Organisieren statt Lamentieren

Eigeninitiative und Solidarität: Über den Arbeitskampf an der Schwedischen Schule Berlin
Ein Lehrer organisiert die Belegschaft einer schwedischen Schule in Berlin, erreicht die Verbesserung von Arbeitsbedingungen – und ist überrascht über die Solidarität von Schülern und Eltern.

»Die Schwedische Schule in Berlin bietet ein geschütztes, sicheres schulisches Umfeld mit Zweisprachigkeit und Unterricht in kleinen Gruppen, angeleitet durch kompetente Pädagogen«, heißt es auf der Homepage der Lerneinrichtung in Berlin-Wilmersdorf. Sie wird von über 50 Schülern, vor allem Kinder von in Deutschland lebenden schwedischen Künstlern und Diplomaten, besucht.

An dieser Schule gelang es einem engagierten Gewerkschafter, die Arbeitsbedingungen entscheidend zu verbessern. Im Sommer 2010 nahm Johnny Hellquist die Arbeit in Berlin auf und war über die dortigen Arbeitsbedingungen empört. »Es gab weder Arbeitsverträge, noch Lehrerzimmer oder Arbeitsräume. Eine Stunde pro Woche arbeiteten wir unentgeltlich in der Schule und mussten uns auch darauf einstellen, bei Klassenfahrten und an vereinzelten Wochenenden unsere Arbeitskraft unbezahlt zur Verfügung zu stellen«, berichtete er gegenüber ND. Bei seinen sechs Kollegen stieß er sofort auf offene Ohren, als er Treffen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen organisierte. Die Lehrer hatten mehrmals die schwedische Akademikergewerkschaft über die prekären Arbeitsbedingungen in Berlin informiert. Die hatte allerdings bedauernd mitgeteilt, in Deutschland nicht eingreifen zu können. Ein Kontakt zur hiesigen GEW wurde ihnen nicht vermittelt. In Schweden existieren drei gewerkschaftliche Dachverbände, die getrennt Arbeiter, Angestellte und Akademiker vertreten und sozialpartnerschaftlich orientiert sind. Lediglich der anarchosyndikalistische Gewerkschaftsverband SAC, in dem Hellquist organisiert war, setzt auf gemeinsame Organisierung von Arbeitern, Angestellten und Akademikern. Die SAC spielt mit ihren über 6000 Mitgliedern als kämpferische Gewerkschaft eine wichtige Rolle auch in schwer organisierbaren Branchen. In Berlin war Hellquist erfolgreich. Als die Lehrer kollektiv die Teilnahme an einer weiteren Klassenfahrt ohne Bezahlung verweigerten, kam der Durchbruch. Ab Herbst 2011 erhalten alle Pädagogen erstmals schriftliche Arbeitsverträge. Alle Arbeitsstunden und Klassenfahrten werden künftig bezahlt. Zudem wurde ein Arbeits- und ein Lehrerzimmer in der Schule eingerichtet.

Für diesen Erfolg macht Hellquist neben der Organisierung der Kollegen auch die Unterstützung durch Eltern und Schüler verantwortlich. Die zeigte sich am 29. Mai, als dem engagierten Gewerkschafter von der Direktion mitgeteilt wurde, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert werde. Er wurde aufgefordert, die Schlüssel abzugeben und das Schulgelände sofort zu verlassen. Diese Disziplinierungsmaßnahme war für Hellquist ein Ansporn zum Widerstand: »Abends schrieb ich einen langen Brief an die Eltern, in dem ich sie über das ganze Drama aufklärte und ihnen vorschlug, an die Schuldirektorin und den Vorstand zu schreiben und ihre Meinung kundzutun«, erzählt er. Über die Reaktion war er selber erstaunt. Schüler richteten auf »Facebook« eine Seite mit dem Titel »Wir wollen Johnny zurück« ein, 20 Eltern drohten mit der Besetzung des Schulgebäudes, wenn die Entlassung von Hellquist nicht zurückgenommen wird. Am nächsten Tag kam die Schulleitung der Forderung nach. »Weniger Lamentieren – mehr Organisieren«, dieses Fazit zieht Hellquist aus seinen Erfahrungen, die er auf viele Arbeitsbereiche für übertragbar hält.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/206337.organisieren-statt-lamentieren.html

Peter Nowak

Angemessener Lohn statt zusätzliche Jobs

Psychiatrie-Beschäftigte protestieren in Berlin
Am heutigen Mittwoch wollen Psychotherapeuten in Ausbildung (PiA) in Berlin erneut mit einem Aktionstag auf ihre schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam mach
en.

Mit einem Demonstrationszug von der Berliner Charité zum Bundesgesundheitsministerium wollen sie ihre Forderungen nach angemessener Vergütung und einer Reform der Ausbildung auf die Straße tragen.

„Die Route wurde bewusst gewählt, betont Sarah Eckardt vom Vorbereitungskreis des Aktionstages. „Unsere Forderungen richten sich sowohl an die Berliner Kliniken als auch an die Politik“, betont sie gegenüber ND. Es sei die Verantwortung der Kliniken, die Mitarbeiter angemessen zu entlohnen und gesunde Arbeitsbedingungen bereitzustellen. Von der Politik wird eine Änderung des Psychotherapeutengesetzes gefordert. Dort seien die Pflichten der PiA geregelt, über deren Rechte aber findet sich nichts, moniert Eckardt..
„Einige Kliniken berufen sich auf dieses Gesetz und argumentieren, da die Entlohnung der PiA nicht gesetzlich geregelt ist, brauchen sie nicht bezahlt zu werden“, schildert sie die Arbeitsbedingungen ihrer Kollegen. Deshalb sind viele PiA gezwungen, einer weiteren Tätigkeit nachzugehen, um zu überleben. Die 3-5jährige Ausbildung zum Psychotherapeuten setzt ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Psychologie oder der Sozialpädagogik voraus und ist notwendig zur Erlangung de Approbation. Sie ist in den ersten anderthalb Jahren mit einer praktischen Tätigkeit in psychiatrischen Kliniken von durchschnittlich 30 Stunden pro Woche verbunden. Obwohl dort die angehenden Psychotherapeuten meist die gleiche Arbeit wie die approbierten verrichten, werden sie meist gering oder gar nicht bezahlt


Vereinbarung mit leeren Klauseln.

