Arbeiter in Russland

»Dadurch, dass sich die Arbeiter an der Selbstverwaltung in den einzelnen Unternehmen beteiligen, bereiten sie sich auf jene Zeit vor, wenn das Privateigentum an Fabriken und Werken abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel zusammen mit den Gebäuden, die auch von Arbeiterhand geschaffen wurden, in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.« So steht es in einem Protokoll der Fabrikkomitees der Putilow-Werke in Petersburg, dem späteren Leningrad. Die Beschäftigten des Maschinenbaukonzerns spielten 1917 eine wichtige Rolle beim Sturz des Zaren und in der Zeit der Doppelherrschaft. Dass ein Teil dieser wichtigen Zeugnisse der Selbstorganisation der Arbeiter_innen jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, ist der Hamburger Russischlehrerin und Publizistin Anita Friedetzky zu verdanken. Ihre Übersetzung gibt Einblicke in eine Zeit, als die Arbeiter_innen Geschichte schrieben. Der Berliner Verlag Die Buchmacherei, der sich mit der Veröffentlichung von vergessenen Dokumenten der Arbeiterbewegung Verdienste erworben hat, hat die Protokolle herausgegeben und mit einen ausführlichen Glossar versehen. Der Schweizer Rätekommunist Rainer Thomann liefert einen ausführlichen Einstieg in die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung in Russland. So kommen zum 100. Revolutionsjubiläum auch die russischen Lohnabhängigen zu Wort, die die Revolution gemacht haben und dann, wie so oft in der Geschichte, wieder in Vergessenheit geraten sind.

Peter Nowak

Anita Friedetzky und Rainer Thomann: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. Die Buchmacherei, Berlin 2018. 682 Seiten, 24 EUR.

aus: analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 640 / 21.8.2018

https://www.akweb.de/ak_s/ak640/19.htm

Kranke Arbeit

Das Urteil gegen Monsanto und für Dewayne Johnson ging in den vergangenen Tagen um die Welt. Der Hausmeister hatte jahrelang mit glyphosathaltigen Unkrautvernichtern gearbeitet. Heute hat er Krebs. Der Soziologe Wolfgang Hien hat diesem Thema sein Leben gewidmet: Arbeit darf nicht krank machen.

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Die rote Armee von Nippon

Ein Buch über die japanische Rote Armee Fraktion

»Selbstdarstellung der RAF im März 1970«: So lautete die Überschrift ­eines Texts, der in der Westberliner Apo-Zeitschrift Agit883 im April 1970 erschien. Dabei gründete sich die Rote Armee Fraktion erst im Mai 1970. Bei dem Text handelte es sich um eine Erklärung der japanischen Rote Armee Fraktion, nicht der westdeutschen. Ein neu erschienenes Buch, geschrieben von dem britischen Journalisten William Andrews, gibt nun einen guten Überblick über diese japanische RAF.

Wie ihre westdeutschen Gesinnungsgenossen bestand sie überwiegend aus radikalisierten Akademikern, war aber noch weniger zimperlich: Zwölf Menschen wurden im Rahmen einer »Säuberungsaktion« im Dezember 1971 in einer Hütte in den japanischen Bergen von den eigenen Genossen getötet. Eine Fraktion der japanischen RAF konzentrierte sich auf die Unterstützung von bewaffneten Kämpfen in verschiedenen Regionen der Welt, eine andere, die sich ­eigentlich dem Guerillakampf in Südamerika ­anschließen wollte, lan­dete nach einer Flugzeugentführung in Nordkorea, wo sie eher unfrei­willig zu Propagandisten des dortigen Regimes umerzogen wurde.

Wieder ein anderer Teil der RAF ist für das Massaker im heutigen Flughafen Ben Gurion in Israel am 30. Mai 1972 verantwortlich, bei dem 28 Menschen starben und Dutzende weitere verletzt wurden. William Andrews beschreibt, wie das Attentat in vielen arabischen Staaten bejubelt wurde. Einer der Hauptverantwortlichen lebt, nachdem er aus israelischer Haft freigetauscht wurde, im Libanon und wurde noch 2016 von der palästinensischen Fatah als »Held der Operation am Flughafen Lod« gefeiert. Manche politischen Einschätzungen von Andrews widersprechen sich, was der Autor aber auch selbstkritisch in einer Fußnote einräumt. Das Buch zeigt das Scheitern der japanischen RAF, von deren revolutionärer Emphase nur der Hass auf Israel übrig blieb.

William Andrews: Die japa­nische Rote Armee Fraktion. Bahoe Books, Wien 2018,
150 Seiten, 15 Euro

https://jungle.world/artikel/2018/32/die-rote-armee-von-nippon

Peter Nowak

Kamikaze gegen den Klassenfeind

Auch in Japan gab es eine »Rote Armee Fraktion« – sie blieb vor allem mit Terror gegen eigene Mitglieder und Israelis in Erinnerung

Wenn über den globalen Aufbruch von 1968 gesprochen wird, blendet man Japan meistens aus. Zu Unrecht: Die japanische Linke hatte vor 50 Jahren durchaus eine Vorbildfunktion für die linksradikalen Bewegungen anderer Länder. Besonders die Studierendengewerkschaft namens »Zengakuren« wurde für ihre Militanz bewundert. In Japan gab es aber auch einen bewaffneten Kampf. Bereits 1969 gründete sich eine »Rote Armee Fraktion«, im April 1970 wurde sie in der Westberliner Apo-Publikation »Agit 883« vorgestellt. Es ist somit durchaus nicht unwahrscheinlich, dass die japanische Gruppe Vorbild für die im Mai 1970 gegründete RAF in der BRD war.

Der Wiener Verlag Bahoe Books hat nun ein Buch des britischen Publizisten William Andrews ins Deutsche übersetzt, das einen guten Überblick über die Geschichte der japanischen RAF vermittelt. Diese, so kann man erfahren, erlitt eine doppelte Niederlage.

Die Erste: In der japanischen RAF planten junge Akademiker*innen Angriffe auf Politiker*innen, die man wohl passenderweise mit dem japanischen Wort »Kamikaze« bezeichnen müsste. Schon kurz nach der Gründung hatte die Polizei einen Großteil der jungen Militanten verhaftet.

