Kein klarer Sieg für Timoschenko vor Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte

Die Untersuchungshaft sei „willkürlich und rechtswidrig“ gewesen, die Beschwerde wegen schlechter Behandlung in der Haft wurde aber zurückgewiesen

Einen Teilerfolg hat die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte heute erzielt. Die Untersuchungshaft der Politikerin im Jahr 2011 sei „willkürlich und rechtswidrig“ gewesen, entschied eine kleine Kammer des Straßburger Gerichts einstimmig. Dadurch habe sich die Ukraine unter anderem der Verletzungen der Menschenrechte auf Freiheit und auf gerichtliche Überprüfung von Freiheitsentziehungen schuldig gemacht.

Allerdings wies das Gericht Timoschenkos Beschwerde wegen schlechter Behandlung in der Haft zurück. Gerade dieser Punkt hat in den letzten Monaten vor allem in der deutschen Medienberichterstattung eine zentrale Rolle gespielt. Die erkrankte Timoschenko war auch von Ärzten aus der Berliner Charité behandelt wurden. Über die Frage, ob Timoschenkos Krankheit die Folge menschenrechtswidriger Haftbedingungen ist oder ob es sich hierbei auch um viel Inszenierung von Seiten der Gefangenen und ihrer vor allem im Westen der Ukraine Lebenden zahlreichen Anhänger handelt, gab es in den letzten Monaten viel Streit. Der wird auch nach der Entscheidung des Gerichts weitergehen. Auffällig ist schon, dass in der ersten Kommentierung der Entscheidung kaum erwähnt wird, dass zumindest die aktuellen Haftbedingungen Timoschenkos nicht Gegenstand der Rüge sind.

Auch die neue Anklage gegen Timoschenko, wo sie wegen eines angeblichen Mordkomplotts an einen wirtschaftlichen Konkurrenten vor Gericht steht, spielte bei der heutigen Entscheidung keine Rolle. Daher dürfte sich auch für Timoschenko wenig ändern. Die ukrainischen Behörden haben angekündigt, das Urteil zu analysieren, wenn die Begründung vorliegt. Auch einen Einspruch haben sie sich offengehalten. Sollte es rechtskräftig werden, könnte Timoschenko Schadenersatz für die unrechtmäßige Untersuchungshaft erhalten. Eine Freilassung ist damit nicht zwingend verbunden. Auch in der Vergangenheit wurden Russland und andere osteuropäische Länder häufiger vom Straßburger Gericht gerügt, ohne dass die Betroffenen deshalb freigekommen wären. Sollte Timoschenko tatsächlich vorzeitig aus der Haft entlassen werden, dann nur, wenn die ukrainische Regierung ihre Beziehungen zur EU verbessern will. Doch das ist gar nicht so sicher.

Machtkampf zwischen Russland und der EU

Schließlich setzt das gegenwärtige ukrainische Regierungsbündnis im Gegensatz zu Timoschenko und ihren Parteienbündnis stärker auf die Kooperation mit Russland als mit der EU. Diese Auseinandersetzung spielt sowohl innerhalb der Ukraine als auch in der hiesigen Medienberichterstattung über die Ukraine eine wichtige Rolle.

Auch die Frage der Menschenrechte ist Teil des Kräftemessens zwischen Russland und der EU um den Einfluss auf die Ukraine. Davon waren auch die ersten Stellungnahmen der Bundesregierung geprägt. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger rief die Ukraine zur Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze auf und sieht in dem Urteil ein Zeichen dafür, dass die Ukraine hier noch einen weiten Weg gehen müsse. Wenn eine Regierung gerügt worden wäre, die eine proeuropäische Orientierung hat, wäre die Kommentierung sicher deutlich zurückhaltender ausgefallen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154197
Peter Nowak

Griechische Demokratie marktkonform versenkt


Eine Delegation griechischer Gewerkschaftler und sozialer Aktivisten auf Deutschlandbesuch berichtet nicht nur von den verheerenden Folgen der Krise, sondern auch von solidarischen Gegenstrategien

Die europäische Krise wird am 1. Mai auf den unterschiedlichen Demonstrationen an zentraler Stelle präsent sein. Eine Delegation griechischen Gewerkschaftler und Aktivisten sozialer Initiativen wird in Berlin sowohl auf der Demonstration des DGB am Vormittag als auch um 18 Uhr an der „Revolutionären 1. Mai-Demonstration“ teilnehmen. Dort wollen sie an der Spitze gehen. „Ein zentraler Punkt soll dort der Protest gegen die EU-Troika sein. Wir kommen aus einem Land, in dem gerade von dieser Troika die Demokratie marktkonform versenkt wird“, begründeten die Delegationsmitglieder ihr Engagement.

Auf einer Pressekonferenz im Berliner verdi-Haus haben sie noch einmal berichtet, wie die Krise in sämtliche Lebensbereiche eingreift. Krebspatienten sterben früher, weil sie sich die teure Chemotherapie nicht leisten können, Kinder werden in der Schule vor Hunger ohnmächtig, viele Menschen ziehen von der Stadt auf das Land, weil es dort eher die Chance gibt, etwas Essbares zu finden.

Hilfe und politische Veränderung

Doch die Delegation berichtete nicht nur über die verheerenden Auswirkungen der von Deutschland geförderten Austeritätspolitik, sondern auch über ein Netzwerk sozialer Initiativen, die unmittelbare Hilfe mit der Notwendigkeit einer grundlegenden politischen Veränderung verknüpft. Das Netzwerk Solidarität für Alle ist innerhalb von wenigen Monaten auf 250 Initiativen angewachsen. Gesundheitsinitiativen gehören ebenso dazu wie Lebensmittelläden ohne Zwischenhändler und Tauschmärkte. Auch im Bildungs- und Kulturbereich haben sich solche sozialen Initiativen gegründet.

Christos Giovanopoulos von Solidarität für Alle betont, dass dieser Name für das Netzwerk Programm ist. Die sozialen Leistungen werden ohne Ausnahme allen in Griechenland lebenden Menschen gewährt. Damit setzen die Initiativen einen Kontrapunkt gegen die Propaganda der griechischen Rechten wie der Nazipartei Goldene Morgenröte, die in der Krise mit Rassismus und Ausgrenzung reagieren und die Migranten zu Sündenböcken erklären. Giovanopoulos sieht das Anwachsen der extremen Rechten als Seismograph einer Gesellschaft, die durch die Krise zerrüttet wurde.

Das Prinzip der Selbstorganisation ist ein Bruch mit der Stellvertreterpolitik, wie sie in großen Teilen der griechischen Linken vorherrschend war. Giovanopoulos verortet die Entstehungsphase der sozialen Initiativen in den massenhaften Platzbesetzungen der Empörten im Jahr 2012. Nachdem die mit großer staatlicher Repression zerschlagen worden waren, zogen sie sich in die Stadtteile zurück und wurden zu den Initiatoren zahlreicher sozialer Bewegungen. Das Prinzip der Vollversammlung und der demokratischen Entscheidungsfindung wurde auf den Plätzen der großen griechischen Städte zuerst ausprobiert.

Erste selbstverwaltete Fabrik in Griechenland

Auch vor der Produktionssphäre macht die Idee der Selbstverwaltung nicht halt. Makis Anagnostou ist Vorsitzender der Betriebsgewerkschaft der Firma Viomichaniki Metaleftiki in der griechischen Stadt Thessaloniki. Er erklärte stolz, dass er die erste selbstverwaltete Fabrik Griechenlands vorstellt. Viomichaniki Metaleftiki gehörte zum ehemaligen Mutterbetrieb Filkeram Johnson. Hier wurden Kacheln, Bodenbeläge, speziell beschichtete Dämmplatten für Wärmeisolierung an Gebäuden hergestellt. Die Belegschaft wollte sich aber nicht mit der Arbeitslosigkeit abfinden.