Der Dienstleistungsgewerkschaft sind diese Zustände schon lange bekannt. „Viele angehenden Psychotherapeuten und deren Familien leben unter dem Existenzminimum und behandeln ihre Patienten auf hohem Niveau für unter 1 Euro pro Stunde,“ heißt es in einer Stellungnahme der Gewerkschaft. Bei ver.di wurde eine Arbeitsgruppe für die besondere Problematik der PiA eingerichtet. Dort wurde ein Mustervertrag ausgearbeitet, der nach den Vorstellungen der Kollegen künftig gelten soll. „Statt der bisher üblichen Praktikumvereinbarungen voller leerer Klauseln fordern wir schriftliche Verträge der Klinken für unsere praktische Tätigkeit“, betont Eckardt. Sie sieht mit dem Anliegen des Aktionstages auch die Interessen der Patienten vertreten. Schließlich leide die Qualität der psychotherapeutischen Arbeit unter mangelnder Entlohnung „ Wir wollen die bestmögliche Versorgung der Patienten und sehen diese immer wieder durch Einsparungen und Kürzungen an den Kliniken gefährdet“, berichtet Eckardt aus dem Berufsalltag ihrer Kollegen. Ähnliche Berichte sind mittlerweile auch aus vielen Bereichen des Gesundheits- Pflegebereichs zu hören. Allerdings ist eine Koordinierung der sehr fragmentierten Beschäftigtenstruktur im Gesundheits- Pflegebereich nicht einfach. „Wir würden uns gerne weiter vernetzen“, betont Eckardt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/206131.angemessener-lohn-sta

tt-zusaetzliche-jobs.html?sstr=Peter|Nowak

Peter Nowak

TÜV-Nord sorgt nicht für Sicherheit

Hälfte der Mitarbeiter von Bildungszentren soll ihren Arbeitsplatz verlieren. Der Bund kürzt Bildungsmaßnahmen und trifft damit auch die Beschäftigten in Bildungszentren.
»Wir machen die Welt sicherer«, lautet das Motto des Dienstleistungsunternehmens TÜV-Nord, das bei der Zertifizierung von technischen Geräten, Fahrstühlen oder Fabriken weltweit tätig ist. Doch viele Mitarbeiter der TÜV-Nord-Bildung können den Slogan nur als Hohn entfinden. Sei sollen Lohnkürzungen von bis zu 20 % hinnehmen. Die Hälfte der Beschäftigten sollen den Arbeitsplatz verlieren, weil 17 von 40 Bildungszentren schließen müssen.
Betroffen davon sind Standorte in der ganzen Republik davon einige in Mecklenburg-Vorpommern. Die Lausitzer Rundschau hatte Ende August aus einem Schreiben der TÜV-Geschäftsführung zitiert, in dem es hieß: „Mittelfristig werden wir auch die Bildungszentren in Cottbus, Erkelenz, Geilenkirchen, Hagen, Hückelhoven und Waren schließen müssen“. Ein Konzernsprecher erklärte allerdings, dass für den Standort Cottbus noch eine Lösung gesucht werde, weil die Auftragslage gut sei. Mehrere Mitarbeiter klagen über die widersprüchlichen, nervenzerrenden Angaben zur Zukunft des Cottbuser Standortes. Zudem haben sie mit Lohnkürzungen zu rechnen. Über die Tarife wird zur Zeit neu verhandelt. Der zuständige Bezirksleiter der IG-Bergbau, Chemie, Energie Ralf Hermwapelhorst nannte die Kürzungspläne Geschäftsführung so nicht hinnehmbar. Der Gewerkschaftler verwies darauf, dass schon bisher ihre Löhne unter denen in der Industrie lagen. Gesttern wurden die Tarifverhandlungen abgebrochen .

Geschlossen werden soll das erst im letzten Jahr eröffnete TÜV-Nord-Bildungszentrum in Waren-West in Mecklenburg-Vorpommern, wie der TÜV-Nord-Pressesprecher Sven Ulbrich bestätigte. Dort absolvieren 18 Jugendliche zurzeit ihre Ausbildung in Berufen des Bausektors. Die können sie nach Angaben von Ulbrich beenden, weil die Finanzierung bis 2013 gesichert ist.

Massive Kürzungen bei Bildungsmaßnahmen

Erst vor einem Jahr war die Gesellschaft von der TÜV-Nord von der RAG-Bildung gekauft worden. Damals hofften die Mitarbeiter, dass damit ihre Arbeitsplätze gesichert sind. Schließlich wurde beim Verkauf der Gesellschaft ein Beschäftigungsrahmenvertrag vereinbart, in dem Kündigungen in den nächsten drei Jahren ausgeschlossen werden. Die Klausel galt allerdings nicht für Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen. Daher war die Überraschung groß, als die Belegschaft im Mai 2011 in einem Schreiben der TÜV Nord AG vom Mai 2011 darüber informiert wurden, dass Verluste in den vergangenen neun Monate“ zum vollständigen Eigenkapitalverzehr” geführt hätte und massive Einsparungen notwendig seien. Der Grund für die finanzielle Misere liegt in den massiven Kürzungen von Bildungsmaßnahmen durch das Bundesministerium für Bildung, die zu einem Rückgang im Bereich staatlich geförderter Bildungsmaßnahmen geführt hat. Neben den Erwerblosen sind die Mitarbeiter der Bildungseinrichtungen die Hauptbetroffenen dieser Einschnitte. Doch zu gemeinsamen Protesten kam es nicht. Während die Gewerkschaften von Anfang an auf konstruktive Verhandlungen und die Erstellung eines Sozialplans setzten, gab es in der Belegschaft von TÜV-Nord auch andere Stimmen. So äußerte der Tüv-Nord-Mitarbeiter des Standorts Hückelhoven Thomas Wasilewski gegenüber ND massive Kritik an Geschäftsleitung und Betriebsrat. „Wer sich so gut am Arbeitsmarkt auskennt wie die TÜV Nord Bildung, hätte auch einmal über Arbeitszeitmodelle oder Kurzarbeit nachdenken sollen“, meinte er. Schließlich wirft das Unternehmen mit dem Slogan “Wir entwickeln Kompetenzen“. Dem Betriebsrats wirft Wasilewski vor, nicht auf eine Gesamtbetriebsversammlung aller TÜV-Nord-Standorte gedrängt zu haben, wie sie vor allem von Beschäftigten in Ostdeutschland gefordert wurden, die als erste entlassen werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/205888.tuev-nord-sorgt-nicht-fuer-

sicherheit.html?sstr=TÜV|Nord

Peter Nowak

Neue Hartz IV-Regelung verfassungswidrig?

Weder die Hartz IV-Neuregelung noch das von der Regierung beschlossene Bildungspaket halten nach Gutachten die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein

  Ab Januar 2012 soll der Regelsatz für Hartz IV-Bezieher um 10 Euro auf 374 Euro steigen. Entsprechende Medienberichte hat eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums bestätigt.

Heftige Kritik an der Maßnahme, die noch in diesem Monat vom Bundeskabinett beschlossen werden soll, kommt von Gewerkschaften und Sozialverbänden. So erklärte Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband: „Auch die angekündigte 10-Euro-Erhöhung macht die Hartz-IV-Regelsätze nicht verfassungsfester. Dass für die älteren Kinder gar keine Anpassung erfolgt, ist ignorant und geht an der Alltagsrealität von Familien vollkommen vorbei.“

Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand forderte eine grundsätzliche Reform der Hartz IV-Gesetze. Buntenbach kann sich mit ihrer Kritik auf zwei Studien der DGB-nahen Hans Böckler Stiftung stützen, die am 5. September in Berlin vorgestellt wurden. Danach entsprechen weder die Hartz IV-Neuregelung noch das von der Regierung beschlossene Bildungspaket den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Wegen methodischer Fehler bei der Bemessung sei der Regelsatz für Hartz IV-Bezieher kleingerechnet worden. Das ist das Fazit zweier von dem Juristen Johannes Münder auf Basis von Daten der Verteilungsforscherin Doktor Irene Becker erstellten Studie.