Die Zweite: Durch eine Verschmelzung mit einer nahestehenden Gruppe versuchten die Aktivist*innen, noch einmal in die Offensive zu kommen. Auf einer Hütte in den japanischen Bergen hatten sich dafür einige Dutzend meist sehr junge Leute zusammengefunden, um sich auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten. Im Rahmen einer »Säuberungsaktion« im Dezember 1971 wurden dann jedoch zwölf Menschen von den eigenen Genoss*innen getötet.

Williams versucht erst gar nicht, den Terror nach innen erklärbar zu machen. Bei ihm wird aber deutlich, dass in einem Klima aus ideologischem Sektierertum und Angst vor Agent*innen des Staates der eigene Genosse zum Feind wurde. Damit hatte sich die RAF in Japan gründlich diskreditiert. Andrews beschreibt die Situation in drastischen Worten, nachdem das Verbrechen entdeckt wurde: »Die Reaktion war garantiert, und die Polizei war glücklich darüber, die Medien zu dem Massengrab zu bringen, um den Horror der Militanten unter der gesamten Bevölkerung zu verbreiten.«

Trotz solcher und ähnlicher drastischer Formulierungen – so bezeichnet Andrews die Guerillagruppen immer als »Bande« – ist er kein Verteidiger des Staates. An mehreren Stellen erklärt er, dass man den Mitgliedern der RAF nicht gerecht wird, wenn man sie auf die Gewalt reduziert. Kritisch geht er auch mit der Kampagne aus Politik und Medien um, die die vor allem weiblichen Mitglieder der Gruppe als Hexen entmenschlichte.

Eine RAF-Zelle, so eine weitere Anekdote, wollte sich eigentlich in Südamerika am dortigen Guerillakampf beteiligen. Nach einer Flugzeugentführung landete sie jedoch ausgerechnet in Nordkorea, das ursprünglich nur Transitland sein sollte. In dem Land wurden die japanischen Guerilla-Kämpfer*innen dann eher unfreiwillig zu Propagandist*innen des dortigen Regimes »umerzogen«.

Andere japanische RAF-Mitglieder beteiligten sich an Attentaten palästinischer Gruppen gegen Israel. Berüchtigt wurden sie durch ein Massaker im Terminal des Flughafens im israelischen Lod 1972. Unter den 28 Menschen, die dabei das Leben verloren, war auch eine Gruppe von Pilger*innen aus Puerto Rico. Andrew beschreibt, wie die Attentäter*innen in Teilen der arabischen Welt bis heute als Helden gelten.

Das flott geschriebene Buch gibt einen ersten Einblick in die Geschichte der japanischen RAF. Es benennt einige ihrer Aktivist*innen, die ursprünglich die Revolution vorantreiben wollten – später aber mit Terror gegen Israel und Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen in Erinnerung geblieben sind.

Williams Andrew: Die japanische Rote Armee Fraktion. Wien 2018, Bahoe Books. 150 Seiten, 15 Euro.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1095923.kamikaze-gegen-den-klassenfeind.html

Peter Nowak

Löwenzahn statt Wunderbaum

Eva Willig führt regelmäßig Interessierte durch die Grünanlangen von Berlin-Neukölln, um ihnen nützliche und leckere Pflanzen vorzustellen

In gebückter Haltung pflückt eine Teilnehmerin eine unscheinbare Pflanze und steckt sie in einen Stoffbeutel. Eine andere Frau blättert in einem Buch, um die Pflanze zu identifizieren. »Das ist der Schachtelhalm, eine der ältesten Heilpflanzen, die seit Langem zum Beispiel gegen Rheuma und Gicht angewendet wird«, erklärt Eva Willig. Die 70-Jährige kennt sich aus in der Berliner Kräuterwelt. Bei der Industrie- und Handelskammer absolvierte sie eine Prüfung und erhielt eine Erlaubnis für frei verkäufliche Heilmittel.

Seit mehr als zehn Jahren veranstaltet sie von März bis Oktober am jeweils letzten Samstag im Monat kostenlose Kräuterspaziergänge in Berlin. Sie finden überwiegend in Parks und Grünanlagen statt, die nicht direkt an viel befahrenen Hauptstraßen liegen, weil sich Staub und andere Verunreinigungen auch auf Pflanzen ablagern.

Ende Juni versammelten sich 15 Interessierte am S-Bahnhof Treptow. Größer sollte die Gruppe nicht werden, betont Willig. Schließlich muss die Kräuterexpertin in den zwei Stunden viele Fragen beantworten. Immer wieder zeigen die Teilnehmer*innen auf eine Pflanze und fragen nach Namen und Anwendungsgebieten. »Das Johanniskraut hilft gegen depressive Verstimmungen«, doziert Willig und weist auf eine Pflanze mit gelben Blüten. »Meistens ist es gut verträglich. Doch in Einzelfällen kann es Magen-Darm-Beschwerden oder Kopfschmerzen verursachen«, klärt sie über unerwünschte Nebenwirkungen auf. 

Dass Pflanzen nicht nur eine heilende, sondern auch eine giftige Wirkung haben können, thematisiert die Kräuterfrau ebenfalls in ihrem kürzlich im Selbstverlag veröffentlichten Buch »Heilsames Neukölln«. Dort hat sie den Giftpflanzen ein ganzes Kapitel gewidmet. Das lange Zeit als Heilpflanze betrachtete Immergrün und die Kleine Wolfsmilch gehören in diese Rubrik. Der in Willigs Kräuterbuch unter der Rubrik Giftpflanze aufgeführte Wunderbaum sorgte vor einigen Wochen für Schlagzeilen. Es wurde berichtet, dass ein Islamist die Samen dieses Strauches, auch Rizinus genannt, bei einem Anschlag nutzen wollte. Auf einer bekannten Neuköllner Grünfläche stehen laut Willig gleich acht dieser Pflanzen.

