Die SPD macht den Mindestlohn zum Knackpunkt für eine große Koalition und gibt dafür viele andere Forderungen auf
Die Politikvorschläge der deutschen Industrie und der ihn nahestehenden Politiker sind in der Berliner Innenstadt nicht zu übersehen. Auf großflächigen Plakaten propagiert die wirtschaftsliberale Initiative Soziale Marktwirtschaft das Projekt „Chance 2020“, das sich kurz und knapp in den Worten zusammen fassen lässt: länger und mehr arbeiten für den deutschen Standort. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist in dem Wunschzettel der Großindustrie an die zukünftige Bundesregierung nicht vorgesehen. Auch der Erfinder der Agenda 2010 und ehemalige SPD-Arbeitsminister Wolfgang Clement gehört zu den Unterstützern von Chance2020. Clement sitzt nicht mehr mit am Tisch bei den Beratungen zur großen Koalition. Er ist mittlerweile aus der SPD ausgetreten.
Aber seine Nachfolgerin im Amt der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wird sehr zum Missfallen vieler Ökologen bei den Koalitionsgesprächen dafür sorgen, dass die Kohleverstromung nicht aus der Mode kommt. Letzte Woche noch ist Kraft als mahnende Stimme gegen eine zu schnelle Festlegung der SPD auf eine große Koalition in der Öffentlichkeit aufgetreten. Mittlerweile ist sie dabei, die parteiinternen Kritiker auf die Linie einzuschwören, dass es zur großen Koalition keine Alternative gebe.
Tariflicher oder gesetzlicher Mindestlohn?
Nur einen Punkt scheint es noch zu geben, an dem das Projekt wenn nicht scheitern, so doch ins Stocken geraten kommen könnte. Die SPD hat sich in der Öffentlichkeit darauf festgelegt, einen Mindestlohn von 8.50 pro Stunde gesetzlich festzulegen. In der Union wiederum würde sich wohl eine Mehrheit mit einem Mindestlohn anfreunden, der von den Tarifparteien, also den Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden, ausgehandelt und dann vom Gesetzgeber übernommen würde.
Diese Regelung scheint vordergründig die gewerkschaftsfreundlichere Lösung zu sein. Die meisten DGB-Gewerkschaften hätten noch vor einem Jahrzehnt einen solchen tariflichen Mindestlohn favorisiert. Schließlich spielen sie dabei als Tarifpartner die Schlüsselrolle. Erst nachdem es mehr und mehr tarif- und gewerkschaftsfreie Zonen in vielen Wirtschaftsbereichen in Deutschland gibt und dort viele Beschäftigte von ihrer Lohnarbeit nicht mehr leben können, forderten die DGB-Gewerkschaften einen vom Gesetzgeber festgelegten Mindestlohn.
Wenn nun die Union einen tariflichen Mindestlohn in die Diskussion wirft, würde der Niedriglohn, von dem viele Menschen nicht leben können, gesetzlich bestätigt. Deswegen wehrt sich die SPD dagegen. Doch gleichzeitig wird die SPD auch die Schwierigkeiten erkennen, den wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland noch regulieren zu können.
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle geht davon aus, dass in Deutschland über fünf Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro brutto in der Stunde verdienen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gibt es unter den Kleinverdienern mit weniger als 8,50 Euro die Stunde ca. 40 Prozent Vollzeitkräfte.
In bestimmten Branchen und Regionen ist die Zahl der Niedrigverdiener besonders hoch. So arbeiten im Gastgewerbe im Osten zwei Drittel der Beschäftigten für einen Stundenlohn von unter 8,50 Euro. Die Land- und Forstwirtschaft, der Handel und die Zeitungszustellerdienste gehören ebenfalls zum Niedriglohnsektor. Selbst ein Stundenlohn von 3,50 Euro ist dort keine Seltenheit. .
Mindestlohn kein Allheilmittel
Jetzt warnen wirtschaftsnahe Ökonomen und Unternehmer vor Arbeitsplatzverlusten und dem Anwachsen von Leih- und Zeitarbeitsverhältnissen nach der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns von 8,50 Euro.
Allerdings wird dabei immer der Eindruck erweckt, dahinter stünde ein ökonomisches Grundgesetz. Dabei wird oft ausgeblendet, dass es der politischer Wille sämtlicher Bundesregierungen im letzten Jahrzehnt war, den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken. Das war der Grund für die Einführung der Hartz IV-Gesetze und die gesetzliche Förderung von Leih- und Zeitarbeit. Die SPD hat diese Politik forciert oder mitgetragen. Sollte sie einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen können, würde sie daher nur an einigen Symptomen ihrer eigenen Politik arbeiten. Die auch von der SPD gefordert und geförderte Leiharbeit könnte eine Lohnerhöhung schnell ausbremsen. Daher ist die Warnung berechtigt, in einem Mindestlohn ein Allheilmittel gegen prekäre Arbeitsverhältnisse zu sehen. Er könnte im besten Fall die Folgen der eigenen Politik etwas abmildern.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/155204
Peter Nowak
Links
[1]
http://www.insm.de/insm/kampagne/chance2020/printanzeigen.html
[2]
http://www.insm.de/insm/Presse/Pressemeldungen/Chance2020-das-marktwirtschaftliche-Reformpaket.html
[3]
http://www.welt.de/wirtschaft/article121033950/Mindestlohn-Debatte-gefaehrdet-Tarifautonomie.html
[4]
http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.428112.de/13-39.pdf
[5]
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2294248/
[6]
http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/zu-teuer-familienunternehmen-warnen-vor-mindestlohn/8972122.html