Gelbe Westen – Protestform des 21. Jahrhunderts?

Nach den Warnungen vor rechter Gefahr gibt es differenziere Sichtweisen zu der französischen Protestbewegung aus der außerparlamentarischen Linken

Auch am dritten Samstag im Dezember sind in vielen französischen Städten wieder Tausende auf die Straße gegangen. Es gab zahlreiche Festnahmen. Wenn auch die Zahl der Protestierenden wohl kleiner geworden ist, zeigte der 15. Dezember, dass die Bewegung trotz einiger Zugeständnisse des Präsidenten und dem verstärkten Druck nach dem islamistischen Anschlag von Straßburg, die Proteste einzustellen, handlungsfähig geblieben ist.

Zwischen Weihnachten und Neujahr dürften die Aktivitäten zurückgehen. Es wird sich zeigen, ob es im neuen Jahr eine Fortsetzung geben wird. Selbst wenn ihr das nicht gelingt, können die Gelben Westen für sich reklamieren, dass sie erstmals den selbstsicher auftretenden Macron zu Zugeständnissen gezwungen haben.

Die Anhebung des Mindestlohns und das Einfrieren von Steuern, die die Allgemeinheit betreffen, sind Reformen, die noch dem entsprechen, was bis in die 1970er Jahre unter dem Begriff verstanden wurde: Verbesserungen und nicht weitere Verschlechterungen der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung.

Dass Frankreich damit den EU-Stabilitätspakt verletzt, zeigt nebenbei, wie die Politiker die EU zu einem neoliberalen Käfig ausgebaut haben, der nur durch Massenaktionen außerhalb der Parlamente aufgebrochen werden kann. Macron, der mit dem Vorsatz angetreten ist, sein wirtschaftsliberales Programm ohne Abstriche durchzusetzen, der die gewerkschaftlichen Proteste ebenso ignorierte wie die Aktivitäten der Schüler und Studierenden, musste vor der Wut der Gelben Westen einen Rückzieher machen.

Riot – wie aus dem Bilderbuch

Inzwischen haben sich auch Theoretiker der parteiunabhängigen Linken zu Wort gemeldet und die Bewegung der Gelben Westen verteidigt. Dazu gehört auch der US-Soziologe Joshua Clover, der bekannt wurde, als er die Riots zur Protestform der Zukunft [1] erklärte [2], die nach dem von ihm diagnostizierte Ende der fordistischen Produktionsweise, die Streiks ablösen.

Durch die Gelben Westen sieht sich Clover bestätigt [3]: Die Bewegung der Gilets Jaunes habe sich ihrer Gestalt nach geradezu idealtypisch herausgebildet. Sie sei ein Riot, wie wir ihn aus dem Lehrbuch kennen. Auch die anfängliche Konzentration der Gelben Westen auf die Benzinsteuer findet Clover plausibel:

Immer dann, wenn der Zugang zu Verkehrsmitteln unerlässlich für das Überleben wird, wird ihr Preis Teil des Subsistenzpakets und damit zum Schauplatz für Auseinandersetzungen. Das Hauptaugenmerk lag bisher unmissverständlich auf den „Verkehrskreiselprotesten“ [4], wie sie einer der an diesen Straßenblockaden Beteiligten außerhalb von Toulouse bezeichnete. Die Protestierenden versammeln sich dort, um den Verkehr zu blockieren. Anderswo attackieren sie Mautstationen oder Autohersteller – all die physischen Verkörperungen der Zirkulation also.

Joshua Clover

Er betont aber, dass die Proteste nicht auf einen Kampf um die Verkehrsmittel reduziert werden können.

Jedoch verschleiert der alleinige Fokus auf die Verkehrsmittel, dass es sich bei einem Riot um einen „Zirkulationskampf“ in einem weitaus tiefergehenden Sinn handelt. Im Zuge des Endes des Wachstums des produzierendem Gewerbes im überentwickelten Westen offenbart das Aufkommen des Riots als vorherrschender Zirkulationskampf, die Schwäche der traditionellen ArbeiterInnenbewegung, sowie die Restrukturierung der Klassenverhältnisse und des Kapitals auf nationaler und internationaler Ebene.

