguration vom Gespenst des „virtuellen Paupers“, der durch keine sozialstaatliche Absicherung und durch keine Verbürgerlichung des sozialen Imaginäten zu bannen ist. Parallel zur Einhegung des Klassenkampfs in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zur Integration der offiziellen Arbeiterbewegung in die Gesellschaft gibt es eine andere Geschichte, die Geschichte einer anderen Arbeiterbewegung, die Geschichte all jener sozialen Gestalten, in denen das Gespenst des „virtuellen Paupers sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert und die gehegte soziale Ordnung bespukt hat“. Damit bezieht sich der Autor auf sozialrevolutionäre Debatten der 1970er Jahre, als der linke Historiker Karlheinz Roth ein Buch mit dem Titel „Die andere Arbeiterbewegung“ veröffentlichte, in dem er die Pauperierten zum neuen revolutionären Subjekt erklärte. Er setzte sie von den Teilen der Arbeiterklasse ab, die im Rahmen des nationalen Klassenkompromisses befriedet wurden. Man könnte auf sie den Begriff der Arbeiteraristokratie anwenden. Eiden-Offe zeigt, wie sich auch diese Einhegung eines Teils des Proletariats in den zeitgenössischen Schriften niederschlägt, beispielsweise in Ernst Willkomms Roman „Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes“ von 1845. Hier ging es zum Schluss um die nationale Einhegung der ArbeiterInnen. Eiden-Offe beschreibt die Konsequenzen präzise: „Ab jetzt sollte es keine ‚vaterlandslosen Gesellen‘, keine ‚heimatlose Klasse‘ mehr geben, sondern nur noch ‚deut- sche Arbeiter‘, die vaterlands- losen Gesellen‘, die es natürlich weiterhin gibt, werden marginalisiert und ausgeschlossen: ideologisch wie materiell, wenn sie aus der staatlichen Fürsorge rausfallen“.
Der Autor beschreibt präzise, dass diese nationale Einhegung zum „Sargnagel des buntscheckigen Proletariats des Vormärz“ wurde, dessen Geschichte in dem Buch erzählt wird. Allerdings zeigte sich in der letzen Zeit das veränderte Gesicht der heutigen ArbeiterInnenklasse, beispielsweise bei den zahlreichen Arbeitskämpfen im Pflege- und Gesundheitsbereich, aber auch bei Kurierdiensten. Es sind dort sehr viele Frauen aktiv, und nicht wenige der ProtagonistInnen dieser Kämpfe haben einen Migrationshintergrund. Vielleicht wird hier in Ansät- zen diese bunte, gar nicht so heterogene ArbeiterInnenklasse sichtbar, die in dem Buch so anschaulich beschrieben wird.
libertäre buchseiten
graswurzelrevolution oktober 2018/432
Im Zusammenschluss ZET suchen Wissenschaftler nach emanzipatorischen Perspektiven in der Technikforschung
Simon Schaupp ist Arbeits- und Techniksoziologe an der Universität Basel. Er ist Mitbegründer des »Zentrums emanzipatorische Technikforschung« (ZET). Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.
Wie haben Sie sich zusammengefunden?
Die Initiator*innen haben bei der Arbeit an dem Buch »Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen« zusammengefunden, das letztes Jahr im Unrast-Verlag erschienen ist. Schon dort haben wir…
Ein Buch über prekäre Arbeit spart nicht mit Kritik an Gewerkschaften
»Vor 15 Jahren, am 14. März 2003, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung die Pläne der rot-grünen Bundesregierung zur Umstrukturierung des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes, die später unter dem Namen Agenda 2010 bekannt werden sollten.« Mit dieser historischen Reminiszenz leitet Stefan Dietl sein kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buch »Prekäre Arbeitswelten – von digitalen Tagelöhnern bis zur Generation Praktikum« ein. Schließlich war die Agenda 2010 der Schlüssel für die Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Sie war politisch gewollt und kein unbeabsichtigter Kollateralschaden, macht Dietl immer wieder deutlich.
Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs, Befristungen – fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsverhältnissen. Für die Betroffenen bedeuten sie häufig niedrige Löhne, geringe soziale Absicherung und ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.
In seinem Buch stellt Stefan Dietl zunächst neuere Formen der Prekarität vor. Von der »kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit« – Teilzeitarbeit auf Abruf – bis zur Gig-Ökonomie. bei der kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden, reichen die Arbeitsverhältnisse, die den Lohnabhängigen Rechte vorenthalten, die sie in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben. Ein eigenes Kapitel widmet sich den Wanderarbeiter*innen, deren Zahl in den letzten Jahren stark zugenommen hat.
Im zweiten Teil des Buches stehen die Formen von atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Mittelpunkt, die seit Einführung der Agenda 2010 boomen. Dabei zeigt Dietl, wie kreativ gesetzliche Bestimmungen umgangen werden. »So stellen immer mehr Unternehmen nur noch Praktikumsplätze zur Verfügung, wenn Bewerber*innen sich zuvor bescheinigen lassen, dass es sich um ein Pflichtpraktikum handelt – obwohl sie sich eigentlich um ein mindestlohnpflichtiges, freiwilliges Praktikum beworben haben.« In einem eigenen Kapitel zeigt Dietl, dass der Mindestlohn wegen seiner Ausnahmeregelungen für viele prekär Beschäftigte keine Verbesserungen bringt. Nur die Selbstorganisation der Betroffenen könne ihre Situation verbessern, betont er.