Doch die Mehrzahl der aufgeführten Gewächse hat eine heilende Wirkung und wird dem Buchtitel gerecht. Eigentlich hätte es auch »Heilsames Berlin« heißen können, Schließlich wachsen die aufgeführten Pflanzen nicht nur in Neukölln. Doch Willig hat sich mit dem Buch bewusst auf Neukölln konzentriert, weil sie dort seit vielen Jahren lebt und in den 1990er Jahren für die Grünen in der Kommunalpolitik aktiv war. Aus der aktiven Parteipolitik hat sie sich längst zurückgezogen. Doch in sozialen Initiativen ist sie weiterhin aktiv. Ihr Anliegen ist es, Giftpflanzen in Grünanlangen zu erkennen und sie möglichst von dort zu verbannen. Stattdessen sollen essbare und heilsame Gewächse stehen gelassen werden. Schließlich haben dann auch Menschen mit geringen Einkommen die Möglichkeit, ihre Nahrung vitaminreich zu ergänzen. Willig fällt sofort der Löwenzahn ein. Jeder Teil dieser anspruchslosen Pflanze kann genutzt werden: »Die Blüten können einen Salat zieren oder zu Sirup gekocht werden. Die Wurzel wurde in der Nachkriegszeit geröstet und zu Kaffee-Ersatz gemahlen.« Ähnlich verfuhr man mit der Wurzel der Wegwarte, auch als Zichorie bekannt. »Die jungen Blätter des Löwenzahns können zu Salat, die älteren Blätter wie Spinat verarbeitet werden. Getrocknete Blätter können Teil eines Blutreinigungstees sein oder ebenfalls als Tee zur Linderung rheumatischer Beschwerden beitragen«, so Willig. Auch bei vielen anderen Pflanzen kann sie vielfältige Möglichkeiten der Nutzung aufzählen.

Nach mehr als zwei Stunden verabschieden sich die Teilnehmer*innen des Kräuterspazierganges. Die meisten wollen die gesammelten Pflanzen schnell verarbeiten. Gänseblümchen waren diesmal besonders beliebt. Die anspruchslose Pflanze blüht zwischen März und November, wirkt entzündungshemmend, regt aber auch Verdauung und Stoffwechsel an. Ihre Blüten wurden mittlerweile von Feinschmecker*innen entdeckt und dienen in Nobelrestaurants als Zutat teurer Menüs. Eva Willig hingegen will mit ihren Kräuterspaziergängen und mit ihrem Buch ein Bewusstsein für eine alte Weisheit schaffen: Gegen fast jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen ist. Selbst in einer Großstadt wie Berlin trifft das heute noch zu.

Eva Willig: Heilsames Neukölln. Eigenverlag Berlin. 175 Seiten, 18 Euro. Bestellungen über ewil@gmx.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094669.loewenzahn-statt-wunderbaum.html

Peter Nowak

V-Maoisten

Annotiert

Der Autor des »Neue Deutschland« war empört über die KP Chinas. In einem 1963 veröffentlichten Artikel bezichtigte er jene, sich in die inneren Angelegenheiten der »Bruderparteien« einzumischen. Zahlreiche Mitglieder der in der BRD illegalisierten KP hatten Broschüren chinesischer Kommunisten erhalten, in denen die Linie der osteuropäischen Kommunisten als »Revisionismus« scharf kritisiert worden ist. Der Streit zwischen der chinesischen und der sowjetischen KP eskalierte damals, was an der Basis diverser kommunistischer Parteien zu Verwirrung und Streit führte, darunter auch in der Bundesrepublik.

Was der empörte ND-Autor nicht wusste, offenbarte jetzt Mascha Jacoby einer größeren Öffentlichkeit. Die Hamburger Historikerin forscht über die Rezeption des Maoismus in der BRD und stieß dabei eher zufällig auf die Hilfe des Verfassungsschutzes in den frühen 1960er Jahren bei der Verbreitung maoistischer Schriften. In dem kürzlich im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Band »Ein kleines rotes Buch – Die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre« (28 €) fasste sie ihre Recherchen zusammen.

Der Verfassungsschutz hatte Karten mit den Anschriften ihm bekannter KP-Mitgliedern an die Bestelladresse der chinesischen Broschüren geschickt, die in westdeutschen Zeitungen, darunter in der »FAZ«, per Anzeigen beworben wurden. Es sei darum gegangen, die deutschen Kommunisten zu unterwandern, bekannte Anfang der 1970er Jahre der Präsident des Verfassungsschutzes Günther Nollau diese ungewöhnliche Hilfe für Peking. Das Amt registrierte mit Genugtuung, dass die chinesischen Publikationen tatsächlich unter westdeutschen Kommunisten intensiv diskutiert wurden. Manche der unfreiwilligen Empfänger meldeten die ungebetene Post aber auch sofort ihren führenden Genossen.

Der Verfassungsschutz war ungemein kreativ bei der Verbreitung des Maoismus in der Bundesrepublik. Laut Jacoby gründete er die – allerdings kurzlebige – Zeitschrift »Der 3. Weg« als sogenanntes Forum kritischer Kommunisten. Sogar eine Partei, die sich MLPD nannte, jedoch nichts mit der heute noch existierenden gleichen Namens gemein hatte, rief das Amt ins Leben. Sie hatte gesamtdeutschen Anspruch, löste sich aber bald wieder auf. Langlebiger war eine vom niederländischen Geheimdienst im Nachbarland gegründete maoistische Partei.

Jacoby betont, dass der Aufschwung maoistischer Ideen in der Folge der Rebellion von 1968 nicht allein mit dem Agieren des Verfassungsschutzes erklärt werden könne. Weltweit stießen während der chinesischen »Kulturrevolution« maoistische Vorstellungen auf großes Interesse unter Linken. Wie der Verfassungsschutz damit umging, harrt noch der Forschung. Fakt ist, dass die 68er nicht nur, wie oft zu hören und zu lesen, von der ostdeutschen Stasi infiltriert worden sind.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1093488.v-maoisten.html

Peter Nowak

Umgekehrter 68er

Den gesellschaftlichen Aufbruch vor 50 Jahren erlebte Wolfgang Hien als junger Arbeiter.