An 10 Punkten werden Widersprüche zum Hartz IV-Urteil festgestellt

Ein zentraler Kritikpunkt lautete, bei der Festsetzung des Regelbedarfs seien Menschen mit geringen Einkommen als Referenzgruppe aufgenommen worden, obwohl die Richter in Karlsruhe betonten, dass das Existenzminimum nicht über das Konsumverhalten von Menschen ermittelt werden darf, die von Sozialhilfe oder Hartz IV-Leistungen angewiesen sind. Mit der Ungleichbehandlung von Single-Haushalten und Familien bei der Festsetzung des Regelsatzes werde gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verstoßen.

Als Hauptmangel beim Bildungspaket wurde die Benachteiligung von Kindern aus strukturschwachen Gebieten angeführt. Denn dort, wo keine Bildungsförderungsmaßnahmen angeboten werden, besteht nach der Logik der Gesetzgeber auch kein Anspruch auf Leistungen.

Eine unabhängige Kommission wird gefordert

Buntenbach forderte als Konsequenz aus den Studien die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die die Regelsätze nach dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach Kassenlage bemisst. „Es wäre ein Armutszeugnis, wenn erst erneut das Bundesverfassungsgericht eingreifen müsste“, so die Gewerkschafterin. Tatsächlich haben mittlerweile mehrere Betroffene Klagen gegen die neuen Regelsätze eingereicht, darunter auch Gewerkschaftsmitglieder, die vom DGB unterstützt werden.

Allerdings warnen Erwerbslosenaktivisten vor zu großen Hoffnungen, dass es Karlsruhe schon im Sinne der Erwerbslosen richten werde. Schon im letzten Jahr wurden von manchen Sozialverbänden Illusionen verbreitet. Doch in dem Urteil haben die Richter bewusst keine konkreten Zahlen für Hartz IV-Sätze vorgegeben. „Das Positivste, was aus der Diskussion um die Klage entstanden ist, war das Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“, das im letzten Herbst für eine Erhöhung des Regelsatzes eintrat und sich dabei nicht in juristischen Details verfing, sondern die konkrete Situation der Betroffenen thematisierte“, meinte ein Erwerbslosenaktivist. Das Bündnis, um das es nach dem Urteil ruhig geworden ist, könnte bei erneuten Klagen wieder aufleben.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/150416

Peter Nowak

Hausverbot im Jobcenter

47-Jähriger wegen Bedrohung seines Fallmanagers vor Gericht
»Ich werde mir mein gesundes Oppositionsempfinden bewahren, will meinen Status als Erwerbsloser beenden und hoffe dabei auf Unterstützung vom Jobcenter«, lautete das Schlusswort von Peter B. am Freitagnachmittag vor dem Berliner Amtsgericht. Der 47-jährige Neuköllner Erwerbslose stand wegen Bedrohung seines Fallmanagers vor Gericht. Er soll bei einem Termin im November 2010 mit dem Hinweis auf den Amoklauf in einer Erfurter Schule erklärt haben, so etwas könne auch im Jobcenter passieren. Der genaue Wortlaut konnte nicht geklärt werden. Dafür wurde deutlich, wie viele Hoffnungen von Erwerbslosen tagtäglich im Jobcenter enttäuscht werden. »Sie erhoffen sich als Kunden Unterstützung und werden als Antragssteller behandelt und oft abgewiesen«, so der Berliner Rechtsanwalt Jan Becker, der B. vertrat.

Der seit einem Autoanfall zu 70 Prozent arbeitsunfähige Mann bemühte sich um die Förderung einer Ausbildung als Veranstaltungsfachwirt. Von einem Neuköllner Jobcenter-Mitarbeiter hatte er eine mündliche Zusage. Deshalb ging nicht nur B. davon aus, dass bei dem Termin nur noch über letzte Details der Maßnahme geredet wird. Auch seine Begleiterin sagte am Freitag als Zeugin aus, sie sei erstaunt gewesen, dass der Fallmanager erklärte, Baltsch sei für die Qualifizierungsmaßnahme nicht geeignet, und ihm stattdessen eine Arbeitserprobungsmaßnahme anbot.

»Je engagierter B. auf ihn einredete, desto ablehnender reagierte der Fallmanager«, erinnert sich die Begleiterin. In diesem Zusammenhang sei B. auf den Amoklauf zu sprechen gekommen. Er habe den Mitarbeiter sensibilisieren und keineswegs bedrohen wollen, beteuerte er. Dieser Lesart wollte der Richter nicht folgen. Er sprach eine Verwarnung und eine einjährige Bewährungsstrafe aus. Sollte Baltsch in dieser Zeit wegen ähnlicher Vorwürfe erneut vor Gericht stehen, müsse er eine Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen à 15 Euro bezahlen. B., der einen Freispruch anstrebte, ist mit der Verurteilung ohne Strafe, wie Anwalt Becker die Verwarnung bezeichnete, unzufrieden. Er muss für die Gerichtskosten aufkommen und seine Aussichten auf eine erfolgreiche Klage gegen das vom Neuköllner Jobcenter ausgesprochene Hausverbot sind nicht gewachsen. Bis November dieses Jahres darf B. das Gebäude nur auf Aufforderung des Jobcenters betreten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/204856.hausverbot-im-jobcenter.html

Peter Nowak

Gleiche Bedingungen für Alle

Finnische Stahlarbeiter solidarisch mit polnischen Leiharbeitern
In Finnland solidarisieren sich seit Anfang August Beschäftigte mit polnischen Leiharbeitern – auch um ihre eigenen Arbeitsbedingungen zu verteidigen.

Die Beroa GmbH ist ein deutsches Unternehmen mit Tochterfirmen in vielen Ländern. Deren polnischem Zweig wird von finnischen Gewerkschaftern vorgeworfen, in dem skandinavischen Land eingesetzte polnische Leiharbeiter zu tarifwidrigen Arbeitsbedingungen zu beschäftigen. Beroa hatte sie an den finnischen Ruuki-Konzern ausgeliehen, um in einem Stahlwerk im nordfinnischen Rahe Hochöfen warten und reparieren zu lassen.

Einer der Leiharbeiter hatte sich an den finnischen Gewerkschaftsbund gewandt, um sich zu informieren, ob seine Arbeitsbedingungen mit dem finnischen Tarifrecht vereinbar seien. Die zuständige gewerkschaftliche Verwaltungsstelle befragte daraufhin gemeinsam mit der Polizei die Leiharbeiter zu ihren Arbeitsbedingungen. Was sie erfuhren, sorgte für großen Wirbel. Denn die polnischen Beschäftigten berichteten von einem Stundenlohn von drei bis vier Euro sowie von Arbeitszeiten von zehn Stunden an sieben Tagen in der Woche. Einige Mitarbeiter gaben an, dass sie bereits vier Wochen unter diesen Bedingungen arbeiten. Zudem beschwerten sich mehrere Leiharbeiter, ihr Lohn werde nicht pünktlich gezahlt. So berichten Beschäftigte, dass sie seit Mitte Juni noch keinen Lohn erhalten haben.