Obwohl seit Jahren bei ver.di aktiv, spart Dietl nicht mit Kritik an den Gewerkschaften. So erinnert er an die gewerkschaftlichen Vertreter*innen in der Hartz-IV-Kommission und kritisiert die Entscheidung, einen Tarifvertrag für Leiharbeiter*innen zu schließen, der dem Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit zuwiderläuft. Auch im Umgang mit dem wachsenden Heer von Haushaltshilfen sieht Dietl Defizite. Statt auf die Organisierung der Betroffenen setze man auf staatliches Durchgreifen gegen Schwarzarbeit.
Im letzten Kapitel zeigt Dietl, wie sich Beschäftigte gegen prekäre Arbeitsverhältnisse wehren. Als herausragendes Beispiel erwähnt er einen Streik im Bremer Mercedes-Werk gegen die Einführung von Leiharbeit von 2012. Der lokale IG-Metall-Vorstand lehnte damals jede Unterstützung ab. Auch weitere Beispiele von Widerstand prekär Beschäftigter – mit Unterstützung der Basisgewerkschaft FAU, aber auch von DGB-Gewerkschaften – werden benannt und können Leser*innen Anregungen geben.
Stefan Dietl: Prekäre Arbeitswelten. Von digitalen Tagelöhnern bis zur Generation Praktikum, Unrast Verlag 2018, 72 Seiten, 7,80 Eu
»Dadurch, dass sich die Arbeiter an der Selbstverwaltung in den einzelnen Unternehmen beteiligen, bereiten sie sich auf jene Zeit vor, wenn das Privateigentum an Fabriken und Werken abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel zusammen mit den Gebäuden, die auch von Arbeiterhand geschaffen wurden, in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.« So steht es in einem Protokoll der Fabrikkomitees der Putilow-Werke in Petersburg, dem späteren Leningrad. Die Beschäftigten des Maschinenbaukonzerns spielten 1917 eine wichtige Rolle beim Sturz des Zaren und in der Zeit der Doppelherrschaft. Dass ein Teil dieser wichtigen Zeugnisse der Selbstorganisation der Arbeiter_innen jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, ist der Hamburger Russischlehrerin und Publizistin Anita Friedetzky zu verdanken. Ihre Übersetzung gibt Einblicke in eine Zeit, als die Arbeiter_innen Geschichte schrieben. Der Berliner Verlag Die Buchmacherei, der sich mit der Veröffentlichung von vergessenen Dokumenten der Arbeiterbewegung Verdienste erworben hat, hat die Protokolle herausgegeben und mit einen ausführlichen Glossar versehen. Der Schweizer Rätekommunist Rainer Thomann liefert einen ausführlichen Einstieg in die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung in Russland. So kommen zum 100. Revolutionsjubiläum auch die russischen Lohnabhängigen zu Wort, die die Revolution gemacht haben und dann, wie so oft in der Geschichte, wieder in Vergessenheit geraten sind.
Peter Nowak
Anita Friedetzky und Rainer Thomann: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. Die Buchmacherei, Berlin 2018. 682 Seiten, 24 EUR.
aus: analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 640 / 21.8.2018
Das Urteil gegen Monsanto und für Dewayne Johnson ging in den vergangenen Tagen um die Welt. Der Hausmeister hatte jahrelang mit glyphosathaltigen Unkrautvernichtern gearbeitet. Heute hat er Krebs. Der Soziologe Wolfgang Hien hat diesem Thema sein Leben gewidmet: Arbeit darf nicht krank machen.
»Selbstdarstellung der RAF im März 1970«: So lautete die Überschrift eines Texts, der in der Westberliner Apo-Zeitschrift Agit883 im April 1970 erschien. Dabei gründete sich die Rote Armee Fraktion erst im Mai 1970. Bei dem Text handelte es sich um eine Erklärung der japanischen Rote Armee Fraktion, nicht der westdeutschen. Ein neu erschienenes Buch, geschrieben von dem britischen Journalisten William Andrews, gibt nun einen guten Überblick über diese japanische RAF.
Wie ihre westdeutschen Gesinnungsgenossen bestand sie überwiegend aus radikalisierten Akademikern, war aber noch weniger zimperlich: Zwölf Menschen wurden im Rahmen einer »Säuberungsaktion« im Dezember 1971 in einer Hütte in den japanischen Bergen von den eigenen Genossen getötet. Eine Fraktion der japanischen RAF konzentrierte sich auf die Unterstützung von bewaffneten Kämpfen in verschiedenen Regionen der Welt, eine andere, die sich eigentlich dem Guerillakampf in Südamerika anschließen wollte, landete nach einer Flugzeugentführung in Nordkorea, wo sie eher unfreiwillig zu Propagandisten des dortigen Regimes umerzogen wurde.
