Hartz-IV-Sanktionen: Nahles will das soziale Profil der SPD schärfen

Bei der Rente versucht es Scholz – Kann etwas Sozialpolitik die SPD vor dem Schicksal einer 18-Prozent-Partei bewahren?

In den 1990er Jahren hatte der Politiker Freke Over in Berlin einen gewissen Bekanntheitsgrad. Der ehemalige Hausbesetzer hatte auf dem Ticket der damals noch sehr ostdeutschen PDS kandidiert[1] und viele haben sich gefragt, wie lange die Zusammenarbeit zwischen dem undogmatischen Westlinken und den Ostgenossen gut gehen würde.

Tatsächlich verabschiedete sich Over aus persönlichen Gründen bald aus der Großstadt in die Provinz und um ihn wurde es still. Nun sorgt er wieder für Aufmerksamkeit. Over hat gerade für die Linke einen Kooperationsvertrag seiner Partei mit der CDU und kleineren konservativen Parteien in Ostpriegnitz-Ruppin unterzeichnet[2].

Nun könnten Metropolenfreunde sagen, wen interessiert, was in Ostpriegnitz-Ruppin passiert? Doch das Bündnis hat schon deshalb für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt, weil erst vor einigen Tagen in der Union eine Debatte über Bündnisse mit den Linken geführt worden war. Da argumentierten die Befürworter solcher Kooperationen noch damit, dass sie notwendig sein könnten, um jenseits der AfD überhaupt noch Regierungen bilden zu können.

Doch in Ostpriegnitz-Ruppin hätte die Linke auch die Möglichkeit gehabt, mit der SPD zu koalieren. Ein SPD-Politiker hat sogar bei den Wahlen zum Landratsamt die meisten Stimmen erreicht, doch weil das notwenige Quorum nicht erfüllt worden war, lag die Wahl nun bei den Parteien des Kreistages.

Nicht mal mehr die Linke gibt der SPD automatisch den Vorzug

Da hat die Linke dem CDU-Kandidaten mit der Begründung den Vorzug gegeben, mit ihm sei – anders als mit der SPD – ein fester Koalitionsvertrag möglich gewesen. So ist das Bündnis in Ostpriegnitz auch eine neue Hiobsbotschaft für die SPD. Auch die Linke entscheidet sich nicht mehr automatisch für ein Bündnis mit ihr, selbst wenn das die Mehrheitsverhältnisse hergeben würden.

Wie stark der Einflussverlust der SPD geworden ist, lässt sich durch einen Rückblick um 15 Jahre ermessen. Damals zeigten weite Kreise der Mehrheitssozialdemokratie ihren linken Genossen noch die kalte Schulter und meinten, die Partei sei doch nur die SED unter neuem Namen und werde verschwinden.

Als dann die Linke entstand, war der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine ein zusätzlicher Grund, ein Bündnis abzulehnen. Und die Grünen galten lange Zeit als natürlicher Bündnispartner der SPD, die Stimmen für eine schwarz-grüne Koalition waren von Anfang an vorhanden, aber konnten sich lange nicht durchsetzen.

Nun wird man bei den Grünen kaum noch Stimmen finden, die für ein Bündnis mit der SPD aus Prinzip antreten. Selbst in Bayern bereiten sie sich auf eine Rolle als Juniorpartner der CSU vor. Dabei ist es gerade mal acht Jahre her, dass die jetzige bayerische grüne Spitzenkandidatin Katharina Schulze[3] mit ihrer Dekonstruktion des deutschen Mythos von den Trümmerfrauen[4] auch weite Teile der CSU-Basis gegen sich aufbrachte.

Heute würde sie mit den Nationalkonservativen eine Koalition eingehen. Schließlich ist die SPD in den Umfragen hinter der CSU, den Grünen und der AfD auf Platz 4 bei den bayerischen Landtagswahlen gelandet. Ihr droht also dort ein Ergebnis, das sie aus vielen ostdeutschen Landtagen schon kennt.

SPD und Union sind austauschbar

Da muss sie Glück haben, wenn sie noch jene 18%-Grenze erreicht, die die früh verstorbenen FDP-Politiker Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann für die Liberalen anstrebten. In Bundesländern wie Sachsen kann sie von einem solchen Ergebnis nur träumen. Mit Verlierern will man sich nicht gemeinsam sehen lassen und so argumentieren mittlerweile auch Teile der Linken wie vor einigen Jahren die Grünen.