Die Empörung unter den Gewerkschaftern war groß. Schließlich sind diese Bedingungen ein klarer Bruch mit dem erst im Juli dieses Jahres vereinbarten Tarifvertrag zwischen der Bauarbeitergewerkschaft und Beroa. Dort wurde ein Stundenlohn von 15,54 Euro und Urlaubstage vereinbart, die den ausländischen Leiharbeitern ausgezahlt werden sollten.

Die Belegschaft des Stahlunternehmens Ruuki reagierte mit mehreren Solidaritätsstreiks. Sie fordern gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen. »Wir kämpfen für gleiche Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten, egal, ob es sich um finnische oder polnische Kollegen handelt«, sagte ein Streikender gegenüber einer finnischen Zeitung. Die Gewerkschafter wiesen darauf hin, dass ihre Forderungen im Interesse aller Beschäftigten liegen. Denn Lohndumping bei den Leiharbeitern sei oft nur ein Pilotprojekt, um die Arbeitsbedingungen aller Kollegen zu verschlechtern.

Das Management des Ruuki-Konzern hat wegen des Streiks jetzt Klage gegen die Gewerkschaft erhoben. Das Unternehmen befürchtet Verzögerungen beim Bau der Hochöfen. Aber die Kampfmaßnahmen zeigten bereits Wirkung.

Ein Vertreter der Beroa GmbH sagte dem finnischen Gewerkschaftsvorsitzenden Timo Mällinen zu, das Unternehmen werde sich zukünftig an die finnischen Gesetze und die vertraglich vereinbarten Bestimmungen halten. Der Umgang mit den Leiharbeitern, der in Finnland für Empörung sorge, sei in mitteleuropäischen Ländern üblich, rechtfertigte sich der Beroa-Vertreter. Die Reaktion der Beschäftigten indes ist nicht so üblich. Ein Solidaritätsstreik wie in Finnland ist hierzulande nicht bekannt.

www.neues-deutschland.de/artikel/204497.gleiche-bedingungen-fuer-alle.html

Peter Nowak

Rettich statt Widerstand

Die mehr als 1500 Beschäftigten der TÜV Nord-Bildung GmbH müssen die vielen Meldungen über den Wirtschaftsaufschwung in Deutschland als Hohn empfinden. Seit der Mutterkonzern TÜV-Bildung im Mai massive Stellenstreichungen bei dem Bildungsträger angekündigt hat, ist die Angst unter den Angestellten gewachsen. Die Politik trägt eine große Verantwortung für die Misere. Weil die Bundesregierung die Mittel für die Bundesagentur für Arbeit, den hauptsächlichen Geld- und Auftraggeber für TÜV-Nord, massiv gekürzt hat, droht dem Bildungsträger die Insolvenz.

 Anfang Juli informierte die Geschäftsleitung per E-Mail, dass mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze verlorengehen und 17 der 40 Standorte von TÜV Nord aufgegeben werden sollen. Nach diesen Planungen sind davon unter anderem Filialen in Berlin, Bochum, Kleve und Neustrelitz betroffen. Auch die Beschäftigten, die ihre Arbeitsplätze behalten, sollen Opfer bringen. Die Geschäftsführung verlangt eine Absenkung ihres Bruttojahresentgeltes von 15 Prozent im Westen und 22 Prozent im Osten sowie die Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auf Betriebsversammlungen bekundete der Vorstandsvorsitzende von TÜV-Nord, Guido Rettich, sein Bedauern über die Einschnitte, bezeichnete sie allerdings als alternativlos.

Doch viele Mitarbeiter lassen sich nicht so einfach beschwichtigen. Zumal Rettich außerhalb der Betriebsversammlung verlauten lassen haben soll, die Bildungssparte nach Indien und China auslagern zu wollen. Allerdings kommt der Unmut der Beschäftigten über hilflose Gesten nicht hinaus. So wurde dem besagten Vorsitzenden in Anspielung auf seinen Nachnamen ein Rettich überreicht. Dabei müsste ein solch gravierender Angriff auf die Beschäftigten eigentlich flächendeckenden Widerstand hervorrufen. Doch die zuständige Verhandlungsführerin der Industriegewerkschaft Chemie, Bergbau und Energie (IG BCE) will konstruktiv über einen Sozialplan für TÜV Nord beraten.

Die Botschaft, die von diesem Verhalten ausgeht, ist fatal. Wenn selbst in einer Boomphase ein massiver Angriff auf die Rechte der Beschäftigten ohne Widerstand über die Bühne geht, wozu braucht es dann noch Gewerkschaften?

http://www.neues-deutschland.de/artikel/203191.rettich-statt-widerstand.html

Peter Nowak

In 54 Städten gegen Billiglohn und Hartz IV

Kampagne will Kräfte der Betroffenen bündeln / Große Organisationen versagen Unterstützung
Ein steuerfreier Mindestlohn von zehn Euro in der Stunde und eine Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes auf 500 Euro monatlich – das sind die Forderungen einer Kampagne, mit der sich am Sonnabend Initiativen in 54 Städten an die Bevölkerung wandten.
Informationsstände wurden organisiert, Flugblätter verteilt und Plakate geklebt – in erster Linie ging es den Initiatoren um Information und Aufklärung der Bevölkerung über die Ziele der Kampagne. Auch auf den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV, die in einigen Städten weiterhin existieren, sollen die Forderungen propagiert werden. Sie werden am heutigen Tag unter anderem in Bremen, Eisenhüttenstadt und Magdeburg im Mittelpunkt stehen. In Magdeburg wird zugleich an den siebenten Jahrestag der ersten Montagsdemo gegen Hartz IV erinnert, denn die Aktionen in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts wurden zum Auftakt der Bewegung gegen die Hartz-Gesetze im Spätsommer und Herbst 2004.

Jetzt stellt sich die Kampagne bescheidenere Aufgaben. Sie will die Interessen von Erwerbslosen, Lohnabhängigen und sozialen Bewegungen durch Bündelung stärken. Beteiligt sind das Erwerbslosenforum Deutschland sowie zahlreiche Organisationen und Netzwerke der sozialen Bewegung. Die Kampagne begann bereits 2007 mit einem Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV. Vor wenigen Wochen wurde die Kampagne um die Mindestlohnforderung erweitert. Damit habe man auf Befürchtungen eines verstärkten Lohndumpings durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit reagiert, die seit dem 1. Mai in ganz EU-Europa gilt, wie Kampagnensprecher Rainer Roth gegenüber ND erläuterte.