Wieder ein anderer Teil der RAF ist für das Massaker im heutigen Flughafen Ben Gurion in Israel am 30. Mai 1972 verantwortlich, bei dem 28 Menschen starben und Dutzende weitere verletzt wurden. William Andrews beschreibt, wie das Attentat in vielen arabischen Staaten bejubelt wurde. Einer der Hauptverantwortlichen lebt, nachdem er aus israelischer Haft freigetauscht wurde, im Libanon und wurde noch 2016 von der palästinensischen Fatah als »Held der Operation am Flughafen Lod« gefeiert. Manche politischen Einschätzungen von Andrews widersprechen sich, was der Autor aber auch selbstkritisch in einer Fußnote einräumt. Das Buch zeigt das Scheitern der japanischen RAF, von deren revolutionärer Emphase nur der Hass auf Israel übrig blieb.
William Andrews: Die japanische Rote Armee Fraktion. Bahoe Books, Wien 2018,
150 Seiten, 15 Euro
Auch in Japan gab es eine »Rote Armee Fraktion« – sie blieb vor allem mit Terror gegen eigene Mitglieder und Israelis in Erinnerung
Wenn über den globalen Aufbruch von 1968 gesprochen wird, blendet man Japan meistens aus. Zu Unrecht: Die japanische Linke hatte vor 50 Jahren durchaus eine Vorbildfunktion für die linksradikalen Bewegungen anderer Länder. Besonders die Studierendengewerkschaft namens »Zengakuren« wurde für ihre Militanz bewundert. In Japan gab es aber auch einen bewaffneten Kampf. Bereits 1969 gründete sich eine »Rote Armee Fraktion«, im April 1970 wurde sie in der Westberliner Apo-Publikation »Agit 883« vorgestellt. Es ist somit durchaus nicht unwahrscheinlich, dass die japanische Gruppe Vorbild für die im Mai 1970 gegründete RAF in der BRD war.
Der Wiener Verlag Bahoe Books hat nun ein Buch des britischen Publizisten William Andrews ins Deutsche übersetzt, das einen guten Überblick über die Geschichte der japanischen RAF vermittelt. Diese, so kann man erfahren, erlitt eine doppelte Niederlage.
Die Erste: In der japanischen RAF planten junge Akademiker*innen Angriffe auf Politiker*innen, die man wohl passenderweise mit dem japanischen Wort »Kamikaze« bezeichnen müsste. Schon kurz nach der Gründung hatte die Polizei einen Großteil der jungen Militanten verhaftet.
Die Zweite: Durch eine Verschmelzung mit einer nahestehenden Gruppe versuchten die Aktivist*innen, noch einmal in die Offensive zu kommen. Auf einer Hütte in den japanischen Bergen hatten sich dafür einige Dutzend meist sehr junge Leute zusammengefunden, um sich auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten. Im Rahmen einer »Säuberungsaktion« im Dezember 1971 wurden dann jedoch zwölf Menschen von den eigenen Genoss*innen getötet.
Williams versucht erst gar nicht, den Terror nach innen erklärbar zu machen. Bei ihm wird aber deutlich, dass in einem Klima aus ideologischem Sektierertum und Angst vor Agent*innen des Staates der eigene Genosse zum Feind wurde. Damit hatte sich die RAF in Japan gründlich diskreditiert. Andrews beschreibt die Situation in drastischen Worten, nachdem das Verbrechen entdeckt wurde: »Die Reaktion war garantiert, und die Polizei war glücklich darüber, die Medien zu dem Massengrab zu bringen, um den Horror der Militanten unter der gesamten Bevölkerung zu verbreiten.«
Trotz solcher und ähnlicher drastischer Formulierungen – so bezeichnet Andrews die Guerillagruppen immer als »Bande« – ist er kein Verteidiger des Staates. An mehreren Stellen erklärt er, dass man den Mitgliedern der RAF nicht gerecht wird, wenn man sie auf die Gewalt reduziert. Kritisch geht er auch mit der Kampagne aus Politik und Medien um, die die vor allem weiblichen Mitglieder der Gruppe als Hexen entmenschlichte.
Eine RAF-Zelle, so eine weitere Anekdote, wollte sich eigentlich in Südamerika am dortigen Guerillakampf beteiligen. Nach einer Flugzeugentführung landete sie jedoch ausgerechnet in Nordkorea, das ursprünglich nur Transitland sein sollte. In dem Land wurden die japanischen Guerilla-Kämpfer*innen dann eher unfreiwillig zu Propagandist*innen des dortigen Regimes »umerzogen«.
Andere japanische RAF-Mitglieder beteiligten sich an Attentaten palästinischer Gruppen gegen Israel. Berüchtigt wurden sie durch ein Massaker im Terminal des Flughafens im israelischen Lod 1972. Unter den 28 Menschen, die dabei das Leben verloren, war auch eine Gruppe von Pilger*innen aus Puerto Rico. Andrew beschreibt, wie die Attentäter*innen in Teilen der arabischen Welt bis heute als Helden gelten.
