Grüne und Linke und die Migration

Sowohl Kretschmann als auch Wagenknecht äußern sich migrationskritisch, aber ihre Parteien reagieren unterschiedlich

Gegen Lob kann man sich nicht wehren, war auf dem Parteitag der Grünen die etwas verdruckste Reaktion auf ein Interview des aussichtsreichen Bewerbers auf den CDU-Vorsitz Friedrich Merz. Die Union werde auch unter seinen Vorsitz offen für Bündnisse mit der liberalen Partei sein, hatte er erklärt [1]. Das ist einerseits nicht überraschend, denn warum sollte sich die Union selber in den Machtoptionen einschränken?

Schließlich haben die Grünen in Hessen und Baden-Württemberg gezeigt, dass sie auch mit explizit konservativ ausgerichteten CDU-Landesverbänden gut regieren können. Deshalb beschreibt Merz nur die Realität, wenn er die Grünen als „sehr bürgerlich, sehr offen, sehr liberal und sicherlich auch partnerfähig“ beschreibt.

Dass er vor mehr als 15 Jahren noch eine viel kritischere Haltung zu den Grünen hatte, ist auch nicht verwunderlich. Schließlich wurden die Grünen damals als enger Bündnispartner der SPD gesehen und daher auch von der Union heftig angegriffen.

Die Mehrheitsverhältnisse heute würden solche Bündnisse heute gar nicht mehr hergeben. Und selbst, wo es wie in Hessen eine Mehrheit für ein Bündnis zwischen SPD, Grünen und LINKEN rechnerische Mehrheiten gäbe, entscheiden sich die Grünen für ein Bündnis mit der Union. Da dürfte es sie einerseits beruhigen, dass auch Merz inzwischen die Grünen für bündnisfähig hält.

Andererseits müssen sie auf die nötige Distanz achten. Wie Johannes Agnoli bereits vor 50 Jahren in seiner wichtigen Schrift „Die Transformation der Demokratie“ ausführte, gibt es in der bürgerlichen Demokratie unter verschiedenen Namen eine Einheitspartei für Markt, Kapitalismus und Nato, doch sie muss unterschiedliche Zielgruppen bedienen.

Daher muss im Wahlkampf die Differenz gepflegt werden. Und mit Merz fremdeln noch viele grüne Delegierte, dem sie schon seine Distanz zur grünen Königin der Herzen Angela Merkel übelnehmen. Auch seine Wirtschaftsnähe soll manche Grünen gegen Merz einnehmen, doch das sind keine inhaltlichen Probleme.

Merz klang schon vor 18 Jahren wie die AfD

Auffällig ist, dass die Grünen nicht Merz als Verfechter der deutschen Leitkultur kritisierten, der bereits vor 18 Jahren Forderungen stellte, die später die AfD übernahm, wie BILD jetzt noch einmal positiv hervorhob [2]. Sie ist daher auch der Meinung, dass die AfD mit Merz an maßgeblicher Stelle nie so groß geworden wäre.

Dass Merz damals wie die AfD-light tönte, zeigt dieser Auszug einer Rede, die er vor 18 Jahren vor der CDU-Neukölln in Berlin gehalten hat:

Wir haben Probleme in Deutschland mit Ausländern. (…) Probleme, die mittlerweile die Menschen zutiefst beunruhigen und bewegen: mit Kriminalität, mit sehr hoher Ausländerarbeitslosigkeit, mit ungelösten sozialen Konfliktstoffen auch mit der übrigen Wohnbevölkerung.

Friedrich Merz

Rechte fürchten [3] schon, dass Merz als Unionsvorsitzender der AfD schaden könnte. Doch es ist wohl kein Zufall, dass sich die Grünen, die sich immer sehr einwandererfreundlich geben, in dieser Frage mit Merz nicht anlegen wollen. Schließlich konnte parallel zum Parteitag der einzige grüne Ministerpräsident noch mal deutlich machen, dass Parteitagslyrik das Eine, Realpolitik das Andere ist.

In einem Interview [4] mit zwei Regionalzeitungen aus Baden-Württemberg erklärte [5] Winfried Kretschmann: „Salopp gesagt ist das Gefährlichste, was die menschliche Evolution hervorgebracht hat, junge Männerhorden. Solche testosterongesteuerte Gruppen können immer Böses anrichten. Die Vergewaltigung in Freiburg ist ein schlimmes Beispiel.“

Als Konsequenz schlug er vor, einige dieser jungen Männer von den großen Städten fernzuhalten und „in die Pampa zu schicken“. Die Vorsitzende der Grünen Annelena Baerbock sagte nur, dass man über die Formulierung streiten kann, in der Sache aber Kretschmann urgrüne Forderungen nach dezentraler Unterbringung von Migranten vertrete.

