Für Hagen Berndt ist der Glaube von Flüchtlingen nicht die Ursache von Gewalt in Heimen
Hagen Berndt ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V. tätig und Mitverfasser einer Stellungnahme, die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.
In der Nacht zu Dienstag kam es in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zu einer Schlägerei unter Schutzsuchenden – eine von mehreren in den vergangenen Wochen. Oft werden religiöse Streitigkeiten als Auslöser ausgemacht. Worin sehen Sie die Ursachen?
Konflikte sind Teil allen menschlichen Zusammenlebens. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionale Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.
Warum lehnen Sie die von manchen Politikern geforderte Trennung der Flüchtlinge nach ihrer Religion ab?
Die Konflikte verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander »harmonisierende« Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.
Wieso?
Getrennte Unterkünfte würden Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche »nette« oder »problematische« Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Es ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.
Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?
Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge zum Beispiel aus Syrien und Irak fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in ihrer Herkunftsregion zu Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.
Welche Lösung schlagen Sie zur Beilegung der Konflikte vor?
Es muss einer Lageratmosphäre von Flüchtlingsunterkünften entgegengewirkt werden. Es gilt, ruhige Rückzugsräume und Orte der Begegnung bereitzustellen, geflüchteten Menschen ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und persönliche Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung zu erleichtern. Maßnahmen der Psychologischen Ersten Hilfe, um die Betroffenen emotional zu stärken, ein besonderer Schutz für Kinder und alleinstehende Frauen sowie die verbindliche Einführung von Mindeststandards zur Prävention sexualisierter Gewalt wären notwendig. Die Kompetenzen von Haupt- und Ehrenamtlichen zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung müssen entwickelt werden. Parallel zur Sorge für die Flüchtlinge müssen die Bemühungen zur Integration sozial benachteiligter Menschen generell verstärkt werden, um deutlich zu machen, dass die Integration der Flüchtlinge nicht auf Kosten der Schwachen in unserer Gesellschaft geschieht.
Hagen Berndt über Konflikte in Flüchtlingsunterkünften
Es gibt Politiker und sogenannte besorgte Bürger, die Unterkünfte von Geflüchteten unter Dauerbeobachtung nehmen und Betragensnoten für die Bewohner verteilen. Falls es dann tatsächlich mal zu von manchen sehnsüchtig erwarteten Auseinandersetzungen in den Unterkünften kommt, reagieren sie mit dem Gestus, wir haben es ja immer schon gesagt. Diese Menschen passen nicht hier.
Ein scheinbar auch für die Geflüchteten vorteilhafter Vorschlag wird von Politikern verschiedener Parteien in die Diskussion gebracht, nämlich die Trennung der Geflüchteten nach Religion und Ethnie. Doch Wissenschaftler und Publizisten, die sich mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigten, lehnen diese Vorschläge eindeutig ab.
„Eine nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit getrennte Unterbringung von Flüchtlingen ist politisch wie gesellschaftlich inakzeptabel“, heißt es in einer Stellungnahme[1] zahlreicher Fachleute. Zu den Initiatoren gehört Hagen Berndt[2]. Er ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V.[3] tätig und Mitverfasser der Stellungnahme[4], die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet.
Die Forderung, Geflüchtete nach Religionen zu trennen, wird von verschiedenen Politikern getroffen. Warum lehnen Sie eine solche Trennung ab?
Hagen Berndt: Die Konflikte in den Flüchtlingsunterkünften verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen, Unterstützung zu mobilisieren und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander „harmonisierende“ Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Hagen Berndt: Sie würde Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche „nette“ oder „problematische“ Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind: Werden die Religionen und Ethnien getrennt, ist das Problem „gelöst“. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Die Annahme ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.
In den letzten Wochen gab es immer wieder Meldungen von Auseinandersetzungen in Unterkünften von Geflüchteten auf Grund von religiösen Streitigkeiten. Worin sehen Sie die Ursachen?
Hagen Berndt: Konflikte gehören zum menschlichen Zusammenleben. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionaler Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen aus aller Welt. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.
Haben die Konflikte in Flüchtlingsunterkünften zugenommen oder nur der Blick darauf?
Hagen Berndt: Gewalt – insbesondere sexualisierte Gewalt – in Sammelunterkünften ist nichts Neues, in den letzten Wochen wurde nur häufiger darüber berichtet. Nach der großen Hilfsbereitschaft wurde erwartet, dass Flüchtlinge sich dankbar erweisen. Aber grundlegende menschliche Bedürfnisse lassen sich nicht verdrängen und ihre Befriedigung ist unveräußerliches Menschenrecht.
Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?
Hagen Berndt: Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge aus Syrien fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in den Konflikten ihrer Herkunftsregionen zu Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.
Es gibt Versuche von in Deutschland lebenden Islamisten, Geflüchtete zu werben. Wie soll damit umgegangen werden?
Hagen Berndt: Berichte der Sicherheitsbehörden zeigen, dass diese Versuche nicht sehr erfolgreich sind. Es wäre auch erstaunlich, wenn Menschen, die vor dem Wahnsinn im Nahen Osten geflohen sind, sich hier dafür erwärmen könnten. Das Mobilisierungspotenzial für Islamisten liegt vielmehr in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen und unter entsprechend ideologisierten Studenten.
Rechtspopulisten sind in Europa auf dem Vormarsch und gefährden unsere Demokratie
Die ultrarechte FPÖ verdoppelte am 27. September 2015 bei den Landtagswahlen in Oberösterreich ihr Stimmergebnis, In Frankreich gelingt es dem Front National trotz interner Streitigkeiten, weitgehend die politische Agenda zu bestimmen. Auch in den skandinavischen Ländern Norwegen, Finnland und Schweden verzeichnen ul-trarechte Parteien Stimmenzuwachs und nehmen Einfluss auf die Innenpolitik. Der ungarische Ministerpräsident will mit seiner Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge Vorbild für die europäische Rechte sein.
Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklung ist es erfreulich, wenn Politikwissenschaftler und Journalisten sich ernsthaft mit der Strategie und Taktik rechter Parteien befassen wie in diesem Buch, das der Leiter des Referats Internationale Politikanalyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung Ernst Hillebrand herausgab. Auch der größte Teil der knapp 20 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen europäischen Ländern gehört dem sozialdemokratischen Spektrum an.
Im ersten Teil werden rechtspopulistische Bewegungen aus zehn Ländern kurz vorgestellt, darunter neben dem Front National und der FPÖ auch weniger bekannte wie die einflussreiche Dänische Volkspartei (DF), die aus einer Abspaltung der Freiheitspartei hervorging, eine der ersten rechtspopulistischen Parteien in Europa, sowie die Schweizer Volkspartei (SVP), die sich um eine Gratwanderung zwischen Nationalkonservatismus, Rechtspopulismus und knallharter neoliberaler Politik bemüht. Interessant ist der Blick auf den osteuropäischen Rechtspopulismus. So versucht in Tschechien Andrej Babis mit seiner Aktion Unzufriedener Bürger (ANO) das langjährige Erfolgsrezept von Silvio Berlusconi in Italien zu kopieren. Ausführlich wird auf das Zusammenspiel zwischen den regierenden Rechtspopulisten und den oppositionellen Neonazis in Ungarn eingegangen. In Polen könnte nach den nächsten Wahlen ebenfalls eine rechtspopulistische Partei den Ton angeben, wird gewarnt.
Im zweiten Teil des Buches geht es um die politische Bewertung des europäischen Rechtspopulismus. Der Publizist Christoph Guilluy betont, dass der Front National in Frankreich von vielen Arbeitern gewählt werde, obwohl deren Wirtschaftspolitik auf der Linie von Ronald Reagan und Margaret Thatcher liegt. Dies bestätigt die Einschätzung des Herausgebers im Vorwort: »Der Abfluss von aus einfachen Verhältnissen stammenden Wählern zu den Rechtspopulisten droht die Machtperspektive für die linke Mitte dauerhaft zu schwächen. Für die konservativen Parteien – dies zeigt eine Vielzahl von rechten Koalitionsregierungen unter Einschluss oder Duldung von Rechtspopulisten, von Österreich über die Niederlande bis Dänemark – eröffnen sich dagegen neue Koalitionsperspektiven.«
Ein wichtiges Buch, das jedoch leider mitunter die verstaubte Theorie von den Extremen rechts wie links wieder ausgräbt.
Ernst Hillebrand (Hg.): Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie?
Wie hielt und hält es die Linke mit der Gewalt, fragt Hendrik Wallat
Der Philosoph und Sozialwissenschaftler Hendrik Wallat hat bereits mehrere Bücher herausgegeben, in denen er die in Deutschland verschüttete Tradition einer linken Bolschewismuskritik wieder aufnahm. Dabei stützte er sich auf libertäre, linksozialistische sowie links- und rätekommunistische Quellen. Mit dem neuen Buch setzt er diese wichtige Arbeit fort.
Wie ein roter Faden durchzieht die Publikation die Frage, wann die Oktoberrevolution und die von ihr ausgehende weltweite linke Bewegung ihren emanzipatorischen Anspruch verloren haben und wo die Gründe dafür lagen. Neben dem Herausgeber Wallat, der in seinem Aufsatz Albert Camus’ Stellung zur Gewaltfrage untersucht, versuchen sich sieben Sozialwissenschaftler, Philosophen und Historiker an einer »historisch-philosophischen Annäherung an die Gewaltfrage in Emanzipationsbewegungen«.
Dieser im Klappentext formulierte Anspruch wird auf hohem wissenschaftlichem Niveau eingelöst. Oskar Negt erinnert an das tragische Leben und Sterben des langjährigen Bolschewiki Nikolai Bucharin, den auch seine Selbstbeschuldigungen im Interesse der Partei nicht vor der Hinrichtung durch den stalinistischen Terrorapparat bewahren konnten. Sebastian Tränkle beschäftigt sich mit der Reaktion von progressiven Intellektuellen auf verschiedene Phasen revolutionärer Gewalt in der Geschichte; dabei untersucht er auch die Auseinandersetzung von Heinrich Heine, Immanuel Kant, Georg Büchner und Georg Wilhelm Hegel mit dem Terror der Französischen Revolution. »Wie lange sollen die Fußstapfen der Freiheit Gräber sein?« Diese Frage zitiert Büchner in seinem bekannten Drama »Dantons Tod« aus der Verteidigungsrede seines Protagonisten.
Diese Frage stellten sich auch spätestens seit Beginn des stalinistischen Terrors viele Linke, darunter überzeugte Kommunisten. Tränkle befasst sich ausführlich mit den Schriften von Arthur Koestler, der mit dem Roman »Sonnenfinsternis« zu einem der bekanntesten antistalinistischen Literaten wurde. Auch Koestlers weniger bekannter Roman »Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration« wird erörtert; er spielt in einem von einem jüdischen Hilfskomitee nach den Prinzipien der Egalität und antiautoritären Erziehung geleiteten Kinderheim, in dem in den 1930er Jahren Emigrantensprösslinge aus dem kommunistischen Milieu Zuflucht vor den Nazis gefunden hatten. Kern der Geschichte ist die Stigmatisierung eines Kindes, das seinen Heißhunger auf Schokoladenpudding nicht zügeln kann und die Portionen seiner Mitbewohner aufisst. Daraufhin wurde es vom Heimkollektiv als »Schädling« ausgeschlossen und der Verachtung preisgegeben. Tränkle sieht in der Erzählung des damals noch parteitreuen Kommunisten Koestler ein Grundproblem angesprochen, das zum stalinistischen Terror führte. Es geht um die Denunziation individueller Wünsche und Begierden zugunsten eines Kollektivs, dem sich der Einzelne bedingungslos unterzuordnen hatte.