»Ich hatte das Gymnasium nach der siebten Klasse abgebrochen. „Umgekehrter 68er“ weiterlesen

Nach den durchwachten Nächten

Zwei Büchern über die Sozialproteste in Frankreich

Die Welt oder nichts

Vor zwei Jahren sorgten in Frankreich Massenproteste gegen das französische Arbeitsgesetz, das die prekären Arbeitsverhältnisse in dem Land vertiefen und zementieren sollte, für Schlagzeilen.

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Angriff auf die kapitalistische Verwertung

In diesem Jahr sind zwei Bücher über die Massenproteste von 2016 gegen das Arbeitsgesetz in Frankreich erschienen. Beide Bücher geben gute Einblicke in eine soziale Bewegung in Frankreich, die jederzeit seine Fortsetzung in dem Land finden könnte.

Vor zwei Jahren begannen in Frankreich Massenproteste gegen das französische Arbeitsgesetz, das die prekären Arbeitsverhältnisse in dem Land vertiefen und zementieren sollte. Vorbild dafür ist die Agenda 2010 in Deutschland. Der Protestzyklus begann am 9. März 2016 und hielt bis zum 5. Juli an. «120 Tage und 16 ‹genehmigte› Demonstrationen, die uns die soziale Zusammensetzung der Bewegung und ihre in ständigen politischen Fluss begriffene politische Organisierung gut vor Augen führen», schreibt Davide Gallo Lassere. Der junge prekär beschäftigte Sozialwissenschaftler hatte sich an den Protesten beteiligt. Nachdem sie abgeebbt waren, hat Lassere einen in der französischen Linken vieldiskutierten Text verfasst, der die Proteste von 2016 zum Ausgangspunkt für grundsätzlichere Fragestellungen nahm: Wie ist in einer total individualisierten Gesellschaft noch möglich, solche Sozialproteste erfolgreich zu führen? Welche Rolle können die Gewerkschaften in einer Gesellschaft spielen, in der vor allem viele junge Menschen keinerlei Beziehung zu ihnen haben? Ist es in einer so differenzierten Gesellschaft möglich, emanzipatorische Forderungen zu formulieren und zu erkämpfen? Diese Fragen formuliert Lassere mit den gesammelten Erfahrungen als Aktivist in der Bewegung gegen die Arbeitsgesetze.

Gesellschaftsstreiks?
«Die Besetzung von Bahnhöfen, Häfen und Flughäfen, die Störung von Personen- und Gütertransport, die Beeinträchtigungen im Dienstleistungssektor, der Boykott von Einkaufszentren, all das lässt die Umrisse eines wirklichen ‹Gesellschaftsstreiks› am Horizont aufscheinen», schreibt Lassere. Er knüpft damit an Debatten eines Streiks an, der nicht nur den klassischen Produktionsbereich von Waren, sondern auch den Reproduktionsbereich und den Handel umfasst. Lassere spricht von einem «Angriff auf die kapitalistische Verwertung», der sich durch die Verbindung der Kämpfe in den unterschiedlichen Sektoren ergibt.
Nun darf man hier kein Handbuch für den kommenden Widerstand erwarten. Das Buch ist eher ein Essay, das von der Bewegung auf der Strasse inspiriert wurde. Lassere beschreibt den Moment der Befreiung, als die Menschen im März 2016 wieder auf die Strasse gingen. Es war das Ende «der Schockstarre, die den öffentlichen Raum besonders in Paris nach den Attentaten vom Januar und November leergefegt hatten». Gemeint sind die islamistischen Terrorangriffe auf eine Satirezeitung im Januar 2015 und verschiedene Sport- und Freizeitstätten im November des gleichen Jahres. Mit den sich im März 2016 ausbreitenden nächtlichen Platzbesetzungen, den «Nuit debout», eroberten sich die Menschen den öffentlichen Raum wieder zurück. «Plötzlich hat man wieder Luft zum Atmen», beschreibt der Autor das Gefühl vieler AktivistInnen.

Linke Spektren
«Die Welt oder nichts», lautete eine vielzitierte Parole, die dort getragen wurde. Sie verdeutlichte, dass es um mehr als die Arbeitsgesetze ging. Nach einigen Wochen beteiligten sich auch die zentralen französischen Gewerkschaften mit eigenen Aktionen an den Protesten. Eine Streikwelle begann und weitete sich im Mai und Juni aus. Selbst die Aktionen militanter Gruppen konnten die Protestdynamik nicht brechen. Erst die Urlaubszeit und die 2016 in Frankreich abgehaltene Fussball-Europameisterschaften sorgten für ein Abflauen. Linke Gruppen scheiterten mit dem Versuch, im Herbst 2016 die Proteste neu zu entfachen. Die Arbeitsgesetze wurden von der Regierung durchgesetzt. Lassere skizziert auch die Debatten in unterschiedlichen Spektren der französischen Linken danach. Im letzten Kapitel schlägt Lassere vor, die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zu einer zentralen Forderung zu erheben, die für unterschiedliche linke Spektren ein Bezugspunkt sein könnte. Dem Verlag «Die Buchmacherei» und der Übersetzerin Sophie Deeg ist es zu verdanken, dass wir jetzt auch hier an der Debatte partizipieren können.
«Diese Welt ist unglaublich zäh und wir sind manchmal müde vom Anrennen gegen die immer gleichen Bedingungen. Doch dann weht plötzlich der Windeine neue Melodie herüber und wärmt unsere Herzen. So war es im Frühjahr 2016, als aus dem Nichts die neue Bewegung in Frankreich entstand, die auf den Strassen Einzug hielt», schreibt Sebastian Lotzer. Im Band «Winter ist Coming» dokumentiert er Texte von Gruppen und Einzelpersonen, die in den sozialen Kämpfen in Frankreich nicht intervenieren, um Forderungen zu stellen oder mit der Macht zu verhandeln. Für junge Leute, SchülerInnen, StudentInnen, prekär Beschäftigte waren die Wochen vom März bis Juli 2016 eine besondere Schule des Widerstands. Junge Menschen, die in der wirtschaftsliberalen Konkurrrenzgesellschaft aufgewachsen sind, für die die kapitalistischen Dogmen zum Alltagsbewusstsein gehören, wurden plötzlich zum Subjekt von Kämpfen, die genau diese kapitalistische Gesellschaft infrage stellten.
In vielen Texten werden alle Staatsapparate abgelehnt, für die AutorInnen gehören dazu auch linke Parteien und Gewerkschaften. Das ist zu einem grossen Teil die Ablehnung einer Politik der Repräsentanz und die Angst vor Vereinnahmung. Aber die teils sehr wortradikale Ablehnung auch linker Gewerkschaften dürfte damit zu tun haben, dass die jungen ProtagonistInnen der Kämpfe nie Erfahrungen mit solidarischer Gewerkschaftsarbeit machen konnten. So heisst es in einem von Lotzer dokumentierten «Aufruf aus dem antagonistischen Spektrum» zum Aktionstag gegen das Arbeitsgesetz im März 2016: «Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den Parolen der Gewerkschaften und der Schüler, welche ‹Die Welt oder gar nichts› sprühen, bevor sie planmässig Banken angreifen? Überhaupt keinen. Oder höchstens den eines miserablen Vereinnahmungsversuchs durchgeführt von Zombies.»

