Auf Verarmung folgen häufig Verschuldung und Räumung. Obwohl die Folgen der Hartz-IV-Reformen in Studien dokumentiert werden, sind weitere Verschärfungen geplant.
Peter Hartz schmiedet wieder Pläne. Der ehemalige Manager von VW mit SPD-Parteibuch wurde als Namensgeber der Hartz-Reformen berühmt und berüchtigt. Doch erst als Hartz 2007 im Rahmen des VW-Skandals vor Gericht stand und wegen Untreue in 44 Fällen verurteilt wurde, versuchte man, den Namensgeber vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nun will er erwerbslose Jugendliche in Spanien mit einem Konzept beglücken, das sich wie eine Neuauflage der Agenda 2010 liest.
Ein persönlicher Entwicklungsplan für die erwerbslosen Jugendlichen soll am Anfang stehen. Experten sollen herausfinden, wo deren persönliche Stärken und Schwächen liegen. Menschen, die sich im vergangenen Jahrzehnt mit den Hartz-IV-Gesetzen in Deutschland auseinandergesetzt haben, ist solches Profiling als Instrument der Ausforschung bekannt, mit dem die »Kunden« der Jobcenter vermeintlich passgenauer in bestimmte Maßnahmen gepresst werden können. Überdies wird Erwerbslosigkeit damit als Problem mangelnder individueller Marktfähigkeit definiert. Während sich Peter Hartz knapp ein Jahrzehnt nach der der Durchsetzung der Agenda 2010 nun für den Export seines Konzepts stark macht, bestreitet in Deutschland kaum jemand mehr, dass Hartz IV für viele Menschen Verarmung bedeutet.
»Mindestens die Hälfte aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger hat Schulden- und Suchtprobleme sowie psychosoziale Schwierigkeiten«, lautete das Fazit einer Untersuchung, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kürzlich vorstellte. Für das Jahr 2012 geht der DGB von etwa 1,1 Millionen Harzt-IV-Empfängern mit Schuldenproblemen aus. Zu dem gleichen Fazit kommt eine 400seitige Studie, die im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums bereits im vorigen Jahr erstellt wurde.
In beiden Studien wird der Schwerpunkt auf Schulden- und Suchtprobleme von Hartz-IV-Empfängern gelegt. Das ist eine gleich in mehrfacher Hinsicht problematische Methode. Dies fängt schon bei der Wortwahl an. Was bei Hartz-IV-Empfängern als Sucht gebrandmarkt wird, ist bei Menschen mit mehr Geld als individueller Genuss Privatsache. Ein Recht auf Rausch wird Hartz-IV-Empfängern aber weder bei der Errechnung des finanziellen Bedarfs noch in der öffentlichen Diskussion zugestanden. Mit dem Verweis auf die Sucht wird einmal mehr die Schuld und Verantwortung auf die Hartz-IV-Bezieher selbst abgeschoben. Ein Großteil der Bevölkerung sieht sich im Vorurteil vom Hartz-IV-Bezieher bestätigt, der lieber sein Bier vor dem Fernseher konsumiert, als an einer vom Jobcenter verordneten Maßnahme teilzunehmen. Weil er sich zu einer solchen Lebensweise offensiv in einer Talkshow bekannte, wurde Arno Dübel von der Bild-Zeitung »Deutschlands frechster Arbeitsloser« genannt. Den medialen Shitstorm, der daraufhin über ihn hereinbrach, analysierten die Sozialwissenschaftlerin Britta Steinwach und ihr Kollege Christian Baron in dem im Verlag Edition Assemblage erschienenen Buch »Faul, frech, dreist« (Jungle World 29/2012).
Konnte »Deutschlands frechster Arbeitsloser« noch als Ehrentitel durchgehen, griff Bild mit dem Titel vom 13. Mai diesen Jahres eindeutig in die sozialchauvinistische Schublade: »Sozialschmarotzer erklärt, warum ihm Hartz IV zusteht«. Darunter fand sich das Foto von Michael Fielsch, der in der Sendung »Menschen bei Maischberger« erklärt hatte, dass er sein Engagement in der Erwerbslosenbewegung für sinnvoller erachtet als Maßnahmen des Jobcenters. Derzeit tourt Fielsch mit der Ausstellung »In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010« durch die Republik. Diese Installation sammelt Daten von Hartz-IV-Beziehern, die Suizid verübten, weil sie keinen Ausweg mehr sahen, die erfroren, nachdem ihre Wohnung geräumt wurde, oder die verhungerten, nachdem sie vom Jobcenter keinerlei Unterstützung erhalten hatten, wie im April 2007 der 20jährige Andre K. in Speyer. Sein Tod wurde in den Medien als Einzelschicksal abgehandelt. Das passierte bei fast allen Todesfällen, die Fielsch dokumentiert und in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt hat. »Die Agenda 2010 sowie die aus der Hartz-Gesetzgebung resultierende, gewollte Armut und Entrechtung betrifft uns alle, direkt oder indirekt, gestern, heute oder morgen«, heißt es auf der Startseite der Homepage zur Ausstellung. Der Referent für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht und Mitbegründer des Vereins Tacheles e. V., Harald Thomé, kann diesen Befund mit vielen Beispielen untermauern. Die Verschuldung sei bei Strom, Gas und Mieten besonders gravierend, sagt er der Jungle World.
