Initiativen wollen sich gegen Mietsteigerungen wehren / Konferenz am Wochenende
Die Passionskirche am Marheinekeplatz in Kreuzberg war gut gefüllt. Aber nicht die Seelsorge, sondern die Angst vor Mieterhöhung und Vertreibung hatte die Menschen zu dem Diskussionsabend mobilisiert. Eingeladen hatten verschiedene Mieterbündnisse, die sich seit Monaten regelmäßig treffen und verschiedene Arbeitsgruppen gegründet haben. Eine Recherchegruppe erforscht die Besitzverhältnisse bestimmter Häuser. Eine Politik-AG bereitet einen Spaziergang im Chamissokiez vor.
»Nicht die Modernisierung ist das Problem, sondern die folgenden Mietsteigerungen«, betonte Mieteranwalt Heinz Paul. Die Chancen für eine erfolgreiche Gegenwehr seien ungleich höher, wenn sich die Bewohner eines betroffenen Hauses möglichst frühzeitig und zahlreich zusammenfinden und organisieren, betonte der Jurist. Schließlich wollen die meisten Eigentümer zeit- und kostenaufwendige Gerichtsprozesse vermeiden und bevorzugen außergerichtliche Einigungen.
In der Diskussion wurde der Politik Benachteiligung der Mieter vorgeworfen. So berichtete eine Mieterin, dass ihr Wohnhaus von einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gekauft worden sei. Diese Rechtsform ermögliche jedem Gesellschafter Kündigungen wegen Eigenbedarfs und trage so zur Aushebelung des Mieterschutzes bei. Die Wohnungspolitik des Senats wurde heftig kritisiert. So sei die Zweckentfremdungsverordnung aufgehoben, aber keine Rechtsverordnung für den Milieuschutz erlassen worden. Auch eine Verlängerung der Sperrfrist von Kündigungen nach der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen war eine Forderung aus dem Publikum.
Der Berliner Mieterverein, der Landesverband des Arbeitslosenverbandes e.V. und die »Kampagne gegen Zwangsumzüge nach Hartz IV« haben den Senat aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass die Jobcenter die Aufforderungen an Erwerbslose aussetzen, wegen zu hoher Mietkosten die Wohnung zu wechseln. Außerdem müsse der Senat unverzüglich regeln, welche Kosten der Unterkunft (KdU) angemessen sind.
Im vergangenen Jahr forderten die Berliner Jobcenter in 8770 Fällen Erwerbslose zur Senkung ihrer Mietkosten auf. In 3917 Fällen wurde eine Senkung der Kosten erreicht, in 428 Fällen durch einen Wohnungswechsel. In den übrigen Fällen mussten die Erwerbslosen durch Einsparungen an anderer Stelle oder durch Untervermietung die zusätzlichen Mietkosten aufbringen.
Die Mieterinitiativen wollen den Wahlkampf zum Abgeordnetenhaus nutzen, um für eine mieterfreundliche Politik zu werben. Dass dabei alle Parteien in der Kritik stehen, zeigte sich an Plakaten mit den gar nicht so freundlichen Konterfeis der Spitzenkandidaten. Der nächste Termin für die Protestkoordinierung steht schon fest. Am 16. April lädt die Berliner Mietergemeinschaft von 10.30 Uhr bis 18 Uhr unter dem Titel »Vorsicht Wohnungsnot« zu einer Konferenz ins DGB-Haus, Keithstraße 1/3.
HARTZ IV Wohnpauschale für Erwerbslose ist zu niedrig, sagen Mieter- und Arbeitslosenvereine
Der Berliner Mieterverein und der Berliner Landesverband des Arbeitslosenverbandes e. V. fordern ein Ende der Zwangsumzüge von Hartz-IV-Beziehern. Der Senat müsse Sorge tragen, dass die Jobcenter die Aufforderungen an Erwerbslose aussetzen, wegen zu hoher Mietkosten die Wohnung zu wechseln. Außerdem müsse der Senat unverzüglich neu regeln, was als angemessene Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft (KdU) gelten kann. Die 2005 erlassene Verwaltungsvorschrift zur Wohnkostenübernahme sei wegen der gestiegenen Mieten in Berlin Makulatur und stehe im Widerspruch zu höchstrichterlichen Vorgaben. „Aber wir befürchten, dass SPD und Linke im Senat wegen Uneinigkeit die Frage einer Neuregelung bis nach den Abgeordnetenwahlen im Herbst hinauszögern will“, begründete der Geschäftsführer des Mietervereins Reiner Wild am Montag auf einer Pressekonferenz die Initiative.
„Eine weitere Verzögerung würde für Tausende von Bedarfsgemeinschaften trotz gestiegener Mieten und Heizkosten zu geringe Wohnkostenübernahmen bedeuten und hätte eine neue Klagewelle vor den Sozialgerichten zur Folge“, betont Wild. Unterstützt wird die Initiative von der „Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge nach Hartz IV“, die Erwerbslose berät, die zu Senkungen ihrer Miete aufgefordert werden. Kampagnen-Mitbegründerin Eva Willig erklärte, die Frage, ob Erwerbslose ihre Wohnung behalten können, sei für viele existenziell.
So forderten die Berliner Jobcenter 2009 in 8.770 Fällen Erwerbslose zur Senkung ihrer Mietkosten auf. In 3.917 Fällen wurde eine Senkung der Kosten erreicht, in 428 Fällen durch einen Wohnungswechsel. In den übrigen Fällen kommen die Erwerbslosen durch Einsparungen an anderer Stelle oder durch Untervermietung für die zusätzlichen Mietkosten auf.
