„Lernunfähig beim Umgang mit Erwerbslosen“

GESCHICHTE Bei der Sensibilität mit NS-Opfern gibt es noch viel zu tun, meint Anne Allex vom „Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute“

An den Rand gedrückt
■ Der Arbeitskreis „Margina­lisierte gestern und heute“ widmet sich der Geschichte der Entrechtung und Verfolgung von Menschen, denen das Stigma „asozial“ angeheftet wurde. www.marginalisierte.de

Anne Allex
■ arbeitet als Dozentin für So­zialrecht und hat vor zehn Jahren „Marginalisierte gestern und heute“ mitbegründet. Kürzlich hat sie den Band „Sozialrassis­tische Ver­folgung im deutschen Faschis­mus“ heraus­ gegeben, einen
Überblick über die Gedenkarbeit für als asozial oder kriminell stig­matisierte Menschen im NS.

taz: Frau Allex, wieso haben Sie als Aktivistin der Erwerbslosenbewegung, die sich gegen die Einführung von Hartz IV engagierte, vor zehn Jahren den „Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute“ mitbegründet?
Anne Allex: Erwerbslosen wurde im deutschen Faschismus grundsätzlich „Arbeitsscheue“ unterstellt. Das intendierte einen „Hang zum Verbrechen“. Ich engagiere mich auch aus persönlicher Betroffenheit. Meine Großeltern wurden im Nationalsozialismus zur Zwangsarbeit bei Osram und beim Reichsautobahnbau gezwungen.

Wo sehen Sie die Bezüge zur Gegenwart?
In der deutschen Geschichte wurde Erwerbslosen durchgehend die Schuld an ihrer Situation in die eigenen Schuhe geschoben. Schon vor 1933 führte das dazu, dass Menschen als asozial stigmatisiert und ins Arbeitshaus gesteckt wurden. Die Faschisten wollten Erwerbslose als „Minderwertige“ ausrotten. Die mörderische Politik endete 1945. Danach wurde in der BRD die Zwangsarbeit im Bundessozialhilfegesetz beschönigend „Hilfe zur Arbeit“ genannt. Seit 2005 kennen wir Zwangsarbeit nach der Definition der International Labour Organisation in Form der „1-Euro-Jobs“. Deutschland erweist sich im Umgang mit Erwerbslosen seit mehr als einem Jahrhundert als lernunfähig.
Warum fordert der Arbeitskreis Marginalisierte einen Gedenkort im ehemaligen Arbeitshaus Rummelsburg?
Die ehemaligen Rummelsburger Arbeitshäuser sind wegen ihrer heute 138-jährigen Geschichte diffamierender Ausgrenzung vorwiegend Einkommensarmer ein idealer Ort zur Dokumentation, Begegnung und für Studien- und Forschungsarbeit.

Hatten Ihre Bemühungen Erfolg?
Das Bezirksamt Lichtenberg hatte 2013 einen Wettbewerb für die Gestaltung eines Gedenkorts ausgelobt. Doch tragen wir die aktuelle Konzeption nicht mit. Unser Hauptkritikpunkt besteht darin, dass die Verfolgung als „asozial“ stigmatisierte Menschen im Nationalsozialismus und die politische Verfolgung in der DDR im selben Atemzug genannt werden. Auch die Gestaltung der drei Stelen, mit denen der als „asozial“ Verfolgten gedacht werden soll, steht unserem Anliegen einer kritischen Auseinandersetzung mit NS- Täterbegriffen diametral entgegen. Wir haben deshalb Ende 2013 den Kreis verlassen, der das Gedenkkonzept begleitet.

Haben Sie bezüglich des Gedenkorts Rummelsburg noch Forderungen an den aktuellen Berliner Senat?
Ja, in einem Polizeihaus und einem Verwaltungsgebäude des ehemaligen Arbeitshauses könnte ein Gedenkort entsprechend unserer Vorstellungen eingerichtet werden. Wir fordern den Senat auf, in diesem Sinne aktiv zu werden.


Welches Resümee ziehen Sie aus der zehnjährigen Arbeit des Arbeitskreises Marginalisierte?

Es ist ein ernüchterndes Resümee. Mangelndes Einfühlungs- vermögen in die NS-Opfer und der Unwille, sich mit NS-Postulaten auseinanderzusetzen, zeigten sich sogar bei Gedenkveranstaltungen.

Ein Beispiel?
Auf die Stolpersteine, mit denen an die NS-Opfer erinnert werden soll, schreiben Gunter Demnig und die Stolpersteinkoordi- nierungsstellen Hamburg und Berlin vermeintliche Charaktereigenschaften, die von den Na- zis unterstellt wurden. So steht auf einigen der Steine „Asozial“ oder „Gewohnheitsverbecher“.

INTERVIEW PETER NOWAK

aus: TAZ.DIE TAGESZEITUNG, DIENSTAG, 15. AUGUST 2017