Seit Februar 2013 hat sie die Produktion in Eigenregie aufgenommen Anagnostou will mit seinem Besuch in Deutschland Kontakte zur Solidaritätsbewegung knüpfen. Schließlich stehen alle Initiativen, die sich um einen sozialen Ausweg aus der Krise bemühen, unter Druck der griechischen Regierung. Im Windschatten der Krise wurden in den letzten Monaten massiv oppositionelle Strukturen bekämpft. Mehrere lange Jahre besetzte Zentren wurden geräumt, zweimal wurden Streiks per Regierungsentscheidung beendet, indem die Beschäftigten zwangsverpflichtet wurden und kürzlich wurde die linke Internetplattform Indymedia Griechenland abgeschaltet, die aber weiterhin in einer Notversion erreichbar ist.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154196
Peter Nowak

Dabei sein ist nicht alles

Die Suche nach einem Endlager für stark radioaktiven deutschen Atommüll hat eine neue Grundlage. Nachdem das Endlagergesetz diese Woche vom Bundeskabinett abgesegnet wurde, soll es noch vor der Sommerpause im Bundestag verabschiedet werden. Für die Umweltverbände bietet das Gesetz allerdings einigen Konfliktstoff, denn es sieht ihre Mitwirkung in der Bund-Länder-Kommission vor, in der Kriterien für die Endlagersuche erarbeitet werden sollen. Doch ist eine Zusammenarbeit wirklich sinnvoll? Mit lediglich zwei der 24 Sitze in dem Gremium wäre der Einfluss der Umweltverbände auf die Ergebnisse wohl eher gering. Zudem hatten sie schon am Gesetztgebungsverfahren zurecht kritisiert, das ein neues Endlagergesetz verabschiedet wurde, ehe überhaupt Suchkriterien definiert worden waren. »Erst ein Gesetz, dann Dialog, das ist doch eine Farce«, erklärt der Energiereferent von Robin Wood, Dirk Seifert. Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg plädiert dafür, die Arbeit der Kommission besser kritisch von außen zu begleiten. Die BI stört schon, dass ihre zentrale Forderung, Gorleben ganz von der Liste der Endlagerkandidaten zu streichen, nicht umgesetzt wurde. So mancher Aktivist mag da fürchten, als ökologisches Feigenblatt der Endlagerkommission missbraucht zu werden. Bei Greenpeace und BUND gibt es dennoch interne Debatten über den Umgang mit der Kommission. Dort befürchtet man offenbar, dass bei einer Verweigerung pragmatischere Organisationen in der Kommission für die Umweltorganisationen sprechen könnten. Die Deutsche Umwelthilfe hat zwar ihre Bereitschaft zur konstruktiven Mitarbeit erklärt, hält den Gesetzentwurf gleichwohl für lückenhaft.

Nun werden die Umweltverbände wieder von einer alten Debatte eingeholt, die sie seit ihrer Gründung begleitete. Konstruktive Einbindung oder grundsätzliche Opposition? Womöglich geht es in der Endlagerfrage um die Perspektiven der Umweltbewegung. Anders als beim Widerstand gegen die Castortransporte wäre »dabei sein« hier wohl doch nicht alles.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/820204.dabei-sein-ist-nicht-alles.html

Peter Nowak

Grüne wollen auf V-Leute verzichten

Allerdings hat der Beschluss keine reale Bedeutung, weil der Wunschkoalitionspartner schon Ablehnung signalisierte

Die Grünen stimmen auch heute manchmal noch auf Parteitagen anders ab, als dies das eigene Führungspersonal erwartet oder wünscht. So gab es auch auf dem Bundeskongress, der heute in Berlin zu Ende geht, eine solche Überraschung. Mit einer knappen Mehrheit von 52, 5 Prozent votierten die knapp 800 Delegierten dafür, dass auf V-Leute künftig ganz verzichtet wird. 330 Delegierte stimmten dafür, 294 dagegen. Wegen des knappen Ausgangs wurde der Wahlgang zu diesem Antrag schriftlich wiederholt.

„Das Führen bezahlter V-Personen birgt immer unvertretbare rechtsstaatliche Risiken“, heißt es nun im Passus des Wahlprogramms. Fraktionschefin Renate Künast hatte sich zu in der Debatte dafür ausgesprochen, den Einsatz von V-Leuten besser zu kontrollieren, aber nicht gänzlich aufzugeben, „weil auch wir Verantwortung für Sicherheit tragen“.

Unter dem Eindruck der NSU-Affäre, wo V-Leute nicht etwa zur Aufklärung des rechten Terrors, sondern eher zur Vertuschung beitrugen, kommt dieser Beschluss bei einem bürgerrechtlichen Klientel gut an. Er dient vor allem dazu, mögliche Wähler der Piraten- oder Linkspartei an die Grünen zu binden. Zudem ist ein erstes NPD-Verbotsverfahren bekanntlich wegen der V-Leute in der Rechtspartei gescheitert.

SPD: „Mit uns nicht zu machen“

Eine reale Bedeutung hätte er selbst dann nicht, wenn die Grünen nach der Bundestagswahl in eine Regierung eintreten sollten. Ihr Wunschkoalitionspartner SPD ließ sogleich erklären, dass mit ihnen eine Abschaffung der V-Leute nicht zu bewerkstelligen ist. „Wir sehen V-Leute sehr kritisch, wollen den Einsatz gesetzlich eng begrenzen, aber ein absolutes Verbot wird es mit uns nicht geben“, verkündete der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann unmittelbar nach dem Beschluss per Twitter.

Sollte es gar zu einer Koalition mit der Union kommen, würden solche Pläne ebenfalls nicht zur Debatte stehen. So hat der Beschluss eine ähnliche Bedeutung, wie links klingende Parteitagsbeschlüsse der SPD, wenn die an der Regierung war. Die Parteiführung konnte immer betonen, dass die unbeliebten Beschlüsse das Regierungshandeln nicht tangieren. Schließlich hat die Parteitagsregie erfolgreich verhindert, dass Beschlüsse zur Steuererhöhung eine Mehrheit finden, die die als magisch bezeichnende Zahl von 50 % überschreiten. Dann wäre der Weg der Grünen zu „Maß und Mitte“ schwieriger geworden.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154187
Peter Nowak

Über Tote etwas Schlechtes

Was war die Ursache des Todes einer Ber­liner Rentnerin nach einer Räumung? Manche Medien sehen die Schuld auch bei der Verstorbenen.

Eine personelle Folge hatte der Tod von Rosemarie F. doch noch. Die 67jährige Rentnerin war zwei Tage nach einer Räumung in einer Notunterkunft in Berlin gestorben (Jungle World 16/13). Kurz darauf twitterte Alexander Morlang, Abgeordneter der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus: »Sozialdemokratie ist tödlich. Danke, liebe Verräter!«

Er wollte offenbar auf die Rolle der SPD bei der Abwicklung des sozialen Wohnungsbaus in Berlin hinweisen, hatte dabei jedoch vergessen, dass die SPD immer einen hilfreichen Koalitionspartner für die Abwicklung hatte, darunter auch die PDS. Das Abgeordnetenhaus ließ Morlangs Äußerung nicht durchgehen. Er musste als Vorsitzender des Ausschusses für Informationsfreiheit, digitale Verwaltung und Datenschutz im Berliner Abgeordnetenhaus zurücktreten. Er dürfte der einzige Politiker sein, der wegen des Todes der Rentnerin zumindest vorübergehend einen Nachteil für seine Karriere hinnehmen muss.

Die Berichterstattung mancher Medien wird wahrscheinlich keiner Karriere schaden. Wenige Tage nach dem Tod von Rosemarie F. gaben sie die Betroffenheit auf und machten sich auf die Ursachensuche. Dabei geriet die Rentnerin selbst ins Visier. So wurden Bilder ihrer nicht besonders aufgeräumten Wohnung vom Tagesspiegel veröffentlicht, als sei es ein Kündigungsgrund, wenn eine Wohnung nicht aussieht, wie ein Musterbeispiel aus dem Ikea-Katalog. Zudem wurde Rosemarie F. in der taz vorgeworfen, nicht mit den Behörden kooperiert zu haben, obwohl doch die Wohnungseigentümer mit der Einschaltung des Sozialpsychologischen Dienstes guten Willen gezeigt hätten.

Doch damit war eine Institution eingeschaltet worden, die höchstwahrscheinlich darauf hingewirkt hätte, dass Rosemarie F. auch gegen ihren Willen ihre Wohnung verlassen hätte. Die Kritik in verschiedenen Medien, die Rentnerin habe sich nicht um behördliche Belange gekümmert, lässt sich zuspitzen: Rosemarie F. hat nicht kooperativ an ihrer Räumung mitgewirkt.

Dabei hat sich F. eindeutig für Widerstand gegen die Räumung entschieden. Sie hat Ärzte aufgesucht, die ihr in einem Attest bestätigten, dass die Räumung eine große gesundheitliche Gefahr darstellt. Zudem hat F. gemeinsam mit Mitgliedern des Bündnisses »Zwangsräumung verhindern« in Gesprächen mit dem zuständigen So­zialstadtrat die Zusage ausgehandelt, dass das Amt sowohl die Mietschulden sofort an die Eigentümer überweisen, als auch eine zukünftige pünktliche Überweisung der Miete garantieren werde. Doch die Eigentümer pochten auf den Räumungstitel.