Das flott geschriebene Buch gibt einen ersten Einblick in die Geschichte der japanischen RAF. Es benennt einige ihrer Aktivist*innen, die ursprünglich die Revolution vorantreiben wollten – später aber mit Terror gegen Israel und Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen in Erinnerung geblieben sind.
Williams Andrew: Die japanische Rote Armee Fraktion. Wien 2018, Bahoe Books. 150 Seiten, 15 Euro.
Eva Willig führt regelmäßig Interessierte durch die Grünanlangen von Berlin-Neukölln, um ihnen nützliche und leckere Pflanzen vorzustellen
In gebückter Haltung pflückt eine Teilnehmerin eine unscheinbare Pflanze und steckt sie in einen Stoffbeutel. Eine andere Frau blättert in einem Buch, um die Pflanze zu identifizieren. »Das ist der Schachtelhalm, eine der ältesten Heilpflanzen, die seit Langem zum Beispiel gegen Rheuma und Gicht angewendet wird«, erklärt Eva Willig. Die 70-Jährige kennt sich aus in der Berliner Kräuterwelt. Bei der Industrie- und Handelskammer absolvierte sie eine Prüfung und erhielt eine Erlaubnis für frei verkäufliche Heilmittel.
Seit mehr als zehn Jahren veranstaltet sie von März bis Oktober am jeweils letzten Samstag im Monat kostenlose Kräuterspaziergänge in Berlin. Sie finden überwiegend in Parks und Grünanlagen statt, die nicht direkt an viel befahrenen Hauptstraßen liegen, weil sich Staub und andere Verunreinigungen auch auf Pflanzen ablagern.
Ende Juni versammelten sich 15 Interessierte am S-Bahnhof Treptow. Größer sollte die Gruppe nicht werden, betont Willig. Schließlich muss die Kräuterexpertin in den zwei Stunden viele Fragen beantworten. Immer wieder zeigen die Teilnehmer*innen auf eine Pflanze und fragen nach Namen und Anwendungsgebieten. »Das Johanniskraut hilft gegen depressive Verstimmungen«, doziert Willig und weist auf eine Pflanze mit gelben Blüten. »Meistens ist es gut verträglich. Doch in Einzelfällen kann es Magen-Darm-Beschwerden oder Kopfschmerzen verursachen«, klärt sie über unerwünschte Nebenwirkungen auf.
Dass Pflanzen nicht nur eine heilende, sondern auch eine giftige Wirkung haben können, thematisiert die Kräuterfrau ebenfalls in ihrem kürzlich im Selbstverlag veröffentlichten Buch »Heilsames Neukölln«. Dort hat sie den Giftpflanzen ein ganzes Kapitel gewidmet. Das lange Zeit als Heilpflanze betrachtete Immergrün und die Kleine Wolfsmilch gehören in diese Rubrik. Der in Willigs Kräuterbuch unter der Rubrik Giftpflanze aufgeführte Wunderbaum sorgte vor einigen Wochen für Schlagzeilen. Es wurde berichtet, dass ein Islamist die Samen dieses Strauches, auch Rizinus genannt, bei einem Anschlag nutzen wollte. Auf einer bekannten Neuköllner Grünfläche stehen laut Willig gleich acht dieser Pflanzen.
Doch die Mehrzahl der aufgeführten Gewächse hat eine heilende Wirkung und wird dem Buchtitel gerecht. Eigentlich hätte es auch »Heilsames Berlin« heißen können, Schließlich wachsen die aufgeführten Pflanzen nicht nur in Neukölln. Doch Willig hat sich mit dem Buch bewusst auf Neukölln konzentriert, weil sie dort seit vielen Jahren lebt und in den 1990er Jahren für die Grünen in der Kommunalpolitik aktiv war. Aus der aktiven Parteipolitik hat sie sich längst zurückgezogen. Doch in sozialen Initiativen ist sie weiterhin aktiv. Ihr Anliegen ist es, Giftpflanzen in Grünanlangen zu erkennen und sie möglichst von dort zu verbannen. Stattdessen sollen essbare und heilsame Gewächse stehen gelassen werden. Schließlich haben dann auch Menschen mit geringen Einkommen die Möglichkeit, ihre Nahrung vitaminreich zu ergänzen. Willig fällt sofort der Löwenzahn ein. Jeder Teil dieser anspruchslosen Pflanze kann genutzt werden: »Die Blüten können einen Salat zieren oder zu Sirup gekocht werden. Die Wurzel wurde in der Nachkriegszeit geröstet und zu Kaffee-Ersatz gemahlen.« Ähnlich verfuhr man mit der Wurzel der Wegwarte, auch als Zichorie bekannt. »Die jungen Blätter des Löwenzahns können zu Salat, die älteren Blätter wie Spinat verarbeitet werden. Getrocknete Blätter können Teil eines Blutreinigungstees sein oder ebenfalls als Tee zur Linderung rheumatischer Beschwerden beitragen«, so Willig. Auch bei vielen anderen Pflanzen kann sie vielfältige Möglichkeiten der Nutzung aufzählen.