Da SPD und Union in den meisten politischen Fragen austauschbar sind, gibt es keinen Grund, wenn man sich schon auf ein Bündnis mit der SPD einlässt, nicht auch mit der Union zu kooperieren. Damit bestätigt sich nur die Logik derer, die wie Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann etc. bei den Grünen generell gegen Regierungsbündnisse argumentierten.

Diese linke Strömung hatte allerdings die Partei schon vor mehr als 2 Jahrzehnten verlassen. Nur der Münsteraner Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler[5] ist noch der letzte Vertreter dieser Strömung bei den Grünen.

Wenn nun auch die Linke offen für SPD und Union ist, bestätigt sich einmal mehr die Analyse einer kapitalistischen Einheitspartei mit unterschiedlichen Namen, die der Politologe Johannes Agnoli[6] in seinem Buch Transformation der Demokratie[7] schon um 1968 diagnostizierte.

Doch für die SPD ist diese Entwicklung besonders desaströs. Unter Druck ist sie von der AfD, von der Linken und auch die Initiative „Aufstehen“ könnte noch die letzten Sozialdemokraten innerhalb der SPD aus der Partei vertreiben.

Sozialpolitik als Strafrecht?

Vor diesem Hintergrund haben in den letzten Wochen gleich zwei SPD-Spitzenpolitiker das soziale Profil ihrer Partei schärfen wollen. Zunächst hat sich die Parteivorsitzende Andrea Nahles dafür ausgesprochen, die Sanktionen bei jüngeren Hartz-IV-Beziehern[8] zu lockern.

Im Grunde waren die Bestimmungen so formuliert, dass es für jüngere Hartz-IV-Bezieher schwer war, nicht sanktioniert zu werden. Es gab genügend Fälle, wo Betroffene zu 100 Prozent sanktioniert wurden, und so gar keine finanziellen Leistungen mehr bekommen und häufig auch noch die Wohnung verlieren[9].

Viele der Betroffenen landen in der Wohnungs- oder Obdachlosigkeit und viele sehen dann auch keinen Grund mehr, überhaupt noch zum Jobcenter zu geben. Hier setzt auch die Argumentation von Nahles ein. „Die melden sich nie wieder im Jobcenter, um einen Ausbildungsplatz zu suchen. Ergebnis sind ungelernte junge Erwachsene, die wir nicht mehr erreichen“, begründet sie ihren Vorstoß zur Lockerung der Sanktionen.

So verlöre ja das Jobcenter seine Funktion im repressiven Staatsapparat. Während die Grünen den Vorstoß der SPD-Politiker als nicht weitgehend genug kritisierten[10], kam gleich die Retourkutsche der Konservativen aller Parteien, die fürchten, Nahles könnte mit ihrem Vorstoß, Hartz-IV etwas von seinem repressiven Charakter nehmen.

So wurde auch wieder deutlich, dass ein großer Teil der Medien und auch der Öffentlichkeit ganz offen Sozialpolitik als Teil des Strafrechts akzeptiert und es als Erfolg ansieht, wenn die Betroffenen gezwungen sind, Lohnarbeit unter den schlechtesten Bedingungen anzunehmen.

So heißt es in der konservativen Welt[11]: „‚Niemand sanktioniert gerne und auch die Jobcenter würden lieber ohne Sanktionen arbeiten‘, sagt Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung[12], das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. ‚Aber Auswertungen zeigen, dass die Sanktionen im gewünschten Sinne wirken, es also vermehrt Arbeitsaufnahmen gibt. Die Sanktionen für jüngere Hartz-IV-Bezieher einfach abzuschaffen, hätte also auch Nachteile.'“

Die Nachteile würden also dann entstehen, wenn Hartz-IV-Bezieher nicht mehr gezwungen wären, sich dem Kapital zu besonders schlechten Bedingungen zu verkaufen. Es wird weder von Nahles noch von den meisten ihrer Kritiker infrage stellt, dass das Sozialrecht als Strafrecht genutzt werden soll.

Nur über den Umfang und die Form der Sanktionen gehen die Meinungen auseinander. Deswegen lehnt auch die Nahles-SPD den Vorschlag der Linkspartei ab, die Sanktionen im Hartz IV-System generell abzuschaffen. Es dürfte der SPD mit dieser Andeutung eines Reförmchen kaum gelingen, sich wieder als soziale Kraft zu etablieren.

SPD – Die Rentnerpartei?