Mit dem fast siebzigseitigen Aufsatz »Sozialrevolutionäre versus reaktionäre Gewalt« des Frankfurter Soziologen Detlev Claussen wird dankenswerterweise an einen Grundlagentext zur linken Gewaltdebatte in den 1980er Jahren erinnert. Einige Beiträge im Buch sind leider in einem sehr akademischen Stil verfasst, was die Lektüre erschwert. Das gilt besonders für Ingo Elbes Studie über den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt sowie für Gerhard Schweppenhäusers Aufsatz über die Gewalt in den Theorien der Frankfurter Schule. Philippe Kellermann untersucht die Rolle der Gewalt in der anarchistischen Bewegung und stellt hier die konträren Ansichten von Johann Most, Enrico Malatesta und Pierre Ramus vor.
Deplatziert erscheint Wallats Schelte der »linksautoritären Meisterdenker« Alain Badiou und Slavoj Zizek, »die von ihrem Philosophenthron aus erneut das revolutionäre Opfer und die Gewalt des Mobs beschwören«. Gerade von diesen beiden Autoren hätte man gern Texte gelesen.
Hendrik Wallat (Hg.): Gewalt und Moral.
Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung.
Unrast. 284 S., br., 18 €.
RÜCKSCHAU Im Bethanien werden die Mietkämpfe der vergangenen 150 Jahre dargestellt
taz: Herr Lengemann, die Ausstellung „Kämpfende Hütten“ will eine Geschichte urbaner Kämpfe in Berlin zeigen.
Simon Lengemann: Im Zentrum der Ausstellung stehen die Kämpfe der Berliner MieterInnen der letzten 15 Jahre. Wir zeigen die ganze Bandbreite der Aktionen, von Demonstrationen über Volksbegehren bis zu verhinderten Zwangsräumungen. Zudem sollen Schlaglichter auf historische MieterInnenkämpfe geworfen werden. Anhand von Mietstreiks, migrantischen Besetzungen und Ostberliner Häuserkämpfen wird die Vielfalt vergangener Aktionen deutlich. Wer sind die Organisatoren?
Wir sind ist ein Ausstellungskollektiv ohne institutionelle Bindung. Die Beteiligten kommen aus den aktuellen MieterInnenkämpfen,
den verschiedenen Berliner HausbesetzerInnenbewegungen nd der akademischen Beschäftigung mit Miete und Wohnraum. Thematisch gehen Sie bis 1872 zurück. Wie sahen damals die MieterInenkämpfe aus?
Zunächst handelte es sich um spontane „Exmissionskrawalle“, so nannte man damals Proteste gegen Zwangsräumungen. Bekanntestes
Beispiel waren die Blumenstraßenkrawalle im Juli 1872.
In der Weltwirtschaftskrise lautete eine Parole „Erst das Essen, dann die Miete“. Welche Rolle spielten linke Parteien und MieterInnenverbände?
Die Krise brachte den offiziellen MieterInnenverbänden einen massiven Mitgliederschwund. Sie stellten sich dennoch massiv
gegen den Mietstreik und pochten auf die Einhaltung der von ihnen mitgestalteten MieterInnengesetze. Die KPD dagegen
unterstützte die Kämpfe.
Die Ausstellung dokumentiert auch die MieterInnenbewegung im sozialen Wohnungsbau des Märkischen Viertels vor mehr als 40 Jahren. Warum konnte sie sich dort so lange halten?
Die neuen BewohnerInnen dieser Großsiedlung fanden zwar komfortable Wohnungen, aber keine städtische Infrastruktur
vor. Das waren sie vom Wedding, wo sie herkamen, anders gewöhnt. Von dort hatten sie die traditionelle Widerständigkeit
der alten ArbeiterInnenbewegung mitgebracht. Um 1968 beteiligten sich zudem auch linke Studierende und Intellektuelle
wie Ulrike Meinhof an der Stadtteilarbeit. Mit der Moabiter Viertel Zeitung, deren Geschichte in der Ausstellung dargestellt wird,
hatten die MieterInnen sogar ein eigenes Sprachrohr.
Was können die heutigen MietrebellInnen daraus lernen?
Jede Zeit hat ihre eigenen Kämpfe. Aber natürlich wollen wir durch die Ausstellung und das Begleitprogramm Impulse für aktuelle Auseinandersetzungen um Wohnraum und Miete geben.
INTERVIEW: PETER NOWAK ■■Die Ausstellung findet bis zum 18. Oktober im TheaterSpiel-Raum im Bethanien statt
Simon Lengemann
■■28, Historiker und Amerikanist, forscht zu MieterInnenbewegung in der Weimarer Republik in der Zeit der Weltwirtschaftskrise.
Vor kurzem ist die fünfte Ausgabe des Jahrbuchs des Instituts für Syndikalismusforschung (Syfo-Jahrbuch) erschienen. Das Institut will die Praxis der syndikalistischen Bewegung auf historisch-theoretischer Ebene begleiten. Helge Döhring ist einer seiner Begründer und hat zahlreiche Bücher und Studien zur Geschichte des Syndikalismus in Deutschland herausgegeben. Mit ihm sprach die Jungle World über die Arbeitsweise des Instituts sowie den historischen und gegenwärtigen Syndikalismus.
Wie kam es 2007 zur Gründung des Instituts für Syndikalismusforschung?
Der konkrete Anlass zur Gründung bestand darin, dass wenige Jahre zuvor einige bekannte »Anarchismusforscher« mit einem Spezialanwalt begannen, junge Aktivisten der FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union) wegen sogenannter Urheberrechtsverletzungen juristisch zu bedrohen. Daraufhin sagten wir entschieden: Nicht mit uns, wir forschen und publizieren jetzt selbst! Wir sind eng verbunden mit Teilen der heutigen anarchosyndikalistischen Bewegung und deren Mitglieder müssen beim Rückgriff auf unsere Materialien nicht befürchten, vor Gericht gezogen zu werden. Uns sind die Genossen wichtig, nicht das Geld.
Gibt es Anbindung an universitäre, wissenschaftliche Apparate?