Nach mehr als zwei Stunden verabschieden sich die Teilnehmer*innen des Kräuterspazierganges. Die meisten wollen die gesammelten Pflanzen schnell verarbeiten. Gänseblümchen waren diesmal besonders beliebt. Die anspruchslose Pflanze blüht zwischen März und November, wirkt entzündungshemmend, regt aber auch Verdauung und Stoffwechsel an. Ihre Blüten wurden mittlerweile von Feinschmecker*innen entdeckt und dienen in Nobelrestaurants als Zutat teurer Menüs. Eva Willig hingegen will mit ihren Kräuterspaziergängen und mit ihrem Buch ein Bewusstsein für eine alte Weisheit schaffen: Gegen fast jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen ist. Selbst in einer Großstadt wie Berlin trifft das heute noch zu.
Eva Willig: Heilsames Neukölln. Eigenverlag Berlin. 175 Seiten, 18 Euro. Bestellungen über ewil@gmx.de
Der Autor des »Neue Deutschland« war empört über die KP Chinas. In einem 1963 veröffentlichten Artikel bezichtigte er jene, sich in die inneren Angelegenheiten der »Bruderparteien« einzumischen. Zahlreiche Mitglieder der in der BRD illegalisierten KP hatten Broschüren chinesischer Kommunisten erhalten, in denen die Linie der osteuropäischen Kommunisten als »Revisionismus« scharf kritisiert worden ist. Der Streit zwischen der chinesischen und der sowjetischen KP eskalierte damals, was an der Basis diverser kommunistischer Parteien zu Verwirrung und Streit führte, darunter auch in der Bundesrepublik.
Was der empörte ND-Autor nicht wusste, offenbarte jetzt Mascha Jacoby einer größeren Öffentlichkeit. Die Hamburger Historikerin forscht über die Rezeption des Maoismus in der BRD und stieß dabei eher zufällig auf die Hilfe des Verfassungsschutzes in den frühen 1960er Jahren bei der Verbreitung maoistischer Schriften. In dem kürzlich im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Band »Ein kleines rotes Buch – Die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre« (28 €) fasste sie ihre Recherchen zusammen.
Der Verfassungsschutz hatte Karten mit den Anschriften ihm bekannter KP-Mitgliedern an die Bestelladresse der chinesischen Broschüren geschickt, die in westdeutschen Zeitungen, darunter in der »FAZ«, per Anzeigen beworben wurden. Es sei darum gegangen, die deutschen Kommunisten zu unterwandern, bekannte Anfang der 1970er Jahre der Präsident des Verfassungsschutzes Günther Nollau diese ungewöhnliche Hilfe für Peking. Das Amt registrierte mit Genugtuung, dass die chinesischen Publikationen tatsächlich unter westdeutschen Kommunisten intensiv diskutiert wurden. Manche der unfreiwilligen Empfänger meldeten die ungebetene Post aber auch sofort ihren führenden Genossen.
Der Verfassungsschutz war ungemein kreativ bei der Verbreitung des Maoismus in der Bundesrepublik. Laut Jacoby gründete er die – allerdings kurzlebige – Zeitschrift »Der 3. Weg« als sogenanntes Forum kritischer Kommunisten. Sogar eine Partei, die sich MLPD nannte, jedoch nichts mit der heute noch existierenden gleichen Namens gemein hatte, rief das Amt ins Leben. Sie hatte gesamtdeutschen Anspruch, löste sich aber bald wieder auf. Langlebiger war eine vom niederländischen Geheimdienst im Nachbarland gegründete maoistische Partei.
Jacoby betont, dass der Aufschwung maoistischer Ideen in der Folge der Rebellion von 1968 nicht allein mit dem Agieren des Verfassungsschutzes erklärt werden könne. Weltweit stießen während der chinesischen »Kulturrevolution« maoistische Vorstellungen auf großes Interesse unter Linken. Wie der Verfassungsschutz damit umging, harrt noch der Forschung. Fakt ist, dass die 68er nicht nur, wie oft zu hören und zu lesen, von der ostdeutschen Stasi infiltriert worden sind.
Zwei Büchern über die Sozialproteste in Frankreich
Die Welt oder nichts
Vor zwei Jahren sorgten in Frankreich Massenproteste gegen das französische Arbeitsgesetz, das die prekären Arbeitsverhältnisse in dem Land vertiefen und zementieren sollte, für Schlagzeilen.
In diesem Jahr sind zwei Bücher über die Massenproteste von 2016 gegen das Arbeitsgesetz in Frankreich erschienen. Beide Bücher geben gute Einblicke in eine soziale Bewegung in Frankreich, die jederzeit seine Fortsetzung in dem Land finden könnte.