Der Videojournalist Matthias Coers hat daher kein Verständnis dafür, dass F. nun eine Mitschuld an ihrem Tod vorgeworfen wird, weil sie nicht an ihrer Räumung mitgewirkt habe. »Rosemarie hat im Gegenteil selbstbestimmt und vital reagiert. Sie ist eigenständig zu den Mietenprotesten am Kottbusser Tor gekommen und hat mit dem Räumungsbescheid in der Hand das Gespräch mit Menschen gesucht, die ihre Situation verstehen wollten und nicht sie als Problem ansahen«, betont Coers, der mit der Frau ein Interview führte. Dort sagte sie: »Ich bin ein Opfer von Zwangsumzügen.«

Dass sie den gesellschaftlichen Kontext der Räumung sehr wohl wahrnahm, zeigt sich für Coers schon daran, dass die Rentnerin sich noch Anfang April an dem Protest gegen eine Räumung von Mietern in Berlin-Neukölln beteiligt hat. Das bestätigt auch Grischa Dallmer, in dessen Wohngemeinschaft Rosemarie F. unmittelbar nach ihrer Räumung Unterschlupf fand. »Ihr Zustand war am ersten Tag nach der Räumung in erster Linie durch Erschöpfung gekennzeichnet. Sie konnte nur langsam Treppen steigen und es fröstelte ihr. Sie hatte aber ihre Situation vollkommen klar begriffen und stellte diese in Gesprächen in einen gesellschaftlichen Kontext«, sagt er der Jungle World.

Dass Behörden, Eigentümer und Medien aus Rosemarie F. einen Fall für den Sozialpsychologischen Dienst gemacht haben, könnte auch daran liegen, dass sie, wie andere widerständige Seniorinnen und Senioren, nicht in das Klischee der linken Chaoten passte. Dass ältere Menschen zu Protesten fähig sind, hat sich gerade in den vergangenen Monaten in Berlin gezeigt: an den Besetzern des Seniorenzentrums Stille Straße in Pankow und den »Palisadenpanthern«, die sich gegen drastische Mieterhöhung wehren.
http://jungle-world.com/artikel/2013/17/47579.html
Peter Nowak

Maß und Mitte

Die Grünen setzen auf Rot-Grün, aber manche wollen auch die Hürden für ein Bündnis mit der Union senken

Bloß keine Koalitionsdebatte vor den Wahlen, lautete die Devise vor dem grünen Bundeskongress, der am Freitag in Berlin begonnen hat. Deswegen werden Anträge, die eine zu starke Konzentration auf die SPD vermeiden wollen, keine Chance haben. Denn die Grünen wissen, jede Koalitionsdebatte schmälert die Wahlchancen, was sich nicht zuletzt bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin zeigte. Die Grünen wollen nicht verantwortlich sein, wenn es, wie alle derzeit erwarten, nach der Bundestagswahl nicht für das präferierte Bündnis mit der SPD reicht. Sollte auch die gegenwärtige Koalition keine Mehrheit mehr haben, wären Grüne und SPD Konkurrenten im Kampf die Juniorpartnerschaft in einer Koalition mit der Union.

Da wollen führende Grünen schon mal die Hürden für eine solche Zusammenarbeit senken, wie die Diskussion um die Erhöhung der Vermögenssteuer zeigte, die Winfried Kretschmann wenige Tage vor dem grünen Bundeskongress mittels eines offenen Briefs initiierte. Dass diese Intervention auch vom seinem sozialdemokratischen Stellvertreter in Baden Württemberg unterstützt wird, soll suggerieren, hier würden zwei Landespolitiker sich für den heimischen Mittelstand einsetzen. Doch auf der bundespolitischen Ebene wird damit eine Distanz zur Wahlrhetorik der SPD deutlich und eine Brücke zur Union gebaut.

„Eine Besteuerung von Betriebsvermögen kann, je nach konkreter Ausgestaltung, das Eigenkapital aufzehren und die Investitionsmöglichkeiten des Unternehmens schmälern“, zitiert die Frankfurter Allgemeine aus dem Brief. Eine Vermögensteuer dürfe es nur dann geben, wenn Betriebsvermögen hiervon nicht angetastet würde, erklärten Kretschmann und Schmid. Andernfalls könnte eine Steuerinitiative einer rotgrünen Regierung nicht mit der Unterstützung des Landes Baden Württemberg im Bundesrat rechnen, heißt es hypothetisch.

Die Initiative liefert nun zunächst denen Argumente, die in dem Steuerprogramm einer rotgrünen Koalition eine Gefahr für die Wirtschaft sehen. Schließlich hat die Union prompt alle Steuererhöhungen ausgeschlossen. Auch wenn Renate Künast daran erinnern, dass die von Kretschmann inkriminierte Steuererhöhung nicht mal die Höhe der Vermögenssteuer in der Ära Helmuth Kohl abdecken würde, wird doch die öffentliche Diskussion wieder einmal davon bestimmt, dass die Grünen sich nun verteidigen müssen, keine Steuererhöhungspartei zu sein.

Ein Herz für Superreiche – Kälte für Hartz-IV-Empfänger

Nur der als Exponent des linken Parteiflügels geltende Daniel Wesener verteidigte die Steuerpläne seiner Partei offensiv.

„Fakt ist, dass wir über 90 Prozent der Einkommenssteuerzahler entlasten wollen. Zusätzlich belastet werden nur diejenigen, die man mit Fug und Recht als Superreiche bezeichnen kann.“

Doch Kretschmer und seine Freunde können sich bei ihrer Initiative für eine Senkung der Vermögenssteuerpläne, die sie als einen Beitrag zu „Maß und Mitte“ bezeichnen, auf einen wirtschaftsliberalen Diskurs stützen, der jede Belastung von Millionären als Teufelszeug ansieht und dafür den einkommensschwachen Teil der Bevölkerung zum Gürtelengerschnallen auffordert. So hat ein Urteil des Berliner Sozialgerichts wenig Beachtung gefunden, das die Heizkostenzuschüsse für Hartz-IV-Empfänger als zu hoch ansieht.

Wenn der Berliner Senat die Kosten für Zuschüsse aus der Kategorie „zu hoch“ berechnet, würde die Verschwendung zum Grundsatz gemacht – und das kann nicht angemessen sein, begründete der Richter seine Entscheidung und bringt damit den aktuellen Sozialdiskurs gut auf die Punkt. Ein Herz für Superreiche und soziale Kälte für einkommensschwache Menschen gehören zusammen.

Die über die Binnenlage der Grünen stets gut informierte Taz hat kürzlich zwischen den Zeilen gelesen, wie es um das Verhältnis zur Union bestellt ist. Sie sezierte einen Absatz des grünen Leitantrags, in dem es heißt: „CDU und CSU blockieren den grünen Wandel.“

„Blockaden lassen sich lösen, dass ist der Sinn von Politik“, weiß der Taz-Kommentator. Kretschmann lieferte dazu einen Beitrag.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154182
Peter Nowak

EU-Austeritätspolitik mit allen Mitteln auch ohne gesellschaftlichen Konsens durchsetzen?

Eine Wortmeldung von EU-Kommissar Barroso sorgt für Diskussionen

Wieder einmal steht die von wesentlich von Deutschland forcierte Austeritätspolitik in der Kritik. Dass ist nun wahrlich nichts Neues. Vor allem in der europäischen Peripherie ist die deutsche Politik so unbeliebt, wie es jahrzehntelang die US-Politik in Zentral- und Südamerika war. Schließlich sind dort viele Menschen tagtäglich mit den Folgen dieser Wirtschaftspolitik konfrontiert.

Doch die neue Debatte wurde vom EU-Kommissionschef Manuel Barroso ausgelöst, der auf einem Treffen in Brüssel vor einigen Tagen gesagt hat, dass die Austeritätspolitik an ihre Grenzen stoße. Im Grunde sei die Politik noch immer richtig, präzisierte er, aber dazu brauche man ein „Minimum an gesellschaftlicher und politischer Unterstützung“.