Wir stehen in freier Kooperation und Zusammenarbeit mit Historikern und Publizisten, die selbst mehr oder weniger unabhängig arbeiten. Es gibt Anfragen und Austausch mit Journalisten, Geschichtswerkstätten, Zeitzeugen, Schülern, Studierenden, freien Publizisten, Archiven, Gedenkstätten und anderen Wissenschaftlern. Bürokratische Apparate sind uns zu träge, für Forschungsstipendien und Dissertationen beispielsweise wird ein Riesenaufwand betrieben. Davon leben diese Institutionen, dass sie die Forschung künstlich hinauszögern, um möglichst lange Geld abzugreifen und ihre Arbeitsplätze zu sichern. In derselben Zeit ist in unabhängiger Forschung oftmals ein Vielfaches leistbar. Effizienz funktioniert nicht in der kapitalistischen Bildungsindustrie.
Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?
Wir leben konsequent die Ideale der anarchosyndikalistischen Bewegung, unter anderem die gegenseitige Hilfe. Wir alle haben kaum Geld, unser gemeinsames Schaffen ist dafür umso effektiver. Das betrifft besonders die Kooperation mit Archiven, Verlagen und Vertrieben, mit denen wir die Grundansichten teilen. Sie schätzen unsere selbstlose Arbeit und legen sich ins Zeug, finanzieren oder vorfinanzieren unseren Output. Sie selbst können ebenfalls jederzeit auf unsere Hilfe und Zuarbeit bauen, dazu zählen beispielsweise das Zusammenstellen von Materialien oder Lektorate. Von befreundeten Verlagen nehmen wir auch keine Honorare.
Welche Rolle spielt das Syfo-Jahrbuch?
Das Institut für Syndikalismusforschung hat bewusst unterschiedliche Publikationsformate. Damit sind wir in unseren Veröffentlichungsvorhaben sehr flexibel: Die Schriften ergänzen sich. Für jede Artikellänge haben wir die entsprechende Form: Kurze Aufsätze für das Syfo-Jahrbuch oder für unseren Syfo-Blog, kürzere Ausarbeitungen als Broschüren in der »Edition Syfo« und lange Texte können als Buch herausgegeben werden. Das Syfo-Jahrbuch wird thematisch ergänzend zu anderen Publikationen genutzt. Insgesamt spiegelt es die Vielfalt unserer Arbeit wider. Es soll dazu anregen und ermutigen, sich selbst und zusammen mit anderen zu informieren oder zu forschen, sich auszutauschen. Forschungsvorhaben können vorgestellt werden und es dient als Plattform für externe Beiträge. Es ist ein interaktives Medium und soll keinesfalls nur Akademiker ansprechen. Entsprechend locker ist es im Layout gestaltet, reichlich bebildert und übersichtlich strukturiert. Es zeigt auf, was einfache Menschen zu leisten imstande sind, wenn sie genug Eigenantrieb und Durchhaltevermögen haben: Jeder kann forschen.
Wie halten Sie es mit der wissenschaftlichen Objektivität?
Das ist ein sehr problematischer Begriff, weil er vorgaukelt, dass Wissenschaft tendenzfrei sei. Das Gegenteil ist der Fall, denn überall gibt es bestimmte Forschungsinteressen, gerade dort, wo finanzielle Abhängigkeit besteht. Wie alle anderen Forschungsinstitute ist auch das Institut für Syndikalismusforschung parteiisch und agiert mit wissenschaftlichen Methoden.
Was verstehen Sie darunter?
Wissenschaften zeichnen sich vor allem durch Transparenz und Überprüfbarkeit aus. Das Dargelegte muss in seiner Substanz und in seiner quellentechnischen Herkunft nachvollzogen werden können. Saubere Recherche, Quellenkritik und darauf aufbauende logische Schlussfolgerungen sind das A und O des wissenschaftlichen Arbeitens. Eine größtmögliche Unvoreingenommenheit und Offenheit, auch politisch unbequemen Ergebnissen gegenüber, ist gerade für Bewegungshistoriker bedeutend, wenn sie keine rein apologetischen Abhandlungen fabrizieren wollen. Wissenschaft ist in erster Linie Selbsterkenntnis und scheut nicht die kritische Rückkopplung an die aktuelle basisgewerkschaftliche Ausrichtung. Zusätzlich liefert sie historisch-theoretische Erkenntnisse, die für die Agitation von unmittelbarem Wert sind.
Sie betonten sehr stark den Bezug auf syndikalistische Strömungen, die unabhängig von Großorganisationen agiert haben. Besteht da nicht die Gefahr, deren politische Fehleinschätzungen zu übersehen?
Es geht nicht nur um Einschätzungen, sondern am spannendsten sind die damaligen Diskussionen und die teils voneinander abweichenden Meinungen. Denn diese wiederholen sich bis in die heutige Zeit nur allzu oft. Wenn das Überleben der Bewegung an politischen Fehleinschätzungen gescheitert wäre, könnten wir sehr glücklich sein, weil wir nützlichen Antworten näher wären. Es ist leider schlimmer: Sie scheiterten, obwohl sie eine sehr intelligente und auch flexible Politik betrieben.
Sie haben sehr gut die militaristischen und nationalistischen Erklärungen führender Mitglieder der Zentralgewerkschaften herausgearbeitet. Aber gab es nicht auch in Deutschland kriegsbefürwortende Äußerungen von syndikalistischen Gewerkschaftern vor und im Ersten Weltkrieg, wie sie ja aus Frankreich und Italien sehr wohl bekannt sind?