Vor zwei Jahren begannen in Frankreich Massenproteste gegen das französische Arbeitsgesetz, das die prekären Arbeitsverhältnisse in dem Land vertiefen und zementieren sollte. Vorbild dafür ist die Agenda 2010 in Deutschland. Der Protestzyklus begann am 9. März 2016 und hielt bis zum 5. Juli an. «120 Tage und 16 ‹genehmigte› Demonstrationen, die uns die soziale Zusammensetzung der Bewegung und ihre in ständigen politischen Fluss begriffene politische Organisierung gut vor Augen führen», schreibt Davide Gallo Lassere. Der junge prekär beschäftigte Sozialwissenschaftler hatte sich an den Protesten beteiligt. Nachdem sie abgeebbt waren, hat Lassere einen in der französischen Linken vieldiskutierten Text verfasst, der die Proteste von 2016 zum Ausgangspunkt für grundsätzlichere Fragestellungen nahm: Wie ist in einer total individualisierten Gesellschaft noch möglich, solche Sozialproteste erfolgreich zu führen? Welche Rolle können die Gewerkschaften in einer Gesellschaft spielen, in der vor allem viele junge Menschen keinerlei Beziehung zu ihnen haben? Ist es in einer so differenzierten Gesellschaft möglich, emanzipatorische Forderungen zu formulieren und zu erkämpfen? Diese Fragen formuliert Lassere mit den gesammelten Erfahrungen als Aktivist in der Bewegung gegen die Arbeitsgesetze.
Gesellschaftsstreiks?
«Die Besetzung von Bahnhöfen, Häfen und Flughäfen, die Störung von Personen- und Gütertransport, die Beeinträchtigungen im Dienstleistungssektor, der Boykott von Einkaufszentren, all das lässt die Umrisse eines wirklichen ‹Gesellschaftsstreiks› am Horizont aufscheinen», schreibt Lassere. Er knüpft damit an Debatten eines Streiks an, der nicht nur den klassischen Produktionsbereich von Waren, sondern auch den Reproduktionsbereich und den Handel umfasst. Lassere spricht von einem «Angriff auf die kapitalistische Verwertung», der sich durch die Verbindung der Kämpfe in den unterschiedlichen Sektoren ergibt.
Nun darf man hier kein Handbuch für den kommenden Widerstand erwarten. Das Buch ist eher ein Essay, das von der Bewegung auf der Strasse inspiriert wurde. Lassere beschreibt den Moment der Befreiung, als die Menschen im März 2016 wieder auf die Strasse gingen. Es war das Ende «der Schockstarre, die den öffentlichen Raum besonders in Paris nach den Attentaten vom Januar und November leergefegt hatten». Gemeint sind die islamistischen Terrorangriffe auf eine Satirezeitung im Januar 2015 und verschiedene Sport- und Freizeitstätten im November des gleichen Jahres. Mit den sich im März 2016 ausbreitenden nächtlichen Platzbesetzungen, den «Nuit debout», eroberten sich die Menschen den öffentlichen Raum wieder zurück. «Plötzlich hat man wieder Luft zum Atmen», beschreibt der Autor das Gefühl vieler AktivistInnen.
Linke Spektren
«Die Welt oder nichts», lautete eine vielzitierte Parole, die dort getragen wurde. Sie verdeutlichte, dass es um mehr als die Arbeitsgesetze ging. Nach einigen Wochen beteiligten sich auch die zentralen französischen Gewerkschaften mit eigenen Aktionen an den Protesten. Eine Streikwelle begann und weitete sich im Mai und Juni aus. Selbst die Aktionen militanter Gruppen konnten die Protestdynamik nicht brechen. Erst die Urlaubszeit und die 2016 in Frankreich abgehaltene Fussball-Europameisterschaften sorgten für ein Abflauen. Linke Gruppen scheiterten mit dem Versuch, im Herbst 2016 die Proteste neu zu entfachen. Die Arbeitsgesetze wurden von der Regierung durchgesetzt. Lassere skizziert auch die Debatten in unterschiedlichen Spektren der französischen Linken danach. Im letzten Kapitel schlägt Lassere vor, die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zu einer zentralen Forderung zu erheben, die für unterschiedliche linke Spektren ein Bezugspunkt sein könnte. Dem Verlag «Die Buchmacherei» und der Übersetzerin Sophie Deeg ist es zu verdanken, dass wir jetzt auch hier an der Debatte partizipieren können.
«Diese Welt ist unglaublich zäh und wir sind manchmal müde vom Anrennen gegen die immer gleichen Bedingungen. Doch dann weht plötzlich der Windeine neue Melodie herüber und wärmt unsere Herzen. So war es im Frühjahr 2016, als aus dem Nichts die neue Bewegung in Frankreich entstand, die auf den Strassen Einzug hielt», schreibt Sebastian Lotzer. Im Band «Winter ist Coming» dokumentiert er Texte von Gruppen und Einzelpersonen, die in den sozialen Kämpfen in Frankreich nicht intervenieren, um Forderungen zu stellen oder mit der Macht zu verhandeln. Für junge Leute, SchülerInnen, StudentInnen, prekär Beschäftigte waren die Wochen vom März bis Juli 2016 eine besondere Schule des Widerstands. Junge Menschen, die in der wirtschaftsliberalen Konkurrrenzgesellschaft aufgewachsen sind, für die die kapitalistischen Dogmen zum Alltagsbewusstsein gehören, wurden plötzlich zum Subjekt von Kämpfen, die genau diese kapitalistische Gesellschaft infrage stellten.