Im Internet wurde eine öffentliche Kampagnenseite eingerichtet (www.500-euro-eckregelsatz.de). Von den Betroffenen werden die Forderungen allerdings häufig positiver aufgenommen als von einigen großen Organisationen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Unterstützung der Kampagne ablehnten. So schreibt Hardy Krampertz vom Attac-Koordinierungskreis, dieser könne den Aufruf nicht unterstützen, weil Attac die Hartz IV-Gesetze grundsätzlich ablehnt und nicht verbessern will. »Als ein Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens, das Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beinhaltet, kann ich eine Forderung nicht mit tragen, die Armut festschreibt. Von 340 Euro kann mensch nicht leben, von 500 Euro aber auch nicht«, moniert Krampertz. Werner Rätz von der Attac-AG »Genug für Alle« geht auf einen weiteren Dissens ein. Während der Kampagnensprecher Rainer Roth fordert, dass alle sozialen Sicherungen aus Erwerbsarbeit, also Arbeitslohn oder Lohnersatzleistungen resultieren müssen, will die AG »Genug für Alle« die soziale Sicherheit der Menschen vom Verkauf der Arbeitskraft abkoppeln. Für den DGB wiederum sind die von der Kampagne aufgestellten Forderungen zu weitgehend. »Die von Ihnen aufgeführten Argumentationen sind nachvollziehbar. Nur in der Frage der politischen Mehrheit für eine solche Umsetzung fehlt es insbesondere in der jetzigen Konstellation der schwarzgelben Bundesregierung«, schreibt Reinhard Dombre, der beim DGB-Bundesvorstand für die Tarifpolitik zuständig ist. Er verweist darauf, dass der DGB einen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde beschlossen hat. Edgar Schu, der für das Aktionsbündnis Sozialproteste im Kampagnenrat sitzt, kann die Argumentation des Gewerkschafters nicht verstehen. »Maßstab für gewerkschaftliche Forderungen zur Höhe des sozialen Existenzminimums von Erwerbslosen und Lohnabhängigen kann nicht die Haltung der jeweiligen Regierung sein«, macht Schu den Standpunkt der Kampagne geltend. Ein Stundenlohn von zehn Euro sei »das soziale Existenzminimum« von Lohnabhängigen, das deshalb auch nicht mit einer Lohnsteuer belegt werden dürfe.

An diesem Punkt macht Rainer Roth auch einen Dissens mit der LINKEN aus. Die fordert ebenfalls einen Mindestlohn von zehn Euro, will ihn aber nicht von der Lohnsteuer ausnehmen. Einigkeit besteht zwischen der LINKEN und der Kampagne bei der Forderungen nach einer Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes auf 500 Euro. Auch die Aktionstage werden von verschiedenen Ortsverbänden der Linkspartei unterstützt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/202835.in-54-staedten-gegen-billiglohn-und-hartz-iv.html

Peter Nowak

Keine Stille nach dem Schuss

In einem hessischen Jobcenter wurde bei einem Polizeieinsatz eine Hartz-IV-Bezieherin tödlich verletzt. Der Ehemann und Freunde der Verstorbenen möchten das Geschehen rekonstruieren, unterstützt werden sie von Erwerbslosengruppen, anti­rassistischen Initiativen und Gewerkschaften.

 

DruckenWarum Christy Schwundeck sterben musste, ist ihren Freunden auch zwei Monate nach ihrem Tod noch immer ein Rätsel. Die in Nigeria geborene deutsche Staatsbürgerin starb am 19. Mai im Jobcenter des Stadtteils Gallus in Frankfurt am Main durch eine Polizeikugel.

Nach polizeilicher Darstellung war es zu einem Streit zwischen der 39jährigen Frau und einem Sachbearbeiter wegen der Auszahlung eines kleinen Vorschusses auf ihren bereits bewilligten Hartz-IV-Antrag gekommen. Weil Schwundeck über keinerlei finanzielle Mittel verfügte, wollte sie das Jobcenter erst verlassen, nachdem ihr zehn Euro ausgezahlt worden waren. Aus Sicht der Mitarbeiter der Behörde hat sie damit den Betriebsablauf gestört. Als die herbeigerufene Polizei Schwundeck zum Vorzeigen ihrer Ausweispapiere aufforderte, soll sie einen Polizeibeamten mit einem Messer angegriffen haben. Daraufhin hat eine Polizistin Schwundeck durch einen Bauchschuss lebensgefährlich verletzt. Die Frau verlor noch im Jobcenter das Bewusstsein und starb kurz darauf im Krankenhaus. Polizei und Staatsanwaltschaft erklärten bereits wenige Tage später, die Polizistin habe in einem »klaren Fall von Notwehr« gehandelt. Auch ein Großteil der Medien hat diese Version übernommen. »Über die persönliche Situation der Frau, die zum Amoklauf führte, wurde anfangs nicht berichtet. Man hat sie zum Monster gemacht und als Störerin abgestempelt«, bewertete Bernhard Schülke von der Frankfurter Erwerbslosengruppe Lucky Losers die Reaktionen in den Medien nach dem Tod von Schwundeck.

Nur der Ehemann und die Freunde der Toten wollten sich mit dieser Version nicht zufrieden geben. Einige Wochen nach ihrem Tod gründete sich die Initiative Christy Schwundeck, an der Erwerbslosengruppen, antirassistischen Initiativen und Untergliederungen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beteiligt sind. Am 18. Juni organisierte die Initiative einen Trauermarsch mit etwa 350 Teilnehmern durch die Frankfurter Innenstadt. Diese forderten Aufklärung über die Vorgeschichte des tödlichen Schusses. »Wir haben viele Fragen, auf die wir bis heute keine Antwort erhalten haben«, sagt Manga Diagne von der hessischen senegalesischen Vereinigung der Jungle World. »Hätte die Polizistin auch geschossen, wenn Schwundeck keine schwarze Hautfarbe gehabt hätte?« ist für ihn eine zentrale Frage. Die Initiative will auch die Ereignisse vor dem Eintreffen der Polizei rekon­struieren. Denn wie es zu der für Schwundeck tödlichen Eskalation kommen konnte, ist noch immer ungeklärt. Schließlich hatte die Leiterin des Jobcenters, Claudia Czernohorsky-Grüneberg, der Presse erklärt, die Frau sei gegenüber dem Sachbearbeiter nicht laut geworden. Außerdem wäre nach Angaben der Leiterin die Auszahlung eines kleinen Vorschuss sehr wohl möglich gewesen. Dann muss man sich fragen, warum Schwundeck der Vorschuss verweigert und stattdessen die Polizei gerufen wurde. Wollte man einer Frau, die sich nicht abwimmeln ließ, die Staatsmacht spüren lassen? Spielte dabei auch ihre Hautfarbe eine Rolle? Diesen Fragen möchte die Initiative Christy Schwundeck nachgehen. Bevor sie sich über die nächsten juristischen und politischen Schritte verständigt, will sie die Einsicht in die Akten abwarten.

Für Diagne ist der Tod von Schwundeck keine Verkettung unglücklicher Umstände, sondern liegt im Hartz-IV-System begründet: »Erwerbslose werden generell oft als Bittsteller behandelt und ihre Forderungen werden oft abgebügelt. Bei Schwundeck kam noch die Diskriminierung wegen ihrer Hautfarbe dazu.«

Wenn es auch selten zu tödlichen Konsequenzen kommt, die Klagen über die Behandlung im Jobcenter nehmen zu. »Immer wieder beschweren sich Erwerbslose mit migrantischem Hintergrund über Rassismus im Amt«, sagt Florian. Er beteiligt sich als Mitglied der Gruppe »Für eine Linke Strömung« (Fels) an einer Befragung vor dem Jobcenter im Berliner Stadtteil Neukölln. Nach dem Vorbild der militanten Untersuchung, mit denen radikale Linke in Italien Informationen über das Fa­brikregime sammelten, möchte Fels die Funktion der Arbeitsagenturen und Möglichkeiten einer politischen Intervention erkunden. »Obwohl die Klagen über die Behandlung im Jobcenter groß sind, ist die Bereitschaft zur Gegenwehr nicht sehr ausgeprägt«, schlussfolgert Florian aus der Untersuchung.