Für meine Studie »Syndikalismus in Deutschland 1914-1918« habe ich die syndikalistische Presse und weitere Quellen sorgfältig ausgewertet. Kriegsbefürwortende Äußerungen wären mir dabei sicherlich ins Auge gesprungen. Aber es gab sie nicht. Die syndikalistische Organisation in Deutschland, die »Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften«, wandte sich gegen die international sehr bedeutenden Genossen, die im »Manifest der 16« für die Alliierten Partei ergriffen. Man darf allerdings nicht deren Beweggründe verschweigen, weil man der Sache dann nicht auf den Grund geht. Entscheidend war die Tatsache, dass französische Delegationen von den deutschen Zentralgewerkschaften in schroffer und beleidigender Weise abgewiesen wurden, weil sie gegen den Krieg die gemeinsame internationale Aktion des Proletariats vorschlugen. Die deutsche sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung wollte sich nicht daran beteiligen, den Krieg zu verhindern, im Gegenteil erhoffte sie sich, von einer Niederlage der sozialistischen/syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung profitieren zu können. Ähnlich wie nach der Niederlage der Pariser Commune 1871, in deren Folge die marxistische und sozialdemokratische Strömung innerhalb der »Ersten Internationale« Oberwasser gewann, mit fatalen weltgeschichtlichen Folgen und vielen Millionen Kriegstoten.
Dieser Allianz aus sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften und deutschem Militarismus hofften einige Syndikalisten und Anarchisten aus romanischen Ländern durch Parteinahme für die alliierten Mächte Einhalt zu gebieten. Man muss nicht ihrer Meinung sein, aber ihre Argumentation ist spätestens mit den Kontinuitätslinien zur Nazidiktatur und dem zweiten großen Krieg nicht von der Hand zu weisen. Die Befürworter der Alliierten, darunter auch Peter Kropotkin, waren keineswegs Befürworter des Krieges und das legten sie in ihrem Manifest auch ausführlich dar. In Anbetracht eigener internationaler Schwäche lag die Wahl des »kleineren Übels« nahe.
Welche Bedeutung haben Ihre Forschungen in einer Zeit, in der Gewerkschaften für viele Menschen ein Relikt aus einer vergangenen Zeit sind?
Ein Hauptgesichtspunkt liegt sicherlich darin, den Gewerkschaftsbegriff überhaupt zu definieren. Dieser ist heute anders gelagert, als vor über 100 Jahren. Wir denken, es ist ein Irrtum, ihn auf sozialpartnerschaftliche und tariffähige Organisationen zu begrenzen. Aus einem anarchosyndikalistischen Verständnis heraus gibt es im Wesentlichen neben den gelben, also unternehmerfreundlichen Gewerkschaften, kämpferische – zum Beispiel die GdL – und revolutionäre Gewerkschaften. Revolutionäre Gewerkschaften kämpfen nicht nur für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern für die Einführung einer freien und sozialistischen Gesellschaft. Unsere Forschungen sollen sowohl die Vorteile als auch die Aufgaben von revolutionären Gewerkschaften aufzeigen, ihre Beschaffenheit, ihre Methoden, Möglichkeiten und Grenzen ihrer Entfaltung. Es geht stets um Alternativen in der Organisation von Lohnabhängigen und darum, der etablierten Herrschaft intellektuell und strategisch nicht mehr hinterherzuhinken.
FORSCHUNG Die Rätebewegung in Berlin gilt vielen nur als kurze Episode.
Ein neues Buch des Historikers Axel Weipert zeichnet ein anderes Bild
taz: Herr Weipert, lange Zeit wurde die Rätebewegung in Berlin als kurze Episode nach der Novemberrevolution betrachtet.
Sie haben in Ihrem neuen Buch dieses Bild korrigiert. Ist die Rätebewegung unterschätzt worden?
Axel Weipert: Bislang wurde die Rätebewegung primär als Wegbereiter der parlamentarischen Republik von Weimar gesehen. Konservative HistorikerInnen haben sie mitunter auch als völlig undemokratisch und bolschewistisch gebrandmarkt. Ich dagegen zeige, dass die Ansprüche der Räte und ihrer breiten Anhängerschaft deutlich über die Weimarer Ordnung hinauswiesen.
Wieso?
Sie wollten einen basisdemokratischen Sozialismus – also eine Gesellschaftsordnung, die mit den Vorrechten der alten Eliten in Militär, Verwaltung und vor allem in der Wirtschaft wirklich konsequent aufräumt. Dabei hat die Forschung lange übersehen, wie stark die Unterstützung für solche Ziele auch noch in den Jahren 1919/20 war. Allein in Berlin sprechen wir hier über rund eine Million AnhängerInnen, die sich aktiv beteiligten.
Warum wurde der Neuaufschwung der Rätebewegung nach dem Kapp-Putsch bisher kaum wahrgenommen?
Ein Faktor ist sicherlich, dass sie im Schatten des großen Generalstreiks und der bewaffneten Auseinandersetzungen stand. Außerdem ging die Regierung, nachdem sie den Putsch überstanden hatte, schnell zur Tagesordnung über und schob alle weitergehenden Erwartungen erfolgreich beiseite. Das gilt übrigens nicht nur für die Ziele der Räte, sondern auch für die der Gewerkschaften.
Bisher wurden vor allem Arbeiter-und Soldatenräte betrachtet. Welche Räte haben Sie untersucht?
Man kann sicher sagen, dass diese Räte auch den Kern der Bewegung darstellten. Allerdings ist es sehr spannend zu sehen, wie breit der Rätegedanke rezipiert wurde. So gab es auch spezielle Räteorgane für Lehrlinge, Intellektuelle, KünstlerInnen oder Erwerbslose. Diese
Räte waren durchaus von breiter Unterstützung getragen, wie der von den Schülerräten organisierte Streik im Sommer 1919 zeigt, an dem sich rund 30.000 von 35.000 Berliner BerufsschülerInnen beteiligten.
Erstmals untersuchen Sie auch die Rolle der Frauen in der Rätebewegung. Zu welchem Fazit kommen Sie? Es wurde eine ganze Reihe von Konzepten entwickelt, wie Frauen integriert werden könnten. Allerdings muss man auch festhalten, dass Frauen in der politischen Praxis der Räte nur eine sehr geringe Rolle spielten. Das lag teils an Vorurteilen, wie sie mituinnerhalb der Arbeiterbewegung bestanden. Wichtig war zugleich, dass Frauen oft eine strukturell schwache Position in den Betrieben einnahmen, waren sie doch meist nur ungelernte Hilfskräfte, politisch und organisatorisch unerfahren sowie rhetorisch kaum geschult. Hinzu
kam noch, dass durch die Wiedereingliederung der Soldaten ins Arbeitsleben viele Frauen ihre Jobs verloren.