Um die Koordinierung von MieterInnenprotesten wird es auch auf einer Konferenz gehen, zu der die Berliner Mietergemeinschaft am Samstag von 10.30 Uhr bis 18 Uhr ins DGB-Haus in die Keithstraße 1-3 einlädt
Auf einem Medienkongress in Berlin wurden manche Mythen über die Internetgesellschaft in Frage gestellt
Viel wurde über Revolution geredet am 8. und 9. April im Berliner Haus der Kulturen der Welt, über die im arabischen Raum ebenso wie über die Internetrevolution. Die sollte eigentlich im Mittelpunkt des von Freitag und Taz organisierten Medienkongresses stehen, der das Motto trug: „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt.“
Doch in die Planungsphase fielen die Aufstände von Tunesien, Ägypten und Libyen und so bekam die Revolution auch wieder eine gesellschaftspolitische Dimension. Auf der Eröffnungsveranstaltung wurden beide Revolutionsvorstellungen verbunden. Über die Rolle des Internet bei den Aufständen diskutierten Medienaktivisten aus Ägypten, Tunesien, Irak und Belarus. Sie stellten unisono klar, dass die ganz realen Aufstände auf den Plätzen und Straßen die Revolution ausmachen und das Internet lediglich ein wichtiges Hilfsmittel sei. So betonte die ägyptische Aktivistin Mona Seif, sie sehe als politische Aktivistin das Internet als eine Möglichkeit, ihre Ideen zu verbreiten.
Die tunesische Bloggerin Lina ben Mhenni betonte ebenfalls die Rolle des Internets für die Koordination der Proteste. Victor Malishevsky aus Belarus berichtete über eine eher demobilisierende Seite des Internetaktivismus. So hätten in seinem Land viele Menschen das Ansehen eines Live-Streams von Demonstrationen im Umfeld der letzten Präsidentenwahlen als ihren Beitrag zur Oppositionsbewegung bewertet, ohne sich an einer Demonstration beteiligt zu haben.
Blogger nicht gleich Dissident
Der Medienwissenschaftler und Blogger Evgeny Morozov räumte mit manchen romantischen Vorstellungen über die politische Dissidenz der Blogger auf und lieferte einige Gegenbeispiele. So zahlte die chinesische Regierung an Blogger 50 Cent, damit sie Beiträge und Kommentare posten, die die chinesische Regierung in ein gutes Licht rücken. Wie Blogger Spitzeldienste für die Polizei leisten, zeigte sich auch im Fall von Adrian Lamo, der Bradley Manning bei den US-Behörden denunzierte, wichtige Informationen an Wikileaks weitergeleitet zu haben.
Sowohl die Solidarität mit Manning als auch die Folgen der Internetplattform Wikileaks waren Themen in den rund zwei Dutzend Workshops und Diskussionen am Samstag. Gerade am Beispiel von Wikileaks wird jetzt schon deutlich, dass der Plattform von den Medien eine Rolle zugeschrieben wurde, die sie mit weder personell noch technisch erfüllen konnte. Seit Monaten wird über den Wikileaks-Gründer mehr diskutiert als über die veröffentlichten Dokumente.
Morozov warnte auch vor der Vorstellung, das Internetzeitalter sei die beste Stütze für demokratische Bestrebungen in der Politik. Die Online-Welt sei wesentlich leichter manipulierbar als Zeitungen und bei weitem nicht so transparent, wie manche Menschen glauben, betonte er. Seine Mahnung auch bei Bloggern genau auf die Inhalte zu schauen, hätte auf dem Kongress gleich im Anschluss beherzigt werden können, als ein Videobeitrag der kubanischen Bloggerin Yoani Sanchez gezeigt wurde. Die selbst innerhalb der kubanischen Opposition wegen ihrer ultrarechten Thesen umstrittene Bloggerin wurde auch auf der Konferenz als Ikone der Meinungsfreiheit gefeiert.
Auffällig war das Fehlen von Positionen auf der Konferenz, die die eine grundsätzliche Kritik auch an den Verhältnissen in Deutschland leisteten. Wenn man bedenkt, in welchen Umfeld und Kontext die Taz Ende der 70e Jahre gegründet wurde, bekommt das Kongressmotto eine zusätzliche Bedeutung. Die Gründer hatten sich eine grundlegende politische Umwälzung auf die Druckfahnen geschrieben und das Internet bekommen.
Die Positionierung zum Bürgerkrieg in Libyen sorgt weiterhin für Diskussionen, die allerdings nicht in Glaubenskriege ausarten
Lange Jahre war der israelische Oppositionelle Uri Avnery in Deutschland bei Kriegsgegnern hoch angesehen. Doch seit einigen Tagen sind manche seiner alten Freunde über Avnery irritiert. Er hat sich nämlich für eine militärische Intervention auf Seiten der Aufständischen in Libyen ausgesprochen und dabei nicht mit Pathos und historischen Vergleichen gespart.
——————————————————————————–
Mein Herz schlägt für die Libyer (tatsächlich bedeutet „libi“ im Hebräischen „mein Herz“). Und „Nicht-Einmischung“ klingt in meinen Ohren wie ein schmutziges Wort. Es erinnert mich an den Spanischen Bürgerkrieg, der tobte, als ich noch ein Kind war. 1936 wurde die Spanische Republik brutal von einem spanischen General, Francisco Franco, mit aus Marokko importierten Truppen angegriffen. Es war ein sehr blutiger Krieg mit unsagbaren Gräueln. Nazideutschland und das faschistischen Italien griffen Franco damals unter die Arme, die deutsche Luftwaffe terrorisierte spanische Städte wie Guernica.
Uri Avnery
Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Gehrcke antwortet Avnery in einem Offenen Brief mit nachdenklichen Worten:
——————————————————————————–
Ich bin in vielem, was es abzuwägen gilt, tief verunsichert. Ich möchte, dass das Töten und Morden aufhört, auf allen Seiten. Und ich will dazu beitragen, dass Gaddafi verschwindet. Das wird aber eher nicht das Ergebnis des Krieges sein.
Wolfgang Gehrcke
Am Ende seines Briefes dankt Gehrcke Avnery, den er einen „Gerechten in einer ungerechten Welt“ für seine „Herausforderung zum Nachdenken“ nennt.
Ja zum deutschen Sonderweg
Auch der friedenspolitische Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und Veteran der deutschen Friedensbewegung Andreas Buro widerspricht Avnery in seinem „pazifistischen Blick auf Libyen“.