Überraschend an dem Einwurf waren vor allem der Sprecher und der Ort, an dem er sich zu Wort meldete. Denn Barroso war der deutsche Wunschkandidat auf seinen Posten und hat die deutschen Interessen in der EU immer gut vertreten. Nun bellen auch schon mal Merkels und Schäubles Pudel, wenn es opportun erscheint gegen die Berliner Politik. Praktische Konsequenzen sind damit in der Regel nicht verbunden. Das beste Beispiel ist ein Statement von Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Junker. Der ließ verlauten, keine deutschen Verhältnisse in seinem Land zu wollen und meinte damit wohl vor allem, dass er sich den Bankensektor nicht schlechtreden lassen will. Doch Barroso hat seine Kritik an der europäischen Sparpolitik vor einem Forum geäußert, auf dem es nicht auf schnellen Applaus ankommt: bei einer Konferenz europäischer Denkfabriken.

Die Reaktionen auf Barrosos Kritik zeigen, dass er auch in deutschfreundlichen Kreisen nicht allein ist. So hat der Vizepräsident der europäischen Kommission Olli Rehn angeregt, die rigide Sparpolitik zu lockern . Er verband die Aufforderung mit einer Verteidigung der bisherigen Politik, die alternativlos gewesen sei. „Da wir das Vertrauen kurzfristig wiederhergestellt haben, eröffnet sich uns jetzt mittelfristig die Möglichkeit für eine ruhigere Gangart bei den Fiskal-Reformen“, so Rehn. Er sah sich damit durchaus im Einklang mit Aufforderungen von IWF und Weltbank, wo schon lange mit Sorge beobachtet wird, wie die Austeritätspolitik à la Berlin die Weltwirtschaft zu bremsen droht. Erst vor Kurzen hat der in diesen Kreisen angesehene Investor George Soros erklärt, dass Deutschland aus dem Euro aussteigen müsse, wenn es nicht zu Eurobonds bereit sei.

„Deutschland muss stark bleiben“

Dass es sich bei dem Streit nicht um politische Befindlichkeiten, sondern um unterschiedliche Interessen geht, wird oft zu wenig beachtet. Denn während Deutschland ab 2016 mit Überschüssen in seinem Staatshaushalt rechnet kann, kämpfen andere Länder wie Frankreich wegen der dort stagnierenden Wirtschaft mit Problemen, die bisherigen Defizitziele einzuhalten. Hierin liegt der Grund, dass die deutsch-französische Kooperation nicht mehr so reibungslos funktioniert wie noch vor einigen Jahren. In den deutschen Medien wird dafür immer das Vertrauensverhältnis der führenden Politiker in den Mittelpunkt gestellt. Dass es Differenzen im Kerneuropa gibt, könnte auch eine Chance für die Länder der europäischen Peripherie sein, die davon profitieren könnten.

Doch genau das will die deutsche Politik verändern. Denn die will natürlich an einer Austeritätspolitik, die den Standort Deutschland nützt, nichts ändern. Deswegen haben sich von Merkel bis Schäuble in den letzten Tagen sofort führende Politiker zu Wort gemeldet, die diese Politik als alternativlos bezeichneten. Sehr ehrlich war dabei Schäuble, der sagte, dass ein schwaches Deutschland niemand nütze.

Ein offenes Bekenntnis zu einem starken Standort Deutschland kommt im Wahljahr bei einem großen Teil der Bevölkerung gut an. Dabei wird natürlich nicht extra erklärt, dass die Stärkung des Standorts Deutschlands und die Verelendung an der europäischen Peripherie zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Deutschland als starker Standort zieht permanent Kapital, Mehrwert und Beschäftigung aus der europäischen Peripherie an, die auf deutsches Kapital und deutsche Waren angewiesen ist.

Demokratie marktkonform versenkt

Und wenn die Betroffenen in diesen Ländern diese Politik nicht mehr ertragen können und wollen? Genau diesen Punkt hat Barroso angesprochen, als er das Fehlen einer minimalen gesellschaftlichen und politischen Unterstützung konstatierte. Schäuble und Co. gehen auf diesen Punkt nicht ein, was zumindest die Frage aufwirft, ob sie bereit sind, die dem deutschen Standort nützliche Politik mit aller Gewalt durchzusetzen.

Das ist eine nicht nur hypothetische Frage. In vielen Ländern der Peripherie wurden im Zuge der Austeritätspolitik schon wesentliche gewerkschaftliche Rechte außer Kraft gesetzt, wie eine Gruppe von Gewerkschaftern in diesen Tagen auf einer Rundreise erläutert. Der treffende Titel der Veranstaltung lautet: Demokratie marktkonform versenkt.

In Barrosos Heimatland Portugal könnte nicht nur die ihm nahestehende konservative Regierung stürzen, sondern sogar eine Politikwechsel auf der Tagesordnung stehen. Die Hymnen der Revolution, die vor mehr als 35 Jahren viele beeindruckten, werden wieder auf öffentlichen Straßen und Plätzen gesungen. Wie würde Schäuble und Co. reagieren, sollten die bisherigen eher dezenten Mittel der Disziplinierung nicht mehr ziehen, um eine EU-Politik, die den Standort Deutschland nutzt, durchzusetzen? Würden dann die Reste der Demokratie auch noch versenkt?

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154179
Peter Nowak

Spazieren gegen Rendite

Stadtteilinitiative in Friedrichshain will Widerstand gegen Mietervertreibung organisieren

Die Baustellen sind in der Rigaer Straße in Friedrichshain nicht zu übersehen und zu überhören. »Doch für wen werden diese Wohnungen gebaut«, fragt Heinz Steinle (Name geändert). Der Aktivist der Stadtteilinitiative »Keine Rendite mit der Miete« verweist auf die Schilder, auf denen Käufer für die neu errichteten Eigentumswohnungen gesucht werden.

Menschen mit geringen Einkommen können sich eine Wohnung im »Green Village« (Grünes Dorf) bestimmt nicht leisten, das auf dem Areal der Rigaer Straße 18/19 errichtet wird. Als die Sanus-AG das Projekt mit den 142 Eigentumswohnungen auf der Expo-Real vorstellte, wurde der vermögenden Klientel ein Wohnungskauf mit dem Hinweis auf die Tiefgaragen schmackhaft gemacht.

Käufer für Eigentumswohnungen werden auch für die Anfang der 50er Jahre von der DDR errichteten Bauten in der Frankfurter Allee 5 – 17 gesucht. »Wohnen im Baudenkmal« lauten die Werbeplakate. Viele Wohnungen stehen dort derzeit leer. Die noch verbliebenen Mieter, die teilweise seit Jahrzehnten dort wohnen, befürchten die Verdrängung. Vor einigen Monaten haben sie in den Häusern einen Mieterrat gegründet und auch schon mehrere öffentliche Veranstaltungen organisiert. »In vielen Häusern in Friedrichshain regt sich Widerstand gegen die drohende Verdrängung. Aber oft kämpft noch jedes Haus für sich allein«, berichtet Steinle.

Die Stadtteilinitiative »Keine Rendite mit der Miete« will diesen Zustand ändern. Als ersten Schritt organisierte sie am Mittwochabend einen Stadtteilspaziergang zu Orten des Mieterwiderstands in Friedrichshain. In den letzten Monaten hatten solche Spaziergänge in den Stadtteilen Neukölln und Kreuzberg zur stärkeren Kooperation der dortigen Mieter und Abstimmung ihrer Proteste geführt.

Wenn auch die Eigentümer unterschiedlich sind, so sehen die Aktivisten das Grundproblem in dem Versuch, möglichst viel Rendite aus den Wohnungen zu ziehen. Die Mieter bleiben dort oft auf der Strecke. So sind in der Boxhagener Straße 33 die letzten Mieter ausgezogen. Monatelang hatten sie mit Transparenten gegen die Luxusmodernisierung des Hauses protestiert. Als die ersten Bäume im Hof im Frühjahr letzten Jahres gefällt werden sollten, organisierten sie sogar gemeinsam mit Unterstützern eine kurze Blockade.

Weiteres Renditeobjekt ist die Boxhagener Straße 26, wo sich die Mieter ebenfalls gegen die Umwandlung in Eigentumswohnungen wehren. Auch vor diesem Haus wollten die Spaziergänger gestern Abend auf ihrer Tour Halt machen. Danach sollte es zu weiteren Häusern rund um den Boxhagener Platz gehen, in denen sich die Rendite für die Eigentümer massiv erhöht hat. Ein Beispiel nennt eine Mitarbeiterin des Mieterladens in der Kreutziger Straße, eine Anlaufstelle für Bewohner, die sich über ihre Rechte informieren und juristisch beraten lassen wollen. Danach wird eine 97 Quadratmeter große Wohnung in der Boxhagener Straße, die bisher 675 Euro kostete, seit 1. April für eine Miete von 1600 Euro angeboten, nachdem der langjährige Mieter ausgezogen war. Bei solchen Steigerungen finden Vermieter immer Gründe, Mieter loszuwerden. Der Stadteilspaziergang will ihre Selbstorganisierung stärken.