Hat Ihre Beschäftigung mit der Rätebewegung nur historische Gründe oder sehen Sie Anknüpfungspunkte für eine linke Politik heute?
Ich würde mir schon wünschen, dass diese Bewegung den heute politisch Aktiven Denkanstöße liefert. Gerade in der Verbindung
von basisdemokratischen und sozialistischen Ansätzen sehe ich eine wichtige Alternative zu einem übervorsichtigen Reformismus und dem zu Recht gescheiterten autoritären Sozialismusmodell à la DDR.
■ Axel Weipert, 35, Historiker, promovierte an der FU zur Rätebewegung. Erst kürzlich hat er die Studie „Die Zweite Revolution Rätebewegung in Berlin 1919/1920“ herausgegen
Landrätin der LINKEN plädiert für die Beendigung der Sanktionen für Betroffene von Hartz IV
Hartz IV hat das Leben für viele Menschen erschwert. Doch die Sanktionen treiben so manch einen in den Ruin. Das ist ungerecht und muss sich ändern findet Micha
Am Wochenende wurde Ralph Boes mit Herzbeschwerden in ein Berliner Krankenhaus eingeliefert, nachdem der 67-Jährige aus Protest gegen die Sanktionierung von Erwerbslosen seit Wochen die Nahrung verweigerte. Der Aktivist wird auch von
Michaele Sojka unterstützt. Die LINKE-Landrätin im Altenburger Land sorgt mit ihrer Kritik am Hartz- IV-System seit langem für Debatten. Mit ihr sprach Peter Nowak.
Sie sprechen sich seit Jahren gegen Sanktionen für Hartz-IV-Betroffene aus. Hat es Sie gefreut, als das Sozialgericht Gotha im Juni diese Strafmaßnahmen für verfassungswidrig erklärte?
Ich habe mich spontan darüber gefreut, weil ich der Meinung bin, dass die Hartz-IV-Gesetze zehn Jahre nach ihrer Einführung evaluiert werden müssen. Sanktionen wirken kontraproduktiv und gehören abgeschafft.
Sie haben in der Trägerversammlung des Jobcenters Altenburger Land auf ein Ende der Sanktionen gedrängt. Welche Befugnisse hat dieses Gremium?
Die Trägerversammlung ist ein Kontrollorgan, wie ein Aufsichtsrat bei einer GmbH. Sie ist paritätisch besetzt mit dem Chef der Agentur und mir als Landrätin und dazu je zwei weiteren Personen. Ich leite die Versammlung, mir zur Seite stehen zwei Bürgermeister aus den Fraktionen CDU und SPD. In den Sitzungen werden strategische Dinge, der Wirtschaftsplan und die Personalstellenzahlen besprochen.
Wie waren die Reaktionen auf Ihren Vorstoß?
Es hätte sich keine Mehrheit für die Abschaffung der Sanktionen gefunden. Die gesetzlichen Bestimmungen für die Sanktionspraxis sind zudem im Sozialgesetzbuch II geregelt. Die Trägerversammlung eines Jobcenters kann sie nicht einfach außer Kraft setzen.
Haben Sie eine Debatte über Sanktionen angestoßen?
Das ist auf alle Fälle gelungen und offensichtlich nicht nur regional. Ich muss gerade den Mitarbeitern »meines Jobcenters« danken, dass sie Sanktionen mit großem Augenmaß anwenden und den Gedanken des Förderns mehr in den Mittelpunkt gerückt haben. Weniger Sanktionen werden in Thüringen nur noch von der Optionskommune Greiz ausgesprochen. Das hiesige Jobcenter gehört damit zu den besten zehn Prozent der 408 bundesdeutschen Jobcenter.
Welche Alternativen zur Sanktionierung gäbe es?
Sanktionen sind nicht das erste Mittel der Wahl. Darin sind wir uns in der Trägerversammlung einig. Ziel muss es sein, die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Drei Viertel der Sanktionen gehen im Altenburger Land auf Meldeversäumnisse zurück. Arbeit zu vermitteln und alle Projekte des zweiten Arbeitsmarktes anzubieten, ist unser Ziel. Und Menschen zu finden, die freiwillig und gern die Angebote annehmen. Zwang ausüben bringt keinen Vorteil, weder für Betroffene noch für die Arbeitgeber.
Was muss noch getan werden?
Gute Bildung von Anfang an, um vor allem Kindern ein Aufwachsen ohne Armut zu ermöglichen. Dazu gehören für mich kostenfreie Kitas und Ganztagsschulen mit kostenlosem Mittagessen. Zudem ist weniger Bürokratie und echte Hilfe für Betroffene vor Ort durch einen Fonds der Kommunen nötig. So könnte ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt durch gemeinsame Bundes- und Landesprogramme ohne hohen Verwaltungsaufwand möglich werden. Weiter wünsche ich mir kulturelle Teilhabemöglichkeiten für alle, etwa durch Wertschätzung ehrenamtlicher Arbeit in den Vereinen der Kommunen mit anrechnungsfreier Aufwandsentschädigung statt diskriminierender Ein-Euro-Jobs.
Insgesamt sechs Landräte gibt es auf dem Ticket der LINKEN – treten auch die anderen für das Ende der Sanktionen ein?
Darüber haben wir uns noch nicht verständigt.Ich hoffe es und bin gern bereit, mich hierbei einzubringen.