Revoltierende Bürgerkinder
Was vordergründig besonders radikal scheint, könnte auch die Abgrenzung von Bürgerkindern vor den organisierten ArbeiterInnen sein. Die Frage, was haben wir mit den Gewerkschaften und den Forderungen von ArbeiterInnen zu tun, konnte man schliesslich auch in Berlin bei den Universitätsstreiks vor mehr als 10 Jahren hören, von Studierenden, die sich als künftige Elite empfanden und nicht mit den ProletInnen gemein machen wollten. Wenn in dem Aufruf aus dem antagonistischen Spektrum dann die Youtuber gelobt werden, die ausserhalb jedes Rahmens und jeder Repräsentanz auf die Strasse gegangen sind, und die Jugend beschworen wird, die noch nicht im Sinne des Kapitalismus funktionieren, dann wird die kleinbürgerliche Tendenz dieser Art des Radikalismus unverkennbar. Es ist eben ein Unterschied, ob organisierte Lohnabhängige Widerstand leisten oder ob Bürgerkinder gegen Autorität und Staat rebellieren. Diese Kritik äussert Lotzer nicht, der seine Grundsympathie mit den antagonistischen Linken nicht verschweigt. Doch es ist verdienstvoll, dass Lotzer hier einige grundlegende Texte des oft nur als «Militante» bekannt gewordenen Spektrums der radikalen Linken zugänglich macht. So hat man die Möglichkeit, Ideologie und Staatsverständnis dieses Spektrums besser kennenzulernen, auch um es diskutieren und kritisieren zu können. Beide Bücher geben gute Einblicke in eine soziale Bewegung in Frankreich, die jederzeit seine Fortsetzung in dem Land finden könnte.

Davide Gallo Lassere: Gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2018. 10 Euro.
Lotzer Sebastian: Winter is Coming – Soziale Kämpfe in Frankreich. Bahoe Books, Wien 2018. 14 Euro.

aus: Vorwärts/Schweiz, 15.6.2018

Angriff auf die kapitalistische Verwertung


Peter Nowak

Schrecken nach der Abschiebung

Die Antirassistische Initiative Berlin hat Schicksale von abgewiesenen Asylbewerbern in Afghanistan dokumentiert

Mitte Dezember 2016 haben die Abschiebung von Geflüchteten aus Deutschland nach Afghanistan begonnen. Mittlerweile sind sie zur Routine geworden. Insgesamt 13 Abschiebeflüge gab es in den vergangenen anderthalb Jahren. 234 Menschen wurden ausgeflogen. Schlagzeilen machen die Flüge in der Regel nur noch, wenn es einem Geflüchteten gelingt, sich erfolgreich einer Ausweisung zu entziehen. Jetzt hat die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) an die Konsequenzen dieser Abschiebungen für die Betroffenen erinnert. Sie stehen im Mittelpunkt der aktualisierten Dokumentation »Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«, welche die ARI seit 1994 jährlich herausgibt. Dort sind die Menschen benannt, die nach ihrer Abschiebung in Afghanistan verletzt oder getötet wurden.

Der 23-jährige Asylbewerber Atiqullah Akbari war am 23. Januar 2017 abgeschoben worden. Zwei Wochen später wurde er durch einen Bombenanschlag in Kabul verletzt. Der 22 Jahre alte Farhad Rasuli wurde am 10. Mai 2017, drei Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland, in Afghanistan bei einem Anschlag durch die Taliban getötet. Der 23-jährige Abdullrazaq Sabier stirbt am 31. Mai bei einem Bombenanschlag im Diplomatenviertel von Kabul. Sein Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Nachdem die dritte Sammelabschiebung stattgefunden hatte, gab er dem Abschiebungsdruck der Behörden nach und war im März »freiwillig« nach Afghanistan zurückgekehrt.

Elke Schmidt von der ARI macht im Gespräch mit »nd« darauf aufmerksam, dass die Massenabschiebungen nicht nur in Afghanistan tödliche Folgen haben können, sondern auch hierzulande. »Mindestens acht Afghan_innen, davon 3 Minderjährige, töteten sich in den Jahren 2016 und 2017 selbst. Es am zu 110 Selbstverletzungen und Suizidversuchen«. Elke Schmidt geht von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Schließlich veröffentlicht die ARI in ihrer Dokumentation nur Meldungen, die gegenrecherchiert und bestätigt wurden. So zündete sich am 2. Januar 2017 ein 19-jähriger Afghane im Warenlager eines Supermarkts im bayerischen Gaimersheim selbst an, nachdem er sich mit Benzin übergossen hatte. Mit schweren Brandverletzungen wurde er ins Krankenhaus gebracht. Der bayerische Flüchtlingsrat erinnerte nach dem Vorfall daran, dass die Arbeitsverbote und die sich häufenden Abschiebungen bei vielen Geflüchteten aus Afghanistan Ängste auslöst, die bis zum Selbstmord führen können. Oft komme es auch zur Retraumatisierung bei Menschen, die in Afghanistan und auf ihrer Flucht mit Gewalt und Misshandlungen konfrontiert wurden.