Auch der aktuelle Bundesminister Scholz[13] bürgt schon mit seiner politischen Vita[14] nach dem Ende seiner Juso-Zeit dafür, nie gegen Kapitalinteressen agiert zu haben. Wenn er jetzt für ein Rentenkonzept eintritt, dass stabile Renten auch noch in 20 oder 30 Jahren garantiert, will er seine Partei für die ältere Generation wieder wählbar zu machen.

Die Reaktionen auf seinen Vorstoß zeigen, dass er damit ins Schwarze getroffen hat. Ihm wird tatsächlich angekreidet, diese Frage nicht auf eine „überparteiliche Kommission“ vertagt zu haben, die sich der Frage widmen soll.

Hartz-IV lässt grüßen, auch diese Verarmungspolitik wurde von einer überparteilichen Kommission kreiert. Damit soll suggeriert werden, dass es hier nicht um unsere politische Konzepte mit den dahinter stehenden Interessen geht, sondern um scheinbar naturgegebene Sachzwänge, die nicht veränderbar sind und nicht hinterfragt werden sollen.

Konkret heißt das, ein Großteil der Bevölkerung soll Altersarmut als naturgegeben hinnehmen und sich mit Selbstvorsorge und Niedriglohnjobs bis ins hohe Alter behelfen. Das Kapital kalkuliert bereits damit. Eine Rente für Alle, von denen Menschen leben können, wäre für diese Interessen dysfunktional. Entsprechend harsch reagieren die Medien, die im Zweifel immer die Kapitalinteressen im Blick haben:

So benennt die Süddeutsche Zeitung[15] die Konsequenzen der Umsetzung der Scholz-Pläne:

Die Menschen müssten entweder sehr viel später in Rente gehen als jetzt; oder die Rentenbeiträge müssten drastisch angehoben werden, heißt, die Arbeit würde deutlich teurer; oder der Staat müsste seinen Zuschuss für die Rentenkassen massiv ausweiten, was bedeutet, die Steuern würden steigen. Da gerade die Sozialdemokraten sich gegen ein späteres Renteneintrittsalter wehren, kann Scholz eigentlich nur erheblich höhere Beiträge oder / und Steuern im Sinn haben. Darüber, wie der Minister und Spitzengenosse sein Vorhaben bezahlen möchte, lässt sich nur spekulieren. Mitten im Sommerloch via Wochenend-Interview mal eben so eine Forderung mit außerordentlich weitreichenden Folgen zu stellen, dafür hat es bei Scholz gereicht. Für Überlegungen dazu, wie seine Pläne finanziert werden könnten, offenbar nicht.

Damit macht der Sozialdemokrat es all jenen leicht, die die ebenso schwierige wie dringend notwendige Debatte über die Zukunft der Rente, über mehr Gerechtigkeit in der Rente und über den Kampf gegen Altersarmut nicht so recht führen möchten.

Süddeutsche Zeitung

Im Anschluss regt sich das liberale Blatt auch darüber auf, dass Scholz das Thema nicht der dafür vorgesehenen Kommission überlässt, also Altersarmut als kapitalistischen Sachzwang akzeptiert. Noch deutlicher wird die wirtschaftsfreundliche FAZ in einem Kommentar zum Scholz-Vorstoß:

Als Bundesfinanzminister muss er das Wohl des ganzen Landes m Blickhaben, nicht nur das der Rentnergeneration – auch wenn sie bald 25 Millionen Wähler stellen wird. Kein Politiker darf den Spielraum seiner Nachfolger so dramatisch einengen.

Kerstin Schwenn, Faz

Wenn es eine Rangliste über menschenfeindliche Kommentare gäbe, dann stünde Schwenns Text ganz oben. Hier wird ganz deutlich gesagt, anders als die Kapitalisten sind auch 25 Millionen Rentner nicht systemrelevant. Die sollen im Zweifel für sich selber sorgen. Wenn nicht, dann haben sie Pech gehabt.

Dass die wirtschaftsliberale Presse, die in letzter Zeit auch gerne mit emphatischen Floskeln aufwartete, so offen menschenfeindlich formuliert, ist ein Verdienst des Scholz-Vorstoßes. Dabei hat er sicher im Sinn, der SPD mit sozialen Themen wieder einige Wählerstimmen zu verschaffen.

Doch das wird kaum gelingen, denn weder die SPD im Allgemeinen noch Scholz im Konkreten wollen sich mit den gesellschaftlichen Kräften anlegen, die wie Kerstin Schwenn denken und handeln. Das will in der SPD niemand.