——————————————————————————–
Bei der offiziellen Legitimation des NATO-Einsatzes im libyschen Konflikt wird viel von einer ‚humanitären Intervention‘ gesprochen. Die Ideologie der ‚humanitären Intervention‘ ist die Fortsetzung der Ideologie vom „Gerechten Krieg“, der wichtigsten Legitimationsideologie für fast alle Kriege. Für die Friedensbewegung stellt sich die Frage, welche Folgen hätte es, wenn Pazifisten sich für eine humanitäre Intervention mit militärischen Mitteln einsetzten, wie es zum Beispiel Uri Avnery tut?
Andreas Buro
Allerdings bleibt er nicht in dem bei pazifistischen Kreisen so beliebten Darstellung der eigenen moralischen Zerrissenheit stehen, die aus den Debatten der Grünen rund um den Kosovo-Einsatz so beliebt waren. Buro stellt zumindest einige Fragen zur konkreten Situation im libyschen Bürgerkrieg:
——————————————————————————–
Warum wird fast ausschließlich über die tatsächlichen und potentiellen Opfer der Gaddafi-Truppen berichtet, aber nicht über die Massaker der Rebellengruppen?
Andreas Buro
Allerdings hätte man gerne erfahren, auf welche Quellen sich der Verfasser dabei bezieht. Auch sein positives Bekenntnis zu einem „deutschen Sonderweg zur friedlichen Konfliktbearbeitung“ muss vor dem Hintergrund der letzten 20 Jahre kritisch gesehen werden. Schließlich hat Deutschland im Konflikt auf dem Balkan bekanntlich nicht im Sinne einer friedlichen Konfliktbearbeitung agiert. Lassen sich hier Pazifisten nicht einfach in deutsche Staatsinteressen einspannen, die manchmal, wie die Beispiele Irak oder Libyen zeigen, eine Ablehnung militärischer Eingriffe beinhaltet?
Gepflegte Debatte um Libyen-Einsatz
Bei der aktuellen innerdeutschen Debatte um den militärischen Eingriff in den libyschen Bürgerkrieg ist das Fehlen der Aufgeregtheit auffällig, die während des Balkan-Einsatzes aber auch während des Irak-Krieges noch aus politischen Differenzen Feindschaften machten. Sowohl auf Seiten der Befürworter als auch der Gegner eines Einsatzes wird häufig betont, dass die eigene Positionierung mit vielen eingestandenen Unsicherheiten verbunden ist.
Das wurde auch auf einer von der Wochenzeitung Jungle World organisierten Diskussionsveranstaltung deutlich. Dort pflegten Kritiker und Gegner des Militäreinsatzes einen gepflegten Meinungsaustausch, wie Moderator Ivo Bozic am Ende der Diskussion positiv hervorhob.
Der Arzt Ramadan Bousabarah von der libyschen Gemeinde in Berlin betonte, dass mit dem militärischen Eingreifen ein von Gaddafi lautstark angekündigtes Massaker an den von den Oppositionellen gehaltenen Städten verhindert wurde. Der Berliner Landesvorsitzende der Linken Stefan Liebich betonte, dass er als führendes Mitglied im realpolitischen Forums Demokratischer Sozialsten nicht zu den grundsätzlichen Gegnern jeglicher von der UN legitimierter Militäreinsätze gehört. Die militärische Durchsetzung der Flugverbotszone hält Liebich allerdings für falsch.
Der für das Auslandsressort in der Jungle World zuständige Redakteur Jörn Schulz betonte, dass ihm das Argument, die staatliche Souveränität eines Landes müsse auf jeden Fall gewahrt werden, nicht überzeugt. Damit legitimieren Machthaber gerne jegliche Unterdrückung der eigenen Bevölkerung. Die politische Linke habe sich hingegen unabhängig von den Landesgrenzen mit politischen Bewegungen solidarisiert, die gegen ihre Unterdrückung kämpften.
Wie islamistisch ist die libyschen Opposition?
Unklar blieb der Charakter der politischen Opposition in Libyen auch auf der Veranstaltung. So betonte Ramadan Bousabarah zwar, dass libysche Volk würde zusammenstehen, wenn nur der Gaddafi-Clan verschwindet. Da fragten sich manche aus dem Publikum, ob auch die afrikanischen Arbeiter und Migranten zum libyschen Volk gehören. Bozic zeigte sich irritiert, dass ein Ausgangspunkt der neueren lybischen Opposition im Jahr 2006 die Proteste gegen die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung waren. Es verwundert schon, dass Menschen in auf die Straße gegangen sind und sich in Gefahr begeben haben nicht für ihre eigenen Rechte, sondern wegen einiger Karikaturen, die niemand auch nur gesehen hat.
Die Unklarheiten über die Rolle islamistischer Gruppen in der libyschen Opposition spielen auch in der Debatte eine Rolle, die in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung über das Pro und Contra eines militärischen Eingriffs in den libyschen Bürgerkrieg geführt wurde. Malte Lehning vom Berliner Tagesspiegel verweist auch das Risiko, „dass in einem eskalierenden Bürgerkrieg weitaus mehr Zivilisten getötet werden, als es durch eine Niederschlagung des Aufstands geschehen wäre“.
Dass innerhalb weniger Tage gleich zweimal libysche Oppositionelle Opfer der Bombardierungen wurden, die eigentlich ihrem Schutz dienen sollten, bestätigen die Befürchtungen. Sie erinnern an die Entwicklung im Kosovokonflikt, wo albanische Flüchtlinge und Roma Opfer der Natobomben wurden, die sie offiziell schützen sollten. Im Unterschied zur damaligen Frontenbildung zwischen Gegnern und Befürwortern eines militärischen Einsatzes dominieren aktuell die Nachdenklichkeit und das Eingeständnis von Unsicherheiten auf beiden Seiten. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/34/34514/1.html
Die Tragödie vor Lampedusa und „europäische Spielregeln“
Mindestens 150 Flüchtlinge gelten nach einem Bootsunglück vor Lampedusa in der Nacht auf Mittwoch als vermisst. Das Unglück geschah, als sich die Flüchtlinge, die in Lybien gestartet waren, schon in Sicherheit wähnten und die Küstenwache die Menschen auf ihr Schnellboot umladen wollte. Das Flüchtlingsboot hatte sich in Seenot befunden. Natürlich stellt sich die Frage, wie das Unglück vor den Augen der Küstenwache geschehen konnte. Schließlich gehören Sicherheitsvorkehrungen gegen das Kentern beim Bergen von Menschen aus manövrierunfähigen Booten zu den Basiskompetenzen einer Küstenwache.