Die Dokumentation liefert viele erschreckende Beispiele über die tödliche deutsche Flüchtlingspolitik. Sie ist seit 1994 ein leider noch immer unverzichtbares Stück Gegenöffentlichkeit. Seit wenigen Wochen ist diese wohl umfangreichste Dokumentation des deutschen Alltagsrassismus auf einer Datenbank im Internet zu finden (www.ari-dok.org). Durch die Onlinedatenbank hoffen Elke Schmidt und ihre Mitstreiter_innen, dass noch mehr Menschen auf die gesammelten Daten zugreifen. In der letzten Zeit habe es vermehrt Anfragen von Schüler_innen und Studierenden gegeben.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1090400.schrecken-nach-der-abschiebung.html
Peter Nowak

Protestmarsch für bessere Pflege


Beim „Walk of Care“ am Samstag demonstrieren rund achthundert Menschen für mehr Personal und Geld in der Pflegebranche

Mit Musik und Luftballons demonstrierten am Samstagnach- mittag Auszubildende und PflegerInnen für bessere Bedingungen in ihrer Branche. Rund 800 Menschen kamen beim „Walk of Care“ zusammen und zogen von Berlin-Mitte vorbei am Bundesgesundheitsministerium hin zur Senatsverwaltung für Gesundheit in Kreuzberg. Die Stimmung war fröhlich, bei einem Zwischenstopp am Checkpoint Charlie wippten auch einige der zahlreichen PassantInnen im Takt der Musik mit. Doch es ging nicht nur um Spaß beim zweiten Berliner Walk of Care.

Immer wieder skandierten die DemonstrantInnen „Die Pflege steht auf“. Der Berliner Pflegestammtisch nutzte den Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai, um die Forderung nach einer gesetzlichen Personalbemessung, mehr Raum für Praxisanleitung und guter Ausbildung auf die Straße zu tragen. „Mehr Zeit für Pflege“ hatte eine Frau auf einen Karton geschrieben. Eine andere Demonstrantin forderte „Respect Nurses.“

„Mehr Zeit für Pflege“, hatte eine Frau auf einen Karton geschrieben

Der Walk of Care startete in unmittelbarer Nähe der Charité, wo es in den letzten Monaten Arbeitskämpfe gab, die andere inspirierten. Markus Mai von der Pflegekammer Rheinland- Pfalz berichtete von ähnlichen Demonstrationen in verschiedenen Städten in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern am 12. Mai.

Für die Berliner Vorbereitungsgruppe macht die große Resonanz des Walk of Care deutlich, dass sich in den letzten Jahren die unterschiedlichen Pflegebeschäftigten gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu wehren begonnen haben. „Ältere KollegInnen haben oft noch die Vorstellungen vom Ehrenamt im Kopf. Jüngere Beschäftige im Care-Bereich begreifen ihren Beruf als Arbeitsplatz, der auch gut bezahlt werden muss“, benennt Valentin Herfurth vom Berliner Pflegestammtisch die Unterschiede zwischen den Generationen.

Dabei bekommen sie Unterstützung aus der Bevölkerung, wie der aussichtsreiche „Volksentscheid für gesunde Krankenhäuser“ zeigt, in dem mehr Personal und höhere Investitionen in Berliner Krankenhäusern gefordert werden. „Wir haben das nötige Quorum der Unterschriften bereits erreicht, sammeln aber noch bis 11. Juni weiter“, sagte Dietmar Lange, der auf der Demonstration für das Volksbegehren warb.

Solidarität bekamen die Care- Beschäftigten auch von Feuerwehrleuten, die kürzlich eine fünfwöchige Mahnwache gegen schlechte Bezahlung, zu wenig Personal und veraltete Ausrüstung vor dem Roten Rathaus be- endet haben. Dort entstand auch der Protest-Rap „Berlin brennt“, den der Feuerwehrmann Christian Köller am Samstag unter großem Applaus aufführte.

Die Brandenburger Linke startete unterdessen am Tag der Pflege eine Kampagne für mehr Personal und eine bessere Bezahlung in den Pflegeberufen. „Wir fordern einen Pflegemindestlohn von 14,50 Euro und einen flächendeckenden Tarifvertrag“, sagte Landesgeschäftsführer Stefan Wollenberg zum Auftakt in Potsdam.

montag, 14. mai 2018 taz

Peter Nowak

Es war auch Traumabewältigung


Henning Fischer würdigt den Kampf und das Leid der Frauen von Ravensbrück

Diese Arbeit ist von einer großen Empathie für die Frauen der Lagergemeinschaft Ravensbrück geprägt«, erklärte der Historiker Mario Keßler zur Buchpremiere im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Jenen Antifaschistinnen ist die Kollektivbiografie des Historikers Henning Fischer gewidmet. Die Frauen, die in der Öffentlichkeit als politisches Kollektiv handelten, beschreibt der Autor als Individuen mit Ängsten und Sehnsüchten, Hoffnungen und Enttäuschungen. 

Seit mehreren Jahren forscht Fischer zur Geschichte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. Er verfolgte die Wege der ehemaligen deutschen Häftlinge von ihrer Politisierung in der Weimarer Republik bis hin zu ihrem späteren Leben in der Bundesrepublik oder der DDR. Sehr anschaulich schildert er, wie diese Frauen nach 1933 eine solidarische Gemeinschaft bildeten, die sich allerdings auf die eigene politische Gruppe beschränken musste. Wer nicht auf der Parteilinie lag, hatte es schwer. Beispielsweise Margarethe Buber-Neumann, die im sowjetischen Exil unter Stalin mit ihrem Mann als »Abweichlerin« verfemt, verfolgt und schließlich, nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 1939, an Nazideutschland ausgeliefert wurde. Bis zur Befreiung vom Faschismus war Buber-Neumann in Ravensbrück inhaftiert. Obwohl sie noch bis 1946 KPD-Mitglied blieb, wurde sie von ihren Genossinnen und Genossen auch nach dem Krieg als Dissidentin mit Argwohn beobachtet. Nach ihrem Parteiaustritt schrieb sie ihre Erinnerungen nieder, nicht nur an die Zeit unter Stalin, auch an ihre Haft im faschistischen KZ. 

