Vertreibung überschattet Militanzdebatte

Der Druck der Gentrifizierung bringt in Berlin-Friedrichshain Anwohner und Aufstandsfreunde trotz Differenzen zusammen

Die Mehrheit der G20-Demonstranten hatte kaum Hamburg verlassen, da standen im Windschatten einer pauschalen, hasserfüllten Kritikwelle bereits linke Hausprojekte aus ganz Deutschland unter Beschuss. Neben der Roten Flora aus der Hansestadt geriet vor allem die Berliner Rigaer Straße 94 in die Schlagzeilen. Politiker von Union und SPD forderten die Räumung – mal wieder.

Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) musste Nachhilfe geben: Er erinnerte daran, dass es sich bei der »Rigaer 94« keineswegs um ein komplett besetztes Haus handelt. Für die meisten Zimmer existieren rechtsgültige Mietverträge. Lediglich einige Räume im Hinter- und einer im Vorderhaus werden momentan ohne Vereinbarung genutzt.

Schon vergangenes Jahr wollte der damalige Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) die »Rigaer 94« räumen – und war dabei im großen Stil gescheitert. Der wochenlange Einsatz wurde von nicht wenigen Berlinern als »Belagerung« wahrgenommen. Das Gericht erklärte anschließend, dass es keine Rechtsgrundlage für die Räumung gegeben habe.

Aktivisten der »Rigaer 94« aber auch Anwohner im Stadtteil Friedrichshain feierten die Entscheidung als Erfolg. In der Zeit des Polizeieinsatzes, so klagten beide Gruppen, seien Grundrechte verletzt worden.

Aus Protest hatten sich damals an mehreren Abenden Menschen in der Nähe des Hausprojektes getroffen. Auf Kundgebungen forderten sie ein Ende des »Ausnahmezustandes«. Kiezbewohner nennen den Versammlungsort, die Kreuzung Rigaer Straße/Liebigstraße, »Dorfplatz«.

Mittlerweile ist auch die »Kadterschmiede«, die Kneipe der »Rigaer 94«, nicht mehr nur das verlängerte Wohnzimmer der linken Szene. Einmal im Monat organisieren Nachbarn dort einen eigenen Abend, kochen, zeigen Filme und diskutieren. »CG-Investorenträume platzen lassen«, steht auf einem Transparent an der Wand der Kneipe. Daneben finden sich Fotos von den Protesten gegen das »Carré Sama-Riga«, einem geplanten Nobelprojekt im Friedrichshainer Nordkiez.

Zahlreiche Anwohner leiden unter der Vertreibung aus dem Stadtteil. In den vergangenen Monaten beteiligten sich daher auch Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen an den Protesten. »Wir sind alle Nachbarn, die hier wohnen bleiben wollen«, erklärte eine Aktivistin den Grundkonsens gegenüber »nd«.

Bei der Zusammenarbeit werden politische Differenzen nicht ausgeblendet. Der Umgang mit den Bezirkspolitikern ist eines der Streitthemen. Anfang Mai geriet beispielsweise Florian Schmidt, der Baustadtrat der Grünen von Kreuzberg-Friedrichshain, bei einer Veranstaltung in die Kritik. Anwohner hatten den Saal mit Plakaten gegen die geplanten Nobelbauten geschmückt.

Ein »Armutszeugnis für alle Anwesenden«, nannten daraufhin anonyme Autoren die Diskussion in der aktuellen Ausgabe der Friedrichshainer Szene-Zeitung »ZAD Dorfplatz«. Die unbekannten Herausgeber verorten sich in der der insurrektionistischen Strömung des Anarchismus. In dieser wird der permanente militante Aufstand propagiert und jegliche Organisationen, Gewerkschaften und Parteien als Interessenvertreter abgelehnt. Befürworter lehnen als Konsequenz jeden Dialog mit Polizei und »Politik« ab. Nach den Krawallen in Hamburg wird das umstrittene Konzept derzeit in den Medien, aber auch in der radikalen Linken diskutiert. Im Bezug auf den Berliner Gentrifizierungsprotest erklären die »ZAD«-Autoren: Es sei eine größere Niederlage, wenn ein Nobelprojekt mit Unterstützung von Parteien verhindert wird, als wenn es gebaut und dann ständig angegriffen wird.

Weil von den Aufständischen jede Forderung an den politischen Betrieb abgelehnt wird, verfällt auch der Ruf nach bezahlbaren Wohnraum. Als Alternative wird von den Staatsgegnern auf die »Cuvrybrache« in Kreuzberg verwiesen. Hier haben sich über einen längeren Zeitraum Wohnungslose Hütten aufgebaut, bis sie im vergangenen Jahr geräumt wurden. Für die Mehrheit der Berliner stellt diese Form des (Über)-Lebens jedoch eine Horrorvorstellung dar.
Mit solchen Forderungen wird deutlich, dass die insurrektionistische Strömung keine Perspektiven jenseits der Ablehnung von Staat und Polizei bieten kann. Für viele Anwohner in Friedrichshain ist dennoch jenseits dieser politischen Differenzen klar: wenn linke Hausprojekte räumungsbedroht sind, werden sie solidarisch auf der Straße demonstrieren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058571.vertreibung-ueberschattet-militanzdebatte.html

Peter Nowak

Dein Freund und Helfer

Teil-Räumung der Rigaer Straße 94

Interne Daten über BewohnerInnen des Hausprojekts sind auf einer ultrarechten Homepage gelandet. Sie stammen aus einer Ermittlungsakte der Polizei.