Sozialpolitik statt Minderheitenschelte

Ein weiterer positiver Nebeneffekt der zaghaften sozialen Profilierung der SPD besteht in der Diskursverschiebung. So wird deutlich, dass nicht das Eintreten für Minderheitenrechte die SPD zur 18%-Prozentpartei machen, sondern die Unterordnung unter die Standortinteressen des deutschen Kapitals. Der Publizist Johannes Simon hat diesen Zusammenhang in der Printausgabe des Freitag klar benannt:

Für die bessergestellten Milieus, die in der SPD und den liberalen Medien den Ton angeben, ist der Vorwurf an sich selbst natürlich viel angenehmer, sich zu sehr um Minderheitenrechte gekümmert zu haben, anstatt einzugestehen, dass man ohne mit der Wimper zu zucken das brutale Hartz IV-System, Leiharbeit, wachsende Kinderarmut und dergleichen unterstützt hat, nur weil man Angst um den Standort Deutschland und den eigenen Wohlstand hatte.

Johannes Simon, Wochenzeitung Freitag
Wenn die SPD tatsächlich wieder Sozialpolitik machen würde, müsste sie das anerkennen. Aber wer wird das ausgerechnet von der SPD erwarten?

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http://www.heise.de/-4144691
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Peter Nowak
Links in diesem Artikel:
[1] https://jungle.world/artikel/2010/45/die-aufarbeitung-beginnt-gerade-erst
[2] https://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1676012
[3] https://katharina-schulze.de/
[4] https://katharina-schulze.de/schriftliche-anfrage-zum-truemmerfrauen-denkmal-in-muenchen
[5] https://www.gruene-linke.de/tag/wilhelm-achelpohler/
[6] https://www.ca-ira.net/verlag/johannes-agnoli-gesammelte-werke
[7] http://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/agnoli06.html
[8] https://www.sozialberatung-essen.de/sanktionen/sanktionen-f%C3%BCr-unter-25-j%C3%A4hrige-im-sgb-ii/
[9] https://www.gegen-hartz.de/100-prozent-hartz-iv-total-sanktion-nach-4-jahren-aufgehoben
[10] https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2018-08/44606878-gruene-kritisieren-nahles-hartz-iv-vorstoss-003.htm
[11] https://www.welt.de/wirtschaft/article181245032/Keine-Sanktionen-fuer-Juengere-Kritik-an-Nahles-Hartz-IV-Idee.html
[12] https://www.iab.de/123/section.aspx/Mitarbeiter/56703
[13] https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/Bundeskabinett/OlafScholz/_node.html
[14] https://www.olafscholz.de/main/pages/index/p/61
[15] https://www.sueddeutsche.de/politik/rentenplaene-von-olaf-scholz-ein-baerendienst-fuer-die-spd-1.4097666

Könnte die Initiative „Aufstehen“ sogar Erfolg haben?

Die von Wagenknecht und Lafontaine unterstützte Initiative hat mit vielen ihrer Kritiker eines gemeinsam, sie ist zutiefst reformerisch und erfüllt nicht einmal da die linken Mindeststandards

Der FAZ-Kommentator Jasper von Altenbockum steht nun wahrlich nicht in Verdacht, der Linkspartei im Allgemeinen und Sahra Wagenknecht und ihrem Team[1] besonders nah verbunden zu sein. So qualifiziert er die von ihr lancierte Initiative „Aufstehen“ in einem Kommentar[2] auch als „einen Angriff auf den Liberalismus“.

Fortsetzung des Schulz-Hypes?

Doch gerade, weil er der Initiative so fernsteht, kommt er zu erstaunlichen Schlussfolgerungen über die Initiative:

Nur vorsichtig erinnert Andrea Nahles ihre Partei daran – aber schon Abgrenzungen gegenüber den Grünen oder der Satz „Wir können nicht alle aufnehmen“ verursachen Erdbeben in einer Partei, die mittlerweile von vier Seiten angegriffen wird: von der Merkel-CDU, von der AfD, von der Linkspartei und von den Grünen, die am wenigsten Grund haben, sich zu ändern.

Die einzigen Verbündeten, die Nahles hat, dürften die Gewerkschaften sein, denen es bitter aufstoßen muss, dass unter ihren Mitgliedern das AfD-Parteibuch überrepräsentiert ist. Auch deshalb versprechen sich Lafontaine und Wagenknecht von ihrer „Bewegung“ so großen Erfolg – sie wirkt wie die Fortsetzung der „Montagsdemonstrationen“ gegen die Agenda 2010, nur dieses Mal mit einem neuen Thema und anderen Mitteln.