Die meisten Ravensbrückerinnen stürzten sich in Ost- wie in Westdeutschland sofort wieder in die politische Arbeit, was der Autor auch als eine Form der Traumabewältigung deutet. Der Kalte Krieg führte dazu, dass die Ravensbrückerinnen in der BRD bald erneut gesellschaftlich marginalisiert und oft kriminalisiert wurden. Erst ab Mitte der 1980er Jahre konnten sie ihre Erfahrungen als Zeitzeuginnen an eine jüngere Generation vermitteln. Am Beispiel der Ärztin Doris Maase zeigt Fischer, wie ehemalige NSDAP-Mitglieder nun als Richter in der Bundesrepublik die Verfolgung der Kommunistinnen fortsetzten. Doris Maase wurde die Rente gestrichen, die sie als NS-Verfolgte erhielt. Schon erhaltene Gelder sollte sie zurückzahlen, weil sie weiterhin politisch aktiv blieb.

Sensibel schildert Fischer auch den Prozess gegen die Kommunistin und Ravensbrück-Gefangene Gertrude Müller, die 1947 angeklagt war, jüdische Zwangsarbeiterinnen geschlagen zu haben. Zunächst schuldig gesprochen und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, musste Müller ihre Zelle mit ehemaligen Aufseherinnen von Ravensbrück teilen. Welch eine Zumutung. In einem zweiten Prozess wurde sie schließlich freigesprochen. Fischer stellt fest, dass letztlich nicht mehr geklärt werden kann, was damals tatsächlich geschah und wie es zu dem Vorwurf kam. Dass in ihrem ersten Prozess ein kommunistisches und zwei jüdische Opfer des NS-Systems gegeneinander klagten, ist dessen ungeachtet tragisch. Gertrud Müller war noch bis ins hohe Alter in der Organisation der NS-Verfolgten tätig. In den 1980er Jahren lud sie ehemalige Zwangsarbeiterinnen zu einer Podiumsdiskussion über die von der Bundesrepublik bis dato verweigerten Entschädigungszahlungen ein. 

In der DDR waren die Ravensbrückerinnen Teil der offiziellen Erzählung vom antifaschistischen Staat, den viele von ihnen bedingungslos verteidigten. Zwei der Frauen sahen auch ihre Arbeit für das MfS als eine Fortsetzung ihres kommunistischen Kampfes. Fischer weiß aber auch vom Eigensinn einer Frau zu berichten, der es gelungen ist, trotz parteioffizieller und staatlicher Vorgaben in der Gedenkarbeit eigene Akzente zu setzen. Es war Erika Buchmann, die sich hierbei selbst bei einstigen Leidensgenossinnen nicht nur Freunde machte. Der Kampf um die Erinnerung wurde unter den überzeugten Kommunistinnen hart ausgefochten. Schwer hatte es in der DDR zum Beispiel auch Johanna Krause, die unterm Hakenkreuz als Jüdin und Kommunistin verfolgt wurde und später als »renitente Quertreiberin« aus der SED ausgeschlossen wurde. 

Fischer beschreibt die Frauen in all ihrer Widersprüchlichkeit als selbstständig und selbstbewusst handelnde Individuen. Dieses Einfühlungsvermögen ließ die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Insa Eschebach, bei der Buchvorstellung leider vermissen. Sie sprach von einer totalitären Einstellung ehemaliger Ravensbrückerinnen in der DDR und warf jenen gar vor, ihre Verfolgungsbiografien retuschiert zu haben. Anwesende Angehörige protestierten – zu Recht.


Henning Fischer: Überlebende als Akteurinnen. Die Frauen der Lagergemeinschaften Ravensbrück: Biografische Erfahrung und politisches Handeln, 1945 bis 1989. Universitätsverlag Konstanz, 542 S., br. 29 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1087751.es-war-auch-traumabewaeltigung.html

Peter Nowak

Lieber tot als rot

»Friedenspolitik war in vergangenen Jahrzehnten für die Gewerkschaftsbewegung ein zentrales Anliegen«, behauptete der Vorsitzende der Linkspartei Bernd Riexinger Anfang März in einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt. Dieser These widerspricht der Politikwissenschaftler Malte Meyer in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel »Lieber tot als rot« mit guten Argumenten. Meyer untersucht das Verhältnis der großen Gewerkschaften (ADGB in der Weimarer Republik und DGB in der BRD) in Deutschland zum Militär in den letzten 100 Jahren. Ihre Integration in den Staatsapparat und die Übernahme der Staatsraison, wozu der Antikommunismus gehört, seien der Grund dafür gewesen, dass diese Gewerkschaften die Armee vollständig akzeptierten, so die These des Autors. In der noch immer gültigen gemeinsamen Erklärung von DGB und Bundeswehr aus dem Jahr 1981 bezeichnen sich beide als unverzichtbare Säulen des Staates. Es ging eben nicht nur um die Verteidigung von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie, was linke Gewerkschafter_innen gerne anführen, betont Meyer. Auch an der kommunistischen Strömung kritisiert er einen Geist von Disziplin und Unterordnung, der historisch oft ein Einfallstor für Militarismus war. Meyer tritt für eine bessere Kooperation der kleinen antimilitaristischen Szene ein und bezieht sich auf die vor allem in Deutschland minoritäre antiautoritäre Strömung in der Arbeiterbewegung. Mit seinem Buch liefert er dazu wichtige historisch unterfütterte Argumente.

https://www.akweb.de/ak_s/ak637/05.htm

Peter Nowak


Malte Meyer: Lieber tot als rot, Gewerkschaften und Militär in Deutschland seit 1914. Edition Assemblage, Münster 2017, 335 Seiten, 19,80 EUR.