Loukanikos hieß der Straßenhund, der während der Massenproteste in Griechenland 2012 und 2013 auf unzähligen Fotos zu sehen war. Sein Tod im vergangenen Jahr war der »Süddeutschen Zeitung« sogar einen Artikel wert. Doch das Tier schrieb noch auf eine andere Weise Geschichte. Nach ihm benannten sich fünf Historikerinnen und Historiker, die Diskussionen über den Umgang der Linken mit Geschichte vorantreiben. Unter dem Titel »History is unwritten« hat der Arbeitskreis Loukanikos jetzt ein Buch herausgegeben, das auf einer Konferenz beruht, und doch weit über die damaligen Beiträge hinaus geht. Die 25 Aufsätze geben einen guten Überblick über den Stand der linken Geschichtsdebatte in Deutschland.
Die Suche nach einer neuen linken Perspektive in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung und die Frage, welche Bedeutung linken Mythen hierbei zukommt, benennen die Herausgeber als roten Faden des Buches. Die Historikern Cornelia Siebeck erteilt jeglichen linken Geschichtsmythen eine Absage: »Was emanzipatorische Zukunftspolitik ganz sicher nicht braucht, ist die eine historische Erzählung, um ihre Anliegen zu begründen.« Ihr widerspricht der Historiker Max Lill. »Viele Intellektuelle der radikalen Linken laben sich am Misstrauen gegenüber jedem Versuch, größere Zusammenhänge herzustellen. Fragend schreiten sie im Kreis«, kritisiert er die Versuche einer postmodernen Geschichtsdekonstruktion.
Der Historiker Ralf Hoffrogge, der in den vergangenen Jahren vergessene Teile der Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland erforschte, plädiert in seinen »Fünf Thesen zum Kampf um die Geschichte« dafür, die sozialistische Bewegung als Tradition anzunehmen und in der Kritik an den gescheiterten linken Bewegungen bescheidener zu sein. »Auch wir werden im politischen Leben Fehler machen und unseren Ansprüchen nicht gerecht werden, das richtige Leben im Falschen nicht erreichen, und die Abschaffung des ganzen Falschen wohl auch nicht.«
Ein eigenes Kapitel ist geschichtspolitischen Initiativen in Deutschland gewidmet. Die Gruppe audioscript stellt einen Stadtrundgang vor, der über die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden zwischen 1933 und 1945 in Dresden informiert. Sie kritisiert damit auch den in der sächsischen Stadt herrschenden Erinnerungsdiskurs, der vor allem die deutschen Bombenopfer von 1945 in den Mittelpunkt stellt. Die Antifaschistische Initiative Moabit (AIM) aus Berlin betont in ihrem Beitrag die Aktualität antifaschistischer Geschichtspolitik in einer Zeit, in der die »deutsche Erinnerungslandschaft gepflastert ist mit Stolpersteinen und Orten der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen«. Als Beispiel für gelungene Erinnerungsarbeit führt die AIM die »Fragt uns Broschüren« an, in denen junge Antifaschisten die letzten noch lebenden Widerstandskämpfer und NS-Verfolgten interviewen. Vorgestellt wird zudem die Initiative für einen Gedenkort an das ehemalige KZ Uckermark, wo zwischen 1942 und 1945 Mädchen und junge Frauen eingepfercht wurden, weil sie nicht in die NS-Volksgemeinschaftsideologie passten. Mit feministischen Bau- und Begegnungscamps hat die Initiative den Ort bekannt gemacht und erschlossen.
Autor_innenkollektiv Loukanikos (Hg.): History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft, Edition Assemblage, 400 Seiten, 19,80 Euro.
Gepräche mit ehemaligen Besetzerinnen und Besetzern
Gigi
Gigi hat schon in den achtziger Jahren in Friedrichshain gewohnt. Im November 1989 gründete sie einen Mieterladen in der Bänschstraße, in dem sie heute noch ehrenamtlich arbeitet und Mieter berät.
Warum habt ihr den Mieterladen gegründet?
Wir haben nach dem Mauerfall einen leergeräumten Wohnbezirksausschuss (WBA) besetzt und uns war damals schon klar, dass Privatisierungen der kommunalen Wohnungen anstehen und die Mieter Beratung brauchen.
Wie hast du die Besetzungen in der Nachbarschaft erlebt?
Ich habe damals schräg gegenüber der Mainzer Straße gewohnt und bin gleich in Kontakt mit einigen Besetzern gekommen. Ich fand es toll, dass die Häuser besetzt wurden, die bereits in den achtziger Jahren gesprengt werden sollten. Zudem freute ich mich, dass neue Leute in den Stadtteil kamen und Leben reinbrachten.
Warst du eine Ausnahme oder gab es viel Unterstützung bei den Nachbarn?
Ich war nicht die einzige, aber ich hatte den kürzesten Weg zu den Besetzern. Zudem war ich in der DDR in der Punkbewegung und so fielen mir die Kontakte leichter. Als dann die Mainzer Straße geräumt wurde, waren auch viele andere Nachbarn auf der Straße. Selbst Rentner setzten sich dem Tränengas aus. Sie waren sicher nicht mit allem einverstanden, was die Besetzer machten, aber sie waren solidarisch gegen die Räumung.
Wie hast du die Räumung der Mainzer Straße erlebt?
Das war wie im Krieg. Es ist ein Glück, dass es nur Verletzte, aber keine Toten gab. Ich habe selber Wache in der Boxhagener Straße gestanden und das erste Mal einen Wasserwerfer unmittelbar vor mir gesehen. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe auch mitbekommen, dass noch einige Politiker und DDR-Oppositionelle wie Bärbel Bohley in letzer Minute die Räumung verhindern wollten. Da hat die Polizei schon die ersten Häuser geräumt. Es stellte sich später heraus, dass ein Teil der Räumungen nach der »Berliner Linie«, auf die sich die Politik berief, rechtswidrig waren. Das hatte aber keine Konsequenzen.
Hast du noch Kontakt zu einigen damaligen Besetzern?
Ja, mit denen, die ich damals kennengelernt hatte, habe ich noch immer gute Beziehungen. Einige sind mittlerweile Hausbesitzer über die von ihnen gegründeten Genossenschaften. Es gibt auch immer wieder ehemalige Hausbesetzer, die zur Beratung in den Mieterladen kommen. Sie haben damals noch entweder privat oder über den Rahmenvertrag der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) Verträge bekommen. Ein Teil der Besetzer der Mainzer Straße ist nach der Räumung in andere Städte gezogen. Da ist der Kontakt abgebrochen.