Erwerbsloseninitiativen sehen in fehlenden oder unzureichenden solidarischen Strukturen einen Grund für die Ausweglosigkeit und Verzweiflung, die bei Christy Schwundeck tödlich endete. »Wenn es nicht an vielen Orten den unermüdlichen Einsatz von Freiwilligen in den Selbsthilfe-Beratungsgruppen gäbe, würde auf den Ämtern viel mehr passieren«, sagte ein engagierter Erwerbsloser nach Schwundecks Tod. Mit der Kampagne »Niemand muss allein zum Amt« versuchen Initiativen, der Vereinzelung im Jobcenter zu begegnen. Sie begleiten Erwerbslose und berufen sich dabei auf Urteile von Sozialgerichten, die schon in den siebziger Jahren die Hinzuziehung von Beiständen für rechtmäßig erklärten. Deutlich offensiver angelegt sind die Zahltage, bei denen Erwerbslose meist am Monatsbeginn in größeren Gruppen ihren Fallmanager aufsuchen, wenn ein Antrag nicht bewilligt oder kein Geld überwiesen wurde. Nach einer erfolgreichen Zahltagsaktion nehmen die Erwerbslosen den Betrag bar mit nach Hause. Genau das wollte Christy Schwundeck auch, als sie am 19. Mai das Jobcenter in Gallus betrat.

http://jungle-world.com/artikel/2011/29/43626.html

Peter Nowak

Vom Fabriktor zum Jobcenter

Linke Interventionen in Arbeitskämpfe

Tausende linke Studierende sind in den 1970er Jahren in die Fabriken gegangen, um die Revolution zu beschleunigen. Auf einer Veranstaltung der Gruppen fels (Für eine linke Strömung) und der Internationalen Kommunisten in Berlin wurde diskutiert, welche Relevanz das für Interventionen in heutige Arbeitskämpfe hat.
»Die Bedeutung, die die Fabrik in den 1970er Jahren hatte, spielt im Berliner Stadtteil Neukölln für viele Menschen das Jobcenter«, erklärt Florian, der sich in einer Gruppe engagiert, die nach dem Vorbild der militanten Untersuchungen das Verhalten von Sachbearbeitern, die Bewilligung von Anträgen und das allgemeine Klima analysiert. Entwickelt wurde diese Aktionsform in den 1960er Jahren in Italien zur Untersuchung der Fabrikverhältnisse.

Ihr Ergebnis: In den Jobcentern fühlen sich viele Erwerbslose schikaniert, nicht ernst genommen, monieren die lange Bewilligungszeit von Anträgen. Migrantische Erwerbslose klagen zudem über rassistische Bemerkungen. Allerdings stellt Florian auch fest, dass die Bereitschaft, sich langfristig für eine Veränderung der Situation am Jobcenter zu engagieren, bei den meisten Betroffenen gering ist.

Auch Muchtar Cheik Dib und Carsten Does, die über den langwierigen Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege berichten, beklagen die geringe Bereitschaft der Belegschaft sich zu engagieren. Trotzdem konnten die Betriebsräte der Berliner Ambulanten Dienste e.V. neue Aktionsformen vorstellen. Dazu gehörte eine Plakat- und Postkartenserie, eine Ausstellung und der »Scheißstreik«, bei dem vermeintliche Exkremente in Plastikröhrchen verpackt an für prekäre Arbeitsbedingungen Verantwortliche gesandt wurden.

Über kleine Schritte bei der Organisierung von Praktikanten und Honorarkräften im Bildungsbereich berichtet Nico von der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union (FAU). Hier wurde eine transparente Verteilung der Aufträge durchgesetzt, was es erschwert, Beschäftigte gegeneinander auszuspielen.

Anlass für die Veranstaltung war die Buchvorstellung des Politikwissenschaftlers Jan Ole Arps, der in seinem Buch »Frühschicht« die linke Fabrikintervention in den 1970er Jahren vorstellt.

Jan Ole Arps: »Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren«, Berlin-Hamburg 2011, 238 Seiten, 16 Euro.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/202389.vom-fabriktor-zum-jobcenter.html

Peter Nowak

Testurteil: mangelhaft

 Beim TÜV Nord droht rund 450 Beschäftigten der Jobverlust. IG BCE und Betriebsrat stimmten den Unternehmerplänen zu.

Das Bildungszentrums TÜV-Nord beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Ausbildung von Facharbeitskräften. Auf der Homepage preist die Gesellschaft neue Wege, mit denen jungen Menschen ein guter Start ins Berufsleben ermöglicht werden soll. Nicht wenige der Mitarbeiter des Bildungszentrums müssen sich jetzt selber Gedanken über einen beruflichen Neuanfang machen. Ihnen eröffnet der TÜV Nord dabei keine neuen Wege. Im Gegenteil.

 Im Mai 2011 wurden die 1500 Mitarbeiter vom Vorstand darüber informiert, dass in dem Unternehmen Kündigungen und Gehaltskürzungen anstehen. Etwa die Hälfte der Bildungszentren müsste schließen, und rund 450 Personen könnten nicht weiterbeschäftigt werden. Da ein Teil der Belegschaft befristete Verträge hat, steht die Zahl der betriebsbedingten Kündigungen noch nicht endgültig fest. Die schlechten Nachrichten kamen überraschend. Schließlich hatten sich erst vor einem Jahr beim Verkauf der Gesellschaft von der RAG-Bildung an den TÜV Betriebsrat und Geschäftsleitung auf einen Beschäftigungsrahmenvertrag geeinigt.

Darin heißt es: »Aus Anlass der Übernahme der Geschäftsanteile an der TÜV Nord Bildung GmbH wird keinem bei der TÜV Nord Bildung GmbH und den Tochtergesellschaften angestellten Arbeitnehmer aus betriebsbedingten Gründen innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren ab dem 1. Juli 2010 gekündigt.« Diese Vereinbarung hatte der Sprecher von TÜV Nord Jochen May noch im Mai 2011 gegenüber der »Aachener Zeitung« bekräftigt.

Der Vertrag schließe Kündigungen nur aus betriebsbedingten Gründen nicht aber aus wirtschaftlichen aus, argumentieren Geschäftsleitung und die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von TÜV Nord Ulrike Geier und Marc Welters von der Tarifabteilung der IG BCE. Unterstützungsangebote der Linksfraktion in NRW, die gegen den Personalabbau Stellung nahm, wurden von Geier abgelehnt. Das Agieren von Betriebsrat und Gewerkschaft sorgt bei einem Teil der Belegschaft für Unmut. »Ein Betriebsrat, der die Entlassungen tatkräftig unterstützt, beraubt sich seiner eigenen Existenzberechtigung«, heißt es in einen Kommentar.