Infos und weitere Termine auf mietenstoppfriedrichshain.blogsport.de
http://www.neues-deutschland.de/artikel/819832.spazieren-gegen-rendite.html

Peter Nowak

Recherchieren statt diffamieren

Linke Gruppen haben sich Regeln zum Outing von V-Leuten gegeben. Das soll falschen Verdächtigungen vorbeugen
Anschuldigungen müssen bewiesen werden. Was vor Gericht selbstverständlich ist, gilt in der linken Szene nicht unbedingt, wenn es um Spitzel geht. Ein Kodex soll das ändern.

Sehr bürokratisch hört sich der Titel eines Textes an, der von mehreren linken Gruppen in Berlin unterschrieben und kürzlich veröffentlicht wurde: »Richtlinien zum Outing von Spitzeln in linken Zusammenhängen.« Gleich am Anfang wird darin festgestellt: »Vermutungen über angebliche Spitzel dürfen auf keinen Fall leichtfertig in die Welt gesetzt und verbreitet werden. Denn solche Gerüchte erzeugen Unruhe, Misstrauen und politische Spaltungen.« Eine Gruppe, die Spitzelvorwürfe erhebe, müsse sich Nachfragen stellen und Kontaktmöglichkeiten anbieten. Zudem müsse ein Spitzelouting eindeutige Beweise enthalten. Berichte vom Hörensagen hätten dort nichts zu suchen.

Die ungewöhnliche Regelungsoffensive hat ein Vorspiel. Vor einem Jahr hatte eine autonome Gruppe auf der linken Internetplattform Indymedia eine Person aus der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB) verdächtigt, die Szene für den Verfassungsschutz auszuspionieren. Angeblich habe die Betroffene die Vorwürfe zugeben, hieß es in dem Text. Zudem seien einige Mitglieder der ALB über die Vorwürfe informiert worden. Die ALB bestreitet das jedoch. Man sei weder kontaktiert noch anderweitig informiert worden. »Insofern wurden uns bislang auch keine Beweise, die diesen Vorwurf untermauern, vorgelegt«, erklärte die Berliner Antifagruppe im März 2012. Einige Wochen und zeitaufwendige Recherchen später ist die ALB überzeugt, dass die Spitzelvorwürfe falsch waren. »Niemand hat Beweise vorgelegt und wir haben durch eigene Recherche keine gefunden«, lautet ihr Fazit. Für sie ist die Sache damit vom Tisch.

Aus Sicht des Berliner Ermittlungsausschusses (EA) sind sie hingegen ungeklärt. Die linke Rechtshilfestruktur kritisiert die anonyme Anklage ebenfalls: »Ein Spitzelouting auf einer Plattform wie Indymedia, ohne ansprechbar zu sein, ist vollkommen inakzeptabel. Um ein Spitzelouting unangreifbar zu machen, hätten zudem veröffentlichbare Beweise gesichert werden müssen.« Der EA appelliert an beide Seiten, weitere Kampagnen gegen die denunzierte Person ebenso zu unterlassen wie Nachforschungen über die ominöse autonome Gruppe, die die Anschuldigung in die Welt setzte. Für den EA handelt es sich dabei entweder um einen Kreis von gut über die linke Szene informierten V-Leuten oder um eine Diffamierungskampagne von Menschen, die gut in die linke Szene integriert sind. Der EA schließt jedoch auch nicht aus, dass die autonome Gruppe als linke Struktur tatsächlich existiert.

Als gelungenes Beispiel für die Enttarnung eines V-Mannes gilt vielen hingegen der Fall von Simon B. Zwei bekannte linke Gruppen in Heidelberg hatten den Kontakt Ende 2010 öffentlich gemacht. Sie legten Beweise vor und verfassten Pressemitteilungen. Ein solches Vorgehen soll durch die Richtlinien gefördert werden, hoffen die unterzeichnenden Gruppen.

Der Streit über den Umgang mit Spitzelvorwürfen in linken Zusammenhängen ist nicht neu. Der Historiker Markus Mohr hat vor einigen Jahren eine kleine Sozialgeschichte des Spitzels herausgegeben. Darin beschreibt er auch, wie Spitzelvorwürfe in der linken Geschichte immer wieder genutzt wurden, um politische Kontrahenten zu diskreditieren.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/819698.recherchieren-statt-diffamieren.html

Peter Nowak

„20 Jahre Essenstafeln sind genug“

Die Kritiker einer „Vertafelung der Gesellschaft“ kritisieren mit einer Veranstaltungsreihe eine Politik, die einkommensschwachen Menschen Almosen statt Rechte anbietet

Eine Reise durch das Land der Suppenküchen und Tafeln schrieb der Soziologe Stefan Selke kürzlich für Telepolis. Damit gehört er zu den wenigen Wissenschaftlern, die die zunehmende Präsenz von Essenstafeln nicht als Beweis für die Zunahme ehrenamtlichen Geistes in Deutschland interpretieren, sondern die Vertafelung einer Gesellschaft als Ausdruck eines Rückzugs des Staates aus der Sozialpolitik kritisieren. Statt anerkannter und einklagbarer Rechte werden die einkommensschwachen Menschen zunehmend auf die Tafeln verwiesen, wo sie einen Teil ihrer Nahrungsmittel aber auch Haushaltsgegenstände als Almosen beziehen können.

Die Kritik von Selke, sozialen Initiativen und Erwerbslosengruppen an den Tafeln wird mittlerweile von weiteren Gruppen getragen. Zum 20. Jubiläum der Essenstafeln hat sich das Bündnis „Abgespeist“ gegründet, das am Montag auf einer Pressekonferenz in Berlin die Argumente vorgetragen hat.

Marktwirtschaftliche Armutsverwaltung mit prekären Arbeitsplätzen?

Stefan Selke, der mit dem emeritierten Berliner Politologen Peter Grottian zu den Initiatoren des Bündnisses gehört, machte darauf aufmerksam, dass sich die Tafeln in den letzten 20 Jahren zu einem marktförmigen System der Armutsverwaltung entwickelt haben, in dem auch Gewinne erwirtschaftet werden. „Tafeln sind keine Bewegung, sondern eine Organisation, die als Monopolist im Markt der Bedürftigkeit auftritt und andere ebenso engagierte Anbieter von Hilfeleistungen zunehmend verdrängt.“

Bernhard Jirku von ver.di weist auf die prekären Arbeitsbedingungen hin, die durch die Tafeln verfestigt würden: „Zur Besorgung der Armenspeisungen mit Produkten und ihrer Verteilung eröffnet das „Tafelwesen“ einen weiteren, sehr prekären Arbeitsmarkt, dessen Beschäftigungsbedingungen sich weit unterhalb gewerkschaftlicher und tariflicher Vorstellungen befinden. Selten gibt es existenzsichernde, reguläre Beschäftigungsverhältnisse, noch seltener sind sie tariflich entlohnt.“

Die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg betonte, dass die einkommensschwache Menschen eine armutsfeste Grundsicherung statt Almosen brauchen. Dem schloss sich auch die Bündnissprecherin Luise Molling an. „Eine armutsfreie, existenzsichernde und bedarfsgerechte Mindestsicherung würde die Tafeln und ähnliche Angebote überflüssig machen“, betont sie gegenüber Telepolis.

Peter Grottian regte auf der Pressekonferenz an, nicht nur die Tafeln sondern auch die Bundesagentur für Arbeit durch eine Politik überflüssig zu machen, die Armut abbaut, statt zu verwalten. Ein Schwachpunkt bleibt zu benennen. Dass diese Armut fördernde Politik kein Versagen oder Missverständnis ist, sondern von einer großen Koalition aus SPD, FDP, Union und großen Teilen der Grünen als Beitrag zur Stärkung des Standortes Deutschlands bewusst forciert wurde, kam bei der Pressekonferenz nicht zur Sprache. Damit besteht die Gefahr, dass Illusionen erzeugt werden könnte, allein moralischer Druck und gute Argumente würden schon dafür sorgen, dass die Tafeln bald der Vergangenheit angehören.

Kritische Tafelforschung und kritischer Dialog

Mittlerweile sind die Kritiker mit den Tafelbetreibern in einen Dialog getreten, und auch neue Wissenschaftsbereiche könnten dadurch entstehen. Erwerbslosenaktivistin Brigitte Valenthin war diese Orientierung des tafelkritischen Bündnisses aber zu konstruktiv, weswegen sie wieder austrat.