Joshua Clover

Dem würden auch viele französische Gewerkschafter zustimmen. Anders als unter Hollande oder seinen Vorgängerpräsidenten ist es ihnen unter Macron nicht gelungen, erfolgreiche Abwehrkämpfe zu führen. Ein Grund liegt in der Vereinzelung im Arbeitsleben und der Schwierigkeiten, sich dort zu organisieren. Die Gelben Westen haben nun von Macron die Zugeständnisse erzwungen, die den gewerkschaftlichen Kämpfen nicht gelungen sind.

Aufruf zu täglichen Vollversammlungen

Auch in Frankreich haben antagonistische Linke schon längst Impulse in die Bewegung getragen. Genannt sei hier der Aufruf der Gelben Westen von Commercy zur Bildung von Volksversammlungen [5]. Dort heißt es:

Hier in Commercy an der Maas organisierten wir uns von Anfang an mit täglichen Volksversammlungen, in denen jeder und jede gleichberechtigt teilnimmt. Wir haben Blockaden in der Stadt, vor Tankstellen und auf Landstraßen organisiert. Inmitten einer Menschenmenge haben wir eine Hütte auf dem zentralen Platz errichtet. Wir finden uns hier tagtäglich ein, um uns zu organisieren, über kommende Aktionen zu entscheiden, mit Leuten zu diskutieren und diejenigen aufzunehmen, die sich der Bewegung anschließen. Wir organisieren auch „Soli-Küchen“, um schöne Momente zusammen zu erleben und damit zu beginnen, uns kennen zu lernen. Und das alles auf der Grundlage von Gleichheit.

Aus dem Aufruf der Gelben Westen von Commercy

Als größte Gefahr für die Bewegung wird dort gesehen, wenn sich die Gelben Westen darauf einlassen, Sprecher zu benennen, die für die Regierung dann Ansprechpartner werden sollen. Erfahrungsgemäß beginnt so eine Kooptierung von Bewegungen. Davor warnen die Gelben Westen von Commercy:

Aber nun schlagen uns die Regierung und gewisse Fraktionen der Bewegung vor, Repräsentant*innen für jede Region zu ernennen! Soll heißen, Leute, die dann die einzigen „Ansprechpartner*innen“ der Behörden wären und die unsere Diversität verschwinden lassen würden.

Aber wir wollen keine „Repräsentant*innen“, die zwangsläufig damit enden, an unserer Stelle zu sprechen!

Aus dem Aufruf der Gelben Westen von Commercy

Der gekommene Aufstand?

Damit bewegen sich diese Gelben Westen theoretisch auf der Ebene des Unsichtbaren Komitees, das sich mit seinem Text „Der kommende Aufstand“ [6] kurzzeitig in die Herzen des bürgerlichen Feuilletons geschrieben hat. Sie lehnten eine Repräsentanz strikt ab und sahen es als eine Stärke der Bewegung, wenn sie keine konstruktiven Forderungen stellt.

Auch weigerte sich das Unsichtbare Komitee als Referenzrahmen zur Beurteilung von Bewegungen das Links-Rechts-Schema zu nehmen, das schließlich mit seinem Entstehungsort, dem bürgerlichen Parlament, untrennbar verbunden ist. Obwohl sicherlich kaum jemand von den Initiatoren der Gelben Westen die Texte des Unsichtbaren Komitees genauer studiert haben dürfte, kann doch deren Bewegung auch als Bestätigung der Thesen dieser anarchistischen Tendenz dienen. Auch wenn die Bewegung ihren Zenit überschritten haben sollte, wird sich dieser Erfolg einprägen und könnte Schule machen. Da Macron von einer losen Koalition aus Grünen, Liberalen, Rechtssozialdemokraten und Konservativen zum europäischen Erfolgsmodell gegen die Ultrarechte aufgebaut werden sollte, ist der Protest auch eine Niederlage dieser Kapitalfraktion.