Nun ist die These von der toxischen Männlichkeit nicht unplausibel und auch die Kritik, dass die Art der Unterbringung dazu beitragen kann. Doch wäre ein Amtsträger einer anderen Partei mit einem ähnlichen Statement an die Öffentlichkeit getreten, wäre die Moralfraktion der Grünen sofort in Protestgeschrei ausgebrochen.

Als der der Linkspartei angehörende Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder René Wilke als Reaktion auf einen Überfall auf einen Jugendclub in der Stadt Ausweisungen von straffälligen Migranten vorschlug [6], gehörten die dortigen Grünen zu seinen Kritikern.

Wagenknecht vor dem Sturz?

Auch unter den Linken gab es vereinzelt Kritiker von Wilke. Doch sein Vorschlag sorgte längst nicht für eine solche Erregung in der Partei wie die migrationskritische Fraktionsvorsitzende der Linken Sahra Wagenknecht. Mehrere Medien melden [7] bereits, dass sie ihr Amt bald verlieren könnte.

Ob es dazu kommt oder ob Wagenknecht selber zurücktritt, ist ebenso offen wie die Folgen, falls Wagenknecht den Fraktionsvorsitz verliert oder abgibt. Schließlich ist die machtbewusste Politikerin solche Zurückweisungen nicht gewöhnt.

Manche Anhänger der Bewegung Aufstehen denken schon lange über eine eigenständige Kandidatur [8] nach. Das fürchten wiederum die Wagenknecht-Kritiker bei den Linken. Das ist auch der Grund, warum es bei Teilen der Linken eine solche Distanz zur Aufstehen-Bewegung gibt. Dass dann die Hauptprotagonistin gleichzeitig Fraktionsvorsitzende ist, macht schon das Konfliktpotential deutlich.

Wagenknecht hat auch keine Schritte getan, um den Konflikt zu deeskalieren. Das zeigte der letzte Tweet, in dem sie ihre Ablehnung des UN-Migrationspaktes mit einem Artikel des Handelsblatt-Journalisten Norbert Häring begründet, der schon lange als Wagenknecht-Anhänger [9] auftritt und der sich auch von KenFM interviewen [10] lässt.

Dass sie damit ihren Kritikern neue Argumente liefert, muss ihr bewusst sein. Da bleibt dann keine Zeit mehr, über Sinn und Unsinn des UN-Migrationspakts zu diskutieren. Dessen primäres Ziel ist die regulierte Einwanderung nach ökonomischen Aspekten.

Es gäbe also genügend Grund für linke Kritik auch an den UN-Migrationspakt. Vor 20 Jahren gab es noch eine stichhaltige linke Kritik am Konzept der multikulturellen Gesellschaft als einer Form des Rassismus. Heute scheint es keine fundierte Position zu geben, die den UN-Migrationspakt mit genau dem gleichen Anspruch kritisiert.

Migrationskritik im Kleingedruckten

Am Parteitag der Grünen gab es kurz Diskussionen über einen Passus im Leitantrag zur Asylpolitik, in dem festgestellt wurde, dass man nicht alle Migranten, die kommen wollen, aufnehmen könne. Doch dabei ging es nur darum, wo dieses Bekenntnis stehen soll.

Es wurde dann in den hinteren Teil des Leitantrags verbannt [11]. Der Streit war schnell beigelegt. Die Linke kann da von den Grünen noch lernen, wie man strittige Positionen im Kleingedruckten versenkt. Und Sahra Wagenknecht hätte für weniger Aufregung gesorgt, wenn sie statt des Artikels von Norbert Häring genau diese Stelle des grünen Leitantrags zur Untermauerung ihrer Position verbreitet hätte.

Peter Nowak

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/kandidat-cdu-vorsitz-friedrich-merz-gruene-partner
[2] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/er-warnte-vor-migrationsproblem-haette-es-mit-merz-die-afd-nie-gegeben-58247998.bild.html
[3] http://www.pi-news.net/2018/11/fegt-friedrich-merz-die-afd-aus-dem-reichstag/
[4] https://www.sueddeutsche.de/panorama/asylpolitik-pampa-kretschmann-1.4205477
[5] https://www.morgenweb.de/mannheimer-morgen_artikel,-laender-junge-maennerhorden-trennen-_arid,1349052.html
[6] https://www.deutschlandfunk.de/rene-wilke-von-den-linken-oberbuergermeister-will.1773.de.html?dram:article_id=432531
[7] https://www.focus.de/politik/deutschland/damit-muss-schluss-sein-hinweise-auf-wagenknecht-sturz-als-fraktionsvorsitzende-verdichten-sich_id_9885691.html
[8] https://www.eulenspiegel.com/verlage/das-neue-berlin/titel/aufstehen-und-wohin-gehts.html
[9] http://norberthaering.de/de/27-german/news/691-selbskroenung-kipping?&format=pdf
[10] https://www.youtube.com/watch?v=owldI33Dy4o
[11] http://www.taz.de/!5549450/