So lange ist es aber noch gar nicht her, dass Deutschland von einer Bewegung erfasst wurde, die großen Erfolg versprach. Sie kam sogar aus der SPD – der Schulz-Zug. Er blieb aber auf halber Strecke stehen. Aus Angst vor der AfD? Wie auch immer: „Aufstehen“ könnte für die SPD bedeuten, dass er endgültig abgefahren ist.

Jasper von Altenbockum, FAZ

Nun ist der Verweis auf den „Schulz-Zug, der nie abgefahren ist“, sicher überflüssig. Doch Altenbockum hat erkannt, dass sich die Initiative „Aufstehen“ genau an das politische Milieu richtet, das sich von der SPD seit der Agenda 2010 nicht mehr vertreten fühlt, für welches die Linkspartei aber aus unterschiedlichen Gründen keine Wahlalternative ist.

Mit seinem Verweis auf die Montagsdemonstrationen im Vorfeld der Einführung der Agenda 2010 ist der FAZ-Kommentator auf der richtigen Spur.

Vorbild für „Aufstehen“ sind die Komitees für Gerechtigkeit

Er hätte sogar noch ein Jahrzehnt weiter zurückgehen können. Anfang der 1990er Jahre initiierte die damalige PDS die Komitees für Gerechtigkeit[3] und wollte so vor allem in der ehemaligen DDR ihre Bündnisfähigkeit verbreitern, was ihr in begrenztem Umfang gelungen ist[4].

Im Grunde ist die „Aufstehen“-Initiative die Fortsetzung dieser Komitees für Gerechtigkeit, nur geht es im Jahr 2018 nicht mehr nur um die ehemalige DDR. Die ist zu einem Pilotprojekt für die Prekarisierung und Deregulierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse geworden. Dagegen will die Initiative „Aufstehen“ aktiv werden.

Die Kritikpunkte, die bereits Anfang der 1990er Jahre gegen die Komitees für Gerechtigkeit laut wurden, gelten auch für „Aufstehen“. Der alte sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat wird zurückgewünscht, was schon aus ökonomischen Gründen reaktiv ist. Es ist letztlich eine neue reformistische Illusion.

Nun hat Sahra Wagenknecht in den letzten Jahren den Weg von Karl Marx zu Ludwig Erhardt zurückgelegt und damit klargestellt, dass sie im reformistischen Politikzirkus mitspielen will. Die Initiative „Aufstehen“ gehört dazu. Nur ist ein Großteil ihrer Kritiker im Umfeld der Linkspartei[5] immer schon im reformistischen Spektrum verankert gewesen und hat vor einigen Jahren noch Wagenknecht als „linkssektiererisch“ bezeichnet. Befürchtet wird, sie könnte die SPD von einem Bündnis mit der Linken abschrecken.

Dabei war zu diesem Zeitpunkt längst klar, dass Wagenknecht nur mit anderen Mitteln das gleiche Reformziel anstrebt. Es ist also eine Auseinandersetzung unter Reformisten, die der Öffentlichkeit seit einigen Wochen geboten wird. Reformpolitiker der Partei, die Wagenknecht schon stoppen wollten, als sie noch als Kommunistin galt, schelten sie plötzlich als populistisch, gar als AfD-nah.

Das ist natürlich eine durchsichtige Masche, welche die Grünen seit Langem praktizieren. Die hatten schon lange erkannt, dass man in der Realpolitik Rechte von Flüchtlingen und Migranten einschränken kann, aber immer das richtige emphatische Wort für die „Schutzsuchenden“ finden muss. Dann ist man ganz nah an dem Flügel des Kapitals, der weiß, dass Zuwanderung für den Wirtschaftsstandort Deutschland schon mittelfristig überlebenswichtig ist.

Wagenknecht und Co. praktizieren diese Art von Standortpflege nicht. Auch für die Sorgen der Frauen aus dem Mittelstand, die im Wesentlichen die Trägerinnen der Meetoo-Kamapagne sind, scheinen sie nicht viel übrig zu haben, was der Publizist Lukas Hermsmeier in der taz kritisiert[6]. Doch sein Rat, „Aufstehen“ solle sich an linkeren Strömungen innerhalb der US-Demokraten ein Beispiel nehmen, übersieht gleich mehreres.