Sie und ihr nahestehende Medien haben natürlich ein Interesse daran, die Bewegung der Gelben Westen als von rechts gesteuert oder zumindest als Querfront darzustellen. Auch unter Reformisten gab es da viel Streit, beispielsweise in der Linkspartei [7].

Doch mittlerweile scheint der Dissens durch eine Erklärung des Parteivorstands zumindest nach Außen beigelegt und die Linke unterstützt den Protest in Frankreich [8]. Auch der Co-Vorsitzende Bernd Riexinger sieht ihn als Ermunterung für Proteste auch in Deutschland [9]. Dabei sieht er keinen Widerspruch zu seiner anfangs kritischen Haltung:

Zunächst hatten Sie sich skeptisch gezeigt?

Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich volles Verständnis habe für den Protest. Zu Beginn versuchten die Rechten den Protest zu vereinnahmen. Das ist ihnen aber nicht gelungen, weil Schüler, Studenten, linke Parteien und Gewerkschaften reingegangen sind – so konnte die Bewegung nicht von rechts übernommen werden.

Bernd Riexinger, Süddeutsche Zeitung

Mit Weißer Weste in die Niederlage?

Starke Kritik übt ein Redakteur des außerparlamentarischen Lower Class Magazin [10] an den linken Bedenkenträgern gegenüber der Bewegung der Gelben Westen [11].

Eigentlich – so könnte man meinen – ein fixer Bezugspunkt für innereuropäische, linke Solidarität. Und vor wenigen Jahren hätten wir, wie bei den Krisenprotesten in Griechenland oder Spanien, sicher noch linke Soli-Demos in Berlin gesehen – wie klein und wirkungslos auch immer. Doch das Koordinatensystem vor allem der liberalen Linken in Deutschland hat sich verschoben.

Aus dem Gefühl der eigenen Ohnmacht folgt die Angst vor Veränderung. Man traut sich nichts zu, also hängt man an der Illusion, der bürgerliche Staat möge wenigstens die dünne zivilisatorische Eisdecke nicht brechen lassen, die einem veganes Essen in der Uni-Mensa oder den Job als Redenschreiber im Bundestag ermöglicht. Und weil man ohnehin gewohnt ist, Bewegungen in anderen Ländern als Projektionsfläche für die eigene Lage zu nutzen, wird die Rebellion des französischen Volkes eilig zur Bedrohung von rechts umgeschrieben.

„Furchtbare Szenen der Gewalt“, kommentiert ein selbsternannter „Antifa“-Account auf Twitter Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Polizei, und fügt die Hashtags „Nazis, Patrioten, AfD“ hinzu. „Wer sich solche Zustände für Deutschland wünscht, ist einfach nur krank“, schimpfen die um Deutschlands Sicherheit bemühten „Antifas“. Massenhaft ist von einer angeblichen „Querfront“ die Rede. Linkspartei-Chef Bernd Riexinger schlägt in dieselbe Kerbe: „Bedenklich“, sei das ganze. Und: „In Deutschland wäre eine solche Verbrüderung linker und rechter Gesinnung nicht denkbar.“

Peter Schaber, Lower Class Magazine

Diese Kritik lässt aber die durchaus differenzierte Betrachtungsweisen der Ereignisse in Frankreich außer Acht, wie sie beispielsweise der Frankreich-Korrespondent Bernard Schmid in verschiedenen linken Medien [12] wie auch bei Telepolis [13], regelmäßig liefert.

Er verschweigt die rechte Präsenz bei den Gelben Westen nicht, stellt aber auch die anderen Spektren und ihren Einfluss auf die Bewegung ausführlich dar. Zudem zeigt das Beispiel Brasilien, dass eine Bewegung um Verkehrsmittel, die Clover auch anführt, später zur Schwungmasse für eine Rechtsentwicklung in der Gesellschaft werden kann und mit zum Wahlsieg des faschistischen Präsidenten beitrug. Dass ein Teil der Gelben Westen eine Machtübernahme eines von Macron entlassenen rechten Militärs favorisiert, zeigt, dass auch in Frankreich diese Bewegung eine weitere Rechtsverschiebung [14] auslösen könnte.