Marc Welters wollte zu den Vorwürfen nicht direkt Stellung nehmen, sich aber auf eine Verteidigung der Betriebsvereinbarung und eine Ablehnung jeder Kündigung auch nicht festlegen. »Wir unterstützen die Pläne zum Erhalt der TÜV NORD Bildung. Dazu haben wir unter anderem auf die Einrichtung eines Runden Tisches bestanden, um gemeinsam mit Unternehmens- und Belegschaftsvertretern eine Perspektive für die Gesellschaft zu entwickeln«, betont Welters gegenüber ND.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/201611.testurteil-mangelhaft.html

Peter Nowak

Handlungskompetenz statt Rendite

 Zoff im DGB um die Schließung zweier Bildungszentren

Die DGB-Bildungszentren in Hamburg-Sasel und Starnberg schließen endgültig. 41 Stellen sollen wegfallen, der Betriebsrat ist sauer – der DGB-Vorsitzende »nicht zuständig«.

 Der Sensenmann trägt Brille und hat ein DGB-Symbol auf seinem schwarzen Umhang. Er ziert eine Todesanzeige des Förderkreises Sasel e.V., in der es heißt: »Der DGB schließt die Bildungszentren Sasel und Starnberg«. Schon als die Pläne zur Aufgabe dieser beiden Bildungsstätten bekannt wurden, regte sich schnell in sämtlichen Gewerkschaften Widerspruch. Innerhalb weniger Wochen unterschrieben mehr als 4000 Gewerkschafter eine Erklärung für den Erhalt dieser Einrichtungen.

Nachdem der Interessenausgleich zwischen dem Gesamtbetriebsrat und der Geschäftsführung des DGB Bildungswerks am 17. Juni in Berlin endgültig scheiterte, ist die Enttäuschung bei Hans Mielke vom Förderkreis Sasel groß. »Eineinhalb Jahre habe ich mich für den Erhalt des Bildungswerkes eingesetzt. Jetzt stehe ich vor einer schwarzen Mauer«, erklärt er gegenüber ND. Im Dezember hatte Mielke noch in einen offenen Brief an den DGB-Bundesvorstand und die Vorsitzenden der Mitgliedsgewerkschaften appelliert, die Bildungswerke zu erhalten. »Dabei war die Schließung dort schon längst beschlossene Sache«, resümiert Mielke bitter.

»Der DGB Bundesvorstand in Person von Michael Sommer hat sich auf alle Schreiben, die wir geschickt haben, immer mit der Erklärung aus der Affäre gezogen, er sei nicht zuständig«, erklärt die Gesamtbetriebsrätin des Bildungswerks Ingrid Gohr-Anders. Sie bestätigt, dass die Betriebsräte in Sasel und Starnberg in der letzten Woche zu Anhörungen zu Kündigungen geladen wurden, denen sie widersprochen hatten. 41 Stellen im Servicebereich sollen wegfallen. Doch den Kritikern des Schließungsbeschlusses geht es auch um den Erhalt eines Stücks Arbeiterkultur. »Das Ziel gewerkschaftlicher Bildung ist nicht die Erwirtschaftung von Renditen, sondern die Vermittlung von Handlungskompetenz«, schreibt Gohr-Anders in der Gewerkschaftszeitung »Mitbestimmung«. Sie ist überzeugt, dass der »Lernort gewerkschaftliche Bildungseinrichtung« nicht durch Hotels ersetzt werden könne. Die Bildungsarbeit solle in den eigenen Häusern fortgesetzt werden, statt mit ihrer Zerschlagung Entwicklungspotenziale des Bildungswerks zu gefährden.

Den Einwand kann der Sprecher des Bildungswerkes Thomas Schulz nicht nachvollziehen. »Am Standort Hamburg wird das Bildungswerk aus einem gepachteten Haus am Stadtrand Hamburg-Sasel in das zentral gelegene DGB-Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof umziehen«, sagt er. Allerdings gibt es noch keinen Termin. Schulz betont, dass ein Erhalt der beiden Häuser angesichts der veränderten Nachfrage im Bildungsbereich und fälligen Millioneninvestitionen für das Bildungswerk schwer tragbar gewesen wäre. Im Gespräch mit ND bedauert er die Blockadehaltung des Betriebsrates. Für ihn als alten, erfahrenen Gewerkschafter sei es unbegreiflich, wie der Betriebsrat sich genau jenen gesetzlichen Möglichkeiten verweigere, für sich die Gewerkschaften jahrzehntelang eingesetzt haben, um betriebliche Veränderungen möglichst so zu gestalten, dass niemand in die Arbeitslosigkeit entlassen werden muss. Andere Gewerkschafter weisen darauf hin, dass das Ziel vieler Arbeitskämpfe die Verhinderung und nicht die sozialverträgliche Umsetzung von Kündigungen war und ist. Daran wolle man auch festhalten, wenn der Kontrahent der DGB ist.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/201034.handlungskompetenz-statt-rendite.html

Peter Nowak

Protest der Behindertenassistenz

Care-Sektor braucht Kümmerer

 Behinderten-AssistentInnen fordern Tariflöhne. Die Senatssozialverwaltung bedauert: Ihr seien in diesem Konflikt die Hände gebunden.
„Tariflöhne für alle, sonst gibts Krawalle.“ Mit diesem und anderen Slogans demonstrierten am Mittwoch rund 150 Beschäftigte und AktivistInnen von Behindertenverbänden vor der Senatsverwaltung für Soziales in Kreuzberg. Ihr Anliegen: eine bessere Bezahlung der Behinderten-AssistentInnen. Krawalle gab es aber nicht – und der hartnäckige Sommerregen zerstreute die Gruppe schneller als geplant.
 
„Nach über zehn Jahren Lohnstagnation und massiven Lohnabsenkungen für Neubeschäftigte ist unsere Geduld erschöpft“, bringt Carsten Does vom Betriebsrat bei Ambulante Dienste e. V. die Stimmung der Beteiligten auf den Punkt. Dabei wissen alle, wie schwer ein Kampf um bessere Arbeitsbedingungen im Pflegebereich ist, der auch als „Care-Sektor“ bezeichnet wird. Niedrige Löhne und ungeregelte Arbeitszeiten sind an der Tagesordnung. „Pro Care statt prekär“ lautet denn auch die Parole der Protestaktionen.
  Bereits vergangene Woche hatten die AktivistInnen die Senatsverwaltung kurzzeitig besetzt. Sie protestierten dagegen, dass die Beschäftigten nicht an den Neuverhandlungen des Vergütungsvertrags zwischen Kostenträgern und Anbietern von persönlicher Behindertenassistenz beteiligt sind. Das schließe das Sozialgesetzbuch aus, erklärt dazu die Sprecherin der Sozialverwaltung, Anja Wollny. Allerdings könnten die Einrichtungsträger Vertreter der Beschäftigen in die Gespräche einbeziehen. Während Wollny Befürchtungen der Betroffenenverbände entgegentrat, der Kreis der Leistungsberechtigten solle weiter eingeschränkt werden, berichtet Betriebsrat Does, in einer Betriebsversammlung seien solche Pläne auf den Tisch gekommen.
 
Wollny bedauerte, der Senat habe keine gesetzliche Handhabe, um eine Tarifbezahlung der PflegeassistentInnen durchzusetzen. Einen Hebel für die Beschäftigten sieht sie in einem Urteil des Bundessozialgerichts von 2009: Danach können Betriebe, die nachweislich Tariflöhne zahlen, ihre Mehrkosten ersetzt bekommen.
 