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Reaktion von Norbert Häring:

http://norberthaering.de/de/27-german/news/1066-sargnagel

Nachtrag (13.11.) Auf Telepolis zeigt der berüchtigte Peter Nowak wozu haltungslinke Dialektik fähig ist. Er weist die Verantwortung für die Diskussionsverweigerung des Kipping-Lagers Wagenknecht zu, die zwar Recht habe, die aber dieses Lager mit Diskussionsaufforderungen unnötig provoziere. Unter der Überschrift „Grüne und Linke und die Migration“ heißt es bei ihm:

Kretschmann, der Mann, mit dem Grüne Staat machen

Eine Koalition mit der CDU? Nicht wenige Grüne, die heute noch mit der Union fremdeln, werden ihre Bedenken hintanstellen

Winfried Kretschmann hat schon im letzten Jahr bekundet, dass er jeden Tag für Kanzlerin Merkel betet. Aber auch ein bekennender Katholik weiß, dass wir heute nicht mehr im Feudalismus leben, wo ein solches Bekenntnis eines Landesvaters den Untertanen deutlich machte, dass sie sich treu und ohne Murren unter die Herrschaft beugen sollen. Daher hat jetzt noch einmal kundgetan, was alle wissen. Kretschmann sieht die Zeit reif, für eine schwarz-grüne Koalition unter Merkels Führung.

Er kenne niemand, der den Job besser als Merkel mache, betonte er. Das ist wirklich nicht überraschend. Kretschmann war schon Anhänger einem Bündnis mit der Union, als man deren Anhänger noch als Ökolibertäre bezeichnete. Kretschmanns Hofjournalist Peter Unfried, der immer in der Wochenend-Taz eine Eloge auf den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg verfasst, hat für ein schwarz-grünes Bündnis denn auch schon den Begriff „ökosozial“ geprägt.

Es macht sich natürlich gut für die „grüne Seele“, wenn eine Umweltvorsilbe dabei ist. Denn manche an der Grünen Basis fremdeln noch etwas mit dieser Koalition. Das hat aber kaum inhaltliche Gründe und kaum jemand schließt ein Bündnis mit der Union grundsätzlich aus, wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte.

Mit Robert Zion ist vielleicht der letzte Grüne aus der Partei ausgetreten, der noch ein überzeugter Anhänger eines Bündnisses mit der SPD und notfalls auch der Linken. Dafür hatte Zion den Ruf eines Linksgrünen.

Linksgrüne wurden vor zwei Jahrzehnten mit dem Begriff der Fundamentalisten belegt, weil sie keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen SPD und Union sehen wollten und daher für eine systemkritische Alternative eintraten. Es waren Namen wie Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann, Rainer Trampert, von denen heute kaum noch jemand für möglich hält, dass sie je bei den Grünen waren.

Doch nicht alle aus dem linken Flügel sind ausgetreten, nicht wenige sind auch heute Teil der Grünen. Angelika Beer, die noch 1990 in Frankfurt/Main auf einer „Nie wieder Deutschland-Demonstration“ in der ersten Reihe ging, änderte die Parole später etwas ab: „Nie wieder Nato-Krieg ohne uns.“

In diesem Zeiten waren die Ökolibertären noch eine kleine Minderheit bei den Grünen, die zwischen Fundis und Realos ein unbeachtetes Randdasein fristeten und von der FAZ manchmal erwähnt wurden, wenn sie ihrem Klientel in den späten 1980er Jahren zeigen wollten, dass es bei den Grünen auch noch welche gibt, mit denen man Staat machen und den Kapitalismus so modernisieren kann, dass die Profitmarge weitersteigt und mögliche Proteste marginal bleiben. Tatsächlich waren manche Ökolibertäre auch von ihrer Marginalität überzeugt und verließen die Partei.

Kretschmann aber blieb bei den Grünen und machte aus ihnen genau das, was die FAZ und die dahinter stehenden Köpfe so schützen: eben eine Partei, mit der man Staat machen und den Kapitalismus modernisieren kann. Sein Meisterstück lieferte Kretschmann als erster grüner Ministerpräsident, als er die Bewegung Stuttgart 21 beerdigte.