Vom 26.-28. April wird das Bündnis erstmals mit Aktionstagen in die Debatte intervenieren.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154155
Peter Nowak

Mieter/innen und Kneipe ziehen an einem Strang

Manchen Mieter/innen ist ein Restaurant im Haus als Quelle vielfältiger Geräusche ein Ärgernis. Die Mieter/innen der Christinenstraße 1 aber sind froh, dass sie mit dem BAIZ einen Schankraum im Haus haben, der viele Freunde hat. Seit sie wissen, dass ihr Haus zum Spekulationsobjekt geworden ist, mobilisieren die Gäste des BAIZ im Netz und auf der Straße dagegen und die Mieter freuen sich.

Sie waren genauso wie die Lokalbetreiber überrascht, als sie erfuhren, dass das Haus im Herbst 2012 den Besitzer gewechselt hat. Das Gebäude wurde an die Zelos Properties GmbH verkauft. Durch Eigenrecherche stießen die Mieter auf personelle Überschneidungen mit der im Zusammenhang mit Schrottimmobilien ins Gerede gekommenen Grüezi Real Estate AG. Das Unternehmen war vom Berliner Landgericht im Dezember 2012 zur Rückabwicklung eines Eigentumswohnungsverkauf und der Zahlung von Schadenersatz verurteilt worden. Die Grüezi hat nach Ansicht des Gerichts eine Eigentumswohnung „sittenwidrig überteuert“ veräußert. Die Firma hatte den Vorwurf unter Hinweis auf eines von ihr beauftragten „Gutachtens“ bestritten. Das Landgericht bezeichnet das „Gutachten“ als offensichtlich wertlosen „Bericht“.

Zelos wirbt auf ihrer Homepage mit einer „ausgeprägten Kulturszene“ in der Umgehung der Christinenstraße und lukrative Käufer der Eigentumswohnungen anzulocken. Für das Haus selber wird allerdings eine kulturelle und gastronomische Weiternutzung kategorisch ausgeschlossen. Stattdessen ist nach ihren Vorstellungen ein weiteres Büroprojekt geplant. Damit ist eine Zielgruppe angesprochen, die in angesagte Szenebezirke zieht, aber auf keinen Fall einen Club oder ein Restaurant in der Nachbarschaft haben will. Aber nicht nur die Kneipe, auch die bisherigen Mieter/innen, sind in den Plänen der Zelos GmbH nicht vorgesehen. Auf ihrer Homepage wird das Haus als „Altbau aus der Jahrhundertwende“ in exklusiver Umgebung beworben. Adidas und Soho House sollen „das hohe Niveau der Nachbarschaft“ garantieren, mit dem Zelos vermögende potentielle Käufer gewinnen will.
Doch noch geben die Mieter/innen und die BAIZ-Betreiber nicht auf und sie suchen die Öffentlichkeit. So haben sie haben unter
baiz.krassnix.de/wp-content/uploads/2013/03/mieterh%C3%B6hungsbeispiele.pdf Beispiele für die Entwicklung der Miete nach der Modernisierungsankündigung ins Netz gesellt. Danach würde sich eine Grundmiete von 200 Euro auf 558, 98 Euro gleich um 278,99 % erhöhen. Die aktuellen Bewohner hoffen auf die solidarische Nachbarschaft, die zu den Kunden des BAIZ gehört, das mit seinen niedrigen Getränkepreisen heute in der Gegend eine Ausnahme ist. “Wenn wir es gemeinsam mit dem BAIZ nicht schaffen, hier im Haus zu bleiben“, schaffen wir es alleine erst recht nicht“, bringt ein Mieter die Stimmung in dem Haus zum Ausdruck. Mindestens einmal in der Woche fungiert ein Raum der Kneipe mittlerweile als Aktionszentrum. Ideen gibt es viele. In der nächsten Zeit werde man einiges von den Mieter/innen der Christinenstraße hören, kündigen sie an. Neuigkeiten finden sich auf der Homepage unter:

baiz.krassnix.de/category/von-uns/
http://www.bmgev.de/mieterecho/mieterecho-online/baiz.html
Peter Nowak

Sklaven gehen offline

Die Verhandlungen über einen Tarifvertrag sind gescheitert. Nun droht dem Online-Versandhändler Amazon in Deutschland zum ersten Mal ein Streik.

Streik bei Amazon? Noch vor wenigen Wochen schien eine solche Schlagzeile kaum denkbar. Mitte Februar wurde durch eine ARD-Reportage bekannt, dass bei Amazon beschäftigte Leiharbeiter aus Spanien in engen Behausungen leben müssen und zudem von einer Sicherheitsfirma bewacht wurden, deren Angestellten Kontakte ins rechte Milieu nachgesagt wurden. Von einem Arbeitskampf war nicht die Rede. Dafür brach kurzfristig ein »Shitstorm« los, der einem Konzern, der sein Geschäftsmodell auf das Internet stützt, nicht gleichgültig sein konnte. Doch ausgerechnet die Verdi-Betriebsgruppe Logistikzentrum von Amazon in Bad Hersfeld distanzierte sich von diesem nicht vom Gewerkschaftsvorstand kontrollierten Aktivismus.

»Zuallererst möchten wir zum Ausdruck bringen, dass wir den ›Shitstorm‹ in diversen Foren, allen voran auf der Facebook-Seite von Amazon, verurteilen und ablehnen. Wir distanzieren uns ebenfalls von etwaigen Boykottaufrufen und sehen es mit Sorge, dass Kunden ihre Konten bei uns löschen«, heißt es in der Erklärung. »Ein Boykott hätte keine Verbesserung der Lage der bei Amazon Beschäftigten, egal ob Leiharbeiter oder Direktangestellte, zur Folge, sondern würde den psychischen Druck auf diese erhöhen und Angst um den Arbeitsplatz schüren«, lautet die Begründung der Betriebsgruppe. Denjenigen, die sich mit den Beschäftigten solidarisieren wollten, wurde stattdessen empfohlen, eine von Verdi initiierte Online-Petition für bessere Arbeitsbedingungen bei Amazon zu unterzeichnen. Hieß es früher sarkastisch, die schärfste Waffe der DGB-Gewerkschaften sei die Presseerklärung, scheint im Internetzeitalter die Online-Petition diese Rolle übernommen zu haben. Derzeit hat es jedoch den Anschein, als könnte die Gewerkschaft einen Erfolg verbuchen.

Schließlich haben sich Anfang April im Amazon-Versandzentrum in Leipzig bei einer Urabstimmung 97 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik ausgesprochen. Ob und wann es zum Arbeitskampf kommen wird, ist noch offen. »Wir sind gerade dabei, das Superergebnis zu verdauen«, sagte Jörg Lauenroth-Mago, der zuständige Bereichsleiter von Verdi, in einer ersten Stellungnahme gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. Etwas kämpferischer äußerte sich Heiner Reimann, der für das Amazon-Logistikzentrum in Bad Hersfeld zuständige Gewerkschafts­sekretär von Verdi.

Er sieht in einem klassischen Arbeitskampf noch immer die beste Möglichkeit, Verbesserungen für die Beschäftigten zu erreichen. »Wer Amazon treffen möchte, muss dafür sorgen, dass Amazon sein Kundenversprechen nicht einhalten kann: Heute wird bestellt, morgen geliefert. Um das zu erreichen, ist der klassische Streik wahrscheinlich das Mittel der Wahl«, sagte Reimann. Das Interesse der Medien, das einsetzte, nachdem in der ARD die Reportage »Ausgeliefert« über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von spanischen Leiharbeitern gesendet worden war, habe aus seiner Sicht hingegen nichts bewirkt. »Der Mediensturm nach der ARD-Reportage über die miese Behandlung von Leiharbeitern im Weihnachtsgeschäft hat wenig negative Auswirkungen für das Unternehmen gehabt.« Zudem betont Reimann, dass in der Reportage und der nachfolgenden Diskussion nur ein Teil der Probleme zur Sprache gekommen sei, mit denen die Beschäftigten bei Amazon konfrontiert sind.