In vielen Texten werden alle Staatsapparate abgelehnt, für die AutorInnen gehören dazu auch linke Parteien und Gewerkschaften. Das ist zu einem grossen Teil die Ablehnung einer Politik der Repräsentanz und die Angst vor Vereinnahmung. Aber die teils sehr wortradikale Ablehnung auch linker Gewerkschaften dürfte damit zu tun haben, dass die jungen ProtagonistInnen der Kämpfe nie Erfahrungen mit solidarischer Gewerkschaftsarbeit machen konnten. So heisst es in einem von Lotzer dokumentierten «Aufruf aus dem antagonistischen Spektrum» zum Aktionstag gegen das Arbeitsgesetz im März 2016: «Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den Parolen der Gewerkschaften und der Schüler, welche ‹Die Welt oder gar nichts› sprühen, bevor sie planmässig Banken angreifen? Überhaupt keinen. Oder höchstens den eines miserablen Vereinnahmungsversuchs durchgeführt von Zombies.»
Revoltierende Bürgerkinder
Was vordergründig besonders radikal scheint, könnte auch die Abgrenzung von Bürgerkindern vor den organisierten ArbeiterInnen sein. Die Frage, was haben wir mit den Gewerkschaften und den Forderungen von ArbeiterInnen zu tun, konnte man schliesslich auch in Berlin bei den Universitätsstreiks vor mehr als 10 Jahren hören, von Studierenden, die sich als künftige Elite empfanden und nicht mit den ProletInnen gemein machen wollten. Wenn in dem Aufruf aus dem antagonistischen Spektrum dann die Youtuber gelobt werden, die ausserhalb jedes Rahmens und jeder Repräsentanz auf die Strasse gegangen sind, und die Jugend beschworen wird, die noch nicht im Sinne des Kapitalismus funktionieren, dann wird die kleinbürgerliche Tendenz dieser Art des Radikalismus unverkennbar. Es ist eben ein Unterschied, ob organisierte Lohnabhängige Widerstand leisten oder ob Bürgerkinder gegen Autorität und Staat rebellieren. Diese Kritik äussert Lotzer nicht, der seine Grundsympathie mit den antagonistischen Linken nicht verschweigt. Doch es ist verdienstvoll, dass Lotzer hier einige grundlegende Texte des oft nur als «Militante» bekannt gewordenen Spektrums der radikalen Linken zugänglich macht. So hat man die Möglichkeit, Ideologie und Staatsverständnis dieses Spektrums besser kennenzulernen, auch um es diskutieren und kritisieren zu können. Beide Bücher geben gute Einblicke in eine soziale Bewegung in Frankreich, die jederzeit seine Fortsetzung in dem Land finden könnte.
Davide Gallo Lassere: Gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2018. 10 Euro.
Lotzer Sebastian: Winter is Coming – Soziale Kämpfe in Frankreich. Bahoe Books, Wien 2018. 14 Euro.
Die Antirassistische Initiative Berlin hat Schicksale von abgewiesenen Asylbewerbern in Afghanistan dokumentiert
Mitte Dezember 2016 haben die Abschiebung von Geflüchteten aus Deutschland nach Afghanistan begonnen. Mittlerweile sind sie zur Routine geworden. Insgesamt 13 Abschiebeflüge gab es in den vergangenen anderthalb Jahren. 234 Menschen wurden ausgeflogen. Schlagzeilen machen die Flüge in der Regel nur noch, wenn es einem Geflüchteten gelingt, sich erfolgreich einer Ausweisung zu entziehen. Jetzt hat die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) an die Konsequenzen dieser Abschiebungen für die Betroffenen erinnert. Sie stehen im Mittelpunkt der aktualisierten Dokumentation »Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«, welche die ARI seit 1994 jährlich herausgibt. Dort sind die Menschen benannt, die nach ihrer Abschiebung in Afghanistan verletzt oder getötet wurden.
Der 23-jährige Asylbewerber Atiqullah Akbari war am 23. Januar 2017 abgeschoben worden. Zwei Wochen später wurde er durch einen Bombenanschlag in Kabul verletzt. Der 22 Jahre alte Farhad Rasuli wurde am 10. Mai 2017, drei Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland, in Afghanistan bei einem Anschlag durch die Taliban getötet. Der 23-jährige Abdullrazaq Sabier stirbt am 31. Mai bei einem Bombenanschlag im Diplomatenviertel von Kabul. Sein Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Nachdem die dritte Sammelabschiebung stattgefunden hatte, gab er dem Abschiebungsdruck der Behörden nach und war im März »freiwillig« nach Afghanistan zurückgekehrt.