Rechte Stimmungsmache
Die Tragödie im Mittelmeer ist nicht die erste ihrer Art. Der innenpolitisch bedrängte italienische Ministerpräsident Berlusconi versuchte sich erst kürzlich vor den Einwohnern Lampedusas als Hardliner und Heilsbringer mit großen Versprechungen zu präsentieren, der das Flüchtlingsproblem schnell lösen will. Einige Tage zuvor hetzten Politiker der italienischen rechtspopulistischen Regierungspartei Lega Nord gemeinsam mit der Vorsitzenden des extrem rechten Front National, Marine Le Pen, auf Lampedusa gegen die Flüchtlinge.
Mittlerweile versucht die italienische Regierung mit großzügigen finanziellen Zusagen an die neue tunesische Regierung diese zur Flüchtlingsabwehr zu verpflichten, wie sie sie mit der gestürzten Diktatur vereinbart hatte. Doch bisher blieb man auf tunesischer Seite unverbindlich.
Europäische Spielregeln gegen die Flüchtlinge
Die EU-Regierungen äußern sich nach außen sehr kritisch zum Flüchtlingsmanagement der italienischen Rechtsregierung. Doch dabei geht es den meisten Politikern weniger um das Schicksal der Flüchtlinge, sondern um die Angst, die italienische Regierung werde sie nicht an der Weiterreise in andere EU-Länder hindern. Schließlich haben die meisten Migranten angegeben, Italien nur als Transitland auf den Weg in andere EU-Länder nutzen zu wollen.
Die Ankündigung der italienischen Regierung, die Flüchtlinge mit Aufenthaltsgenehmigungen auszustatten, würde den Interessen der Flüchtlinge sehr entgegenkommen. Denn damit könnten sie in andere europäische Staaten reisen. Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber lehnte es im Interview mit dem Deutschlandfunk vehement ab, afrikanische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
„Wir haben Spielregeln vereinbart, wie in Europa mit Flüchtlingen umzugehen ist, und Italien hat diese Spielregeln akzeptiert“, doziert Weber in Richtung der italienischen Regierung und droht mit Sanktionen.
„Dann muss die Kommission dafür sorgen, dass das Recht, das wir in Europa haben, auch umgesetzt wird. Ich kann nicht akzeptieren, dass wir sozusagen jemandem dann nachgeben, weil er Spielregeln nicht einhält.“
Die Verletzung der Spielregeln besteht für Weber und viele seiner Parteikollegen nicht in der unmenschlichen Behandlung der Flüchtlinge, sondern in deren möglichen Einreise in die EU. Die wenigen Stimmen von Flüchtlingshilfsorganisationen wie Pro Asyl, die schon seit Wochen fordern, den Flüchtlingen Fluchtwege in der EU zu öffnen, werden in der Öffentlichkeit kaum gehört. Die europäische Politik sehnt sich nach starken Regimes zurück, die die Torwächterrolle für sie in Nordafrika spielen, wie es lange Jahre Gaddafi vorgemacht hat. http://www.heise.de/tp/blogs/8/149610
Gibt es Herrschaft heute überhaupt noch und wenn ja, wie funktioniert sie? Diesen Fragen hat sich das Medienprojekt »Der Rote Faden« gestellt, das von Aktivisten aus antifaschistischen Initiativen und der »Jungen GEW« Berlin gegründet wurde. In zwölf Kurzvideos untersuchen sie verschiedene Herrschaftsverhältnisse wie Recht und Gerechtigkeit, Wirtschaft, Rassismus, Antisemitismus, Klassen und Geschlechter. Den analytischen Erläuterungen sind Bilder unterlegt, die an die populäre Kulturwelt anknüpfen. »Damit soll Menschen, die nicht mit linken Debatten vertraut sind, der Zugang erleichtert werden«, erklärt einer der Mitarbeiter des Projekts. Er sieht in der modernen Herrschaftskritik einen »roten Faden« für die Entwicklung einer linken Perspektive. Die sechs- bis zwölf-minütigen Videos eignen sich gut für die politische Bildungsarbeit. In den nächsten Monaten sollen sie im Offenen Kanal Berlin (OKB) gesendet werden. Im Internet können sie kostenlos heruntergeladen werden. www.herrschaftskritik.org
Prozess der Darmstädter FDP gegen Erwerbslose endet mit Geldstrafen
Westerwelles Gerede vom letzten Jahr hat für sechs Darmstädter Erwerbslose juristische Spätfolgen. Sie sind am Montag wegen Hausfriedensbruchs verurteilt worden. Die Aktivisten der Gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiative Darmstadt (Galida) hatten im März 2010 als Römer verkleidet im Darmstädter FDP-Büro ein Gelage mit Wein und Hähnchenbrust veranstaltet. Damit wollten sie den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle persiflieren, der kurz zuvor im Zusammenhang mit Hartz IV erklärt hatte, wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspreche, lade zu spätrömischer Dekadenz ein.
Bei drei Erwerbslosen ließ es der Richter Klaus Schmidt vom Amtsgericht Darmstadt bei einer Verwarnung bewenden, drei müssen Geldstrafen bezahlen. Zudem werden den Angeklagten die Gerichtskosten aufgebürdet. »Wir wollten den Liberalen zeigen, was spätrömische Dekadenz bedeutet«, so ein Galida-Sprecher. Doch der anwesende Geschäftsstellenleiter Günther Hartel verstand keinen Spaß. Er informierte die Polizei, ließ das Büro räumen und erstattete gegen die Erwerbslosen Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Diesen Tatbestand sah auch Richter Schmidt erfüllt. Satire könne keinen rechtsfreien Raum schaffen, betonte er in der Urteilsbegründung.