Fehlende linke Theorie und Organisation

Da müsste sich einer Linken, die sich positiv auf die Gelben Westen bezieht, Probleme der Theorie und der Organisation stellen. Theorie als eine eigenständige Praxis war ein zentraler Bestandteil des französischen marxistischen Philosophen Louis Althusser [15], dessen 100ter Geburtstag [16] in diesem Jahr fast unbemerkt [17] vorüberging.

Das zweite Problem ist eine Organisation, in der Menschen, die durch Bewegungen wie die Gelbwesten politisiert wurden, aktiv werden können, wenn die Flaute eingesetzt hat. Vor mehr als 100 Jahren konnten die Bolschewiki als linker Flügel der Arbeiterbewegung in Russland Erfolg haben, weil sie damals eine Theorie hatten, die Massen verstanden haben, und eine Organisation, die Erfolg versprach. Unter der Parole „Land und Frieden“ sprachen sie die Bauern an, die das Land der Großgrundbesitzer schon längst besetzt hatten, und die Millionen Soldaten, die sich fragten, wofür sie im 1. Weltkrieg gekämpft haben und gestorben sind.

Eine Theorie und eine Organisation werden der Linken nicht in den Schoss fallen. Doch sie müsste sich auf die intensive Suche danach machen. Nur dann kann sie mit dazu beitragen, dass Bewegungen wie die Gelben Westen nicht zur Schwungmasse der Rechten werden.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4252183
https://www.heise.de/tp/features/Gelbe-Westen-Protestform-des-21-Jahrhunderts-4252183.html

Links in diesem Artikel:
[1] https://non.copyriot.com/joshua-clovers-riot-strike-riot-theorie-und-praxis-der-sozialen-aktion
[2] https://www.versobooks.com/books/2084-riot-strike-riot
[3] https://non.copyriot.com/die-verkehrskreisel-riots/?cn-reloaded=1
[4] https://www.theguardian.com/world/2018/dec/07/macrons-arrogance-unites-us-on-the-barricades-with-frances-gilets-jaunes
[5] http://www.trend.infopartisan.net/trd1218/t321218.html
[6] https://edition-nautilus.de/programm/jetzt/
[7] https://www.heise.de/tp/features/Gelbe-Westen-Occuppy-2-0-4243355.html
[8] https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=1026051144246868&id=151260125059312&__tn__=%2As-R
[9] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.linkspartei-chef-zu-gelbwesten-grosse-proteste-bei-uns-sind-moeglich.480a7850-742b-465f-b227-6e70a7e4dfc1.html
[10] http://lowerclassmag.com/
[11] http://lowerclassmag.com/2018/12/gelbwesten-gilets-jaunes/
[12] http://www.trend.infopartisan.net/trd1218/t241218.html
[13] https://www.heise.de/tp/features/Gelbe-Westen-Wie-mit-dem-Zorn-umgehen-4244395.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Umfragen-zu-Zeiten-der-Gelben-Westen-Le-Pens-Partei-liegt-vorne-4250308.html
[15] http://www.agpolitischetheorie.de/wordpress/louis-althusser-ideologie-und-ideologische-staatsapparate/
[16] https://oe1.orf.at/artikel/651627
[17] https://jungle.world/artikel/2018/49/rigoroser-wahrheitsanspruch

Bewegung der Gelben Westen – keine emanzipatorische Perspektive?

Wenn dann die Ruhe in Macrons Hinterland gestört wird, dann muss das keine schlechte Nachricht sein

Kann sich die Bewegung der Gelben Westen in Frankreich ausbreiten und womöglich noch darüber hinaus? Diese Frage stellt sich, nachdem in Frankreich am letzten Wochenende Zigtausende auf die Straßen gegangen sind und den Autoverkehr blockiert haben. Schließlich ist es ja nicht das erste Mal, dass von Frankreich eine soziale Bewegung ausgeht, die dann auch andere Länder übergreift, allerdings meistens nur als Imitation und in Schwundform.