Der Gewerkschaftssekretär nennt die große Zahl von befristeten Arbeitsverträgen und berichtet vom enormen Leistungsdruck, der im Konzern herrsche. »Nicht einmal ein Drittel der über 4 600 Kollegen in Bad Hersfeld hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Das eigene Leben ist somit kaum planbar«, beschreibt Reimann Arbeitsverhältnisse, die mittlerweile längst nicht nur bei Amazon Einzug gehalten haben. Der Leistungsdruck betreffe alle, Amazon überprüfe zudem wie kein anderer Arbeitgeber jeden einzelnen Arbeitsschritt auf Effektivität. Jede Bewegung werde gemessen, analysiert und auf ihre Effizienz geprüft. Dafür nennt Reimann ein prägnantes Beispiel: »Vor kurzem gab es in einer Abteilung die Anweisung, dass die Beschäftigten maximal nur fünf Minuten mit einem Toilettengang verbringen dürfen. So etwas kenne ich nur von Amazon.« Allerdings gilt auch hier die Pa­role »Amazon ist überall«. Denn ein auf Niedriglöhne gestütztes Arbeitsregime, das Angriffe auf Betriebsräte mit der totalen Kontrolle der Mitarbeiter kombiniert, hat schon längst das Interesse von Unternehmen in anderen europäischen Ländern gefunden.

Für einen Gewerkschaftseintritt spiele bei Amazon-Mitarbeitern der Widerstand gegen die Überwachung und die Leistungskontrolle eine große Rolle, betont Reimann. »Wir haben die Leute gefragt, wo der Schuh drückt. Unabhängig von dem, was Gewerkschaften üblicherweise fordern, nämlich höhere Löhne, wollten wir wissen, was die Leute wirklich stört.« Tatsächlich ist es ein Fortschritt, wenn Verdi neben der Frage nach der Höhe der Löhne auch die Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt von Tarifverhandlungen stellt. Schließlich ist es erst wenige Jahrzehnte her, dass unter dem Stichwort »Humanisierung des Arbeitslebens« eine gesellschaftliche Debatte über die Arbeitssituation geführt wurde, in der gewerkschaftliche Argumente ein wichtiger Bestandteil waren. Angesichts der Zurückdrängung von gewerkschaftlicher Macht scheinen solche Forderungen heutzutage beinahe illusorisch. Das wird auch im Dokumentarfilm »Play hard, work hard« und dem Spielfilm »Die Ausbildung« sehr deutlich, die sich beide mit modernen Arbeitsverhältnissen befassen. Der größte Erfolg des modernen Arbeitsregimes besteht diesen Filmen zufolge darin, dass Vorstellungen von Solidarität, Renitenz am Arbeitsplatz oder gar gewerkschaft­licher Gegenmacht nicht einmal mehr sanktioniert werden müssen, weil sie in der Vorstellungswelt der Beschäftigten nicht mehr vorhanden sind. Da ist es schon als Erfolg zu werten, dass am 9. April mehrere Hundert Verdi-Mitglieder im Bad Hersfelder Logistikzentrum von Amazon einen Warnstreik abgehalten haben. Zuvor waren Gespräche über einen Tarifvertrag zwischen den Vertretern von Gewerkschaft und Amazon gescheitert.

Ende April soll auch in Bad Hersfeld die Urabstimmung abgeschlossen sein. Sollten die Amazon-Beschäftigten bei dieser Urabstimmung ebenso wie in Leipzig für einen Arbeitskampf stimmen, könnte die Gewerkschaft ganz traditionsbewusst am 1. Mai die Öffentlichkeit mit konkreten Informationen zum bundesweit ersten Streik von Amazon-Beschäftigten überraschen. Ob sich Verdi beim Streik gegen einen Online-Versandhandel an Aktionsformen des Einzelhandelsstreiks von 2008 orientiert, als unter dem Motto »Dichtmachen« Gewerkschafter mit solidarischen Kunden eine Supermarktfiliale blockierten? Dass eine solche Form des Protests auch virtuell möglich ist und erfolgreich sein kann, hat bereits die Internetdemonstration antirassistischer Gruppen gegen die Lufthansa im Jahr 2001 gezeigt. Ob die Internetaktivisten ähnliche Aktionen auch in einem Arbeitskampf zur Anwendung bringen, ist, nachdem sich die Verdi-Gruppe bei Amazon in Bad Hersfeld vom Shitstorm distanziert hat, offen. Aber eine Erlaubnis vom Gewerkschaftsvorstand brauchen sie dafür nicht.
http://jungle-world.com/artikel/2013/16/47538.html
Peter Nowak

Armut und Reichtum in deutschen Medien


Nach einer Studie über die Berichterstattung großer deutscher Zeitungen finder eine kritische Auseinandersetzung mit der Macht großer Privatvermögen nicht statt

Wer offenen Auges durch deutsche Städte geht, erkennt schnell, wie sich die Armut in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Dass Menschen in Mülleimern nach Verwertbarem suchen, ist ebenso zur Normalität geworden, wie Essenstafeln und die Tatsache, dass das Flaschenpfand für viele Menschen überlebensnotwendig zu sein scheint. Doch wie wird diese sich ausbreitende Armut in führenden Zeitungen in Deutschland behandelt?

Dieser Frage widmeten sich die Journalisten Hans Jürgen Arlt und Wolfgang Storz in der gestern veröffentlichten Studie Portionierte Armut, Blackbox Reichtum.

Untersucht wurden die Tages- und Wochenzeitungen Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel und Die Zeit. Als Beobachtungszeitraum wählten die Autoren die Phase zwischen dem dritten und dem vierten Lebenslagenbericht der Bundesregierung. „Die Studie stellt die Frage nach dem journalistischen Gebrauch der Pressefreiheit im Umgang mit Reichtum und Armut. Die Antwort: Es handelt sich um einen Fall von Pressefeigheit“, resümieren die beiden Publizisten.

Blackbox Reichtum in den Medien

Sie konstatieren eine „Blackbox Reichtum“ in den Medien. Eine Auseinandersetzung mit der Macht privater Großvermögen, die ihre Interessen ohne Worte zur Geltung bringen können, finde nicht statt. Der riesige Reichtum in den Händen weniger werde entweder überhaupt nicht kommentiert oder selbst dann nicht genauer durchleuchtet, wenn er kritisch bewertet wird. Reichtum werde nur aufgerufen als Gegenpart von Armut und als Indikator sozialer Ungleichheit. Als Zentrum gesellschaftlichen Einflusses auf alle Lebensbereiche von der Politik über die Wissenschaft odeer die Kunst bis hin zum Sport und als wirtschaftlicher Weichensteller mit seinen Anlage-, Verlagerungs- und Spekulationsentscheidungen komme er in den journalistischen Meinungsbeiträgen nur beiläufig vor.

Was Arlt und Storz hier am Beispiel der Presse beschreiben, dürfte ein Ausdruck gesellschaftlicher Regression sein. In den späten 70er Jahren, als Gesellschaftskritik nicht nur Hobby einer absoluten Minderheit war, wurden Journalisten wie Manfred Bissinger beim Stern oder Eckart Spoo in der Frankfurter Rundschau sanktioniert, weil sie in ihren Artikeln den Reichtum kritisch unter die Lupe nahmen. Heute hingegen wird kaum noch ein Zusammenhang zwischen dem Reichtum für wenige und wachsender Verarmung.

Dabei komme Armut in den untersuchten Medien durchaus vor, aber sie wird portioniert. Damit wollen Arlt und Storz ausdrücken, dass die Armen in einzelne Problemgruppen aufgeteilt und damit als gesellschaftliches Problem entschärft werden. Von der Kinder- über Frauen- bis zur Altersarmut werden so unterschiedliche Armutstypen kreiert. Diese Menschen werden dann zu Problemgruppen erklärt und für die Armut weitgehend selbst verantwortlich Gemacht, wodurch die Gesellschaft schon wieder entlastet ist.

Wie das funktioniert, zeigte sich an der Presseberichterstattung zum Tod der Berliner Rentnerin Rosemarie F, die wenige Tage nach ihrer Zwangsräumung gestorben ist. Nach allgemeiner Betroffenheit gingen mehrere Medien dazu über, die Schuld für der Tod bei der Rentnerin selber zu suchen und als Ausweg ein früheres Einschreiten des Sozialpsychologischen Dienstes zu sehen, ignoriert wird dabei, dass F. ausdrücklich keinen Kontakt mit den Behörden wünschte und bis zum Schluss nach Aussagen von Menschen, mit denen sie vor ihren Tod zusammen war, geistig klar, aber körperlich geschwächt war. Dass Resultat einer solchen Berichterstattung ist klar: Aus dem gesellschaftlichen Skandal, dass einkommensschwache Menschen selbst im Rentenalter aus ihren Wohnungen geworfen werden, wird ein individuelles Problem.