»Auch wenn wir mit dem Urteil nicht zufrieden sind, haben wir uns entschlossen, das Buch ›Spätrömische Dekadenz‹ für uns zu schließen«, kommentierte Thomas Rindt von Galida den Prozessausgang. Schließlich sei Westerwelle ein Stück Vergangenheit – es warten die Auseinandersetzungen der Gegenwart. Dass die Aktivisten ihren Humor nicht verloren haben, machten sie auch am Verhandlungstag deutlich. Vor Prozessbeginn stand ein Double des ehemaligen FDP-Vorsitzenden Hans Dietrich Genscher den Aktivisten im Kampf gegen Westerwelle bei. Weil auf die Aktivisten jetzt mit den Prozesskosten Geldforderungen von 2500 bis 3000 Euro zukommen, haben sie ein Spendenkonto zur Unterstützung eingerichtet.
Sind die Diskussionen um Stromexporte, höhere Strompreise und sogar mögliche Blackouts der Beginn eines Propagandakriegs der Energiewirtschaft gegen die Abschaltung der AKW? Seit Inkrafttreten des Atommoratoriums importiert Deutschland doppelt so viel Strom aus Frankreich wie bislang, erklärte der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. In dem Nachbarland werden 80 % des Stroms aus der Atomkraft produziert. Auch die Stromimporte von Tschechien nach Deutschland haben in den letzten Wochen zugenommen. Zudem sei die Bundesrepublik Nettoexporteur zum Nettoimporteur von Strom geworden.
Gleichzeitig macht der Bundesverband das Moratorium auch für steigende Strompreise verantwortlich. Diese monokausale Erklärung erstaunt, hat doch der Wirtschaftsverband als Ursache für den steigenden Stromverbrauch auch den kalten Winter und die Wiederbelebung der Konjunktur angegeben. Diese Faktoren, die nichts mit dem Moratorium zu tun haben, dürften auch den Strompreis Einfluss haben.
In zahlreichen Medien wurden die politische Implikationen der Angaben gleich mitgeliefert. „Kritiker des Atom-Moratoriums der Bundesregierung hatten darauf verwiesen, dass es sinnlos sei, in Deutschland AKW abzuschalten, um dann die fehlende Menge durch Atomstrom oder klimaschädlichen Kohlestrom aus dem Ausland zu decken“, heißt es im Magazin Stern.
Der RWE-Manager und ehemalige Hamburger SPD-Umweltsenator Fritz Vahrenholt warnte gar davon, dass in Deutschland ohne den Stromexport die Lichter ausgehen könnten. Nur die erheblichen Stromimporte aus Frankreich und Tschechien verhindern seiner Meinung nach einen Blockout.
Deutschland weiter Netto-Stromexporteur
Nicht nur die Umweltorganisation Greenpeace sieht in den Warnungen aus dem Lager der Energiewirtschaft einen beginnenden Propagandakrieg gegen eine dauerhafte Abschaltung deutscher Atomkraftwerke. Umweltschützer warnen davor, dass die Atomlobby zurückschlägt. Es sei nicht so, dass in Deutschland die Kapazitäten ohne den Strom der abgeschalteten Alt-Meiler nicht mehr ausreichen würden. „Die gestiegenen Importe erklären sich vielmehr mit der Reaktion der Strommärkte, die sich immer mit dem günstigsten Strom versorgen – und der kann zeitweise auch verstärkt von Atomkraftwerken aus Frankreich kommen“, erklärte ein Greenpeace-Sprecher gegenüber Spiegel Online.
Auch eine Sprecherin des Bundesumweltministeriums ging auf Distanz zu den Erklärungen der Energiewirtschaft. Schon vor dem Moratorium sei Strom aus Frankreich importiert worden. Sie widersprach der Darstellung, Deutschland sei insgesamt ein Netto-Stromimporteur geworden: „Wir bleiben Netto-Stromexporteur.“ So liefert Deutschland auch nach dem Moratorium weiterhin Strom an die Schweiz, wie auch aus den Daten des Bundesverbandes der Energiewirtschaft hervorgeht.
Ausgerechnet der vielerorts als umweltpolitischer Hoffnungsträger gefeierte US-Präsident Obama hat sich in einer Grundsatzrede an der Georgetown University in Washington kürzlich zum Weiterbau von AKW in den USA bekannt. Er bescheinigte der Atomkraft »ein wichtiges Potenzial«, man könne mit ihr »Strom erzeugen, ohne Kohlendioxid in die Atmosphäre zu blasen«.
Die von Obama nach dem japanischen Atomdesaster angeordnete Überprüfung aller AKW zielt keineswegs auf deren Abschaltung. Vielmehr sollen beim Bau der nächsten AKW-Generation die Lehren aus Japan berücksichtigt werden. Obama ist mit dieser Sicht nicht allein. Sein französischer Kollege Sarkozy hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass er das ehrgeizige AKW-Programm fortsetzen will. Mit der Rückendeckung von Obama dürften auch die Atomkraftlobbyisten in den asiatischen und amerikanischen Schwellenländern wieder Oberwasser bekommen, die seit Fukushima etwas leiser geworden sind. Obama hat ihnen die Stichworte geliefert. Neben dem Klima geht es um Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft angesichts steigender Öl- und Benzinpreise. In Deutschland, wo die Stimmung gegen die AKW besonders stark ist, denken nur noch einzelne Unions- und FDP-Politiker laut über ein Wiedereinschalten der vorübergehend stillgelegten AKW nach.
