Verfassungswidrige Wohnregelung?

Ein Urteil des Sozialgerichts Mainz könnte das Ende der schwammigen Hartz-IV-Bemessung bringen
Richter halten den Begriff der »angemessenen Miete« für zu pauschal und ungeeignet.

Für viele Erwerbslose ist die Hartz-IV-Wohnregelung ein Grund für Ärger und Furcht. Es geht um Paragraf 22 Absatz 1 SGB, der die Kosten der Unterkunft für Erwerbslose regelt. Die Kommunen übernehmen nicht die Miete komplett, sondern den Teil, den sie für »angemessen« halten.

Dieser schwammige Passus könnte dazu führen, dass die Hartz-IV-Wohnregelung verfassungswidrig ist. Dieser Meinung zumindest ist das Mainzer Sozialgericht. In einem erst jetzt bekannt gewordenen Urteil (Az.: S 17 AS 1452/09) vom 8. Juni monierte das Gericht, dass die Regelung »nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar« sei. Dabei beriefen sich die drei Mainzer Richter auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, in dem der damalige Hartz-IV-Regelsatz verworfen wurde.

Erst vor wenigen Wochen wurde mit Verweis auf dieses Urteil die Hartz-IV-Regelung für Flüchtlinge für grundgesetzwidrig erklärt, weil die bisherigen Sätze keine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Nun könnte über die Wohnrechtregelung das gleiche Urteil gefällt werden, sollte sich auch das Bundesverfassungsgericht der Lesart des Mainzer Sozialgerichts anschließen.

Es hatte über die Klage eines Ehepaars zu entscheiden, das die Einkünfte ihrer Lohnarbeit mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken musste. Für die 62 Quadratmeter große und 358,13 Euro teure Wohnung der beiden hielt das Wormser Jobcenter lediglich einen Betrag von 292,20 Euro Miete für angemessen. Die Mieter sollten sich eine günstigere Wohnung suchen oder die Mietdifferenz selber tragen. Die Richter verurteilten das Jobcenter dazu, die vollständige Miete zu übernehmen.

In der Begründung verwarfen die Richter den Begriff der »angemessene Miete« als zu pauschal. Er sei »auf Grund seiner Entstehungsgeschichte und seiner Unbestimmtheit (…) angesichts der verfassungsrechtlichen Vorgaben« für die Bestimmung des Existenzminimums nicht geeignet, heißt es in der Urteilsbegründung.

Der Begriff könne nur dann verfassungskonform ausgelegt werden, wenn das Jobcenter prüft, ob Mieten »deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen«. Könne die Behörde das nicht nachweisen, dann müsste sie »die Aufwendungen in voller Höhe weiter (…) übernehmen«. Mit dieser Einschätzung greifen die Richter einen Punkt auf, der bei Erwerbslosen seit der Einführung moniert wird. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass auf den örtlichen Märkten kaum Wohnungen in der Miethöhe zu finden sind, »die von den Jobcentern als angemessen bezeichnet werden«.

Besonders die Innenstadtbezirke würden so zu Zonen, in denen Erwerbslose und Menschen mit niedrigen Einkommen nicht mehr leben können, kritisieren Erwerbslosenaktivisten. Dass sie neben der Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse auch um ihre Unterkunft fürchten müssen, ist für viele Betroffene eine besondere Belastung.
ttp://www.neues-deutschland.de/artikel/234748.
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Peter Nowak

Neue Hartz IV-Regelung verfassungswidrig?

Weder die Hartz IV-Neuregelung noch das von der Regierung beschlossene Bildungspaket halten nach Gutachten die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein

  Ab Januar 2012 soll der Regelsatz für Hartz IV-Bezieher um 10 Euro auf 374 Euro steigen. Entsprechende Medienberichte hat eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums bestätigt.

Heftige Kritik an der Maßnahme, die noch in diesem Monat vom Bundeskabinett beschlossen werden soll, kommt von Gewerkschaften und Sozialverbänden. So erklärte Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband: „Auch die angekündigte 10-Euro-Erhöhung macht die Hartz-IV-Regelsätze nicht verfassungsfester. Dass für die älteren Kinder gar keine Anpassung erfolgt, ist ignorant und geht an der Alltagsrealität von Familien vollkommen vorbei.“

Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand forderte eine grundsätzliche Reform der Hartz IV-Gesetze. Buntenbach kann sich mit ihrer Kritik auf zwei Studien der DGB-nahen Hans Böckler Stiftung stützen, die am 5. September in Berlin vorgestellt wurden. Danach entsprechen weder die Hartz IV-Neuregelung noch das von der Regierung beschlossene Bildungspaket den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Wegen methodischer Fehler bei der Bemessung sei der Regelsatz für Hartz IV-Bezieher kleingerechnet worden. Das ist das Fazit zweier von dem Juristen Johannes Münder auf Basis von Daten der Verteilungsforscherin Doktor Irene Becker erstellten Studie.