Zielgruppe genussfreudige Elite

Reportagen über Armut beschreiben die Betroffenen in der Regel im Opferstatus. Selbstbewusste Arme, die sich sogar aktiv wehren, kommen in den Medien in der Regel nicht vor. Dass gilt durchaus nicht nur für die untersuchten Zeitungen. So kommen in der bundesweiten Wochenendausgabe der linksliberalen Tageszeitung, die zurzeit mit dem Motto „dick und gemütlich“ für ihren Relaunch wirbt, Einkommensarme so gut wie nicht vor. Dafür finden sich allwöchentlich besinnliche Betrachtungen eines in der Gesellschaft angekommenen Mittelstandes, der den Müll korrekt trennt und Wert auf gesundes Essen legt. Diese Zielgruppe bringt die Starköchin Sarah Wiener in einem Interview in der Taz gut auf dem Punkt: „Die wahre Elite sind die, die sich selbst beschränken und ab und zu ein gutes Stück Fleisch genießen können, weil es nachhaltig erzeugt und artgerecht gehalten wurde. Bewusst zu genießen, das ist Elite.“
http://www.heise.de/tp/blogs/6/154147
Peter Nowak

Hätte Sarrazin wegen Rassismus angeklagt werden müssen?


Der Antirassismus-Ausschluss der Vereinten Nationen rügt die deutsche Justiz

Um Thilo Sarrazin ist es in der letzten Zeit ruhig geworden. Sein im letzten Jahr veröffentlichtes Buch „Deutschland braucht den Euro nicht“ hat längst nicht soviel Aufmerksamkeit erregt wie sein Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von 2010. Seine dort aufgeführten Thesen hatte Sarrazin bereits im Herbst 2009 in einem Interview mit dem Magazin Lettre International vorgestellt. Mit dem Inhalt hat sich nun der Antirassismus-Ausschluss der Vereinten Nationen befasst und die deutsche Justiz gerügt.

Den Ausschuss hatte der Türkische Bund Berlin/Brandenburg eingeschaltet, nachdem er vergeblich von der deutschen Justiz gefordert hatte, die Äußerungen von Sarrazin auf Rassismusverdacht hin zu überprüfen. Mit Verweis auf die Meinungsfreiheit hatte die Staatsanwaltschaft es abgelehnt, die Anzeige des Türkischen Bundes gegen Sarrazin wegen Beleidigung und Volksverhetzung weiterzuverfolgen.

Rassismus nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt?

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der rassistischen Diskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination) gab dem TBB nun recht. Die Bundesrepublik habe zu wenig unternommen, um Teile ihrer Bevölkerung vor rassistischen Anfeindungen zu schützen. In den Ermittlungen gegen Sarrazin sei die deutsche Justiz nicht ausreichend der Frage nachgegangen, ob Sarrazins Äußerungen rassistisches Gedankengut beinhalteten, heißt es zur Begründung. Doch der Ausschuss hat die deutsche Justiz nicht nur formal gerügt, sondern sich auch mit Sarrazins Äußerungen befasst:

„Der Ausschuss urteilt, dass Herrn Sarrazins Äußerungen eine Verbreitung von Auffassungen darstellen, die auf einem Gefühl rassischer Überlegenheit oder Rassenhass beruhen, und Elemente der Aufstachelung zur Rassendiskriminierung (..) enthalten.“

Da der Ausschuss Sarrazins Äußerungen als rassistisch einstuft, seien sie auch nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die Bundesrepublik Deutschland soll nun innerhalb von 90 Tagen gegenüber dem Ausschuss konkrete Maßnahmen zum besseren Schutz vor Rassismus vorlegen. Allerdings gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten, falls Deutschland – was nicht unwahrscheinlich ist – das Votum einfach ignoriert. Schließlich haben die Erklärungen des Ausschusses generell nur empfehlenden Charakter.

Daher ist die Entscheidung in erster Linie ein moralischer Erfolg für den Türkischen Bund, der in einer Stellungnahme gleich von einer historischen Entscheidung gesprochen hat. Auch die Sprecherin des Instituts für Menschenrechte begrüßte die Entscheidung und betonte:

„Der Ausschuss hat unter Hinweis auf seine bestehende Spruchpraxis hervorgehoben, dass die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung Grenzen hat. Zu diesen Grenzen gehört insbesondere die Verbreitung rassistischen Gedankenguts.“

Allerdings dürfte selbst bei Personen, die in der Vergangenheit Sarrazin kritisiert haben und daher die Einschätzung, dass er rassistisch argumentiert, teilen, strittig sein, ob dagegen mit den Mitteln des Strafrechts sinnvoll vorgegangen werden kann. Schließlich ist das Problem ja nicht nur Sarrazin, sondern seine in die Millionen gehenden zustimmenden Leser und Anhänger. Die werden natürlich noch mehr zu Sarrazin halten, wenn er sich als Märtyrer der Meinungsfreiheit inszenieren kann. Dazu besteht aber nach der Entscheidung kaum Gelegenheit. Sarrazin muss keine Wiederaufnahme abgeschlossener Verfahren befürchten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154132
Peter Nowak

Machtspiele um die Frauenquote

Wie eine Frage, die nur wenige betrifft, die innenpolitische Debatte der letzten Tage dominierte

Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hat heute im Bundestag den Oppositionsvorstoß für eine Frauenquote in Aufsichtsräten abgelehnt. Die Redner der Regierungsparteien und der Opposition haben sich dabei gegenseitig Versagen vorgeworfen.

Während die Frauenquote von 320 Abgeordneten abgelehnt wurde, stimmten 277 dafür. Es gab eine Enthaltung – nicht von Ursula von der Leyen, sondern von Siegfried Kauder. Dass diese Abstimmung in den letzten Tagen eine so große innenpolitische Debatte auslöste und sogar die Stabilität der Koalition kurzzeitig in Gefahr gesehen wurden, liegt vor allem am beginnenden Bundestagswahlkampf. Davon war die gesamte Debatte bestimmt. Die Opposition aus Grünen und SPD war bei mehreren Landtagswahlen erfolgreich und hat so auch im Bundesrat eine Mehrheit. Sie steht aber vor dem Problem, dass trotz aller Erfolge die Merkel-Regierung scheinbar unangefochten ist und nach letzten Umfragen sogar für die gegenwärtige Regierungskonstellation wieder eine Mehrheit möglich werden könnte.

So muss die Opposition versuchen, alle Bruch- und Streitpunkte in der Koalition auszunutzen. Die Frauenquote in Aufsichtsräten eignet sich dazu gut. Der von SPD und Grünen dominierte Bundesrat hat sich für eine Frauenquote von 20 Prozent im Jahr 2018 ausgesprochen, die im Jahr 2023 auf 40 Prozent steigen soll. Während vor allem die FDP die Quote als Eingriff in das Privateigentum interpretiert und davon vom Wirtschaftsflügel der Union unterstützt wird, entdecken jüngere Politiker in der Union die Frauenquote durchaus als geeignetes Mittel, das auch von der Wirtschaft propagierte Ziel umzusetzen, Frauen als Ressource zu entdecken und zu nutzen.

Zur Wortführerin dieser Strömung hatte sich in den letzten Wochen die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen entwickelt. Ihre Gegenspielerin ist Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Nach wochenlangem Streit hat sich die Union nun dazu durchgerungen, ab 2020 eine Frauenquote von 30 % zu fordern. Bis dahin soll die zurzeit praktizierte Flexiquote gelten. Dafür haben die schnelleren Quotenbefürworterinnen bei der Union zugesichert, nicht mit der Opposition zu stimmen. Diese Zusage hat, wie sich heute zeigte, die Probe auf das Exempel bestanden.

Eigentlich ein Luxusproblem

Dass sich zwei Ministerinnen mit Karriereoptionen streiten und das Ganze noch zu einer Gewissensfrage erklärt wird, bestimmte die innenpolitische Debatte der letzten Tage. Dabei geht es eigentlich um ein Luxusproblem für wenige Frauen. Für die Mehrheit der weiblichen Beschäftigten in Deutschland wird durch eine solche Frauenquote in den Aufsichtsräten der DAX-Konzerne nichts ändern. Eine Frauenquote in Aufsichtsräten ist genauso wenig ein Ausdruck für allgemeine Frauenemanzipation, wie eine Greencard für indische IT-Experten an der Diskriminierung von migrantischen Beschäftigten etwas ändert. So hatte die heutige Debatte und Abstimmung vor allem den Zweck, dass die beiden Lager sich noch mal gegenseitig vorwerfen konnten, zu wenig für Karrierefrauen zu machen und nur das eigene Lager zusammen zu halten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154128
Peter Nowak