Elke Schmidt von der ARI macht im Gespräch mit »nd« darauf aufmerksam, dass die Massenabschiebungen nicht nur in Afghanistan tödliche Folgen haben können, sondern auch hierzulande. »Mindestens acht Afghan_innen, davon 3 Minderjährige, töteten sich in den Jahren 2016 und 2017 selbst. Es am zu 110 Selbstverletzungen und Suizidversuchen«. Elke Schmidt geht von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Schließlich veröffentlicht die ARI in ihrer Dokumentation nur Meldungen, die gegenrecherchiert und bestätigt wurden. So zündete sich am 2. Januar 2017 ein 19-jähriger Afghane im Warenlager eines Supermarkts im bayerischen Gaimersheim selbst an, nachdem er sich mit Benzin übergossen hatte. Mit schweren Brandverletzungen wurde er ins Krankenhaus gebracht. Der bayerische Flüchtlingsrat erinnerte nach dem Vorfall daran, dass die Arbeitsverbote und die sich häufenden Abschiebungen bei vielen Geflüchteten aus Afghanistan Ängste auslöst, die bis zum Selbstmord führen können. Oft komme es auch zur Retraumatisierung bei Menschen, die in Afghanistan und auf ihrer Flucht mit Gewalt und Misshandlungen konfrontiert wurden.
Die Dokumentation liefert viele erschreckende Beispiele über die tödliche deutsche Flüchtlingspolitik. Sie ist seit 1994 ein leider noch immer unverzichtbares Stück Gegenöffentlichkeit. Seit wenigen Wochen ist diese wohl umfangreichste Dokumentation des deutschen Alltagsrassismus auf einer Datenbank im Internet zu finden (www.ari-dok.org). Durch die Onlinedatenbank hoffen Elke Schmidt und ihre Mitstreiter_innen, dass noch mehr Menschen auf die gesammelten Daten zugreifen. In der letzten Zeit habe es vermehrt Anfragen von Schüler_innen und Studierenden gegeben.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1090400.schrecken-nach-der-abschiebung.html
Peter Nowak
Beim „Walk of Care“ am Samstag demonstrieren rund achthundert Menschen für mehr Personal und Geld in der Pflegebranche
Mit Musik und Luftballons demonstrierten am Samstagnach- mittag Auszubildende und PflegerInnen für bessere Bedingungen in ihrer Branche. Rund 800 Menschen kamen beim „Walk of Care“ zusammen und zogen von Berlin-Mitte vorbei am Bundesgesundheitsministerium hin zur Senatsverwaltung für Gesundheit in Kreuzberg. Die Stimmung war fröhlich, bei einem Zwischenstopp am Checkpoint Charlie wippten auch einige der zahlreichen PassantInnen im Takt der Musik mit. Doch es ging nicht nur um Spaß beim zweiten Berliner Walk of Care.
Immer wieder skandierten die DemonstrantInnen „Die Pflege steht auf“. Der Berliner Pflegestammtisch nutzte den Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai, um die Forderung nach einer gesetzlichen Personalbemessung, mehr Raum für Praxisanleitung und guter Ausbildung auf die Straße zu tragen. „Mehr Zeit für Pflege“ hatte eine Frau auf einen Karton geschrieben. Eine andere Demonstrantin forderte „Respect Nurses.“
„Mehr Zeit für Pflege“, hatte eine Frau auf einen Karton geschrieben
Der Walk of Care startete in unmittelbarer Nähe der Charité, wo es in den letzten Monaten Arbeitskämpfe gab, die andere inspirierten. Markus Mai von der Pflegekammer Rheinland- Pfalz berichtete von ähnlichen Demonstrationen in verschiedenen Städten in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern am 12. Mai.
Für die Berliner Vorbereitungsgruppe macht die große Resonanz des Walk of Care deutlich, dass sich in den letzten Jahren die unterschiedlichen Pflegebeschäftigten gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu wehren begonnen haben. „Ältere KollegInnen haben oft noch die Vorstellungen vom Ehrenamt im Kopf. Jüngere Beschäftige im Care-Bereich begreifen ihren Beruf als Arbeitsplatz, der auch gut bezahlt werden muss“, benennt Valentin Herfurth vom Berliner Pflegestammtisch die Unterschiede zwischen den Generationen.
Dabei bekommen sie Unterstützung aus der Bevölkerung, wie der aussichtsreiche „Volksentscheid für gesunde Krankenhäuser“ zeigt, in dem mehr Personal und höhere Investitionen in Berliner Krankenhäusern gefordert werden. „Wir haben das nötige Quorum der Unterschriften bereits erreicht, sammeln aber noch bis 11. Juni weiter“, sagte Dietmar Lange, der auf der Demonstration für das Volksbegehren warb.
Solidarität bekamen die Care- Beschäftigten auch von Feuerwehrleuten, die kürzlich eine fünfwöchige Mahnwache gegen schlechte Bezahlung, zu wenig Personal und veraltete Ausrüstung vor dem Roten Rathaus be- endet haben. Dort entstand auch der Protest-Rap „Berlin brennt“, den der Feuerwehrmann Christian Köller am Samstag unter großem Applaus aufführte.
Die Brandenburger Linke startete unterdessen am Tag der Pflege eine Kampagne für mehr Personal und eine bessere Bezahlung in den Pflegeberufen. „Wir fordern einen Pflegemindestlohn von 14,50 Euro und einen flächendeckenden Tarifvertrag“, sagte Landesgeschäftsführer Stefan Wollenberg zum Auftakt in Potsdam.