Vergleiche mit Bewegungen anderer Länder

Da werden Kandidatinnen wie Alexandria Ocasio-Cortez[7] zu linken Hoffnungsträgerin, obwohl sie sich politisch im Mittelfeld der SPD befinden. Da wird die Akademikerin Alexandria Ocasio-Cortez gar zur Gastronomin, weil sie dort das Geld für ihr Studium verdiente.

Gravierender aber ist, dass bei dem Vergleich die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland auf der innenpolitischen Ebene schlicht ausgeblendet werden. In den USA hat sich der nichtweiße Teil der Bevölkerung zu organisieren begonnen, was durch die rechte Politik der Trump-Regierung noch befördert wurde.

Doch auch andere von Befürwortern und Gegnern der Aufstehen-Initiative herangezogene Vergleiche mit Bewegungen anderer Länder hinken genauso. Da wird oft auf die Bewegung „Unbeugsames Frankreich“[8] rekurriert. Trotz einiger Gemeinsamkeiten – der Gründer kommt wie Lafontaine aus der Sozialdemokratie -, überwiegen doch die Unterschiede. Es ist eben ein französisches Phänomen.

Dort gab es schon mehrere Bewegungen, die wie die Unbeugsamen die Republik neu begründen wollten. Mag sich der frankreichfreundliche Lafontaine auch geschmeichelt sehen, mit dieser Bewegung verglichen zu werden, so ist es doch wesentlich sinnvoller, die „Aufstehen“-Initiative mit den Komitees für Gerechtigkeit und den Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 in Beziehung zu setzen. So werden auch ihre Grenzen klarer benannt.

Linke Mindeststandards werden nicht eingehalten

Auch wenn man die AfD-Vergleiche der „Aufstehen“-Kritiker zurückweisen muss, ist es sehr berechtigt, darauf hinzuweisen, dass dieses Projekt auch in seiner nationalen Beschränktheit in der Tradition von Komitees für Gerechtigkeit und Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 steht.

Der Publizist Johannes Simon hat in der Printausgabe der Wochenzeitung „Freitag“ sehr prägnant den Vorwurf zurückgewiesen, der SPD liefen die Wähler davon, weil sie zu kosmopolitisch sei, und erinnerte daran, dass die Agenda 2010 der Förderung des Wirtschaftsstandortes Deutschlands dienen sollte und so beworben wurde.

Für die bessergestellten Milieus, die in der SPD und den liberalen Medien den Ton angeben, ist der Vorwurf an sich selbst natürlich viel angenehmer, sich zu sehr um Minderheitenrechte gekümmert zu haben, anstatt einzugestehen, dass man ohne mit der Wimper zu zucken das brutale Hartz IV-System, Leiharbeit, wachsende Kinderarmut und dergleichen unterstützt hat, nur weil man Angst um den Standort Deutschland und den eigenen Wohlstand hatte.

Johannes Simon, Freitag

Am Ende seines Beitrags formuliert Johannes Simon die Minimalstandards jeder aktuellen linken Bewegung:

Anstatt vage kulturelle Ressentiments zu bestärken, sollte die Linke vielmehr die systematische Logik des Kapitalismus aufzeigen. Das Problem ist die Macht des Kapitals und die Machtlosigkeit der arbeitenden Bevölkerung. Ob diese Arbeiterinnen jetzt blaue Haare haben oder am Wochenende auf Crystal Meth polysexuelle Techno-Orgien feiern oder sich im Biergarten Weißwurst und Blasmusik gönnen, ist dabei erst einmal völlig irrelevant.

Johannes Simon, Freitag

Solche Sätze liest man weder bei den Unterstützern der „Aufstehen“-Initiative noch bei den meisten ihrer Kritiker.

URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4142671

https://www.heise.de/tp/features/Koennte-die-Initiative-Aufstehen-sogar-Erfolg-haben-4142671.html

Peter Nowak

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.team-sahra.de/
[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/aufstehen-ist-ein-angriff-auf-die-spd-und-den-liberalismus-15736448.html
[3] https://www.zeit.de/1992/30/bundschuh-92-lobby-der-verlierer
[4] http://www.stefan-heym.de/allgemein/komitee.html
[5] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/fuehrende-politiker-der-linkspartei-haben-sich-von-wagenknecht-distanziert-15745037.html
[6] http://www.taz.de/!5525306/
[7] https://www.nytimes.com/2018/07/20/us/politics/ocasio-cortez-bernie-sanders.html
[8] http://www.journal-officiel.gouv.fr/publications/assoc/pdf/2016/0053/JOAFE_PDF_Unitaire_20160053_01653.pdf