In dieser Entscheidung sieht Wollny den Versuch des Gerichts, der Dumpinglohn-Strategie entgegenzutreten. Da ist der Betriebsratsvorsitzende der Ambulanten Dienste, Muchtar Cheik Dib, skeptischer. Das Urteil werde völlig unterschiedlich ausgelegt, sagte er der taz. „Während die Gewerkschaften darin eine Förderung von Tariflöhnen sehen, sprechen die Arbeitgeber von marktüblichen Löhnen, die aber deutlich niedriger sind.“
 
Ein Problem sieht Cheik Dib auch darin, dass es bei der Behindertenassistenz keine Vertragspartner gebe. Deshalb würden die Beschäftigten den Druck auf den Senat noch erhöhen. Zumindest die Sozialverbände unterstützen sie. „In dieser Frage ziehen wir an einen Strang“, erklärte die Geschäftsführerin der Ambulanten Dienste, Uta Wehde.

 http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/care-sektor-braucht-kuemmerer/

Peter Nowak

Tariflohn statt Ein-Euro-Job

Ein-Euro-Jobbern stehen Tariflöhne zu, wenn sie nachweisen können, dass ihre Tätigkeit eine reguläre Arbeitsstelle verdrängt hat. Dieses Urteil des Bundessozialgerichts (Az: B 14 AS 98/10 R) ist eine gute Nachricht für viele Billiglöhner, die Arbeiten verrichten müssen, die früher tariflich bezahlt wurden.

 Geklagt hatte ein Mann aus Mannheim, der mehrere Wochen auf Ein-Euro-Basis als Umzugshelfer beschäftigt war. In zwei Instanzen war er mit seiner Klage gescheitert, nun hat er Recht bekommen. Das Bundessozialgericht verurteilte das beklagte Jobcenter, den Betrag von 149,28 Euro nachzuzahlen. Bei der Arbeitsgelegenheit fehlte das Merkmal der Zusätzlichkeit, lautete die Begründung der Richter.

Das Urteil könnte eine Klagewelle auslösen. Schließlich geht selbst der Bundesrechnungshof davon aus, dass bei etwa der Hälfte aller Ein-Euro-Jobs die Voraussetzungen für eine staatliche Förderung fehlen. In vielen Fällen lässt sich unschwer nachweisen, dass damit tariflich bezahlte Arbeitsplätze ersetzt wurden. Oft wird diese Absicht nicht einmal notdürftig kaschiert, obwohl offiziell Ein-Euro-Jobs nur bei Stellen Anwendung finden sollten, die es sonst gar nicht geben würde. Darauf hat der Bezirksvorsitzende der IG BAU Berlin, Erhard Strobel, hingewiesen. Seine Gewerkschaft bietet Ein-Euro-Jobbern Rechtsschutz beim Einklagen von Tariflöhnen an.

Das Kriterium der Zusätzlichkeit wurde nicht ernst genommen, weil die Jobcenter und die Beschäftigungsindustrie nicht erwarteten, dass Ein-Euro-Jobber Tariflöhne einklagen würden und auch noch Recht bekommen. Das Urteil ist eine Ermutigung für die Erwerbslosengruppen, die seit Jahren gegen Ein-Euro-Jobs kämpfen. Aber Erhard Strobel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Ein-Euro-Jobs auch ein Angriff auf die Beschäftigten sind. Denn damit wird eine Abwärtsspirale bei den Löhnen aller Beschäftigten in Gang gesetzt. Daher sollte das Urteil für weitere Klagen und öffentlichen Druck genutzt werden. Vielleicht kann es auch dazu beitragen, dass Ein-Euro-Jobber sich organisieren. Denn es zeigt, sie sind längst nicht so machtlos, wie sie in den Medien oft dargestellt werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/198534.tariflohn-statt-ein-euro-job.html

Peter Nowak

Kein Windrad ohne Stahlindustrie

Eine Konferenz widmete sich dem Verhältnis von alter und neuer Ökonomie

 Die Beschäftigten in Dienstleistungssektor leiden unter Arbeitszeitverdichtung und niedrigen Löhnen. Im Gegensatz zur »alten ökonomie« konnten hier Gewerkschaften bislang weit weniger Forderungen durchsetzen.

Im Foyer des Berliner Museums für Kommunikation vermischt sich neoklassische Architektur mit der Leuchtschrift der modernen Technik. Kein schlechter Ort, um über das Verhältnis von alter und neuer Ökonomie zu sprechen. Das war Thema einer Tagung, zu der die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung am Montagabend eingeladen hatten. Ausgangspunkt war der Befund, dass die gesellschaftliche Wertschätzung von Dienstleistungsarbeit gering sei, obwohl heute mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten in Dienstleistungsberufen arbeiteten und zu mehr als 70 Prozent der wirtschaftlichen Wertschöpfung beitragen.

 Erfahrungen am Arbeitsplatz belegen das. Die Kollegen würden oft gar nicht wahrgenommen oder gar als Fußabtreter benutzt, wenn die Kunden schlechte Laune haben, klagte Karstadt-Betriebsrätin Angelika Ebeling. Aus ihrer Sicht sind die Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten und die Ausweitung von Teilzeitarbeit zwei Hauptprobleme.

Die Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind kaum besser. Arbeitszeitverdichtung und niedrige Löhne sind die zentralen Stichworte für die Leiterin des Fachbereichs Gesundheit und Soziale Dienste bei ver.di, Ellen Paschke. Einen Grund für die Missstände sieht sie in der weitverbreitenden Vorstellung, dass »Tätigkeiten am Menschen« wenig produktiv seien. Zudem sind in diesem Sektor viele Frauen beschäftigt, wodurch die Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern aufrechterhalten werde.

SPD-Chef Sigmar Gabriel wandte sich bei der Tagung gegen die Unterteilung in alte und neue Ökonomie: Kein Windrad könne ohne Stahlindustrie auskommen. Auch für die deutsche Batterieindustrie, die in den 80er Jahren weitgehend nach Asien und Lateinamerika abgewandert sei, sieht Gabriel durch die Debatte über eine ökologische Haushaltsführung Rückkehroptionen.

Ansonsten sparte Gabriel nicht mit Polemik gegen den Wirtschaftskonkurrenten China, dem er vorwarf, sich »mit daher gelaufenen Kriegsherrn in Afrika« zu verbinden. Dafür vermissten Teilnehmer konkrete Vorhaben, wie Misständen im Dienstleistungssektor abgeholfen werden könne. Sie haben nicht vergessen, dass die von Gabriel nun kritisierten Privatisierungen und Flexibilisierung der Arbeitszeit unter einer rot-grünen Bundesregierung begonnen haben.

Statt Abwertung der Konkurrenz in Asien vertrat Betriebsrätin Ebeling eine solidarische Vision: Die Produzenten in den Ländern des globalen Südens müssten mit den Beschäftigten in hiesigen Kaufhallen in einer gesellschaftlichen Bewegung zusammenfinden. Unter dem Stichwort »fairer Handel und fairer Verkauf« sollten die Interessenbeider Seiten zum Tragen kommen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/198537.kein-windrad-ohne-stahlindustrie.html

Peter Nowak