Doch mittlerweile geht RWE in die Offensive. Mit der Klage des Konzerns gegen das Atommoratorium soll angeblich nur die Rechtssicherheit für die Aktionäre hergestellt werden. Gern wird vergessen, dass die AKW-Lobbyisten die Rechtslage, auf die sie sich jetzt berufen, selbst mit hergestellt haben. Mit der Drohung, das AKW Biblis A wieder hochzufahren, will der Konzern testen, was in Deutschland in Sachen AKW machbar ist.
Die Gegner sollten sich auf ihre eigene Geschichte besinnen. Bei Kampagnen gegen Konzerne, die am AKW-Bau verdienen, waren RWE und Siemens schon früher mit Blockaden, Kundgebungen vor Firmenstandorten und Warenboykott konfrontiert worden.
Noch ist der designierte baden-württembergische grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann nicht im Amt, schon wird er von verschiedenen Seiten an die Wahlversprechen erinnert. Auch studentische Organisationen haben ihre Freude über die Abwahl von Schwarz-Gelb mit konkreten Erwartungen für eine andere Politik verbunden. Dabei übt sich Gunther Schenk, der Sprecher der der künftigen Regierungspartei nahestenden Studierendenorganisation Campusgrün, schon in Pragmatismus. So gehört zu den zentralen Forderungen neben der Demokratisierung der Hochschulen, der Einführung der Verfassten Studierendenschaft und der besseren Ausstattung von Masterstudienplätzen »die Abschaffung von Studiengebühren mindestens für das Erststudium«.
Dabei haben auch die Kommilitonen in Baden-Württemberg mit vielen Aktionen gegen Studiengebühren auch für die Zeit über das Erststudium hinaus gekämpft. Daran knüpft Juliane Knorr vom Dachverband des Vorstands des freien Zusammenschlusses von StudentInnenschaften (fzs) mit ihrer Forderung nach sofortiger Abschaffung von Studiengebühren an. Sie erinnert auch an die bundespolitischen Konsequenzen, wenn mit Baden-Württemberg ein weiteres Gebührenland umschwenken und es damit in 14 Bundesländern keine Unimaut gibt. Der fzs geht in seiner Forderung nach Einführung der Verfassten Studierendenschaft noch einen Schritt weiter: künftig soll es einem AStA auch erlaubt sein, sich über direkte hochschulpolitische Belange hinaus zu äußern. Die fzs-Sprecherin will genau hinsehen, ob die neue Regierung diese Forderungen auch umsetzen wird. Allerdings fehlt jeder Hinweis auf die Konsequenzen, sollte die Umsetzung dieser Forderungen der berühmten Sachzwänge wegen nicht erfolgen. Eine von den Grünen geleitete Regierung dürfte allerdings druckempfindlicher sein als das abgewählte Mappus-Kabinett.
»Der Ausstieg aus der Atomenergie war und ist richtig. Es war falsch von der Bundesregierung, diesen Weg zu verlassen«, erklärte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer auf der Berliner Großdemonstration der Anti-AKW-Bewegung am vergangenen Samstag. Hartmut Meine, IG-Metall-Bezirksleiter von Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, präzisierte vor Umweltschützern in Hamburg: »Die Atomkraft ist eine veraltete, rückwärts gewandte Technologie, deren Risiken nicht beherrschbar sind und zu unvorstellbaren Katastrophen führen.«
Solche Töne führender Gewerkschaftler sind keineswegs selbstverständlich. Schließlich wurde noch in den 80er Jahren die kleine Minderheit von Gewerkschaftern, die sich im Arbeitskreis Leben für ein Ende des AKW-Baus einsetzte, von den Vorständen massiv angefeindet. Den langjährigen Chefredakteur der IG-Metall-Mitgliedszeitschrift Heinz Brandt rettete seine Vita als Auschwitzüberlebender 1977 nach seiner Rede auf einer Demonstration gegen das Kernkraftwerk Brokdorf vor einem Ausschluss aus der IG Metall – wegen gewerkschaftsschädlichen Verhaltens. Unter dem Motto »Hauptsache Arbeitsplätze« verhinderten Betriebsräte aus AKW-Betrieben lange Jahre jegliche Kritik an dieser Technologie erfolgreich.
Lang, lang ist’s her? Wenn man bedenkt, dass noch 2005 die Vorstände der Gewerkschaften ver.di, und der Energiegewerkschaft IG BCE gemeinsam mit vier großen Energiekonzernen in einem Positionspapier für die Verschiebung des AKW-Ausstiegs plädierten, sind die aktuellen Ausstiegsforderungen zweifellos ein Fortschritt. Selbst die einst atomtreue IG BCE fordert heute von der Regierung ein Konzept, das »nicht nur den Ausstieg aus der Kernenergie umfasst, sondern gleichzeitig die Bedeutung der zentralen Energieträger für die nächsten Jahrzehnte klärt«.
Überhaupt nicht kritisiert werden in den meisten gewerkschaftlichen Stellungnahmen allerdings die Profitinteressen der Energieriesen. Die in verschiedenen Landesverfassungen enthaltenen und von den Gewerkschaften damals erkämpften Forderungen nach der Vergesellschaftung des Energiesektors scheinen bei den Gewerkschaften heute genauso vergessen wie bei den meisten Ökologen.
Sitzblockaden sind nicht automatisch strafbar. Das ist das Resümee einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März.
Geklagt hatte ein Frankfurter, der im März 2004 zusammen mit 40 weiteren Aktivisten aus Protest gegen den Irak-Krieg eine Zufahrt zu einem US-Stützpunkt blockiert hatte. Daraufhin wurde er vom Amtsgericht Frankfurt wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 450 Euro verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht stellte nun fest, dass diese Verurteilung den Angeklagten in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, festgeschrieben in Artikel 8 des Grundgesetzes, verletze. Die Richter in Frankfurt hätten die Angemessenheit der Gewaltanwendung berücksichtigen müssen. So sei die Aktion im Vorfeld angemeldet worden und es standen Ausweichstrecken zur Verfügung. Der Fall muss nun vor dem Landgericht Frankfurt neu verhandelt werden.