Gerade als diese Bewegung scheinbar am Zenit ihrer Macht war und es absehbar war, dass das Projekt kippen könnte, wenn die CDU weiterhin den Ministerpräsidenten stellen sollte, sorgte er dafür, dass es doch noch realisiert wurde. Die Union, in Baden-Württemberg seit Jahrzehnten ans Regieren gewöhnt, versteht bis heute nicht wie ihr geschah, als sie auf einmal auf der Oppositionsbank landete.

Schließlich sind auch die meisten Unionspolitiker keine besseren Staats- und Kapitalismustheoretiker als die Linken, und sie lassen dabei auch außer Acht, dass die Union ebenso wie alle Parteien an der Regierung, nicht aber an der Macht ist. Wenn aber das gesamtkapitalistische Interesse besser von einem Ministerpräsidenten von den Grünen durchgesetzt werden kann, als von einer diskreditierten Union, dann werden eben die Plätze zwischen Regierung und Opposition getauscht. So geht das Spiel namens bürgerliche Demokratie.

Kretschmann mag es vielleicht nicht theoretisch verstanden haben, aber er hat in seiner bisherigen Regierungszeit danach gehandelt und sich damit auch für weitere Posten im Staat qualifiziert. So hat er im Bundesrat stets dafür gesorgt, dass die Verschärfungen im Flüchtlingsrecht nicht blockiert werden. Trotzdem gelten die Grünen immer noch als migrantenfreundlich. Bei der Erbschaftssteuer kann der Kretschmann-Flügel bei den Grünen leicht mit dem Wirtschaftsflügel der Union kooperieren. Beide eint die Sorge, dass die Millionäre bloß nicht etwas abgeben müssen.

Immer mal wieder wird Kretschmann in seiner Partei kritisiert. Doch das kann er wegstecken. Nicht wenige Grüne, die heute noch mit der Union fremdeln, werden ihre Bedenken hintanstellen, wenn es funktioniert. So war es in Hessen, wo manche vor 20 Jahren noch gegen die besonders konservative Dregger-CDU auf den Barrikaden gestanden haben.

So wird es auch in anderen Bundesländern und letztlich auch im Bund sein, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Vor allem weil mittlerweile bei den Grünen eine Generation in den Führungsebenen Platz genommen hat, die nie auf den Barrikaden gekämpft hat, sondern neben ihren RCDS-Kommilitonen Gremien-Politik an der Universität gemacht haben. Bei ihnen fallen sogar die geschmäcklerisch-kulturellen Bedenken gegen den Kretschmann-Kurs weg.

Nur manchmal siegt der grüne Bauch über den Kopf. So gab es aus der Partei ablehnende Reaktionen als Bild-Chefredakteur Julian Reichelt begründete, warum er die Grünen wählen will. Eine derart direkte Unterstützung aus dem ehemaligen Reich des Bösen war manchen Grünen doch zu peinlich.

Dass Reichelt seine Wahlentscheidung mit der außenpolitischen Orientierung führender Grüner wie Cem Özdemir begründete, der in seiner Nato-Unterstützung und seiner Frontstellung gegen Russland durchaus die Union in den Schatten stellt, wollte dagegen niemand berücksichtigen. Sollte sich Özdemir bei der Wahl der Grünen-Spitze bei den nächsten Bundestagswahlen durchsetzen, wäre das ein direkter Erfolg für Kretschmann.

Aber auch alle anderen möglichen Kandidaten würden ihm nicht im Wege stehen. Sie würden aber etwas mehr konstruktive Kritik üben und dass könnte für sie den Ausschlag geben. Denn die Grünen als reine Kretschmann-Partei das würde der Linkspartei mehr Wahlchancen eröffnen und das will man ja verhindern. Zudem könnte jemand, der sich so an die Union ranschmeißt wie Kretschmann, bei den Umworbenen den Preis senken.

Wo kann man bei der Union noch auf Zugeständnisse hoffen, wenn sich jemand schon vor jeglicher Verhandlung bedingungslos ergibt? Kretschmann will mit seiner Initiative die Diskussion über einen von Grünen und Union akzeptierten Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl voranbringen. Damit soll der Weg für ein schwarz-grünes Bündnis geebnet werden.

Nun muss sich zeigen, ob seine Avancen in der Union auf Zustimmung stoßen. Denn mehr als in seiner Partei muss Kretschmann bei der Union mit Widerstand rechnen. Dort will man sich die Grünen als allerletzte Reserve warm halten, aber bevorzugt doch das Original von der FDP.

http://www.heise.de/tp/features/Kretschmann-der-Mann-mit-dem-Gruene-Staat-machen-3457076.html

Peter Nowak