Teil-Räumung der Rigaer Straße 94

Dein Freund und Helfer

Interne Daten über BewohnerInnen des Hausprojekts sind auf einer ultrarechten Homepage gelandet. Sie stammen aus einer Ermittlungsakte der Polizei.

Ein bunt bemaltes Haus zwischen grünen Bäumen, davor ein cremeweißes AutoUmkämpftes Objekt: Hat die Polizei mit Rechten zusammengearbeitet?

BERLIN taz | Hat die Polizei ein Datenleck? Gibt es gar Beamte, die Informationen über Berliner Linke an die rechte Szene weiterreichen? Fest steht seit Freitag: Interne Daten über BewohnerInnen des linken Hausprojekts Rigaer Straße 94 sind auf einer ultrarechten Homepage gelandet. Unter blog.halle-leaks.de findet sich die teilweise geschwärzten Angaben von zehn Personen, die bei einer Polizeirazzia im Januar 2016 kontrolliert wurden.

Die anonymen BetreiberInnen der rechten Webseite behaupten, im Besitz von 73 Datensätzen zu sein und schreiben in rassistischer Diktion: „Die Namen lesen sich wie ein Who is Who aus einem polnischen Telefonbuch“.

BewohnerInnen der Rigaer Straße 94 erheben in einer Stellungnahme schwere Vorwürfe gegen die Polizei: „Die veröffentlichten Screenshots beweisen zum einen, dass die Polizei eine Datenbank angelegt hat, in der alle erfasst werden, die das Haus betreten. Zum anderen zeigt der Leak, dass es personelle Verknüpfungen der Einsatzkräfte mit organisierten Nazis gibt.“

Der Leiter der Pressestelle der Polizei, Winfried Wenzel, bestätigte gegenüber der taz die Echtheit der Veröffentlichung. „Im Ergebnis einer intensiven Prüfung kann ich bestätigen, dass es sich um ein Dokument aus einer Ermittlungsakte handelt, die sich inhaltlich mit einer Auseinandersetzung am 14. Januar 2016 in der Rigaer Straße zwischen mutmaßlich linken und rechten Tatbeteiligten befasst.“

Am 14. Januar sollen drei Personen aus der rechten Szene auf der Rigaer Straße angegriffen worden sein. Die Polizei leitete ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung. In den Ermittlungsakten seien sowohl die Personalien der angegriffenen Personen, als auch von BewohnerInnen der Rigaer Straße 94 erfasst worden, so Wenzel. Dabei habe es sich um Beschuldigte aber auch um potentielle ZeugInnen gehandelt.

Ermittlungsverfahren eingeleitet

Wegen der Weitergabe der Daten leitete die Polizei am Freitag ein Ermittlungsverfahren ein. Man untersuche alle Möglichkeiten, wie es zu dem Datenleak gekommen sei. Wenzel betonte, dass neben PolizistInnen auch StaatsanwältInnen und RechtsanwältInnen Einsicht in die Unterlagen gehabt hätten. So hätten AnwältInnen der Neonazis bei der Staatsanwaltschaft Akteneinsicht genommen. Auch ein Datenleck bei der Polizei könne er nicht ausschließen. Es gebe aber keine Hinweise, dass das Informationssystem der Polizei gehackt worden sei.

Der innenpolitische Sprecher der Linken im Abgeordnetenhaus, Hasan Tas, äußerte gegenüber der taz die Befürchtung, dass sich die Polizei zu schnell darauf festlegen könnte, dass die Daten nur von den AnwältInnen der Rechten weitergeleitet worden sein können. „Es muss eine ergebnisoffene Prüfung geben, bei der auch mögliche InformantInnen in den Kreisen der Polizei in Erwägung gezogen werden muss“, so Tas.

Die grüne Fraktionsvorsitzende Ramona Pop erklärte in Richtung Frank Henkel (CDU): „Es ist erstaunlich, dass man vom Innensenator in dieser Angelegenheit noch nichts gehört hat. Sonst geizt er ja nicht mit markigen Worten.“ Henkels Retourkutsche per Pressemitteilung: „Ich kann nur jedem empfehlen, hieraus keinen Polizeiskandal zu konstruieren, sondern das Ergebnis der Ermittlungen abzuwarten.“

Die Linkspartei veröffentlichte am Freitagmittag einen offenen Brief an Henkel, in dem sie ihm neun Fragen zu der geleakten Akte stellt. Unter anderem wollen Fraktionschef Udo Wolf und der Abgeordnete Tas wissen, inwieweit die Personen, deren Daten veröffentlicht wurden, nach Einschätzung des Senats gefährdet sind, nun Opfer rechtsextremer Übergriffe zu werden. Und welche Maßnahmen hat der Senat gegen den Betreiber des Blogs eingeleitet hat. Da das Beliner Abgeordnetenhaus bereits in seiner Sommerpause ist, gibt es derzeit keine reguläre Möglichkeit, den Senator etwa in einer Innenausschusssitzung zu befragen.

http://www.taz.de/!5318393/

taz 2.7.2016

Peter Nowak