Erinnert sich noch jemand an die „Nuit debout“-Proteste, die im Frühjahr 2016 kurzzeitig eine neue Oppositionsbewegung [1] wurde, die auf Interesse in den Nachbarländern wie Deutschland stieß? Die Bewegung bekam erst eine soziale Dynamik, als auch Lohnabhängige streikten und Schüler und Studierende auf die Straße gingen. Kann die Bewegung der Gelben Westen eine solche Dynamik auslösen? Bernard Schmid attestiert der Bewegung eine soziale Dimension, aber keine solidarische Perspektive [2].

Kämpfe gegen einen Kapitalismus mit grünen Anstrich

Schmid begründet seine Einschätzung so: „Konsensbildend bei den aktuellen Protestlern wirkt jedoch just eine Kritik an einem einzeln herausgegriffenen Aspekt auf der Ausgabenseite, nämlich der geplanten Erhöhung von Steuern auf Kraftfahrstoff. Letztere soll schrittweise von 2019 bis 2023 stattfinden. Sie wird Autosprit verteuern und soll Diesel, das vormals in Frankreich erheblich günstiger war als Benzin – auch, weil es lange Zeit durch den Gesetzgeber begünstigt wurde, Dieselautos zu fahren – genauso teuer werden.“

Nun könnte man argumentieren, dass es sich hier durchaus um eine Art von Kämpfen um Mobilität und um die Verteilung der Energie geht, die in der nächsten Zeit zunehmen könnten. Denn die alte kapitalistische Botschaft, die Armen sollen den Gürtel enger schnallen, wird heute mit grünen und ökologischen Argumenten vorangetrieben.

So ist auch in Deutschland heute die energetische Modernisierung ein Schlüssel zur Schröpfung von Mieterinnen und Mietern, die ökologischen Aspekte sind hingegen nicht bewiesen [3]. Daher werden sich Subalternen auch gegen diese neue sich im Gewand des Okologismus kleidenden Formen der Ausbeutung wehren.

Diese Kämpfe sind durchaus legitim. Sie richten sich gegen Macron, der in liberalen und in Deutschland auch in grünen Kreisen seit seiner Kandidatur als Hoffnungsträger des angeblich aufgeklärten Europas gefeiert wird. Mit dem absehbaren Ende der Ära Merkel dürfte Macron noch mehr in die Rolle des liberalen Helden rücken, der angeblich das totale Gegenteil von Putin, Trump und Erdogan sein soll.

Dass die reale Politik von Macron wenig mit diesen Heroisierungen und Mythen zu tun hat, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Wenn dann die Ruhe in Macrons Hinterland gestört wird, muss das keine schlechte Nachricht sein. Die Menschen fallen eben nicht auf die Propaganda rein von Macron als Helden der liberalen Welt, hinter dem sich jetzt alle Wohlmeinenden scharren sollen.

Die Weigerung, zu zahlen, kann Proteste befördern

Bernard Schmid monierte, dass die zentrale Protestbotschaft der „Gelben Westen“ lautet, „Wir wollen nicht mehr zahlen.“ Es ist auch durchaus nicht neu, dass Protestbewegungen sich um die Parole gruppieren, dass es keine weiteren Steuererhöhungen mehr geben soll. Solche Kämpfe finden besonders häufig in Ländern des globalen Südens statt.

Aber auch in Deutschland und in anderen EU-Ländern gab es in den Jahren 2009 bis 2012 öfter Proteste unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ [4], die sich ebenfalls gegen den Versuch wendeten, Krisenlasten auf die Mehrheit der Bevölkerung abzuwälzen. Könnten die Proteste der „Gelben Westen“ nicht auch in dieser Traditionslinie stehen?

Wie diffuse Proteste in Brasilien zur Faschisierung beitrugen

Doch Schmid hat Recht, wenn er darauf verweist, dass die Proteste auch von rechten Kreisen ausgenutzt werden können. Man sollte nur auf den Proteststurm blicken, der im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien stattfand [5]. Es ging um den Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen, gegen Korruption, gegen eine angebliche Selbstbedienungsmentalität in der brasilianischen Gesellschaft.