»Die Verelendung durch Hartz IV erfolgt schleichend«, betont Thomé. Als besonders schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen nennt er den Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe. Menschen, die sich keinen Restaurantbesuch und kein Ticket für eine Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr leisten können, bleibt oft nur der Rückzug in die eigenen vier Wände. Daher trifft sie eine drohende Räumung oder die Abschaltung von Strom und Gas besonders hart.
Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht. »Es gibt nur die Schätzung, dass weniger als ein Drittel der Haushalte von ALG-II-Beziehenden von Sperrungen betroffen sind«, sagt Anne Allex im Gespräche mit Jungle World. Sie ist Mitherausgeberin der noch erhältlichen Broschüre »Strom und Wasser bleiben an – auch bei wenig Geld«. Auf ihrer Homepage (pariser-kommune.de) informiert Allex über die neuesten juristischen und sozialpolitischen Debatten im Zusammenhang mit Erwerbslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Einen wesentlichen Grund für die Verschuldung im Bereich Energie sieht sie in den zu gering bemessenen Stromkosten im Regelsatz von Erwerbslosen. So werden in Hamburg für Hartz-IV-Bezieher Stromkosten zwischen 35 und 38 Euro pro Person monatlich berechnet. »Das entspricht einem Verbrauch unter 1 100 Kilowattstunden jährlich. Der Sparverbrauch liegt allerdings bei 1 200 Kilowattstunden. Der Durchschnittsverbrauch eines deutschen Haushalts liegt bei 2 250 Kilowattstunden im Jahr«, rechnet Allex vor.
Neben der systematischen Unterversorgung, die zu Verschuldung führen muss, weist Harald Thomé auf gesetzwidrige Auslegung der Bestimmungen zuungunsten der Betroffenen in vielen Jobcentern hin. Die Behörden lassen es auf Klagen ankommen, die die Hartz-IV-Bezieher in der Regel gewinnen. Doch vielen Menschen fehlt die Kraft, eine Klage einzureichen. Auch der Sprecher der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Martin Künkler, moniert einen »rechtsfreien Raum Jobcenter«. Erwerbslose erleben immer wieder, dass Jobcenter ihnen Leistungen zu Unrecht vorenthalten, auf die sie Anspruch haben. Neben den Kosten für Energie betrifft das auch die Miete. »Bei Kosten für die Wohnung setzt das Amt häufig die Obergrenze dessen, was gezahlt werden muss, zu niedrig an«, erklärt Künkler.
Am Ende steht nicht selten die Räumung. Widerstand von Erwerbslosen ist die absolute Ausnahme, betont Thomé. Schulden werden als individuelles Problem gesehen, das die Menschen eher gesellschaftlich stigmatisiert als politisch mobilisiert. Doch es gibt Ausnahmen. In Forst gründete sich im vorigen Jahr der »Freundeskreis Bert Neumann«, nachdem ein in antifaschistischen Gruppen aktiver Erwerbsloser mit einer Totalsperre seiner Leistungen bedacht wurde (Jungle World 5/2013). In Berlin hat die Jobcenter-Aktivistin Christel T. in Kooperation mit der Gewerkschaft FAU einen Antisanktionskampffond gegründet. Der soll Erwerbslosen, die von einer Totalsperre betroffen sind, finanzielle Unterstützung sichern.
Solche Hilfsmaßnahmen könnten noch öfter gebraucht werden. Unter dem unverfänglichen Titel »Rechtsvereinfachung im SGB II« listete eine aus wirtschaftsnahen Verbänden und Vertretern der Bundesagentur für Arbeit zusammengesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf mehr als 40 Seiten Maßnahmen auf, die die Verarmung von Hartz-IV-Empfänger noch beschleunigen könnten. So drängt die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf schärfere Sanktionen für Langzeiterwerbslose, die wiederholt Termine beim Jobcenter versäumten. Bislang werden die Leistungen in diesen Fällen um maximal 30 Prozent gekürzt, künftig sollen sie nach dem Willen der BA auch ganz gestrichen werden können. Die Möglichkeit, Bescheide der Jobcenter auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, soll eingeschränkt werden und mit Kosten verbunden sein. Ab September soll es in mehreren Städten gegen diese Ausweitung der rechtsfreien Zone Jobcenter Protestaktionen geben. Martin Künkler hat bei einem bundesweiten Treffen von engagierten Erwerbslosen Mitte Juni eine neue Proteststimmung nach Jahren der Resignation ausgemacht.
Ob sich indes der Hartz-IV-Export so problemlos durchsetzen lässt wie das Original in Deutschland, ist noch nicht ausgemacht. In Spanien existiert schließlich eine große Protestbewegung, die auch die Initiativen gegen Wohnungsräumungen in Deutschland inspiriert hat. Peter Hartz hat aber nicht nur Spanien im Visier. Er war auch schon als Berater für Sozialreformen beim französischen Präsidenten François Hollande im Gespräch. Auch dort dürfte die Verarmung per Gesetz nicht so reibungslos durchzusetzen sein wie in Deutschland. Aber es gibt auch Menschen, die dank der Hartz-IV-Reformen gut verdienen. Zu ihnen zählt die konservative Publizistin Rita Knobel-Ulrich. Mit ihrem viel verkauften Buch »Reich durch Hartz IV«, in dem sie Erwerbslosen vorwirft, den Sozialstaat zu schröpfen, tingelt sie durch viele Talkshows und fordert härtere Sanktionen für Erwerbslose.
http://jungle-world.com/artikel/2014/27/50157.html
Peter Nowak