Veranstaltungshinweis zum Buch:

Diskussion mit Malte Meyer: Lieber tot als rot

Dienstag, 24. April 19:00 – 21:00
Baiz
Schönhauser Allee 26a, 10435 Berlin

Antifaschismus aus der Gegenwart herleiten

Geschichte: Henning Fischer hat eine politische Kollektivbiografie von kommunistischen "Ravensbrückerinnnen" geschrieben

Der Berliner Historiker Henning Fischer hat die Lebenswege von Frauen vorgelegt, die die Lagergemeinschaft Ravensbrück gründeten. Er verfolgt ihren Lebensweg von ihrer Politisierung in der Weimarer Republik und beschreibt ihr Engagement für den politischen Umbruch, der in der völligen Entrechtung des KZ-Systems endet. Sehr detailliert beschreibt er die Hoffnungen der Frauen nach der Befreiung sowie ihre diamental unterschiedliche Geschichte in West- und Ostdeutschland. Während sie in der BRD bald an den Rand gedrängt und als Kommunistinnen wieder kriminalisiert werden, werden sie in der DDR zur Teil der offiziellen Erzählung vom antifaschistischen Staat.

„Antifaschismus aus der Gegenwart herleiten“ weiterlesen

»Der Aufstand der Töchter« – Rezension zum Arbeitskampf im Botanischen Garten Berlin

Die Harten vom Garten wurden sie genannt, die KollegInnen vom Botanischen Garten der Freien Universität Berlin. Sie haben sich über mehrere Jahre gegen ihre Ausgliederung und die damit verbundene Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse gewehrt. Sie haben es nach mehreren Versuchen geschafft, Studierende an dem Campus für ihren Kampf zu interessieren. Bald gab es eine Solidaritätsbewegung, die mit witzigen Nadelstichen immer zur Stelle war, wo die für die Ausgliederungen verantwortlichen FU-Gremien öffentlich tagten. Sie haben schließlich ihren Kampf gewonnen. „Plötzlich schuldenfrei“, kommentierte eine Kollegin, was der Erfolg für sie persönlich bedeutete. „Mal richtig in den Urlaub fahren“ fiel den Töchtern eines der aktiven Kollegen ein, als sie von dem Erfolg hörten. Sie haben sich mit ihrem Vater im Arbeitskampf engagiert und sind auf dem Cover eines kürzlich im VSA-Verlag in der Reihe „widerständig“ erschienenen Buches zu sehen, das die Geschichte des Arbeitskampfes und die Bedingungen für den Erfolg zum Gegenstand hat. Reinhold Niemerg, engagierter Arbeitsrechtler und Kanzleikollege von Benedikt Hopmann, hat es gemeinsam mit der ver.di-Sekretärin Jana Seppelt herausgegeben. Zusammen betreuen Sie auch die kleine, aber feine Reihe „widerständig“, die mit der Aufarbeitung des spektakulären ‚Falls‘ (und Erfolgs!) der Kassiererin „Emmely“ eröffnet wurde und in der nun der sechste wegweisende Arbeitskampf dokumentiert und vorgestellt wird.
Der Titel „Aufstand der Töchter“ ist mehrdeutig. Es wird erfreulicherweise auf die große Rolle der Frauen in dem Kampf hingewiesen, sowohl im Kreis der KollegInnen als auch bei den UnterstützerInnen. _
Zu Wort kommen in dem neuen Band aktive GewerkschafterInnen, vor allem aber die Beschäftigten, für die der Arbeitskampf auch ein Stück Selbstemanzipation war. Es wird deutlich, dass es das Engagement von KollegInnen war, die im richtigen Moment das richtige gesagt und getan haben, damit es überhaupt zu dem Kampf kommen konnte. Noch im Jahr 2007 gab es im Botanischen Garten einen Betriebsrat, der seine Aufgabe darin sah, gemeinsam mit der FU-Verwaltung die Privatisierung voranzutreiben. „Unter den Beschäftigten herrschte in dieser Umbruchzeit ein Klima der Angst“, beschrieb der Anwalt Benedikt Hopmann die Stimmung im Betrieb. Die änderte sich erst, als einige KollegInnen Kontakt mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di aufnahmen und dort auf offene Ohren stießen. Schon der erste Schritt, die Gewinnung von Gewerkschaftsmitgliedern, schweißte die Belegschaft zusammen. Am Schwarzen Brett wurden immer die neuesten Zahlen bekannt gegeben. In einzelnen Kapiteln beschreiben die Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht (Baga) und der gewerkschaftliche Aktionsausschuss, wie inner- und außerhalb der Gewerkschaften Bündnisse geschmiedet wurden, die es möglich machten, dass die KollegInnen schließlich erfolgreich waren. Dass sie sich nun nicht zurückziehen, machen vor allem die letzten Kapitel deutlich. Ein Kampf gegen die Ausgliederung von Betrieben und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, der auch noch gewonnen wird, das ist heute sehr selten. Deswegen interessierten sich auch KollegInnen aus anderen Branchen für ihre Erfahrungen. KollegInnen vom Deutschen Historischen Museum und dem Charité Facility Management schildern dort, wie der Kampf im Botanischen Garten auch ihre Anstrengungen beflügelt hat. Doch das Buch ist kein unkritischer Jubelbericht. So wird selbstkritisch darauf hingewiesen, dass es nicht gelungen ist, die Ausgliederung der Reinigungskräfte im Botanischen Garten zu verhindern. Auch bei der Lektüre des Interviews mit den beiden solidarischen Töchtern eines Kollegen bleibt eine Frage offen. Beide haben nun Gewerkschaftsarbeit kennen und schätzen gelernt. Doch beide antworten auf eine Frage, dass ein Eintritt oder eine Arbeit in einer Gewerkschaft für sie momentan keine Option ist. So ist ein Buch entstanden, das Mut macht, aber auch Raum für kritische Fragen lässt.

Jana Seppelt, Reinhold Niemerg: „Der Aufstand der Töchter. Botanischer Garten Berlin: Gemeinsam staatlich organisierte prekäre Beschäftigung überwinden“, VSA-Verlag 2018, 175 Seiten, 16 Euro ISBN: 978-3-89965-782-1

aus: Express – Zeitung für Betriebs- und sozialistische Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe: Heft 3/2018
http://www.labournet.de/express/

Peter Nowak