An 10 Punkten werden Widersprüche zum Hartz IV-Urteil festgestellt

Ein zentraler Kritikpunkt lautete, bei der Festsetzung des Regelbedarfs seien Menschen mit geringen Einkommen als Referenzgruppe aufgenommen worden, obwohl die Richter in Karlsruhe betonten, dass das Existenzminimum nicht über das Konsumverhalten von Menschen ermittelt werden darf, die von Sozialhilfe oder Hartz IV-Leistungen angewiesen sind. Mit der Ungleichbehandlung von Single-Haushalten und Familien bei der Festsetzung des Regelsatzes werde gegen das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verstoßen.

Als Hauptmangel beim Bildungspaket wurde die Benachteiligung von Kindern aus strukturschwachen Gebieten angeführt. Denn dort, wo keine Bildungsförderungsmaßnahmen angeboten werden, besteht nach der Logik der Gesetzgeber auch kein Anspruch auf Leistungen.

Eine unabhängige Kommission wird gefordert

Buntenbach forderte als Konsequenz aus den Studien die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die die Regelsätze nach dem tatsächlichen Bedarf und nicht nach Kassenlage bemisst. „Es wäre ein Armutszeugnis, wenn erst erneut das Bundesverfassungsgericht eingreifen müsste“, so die Gewerkschafterin. Tatsächlich haben mittlerweile mehrere Betroffene Klagen gegen die neuen Regelsätze eingereicht, darunter auch Gewerkschaftsmitglieder, die vom DGB unterstützt werden.

Allerdings warnen Erwerbslosenaktivisten vor zu großen Hoffnungen, dass es Karlsruhe schon im Sinne der Erwerbslosen richten werde. Schon im letzten Jahr wurden von manchen Sozialverbänden Illusionen verbreitet. Doch in dem Urteil haben die Richter bewusst keine konkreten Zahlen für Hartz IV-Sätze vorgegeben. „Das Positivste, was aus der Diskussion um die Klage entstanden ist, war das Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“, das im letzten Herbst für eine Erhöhung des Regelsatzes eintrat und sich dabei nicht in juristischen Details verfing, sondern die konkrete Situation der Betroffenen thematisierte“, meinte ein Erwerbslosenaktivist. Das Bündnis, um das es nach dem Urteil ruhig geworden ist, könnte bei erneuten Klagen wieder aufleben.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/150416

Peter Nowak

Hartz ab 1. Januar ohne Rechtsgrundlage?

Sind die bisherigen Hartz IV-Sätze ab Jahresbeginn verfassungswidrig? Über diese Frage gibt es unter aktiven Erwerbslosen kontroverse Diskussionen
Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum Deutschland bejaht die Frage und ruft mit anderen Erwerbslosengruppen dazu auf, Widerspruch gegen alle nach dem 1.Januar 2011 bewilligten Bescheide einzulegen.

Der Gesetzgeber hatte die Aufgabe, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 umzusetzen – und zwar bis zum 1. Januar 2011. Der Bundesrat hat am 17. Dezember die neuen Hartz-IV-Sätze abgelehnt. Deshalb fehle mit Jahresbeginn eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Hartz IV-Sätze, so Behrsing. Mit dem Widerspruch soll erreicht werden, dass die Jobcenter nur noch vorläufige Bewilligungsbescheide herausgeben und weitere juristische Klärungen abzuwarten.

Brigitte Vallenthin von der Hartz4-Plattform kritisiert, dass durch mögliche Massenklagen die Sozialgerichte für von der Politik erzeugte Probleme in die Verantwortung genommen werden. Sie setzt sich für eine Musterklage beim Sozialgericht nach Verabschiedung der neuen Regelung ein. Dort soll festgestellt werden, ob damit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entsprochen wurde.

Der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit Heinrich Alt bestätigte, dass die neuen Sätze ab Jahresbeginn gelten, wegen der Verzögerungen in der Politik aber frühestens zum 1. April 2011 ausgezahlt werden können.

Diese Klarstellung war mit der Warnung vor einer Welle von Widersprüchen gekoppelt, die laut Alt die Arbeit der Jobcenter beeinträchtigen könnten. Die Initiatoren aus dem Erwerbslosenspektrum haben nach der Intervention aus Nürnberg ihre Position bektäftigt. „Leistungsbezieher muss es nicht interessieren, welche organisatorischen Aufgaben Behörden übernehmen müssen, wenn der Gesetzgeber seinen Aufgaben nicht nachgekommen ist. Zeit dazu hatte er genügend gehabt“, kontert Behrsing dem BAG-Chef.

Krach schlagen für gesunde Ernährung

Neben dem juristischen Geplänkel wollen Erwerbslose aus dem ganzen Bundesgebiet am 22. Januar auf einer Demonstration anlässlich der Grünen Woche in Berlin noch einmal Krach schlagen für einen Hartz IV-Satz, der gesunde Ernährung gewährleistet.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/149012

Peter Nowak