In der Begründung ihrer schreiben die Richter:
——————————————————————————–
Der Umstand, dass die gemeinsame Sitzblockade der öffentlichen Meinungsbildung galt – hier: dem Protest gegen die militärische Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte im Irak und deren Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland -, macht diese erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG.
Die Richter machten ihren Kollegen von der Vorinstanz zudem klar, dass die Demonstranten selber über den Ort ihrer Proteste entscheiden.
——————————————————————————–
Der Argumentation des Landgerichts, dass die unter Umständen betroffenen US-amerikanischen Staatsbürger und Soldaten die Irakpolitik der US-amerikanischen Regierung nicht beeinflussen könnten, so dass die Aktion von ihrem Kommunikationszweck her betrachtet ungeeignet gewesen sei, scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass ein derartiger Sachbezug nur dann besteht, wenn die Versammlung an Orten abgehalten wird, an denen sich die verantwortlichen Entscheidungsträger und Repräsentanten für die den Protest auslösenden Zustände oder Ereignisse aktuell aufhalten oder zumindest institutionell ihren Sitz haben. Eine derartige Begrenzung auf Versammlungen im näheren Umfeld von Entscheidungsträgern und Repräsentanten würde jedoch die Inanspruchnahme des Grundrechts der Versammlungsfreiheit mit unzumutbar hohen Hürden versehen und dem Recht der Veranstalter, grundsätzlich selbst über die ihm als symbolträchtig geeignet erscheinenden Orte zu bestimmen, nicht hinreichend Rechnung tragen.
Klar wird auch erklärt, dass nicht jede Behinderung als „unfriedlich“ gelten kann:
——————————————————————————–
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.
Auch Antifa-Blockaden angemessen?
Die Entscheidung dürfte auch über den aktuellen Fall hinaus Bedeutung haben. Besonders die Blockade eines Neonaziaufmarsches in Dresden sorgte für große Diskussionen, nachdem das Oberverwaltungsgericht Bautzen im Januar 2010 entschieden hatte, die Polizei hätte eine antifaschistische Blockade im Jahr 2010 auflösen und den Rechten ihr Demonstrationsrecht gewährleisten müssen.
Gegen zahlreiche Menschen, die sich im Februar 2011 abermals an Blockaden gegen den rechten Aufmarsch in Dresden beteiligten, ermittelt die Polizei. Gegen das für die Blockaden verantwortliche Bündnis Dresden nazifrei wird sogar nach dem Paragrafen §129 wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ermittelt. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt sich die Frage, ob auch die Blockaden gegen den rechten Aufmarsch angemessen sind oder nicht.
Verfassungsschutz den von ihm Beobachteten Akteneinsicht schuldig ist Muss der Berliner Verfassungsschutz den Personen, die er beobachtet, Akteneinsicht geben? Um diese Frage geht es am heutigen Mittwoch vor dem Oberverwaltungsgericht. Dort geht ein von AktivistInnen des Berliner Sozialforums eingeleitetes Verfahren in die zweite Runde. Das Forum war seit seiner Gründung 2002 bisSommer2006 von mindestens vier V-Leuten des Bundesamts für Verfassungsschutz beobachtet worden. Das Landesamtwiederum setzte mindestens einen V-Mann, der seit über 10 Jahren in „autonomen Kreisen aktiv war, auf das Sozialforum an und verwertete die Daten
des Bundesamts eifrig mit.
Nachdem die Bespitzelungbekannt geworden war, stellten 20 Personen beim Landesamt für Verfassungsschutz Anträge auf Auskunft über Überwachung und Akteneinsicht. Es handelt sich um Personen, die entweder im Sozialforum aktiv waren oder Veranstaltungen der Initiative besuchten und dadurch ins Visier der Beobachter geraten sein können. Diese Anträge wurden
nicht nur ausgesprochen schleppend bearbeitet – sie wurden allesamt mit der pauschalen Begründung abgelehnt, dass sie Aufschlüsse über die Arbeitsweise und Quellen des Verfassungsschutzes ermöglichen würden.
Dagegen hatte das Mitglied des Sozialforums Wilhelm Fehse geklagt und im Januar 2008 einen Teilerfolg errungen. Das Verwaltungsgericht urteilte damals, die Behörde könne solche Auskünfte nur verweigern, um die
Enttarnung von V-Leuten zu verhindern. Das müsse sie allerdings in jedem Einzelfall begründen. Eine grundsätzliche Ablehnung
von Auskunftsansprüchen sei nicht möglich, so der Vizegerichtspräsident Hans-Peter Rueß in der Begründung. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, weil die Innenverwaltung Berufung beim Oberverwaltungsgericht einlegte. Sollte das Urteil nun vor dem Oberverwaltungsgericht Bestand haben,muss der Verfassungsschutz alle Anträge auf Akteneinsicht neu entscheiden. Fehses Verteidiger, Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, geht davon aus, dass in diesem Fall „die Behörden bei den Anträgen auf
Akteneinsicht deutlich auskunftsfreundlichere Maßstäbe als bisher anwenden müssen“.
Grottian bleibt kritisch
Der emeritierte Berliner Politologieprofessor und Sozialforums-Aktivist Peter Grottian,Grottian, der als einziger der Betroffenen Akteinsicht erhalten hatte, beurteilte das Urteil allerdings auch kritisch, weil es die Möglichkeiten der Auskunftsverweigerung offenlasse. „Bisher ist man bei der Behörde mit einem Auskunftsersuchen gegen eine Wand aus Stein gerannt. Künftig rennt man gegen eine Wand aus Gummi.“ Auch Kläger Fehse warnt vor Euphorie und verweist auf die politische Dimension: „Insgesamt bleibt der Verfassungsschutz weiter ohne öffentliche und parlamentarische Kontrolle.“ Trotzdem ruft das Sozialforum zum regen Besuch der Berufungsverhandung auf. Sie beginnt um 12 Uhr vor dem Oberverwaltungsgericht in der Hardenbergstraße31 (am Bahnhof Zoo). PETER NOWAK
Die gestrigen Wahlen hatten einen Verlierer, der in der Berichterstattung kaum auftauchte: die Linkspartei
In beiden Bundesländern verfehlte sie mit knapp 3 Prozent die Hürde eindeutig. In Rheinland-Pfalz hatte sich die Partei lange mit internen Streitereien beschäftigt. Daher war auch parteiintern nicht mit einen Einzug in den Landtag gerechnet worden. Mehr Hoffnung machte sich die Partei in Baden-Württemberg, wo die Linke im Mittelbau einiger Gewerkschaften verankert ist.