Bald zeigte sich, dass sich aus den Protesten der Jahre 2013 und 2014 in Brasilien eine rechte Massenbewegung entwickelte, die den Wahlsieg des Faschisten Bolsonaro möglich machte. Es ist nicht das erst Mal in der Geschichte, dass Kämpfe, die nicht etwa die Abschaffung von Macht, Unterdrückung und Ausbeutung, sondern den Kampf gegen Korruption in den Mittelpunkt stellen, von rechts vereinnahmt werden können.

Denn beim Kampf gegen die Korruption steht immer das Idealbild eines störungsfreien Kapitalismus im Mittelpunkt, den es aber nicht geben kann. So müssen dann Sündenböcke dafür gefunden werden, das können Linke, sexuelle Minderheiten oder Juden sein, oft alle diese Gruppen zusammen.

Wie emanzipatorisch war eigentlich die Occupy-Bewegung?

Erinnert sich noch jemand an die Occupy-Bewegung? Mitte Oktober 2011 wurden unter dem Motto „Besetzt die Wall Street“ im New Yorker Zuccotti-Park Zelte errichtet. Viele Linke erhofften sich hier neue transnationale Protestzyklen.

Doch jetzt hat mit Micah White [6] einer der Occupy-Initiatoren unter dem Titel Die Zukunft der Rebellion [7] ein Buch veröffentlicht, das alle linken Kritiker bestätigt, die warnten, dass der Protest auch kippen könnte.

Nach dem Ende von Occupy sieht White die Hoffnung im Spirituellen. „Die ansteckende kollektive Erleuchtung ist die einzige Kraft, die ein politisches Wunder bewirkt“, predigt White wie ein esoterischer Guru. Wer einmal ein Occupy-Camp besucht hat, konnte feststellen, dass dort viele mit White davon überzeugt waren, dass „Revolution ein übernatürlicher Prozess“ ist.

Wenn White schließlich den Aktivisten von morgen empfiehlt „den strikten Säkularismus und Materialismus aufzugeben“ und sich Mythen und Riten zuzuwenden, kann man nur froh sein, dass die Occupy-Bewegung so schnell vorbei war.

Das Problem aber bleibt, dass Bewegungen ohne eine gesamtgesellschaftliche Utopie sehr schnell dazu verdammt sind, in reaktionäres Fahrwasser zu steuern. Das aber ist das eigentliche Problem, nicht die diffusen Bewegugen, sondern dass Fehlen einer emanzipatorischen Utopie, für des sich zu kämpfen und zu leben lohnt – obwohl oder gerade weil sie nicht von Gewerkschaften und Parteien organisiert ist.

Peter Nowak

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http://www.heise.de/-4225822
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Frankreich-Nuit-debout-Proteste-eine-neue-Opposition-3224699.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Strassenblockaden-in-Frankreich-Keine-solidarische-Perspektive-4224448.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Energetische-Sanierung-zunehmend-in-der-Kritik-3798624.html
[4] https://interventionistische-linke.org/projekt/wir-zahlen-nicht-fuer-eure-krise
[5] https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/1419854/200000-Demonstranten_Proteststurm-fegt-ueber-Brasilien?_vl_backlink=/home/index.do
[6] https://www.micahmwhite.com/deutsche
[7] http://www.aufbau-verlag.de/index.php/die-zukunft-der-rebellion.html

Migration – Zeichen von Freiheit oder zu bekämpfendes Übel?

Es sollten auch die Stimmen der Menschen aus dem globalen Süden und der europäischen Peripherie gehört werden, die sich kritisch zur Migration äußern und auf die Folgen für die Betroffenen und ihre Herkunftsländer hinweisen

„Es ist nicht Europa, das uns ein Leben in Würde schuldet, sondern mein Land.“ Dieser Satz steht über einem Essay von Saikou Suwareh Jabai. Dort bringt der gambische Journalist einige Argumente in die Debatte um Migration ein, die sich manche der „Refuge Welcome“-Bewegung doch einmal durch den Kopf gehen lassen sollten.

Er schildert dort die ganz individuellen Folgen der Migration am Beispiel seiner beiden Brüder:

„Migration – Zeichen von Freiheit oder zu bekämpfendes Übel?“ weiterlesen