Zudem hoffte man, auch ein wenig von der Politisierung durch Stuttgart 21 zu profitieren. Schließlich war mit Gangolf Stocker, einer der zentralen Gegner des Bahnprojekts, mehrere Jahre Geschäftsführer der PDS in Baden-Württemberg. Auch kursierten kurz vor der Wahl Aufrufe, S21-Gegner sollten aus taktischen Gründen die Linke wählen, um ein Korrektiv im Parlament zu haben, falls die Grünen nach der Wahl feststellen, dass das Bahnprojekt nicht mehr zu verhindern ist.
Das Wahlergebnis zeigte, dass solche Überlegungen an der Basis der S21-Gegner kaum befolgt wurdem. Profitiert hatten – sowohl von der durch das japanische AKW-Desaster angestoßenen neuen Ausstiegsdebatte in Deutschland als auch von Stuttgart 21 – allein die Grünen. „Die Wutbürger“ sind bei der Linken nicht angekommen, hieß es in einer Wahlanalyse der Süddeutschen Zeitung.
Durch die Konzentration auf diese Themen sind soziale Fragen, bei denen sich die Linke gegenüber den Grünen hätte profilieren können, in den Hintergrund getreten. Auch mit dem Thema Antimilitarismus konnte die Linke nicht punkten, obwohl führende Grüne die Bundesregierung kritisiert haben, weil die beim Krieg gegen das libysche Regime zu wenig Engagement zeigt. Auch wenn dieser Kurs, wie die rege Leserbriefdebatte in der grünennahen Taz zeigt, an der Basis durchaus nicht nur auf Zustimmung stößt, schadet er den Grünen zur Zeit nicht.
Wenn das Wahlergebnis auch deutlich macht, dass die Zeiten vorbei sind, als die Linke überall auf Erfolgskurs schien, wird es eher als lokales Ereignis abgeheftet und dürfte wenig Folgen für die Debatte in der Bundespartei haben. Sollte die Linke allerdings aus einem Landesparlament, wo sie schon Einzug gehalten hat, wieder rausgewählt, was bei Neuwahlen in NRW ebenso möglich wäre wie bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, könnte auch die Politik der Bundespartei wieder zur Diskussion stehen.
Werbung für das soziale Berlin
Man schaut nach vorne: Der 27.September ist für die Linke ein wichtiges Datum. Dann tritt sie in Berlin bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl als Regierungspartei an. Eine Initiative Berliner Mitglieder spricht sich für eine konsequente Oppositionspolitik aus. Dieser Stimmung wurde beim Berliner Landesparteitag der Linken insoweit Rechnung getragen, als die Linke sich als Mieter- und Sozialstaatspartei präsentierte und dabei sogar begrenzte Konflikte mit ihren sozialdemokratischen Koalitionspartner wagte.
Unter dem Motto »Freiheit für Horst Mahler« wollen Neonazis am heutigen Sonnabend vor dem Gefängnis in Brandenburg/Havel aufmarschieren.
Mahler, der einst zur Rote Armee Fraktion gehörte und vor knapp zehn Jahren endgültig im Lager der extremen Rechten ankam, ist in Brandenburg inhaftiert.
Horst Mahler sitzt in Brandenburg/Havel seit Oktober 2009 eine zwölfjährige Haftstrafe wegen Holocaustleugnung, Beleidigung und Volksverhetzung ab. Seitdem gilt er bei etlichen Rechtsextremisten als Märtyrer für die Meinungsfreiheit. Bei der Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene steht der ehemalige Rechtsanwalt an vorderster Stelle der zu unterstützenden Personen.
Vorwürfe aus der Zelle Allerdings ist die Unterstützung für Mahler im rechten Lager begrenzt. Eine Internetpetition für seine Freilassung unterzeichneten nur wenige Menschen. Der Initiator der Petition, Kevin Käther, gehört gemeinsam mit Wolfram Nahrath, dem einstigen Bundesführer der verbotenen Wiking-Jugend, zu den Anmeldern der Kundgebung. Heftige Kritik mussten sich die Veranstalter von ihrem Idol gefallen lassen. Mahler warf ihnen in einen Brief aus dem Gefängnis vor, ihm mit der Forderung nach Abschaffung des Volksverhetzungsparagrafen 130 juristisch in den Rücken zu fallen.
Die Polizei konnte über die erwartete Teilnehmerzahl des rechten Aufmarsches keine Angaben machen. Die Neonazi-Organisation Freie Kräfte Neuruppin/Westhavelland unterstützt die Kundgebung.
Gegenproteste angekündigt
Antifaschisten haben Proteste angekündigt. Im Aufruf wird der Nazi-Aufmarsch als Zeichen eines immer selbstbewussteren Neonazismus gedeutet. Holocaustleugner wie Mahler seien die Spitze einer breiteren antisemitischen Strömung. Auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und die Linksjugend solid mobilisieren. Man wolle den Neofaschisten zeigen, dass es für sie keinen Boden in Brandenburg an der Havel gibt, heißt es.
»Wir wollen uns in einem breiten Bündnis und mit Unterstützung der Bevölkerung einer Kundgebung entgegenstellen, die den Mord an Millionen Menschen während des Zweiten Weltkriegs leugnet und faschistischem, rassistischem und revisionistischem Gedankengut ein Forum bieten will«, erklärte Michaela Trenner von der Linksjugend. Die Demonstration der Antifaschisten soll um 12 Uhr beginnen. Als Treffpunkt wird die Straßenbahnhaltestelle »Asklepios Klinik« angegeben.