Andreas K.
Andreas K. war im Sommer 1990 Student. Heute lebt er in Friedrichshain in einer Mietwohnung, arbeitet als Taxifahrer und ist weiterhin in gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Gruppen aktiv.
Wie bist du im Sommer 1990 in die Besetzerbewegung gekommen?
Ich bin in Westberlin aufgewachsen. Ein Genosse, den ich vom gemeinsamen Studium an der FU kannte, hat mich angesprochen, ob ich Lust habe, mit ihm und anderen zusammen ein Haus in Ostberlin zu besetzen. Nach einigem Zögern habe ich zugesagt. Über verschiedene Treffen bildete sich eine feste Gruppe heraus. Etwa ein Drittel hatte Ost-, zwei Drittel hatten Westhintergrund. Wir kamen aus verschiedenen Teilen der radikalen Linken. Unsere erste, nach wenigen Stunden geräumte Besetzung fand aber erst im Herbst statt. Im Sommer 1990 war ich eher Zaungast. Im Dezember gelang uns eine mehrtägige Besetzung in Friedrichshain. Nach der Räumung kamen wir gemeinsam in einem bereits besetzten Haus in der Niederbarnimstraße unter, wo ich bis 1994 lebte.
An welche politischen Aktionen im Sommer 1990 erinnerst du dich noch?
Für mich standen im Sommer keine großen Einzelaktionen im Vordergrund, sondern dass ich erst von Ferne mitbekam, dass Leute in Ostberlin die ungewisse Zeit des Systemwechsels nutzten, um leerstehende Häuser der drohenden kapitalistischen Vermarktung zu entziehen und selbstbestimmte Strukturen zu bilden. Linksradikale Gruppen aus Westberlin, wo ich mitwirkte, bekamen Anfragen für Veranstaltungen. So entstanden die ersten Kontakte.
Welche Bedeutung hatte für dich die Räumung der Mainzer Straße?
Bei der Räumung der Mainzer Straße war ich als Unterstützer auf der Straße aktiv und wurde wie viele andere festgenommen. Sie war eine militante Zuspitzung, die danach in Riot-Videos gefeiert wurde, aber zugleich ein Einschnitt, der ein Ende der Pattsituation in der Zeit des Systemumbruchs bedeutete und die Besetzerinnen und Besetzer in die strategische Defensive führte. Viele Menschen wurden durch die Polizeigewalt traumatisiert, auch bei mir blieb die Erfahrung dieser Konfrontation nicht ohne Auswirkungen.
Welche Bedeutung hatte der Streit zwischen Verhandlern und Nichtverhandlern?
Vor der Räumung hat der Besetzerrat, in dem nahezu alle Häuser vertreten waren, Einzelverhandlungen abgelehnt und eine politische vertragliche Gesamtlösung für alle Häuser gefordert. Nach der Räumung begannen mehr und mehr Häuser, Verhandlungen auf der Bezirksebene um Einzelmietverträge zu führen. Die »Berliner Linie«, die eine schnelle Räumung von Neubesetzungen beinhaltete, wurde aus dem Westteil Berlins übernommen. Politische Lösungen lehnte der Senat ab. Wer nicht über das Stöckchen der Einzelverhandlungen sprang, sondern die Rückgabe der geräumten Häuser forderte, wurde zum Nichtverhandler wider Willen, so auch die Gruppe, deren Teil ich war.
Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?
Der Sommer 1990 war nur aufgrund der besonderen historischen Situation möglich, in der die Exekutive des DDR-Staates zusammenbrach. Die Besetzer haben sich Strukturen geschaffen, die ein deutliches Gegengewicht zu reaktionären und faschistischen Tendenzen setzten. Viele Linke aus dem Westen fanden das anziehend, haben sich aber zum Teil unreflektiert in eine andere Gesellschaft begeben. Die stark subkulturelle Orientierung vieler Häuser erschwerte leider den Kontakt zu grundsätzlich aufgeschlossenen Teilen der Nachbarschaft. Viele Hausprojekte, die sich auf die Einzelverhandlungen einließen, bestehen noch bis heute. Ob sie noch politisch sind, hängt vom Engagement der Menschen ab, die dort wohnen. Sie sind jetzt oft durch Gentrifizierung nach mehrmaligem Eigentümerwechsel bedroht.
Hartmut S.
Hartmut S. hat 1990 die Köpenicker Straße 137 (Köpi) mitbesetzt und dort einige Jahre gewohnt. Heute lebt er im Oderbruch und arbeitet als Briefträger.
Wie bist du im Sommer 1990 Hausbesetzer geworden?
Vor der Wende haben wir ziemlich beengt in Westberlin gewohnt. Es gab nach dem Mauerfall Kontakte zu dem in Ostberlin tagenden Besetzerrat. Dort gab es ein starkes Interesse an Wohn- und Zusammenlebensprojekten. Während in Westberlin relative Wohnungsknappheit herrschte, standen in Ostberlin unzählige Wohnungen und auch ganze Häuser leer. So entstanden mit Leuten aus Ostberlin konkrete Pläne für eine Hausbesetzung. Die Zusammenarbeit mit Ostberlinern war uns von Anfang an sehr wichtig, da wir auf der einen Seite politisch aktive Leute aus der DDR-Oppositionsbewegung kennenlernen wollten, auf der anderen Seite wollten wir dem Eindruck entgegenwirken, Leute aus dem Westen kommen in den Osten und reißen sich dort alles unter den Nagel. In dem von uns besetzten Haus haben wir zumindest in den ersten Monaten großen Wert darauf gelegt, dass eine zahlenmäßige Ausgeglichenheit zwischen Ostlern und Westlern bestand.
Welche Bedeutung hatte damals die politische Arbeit in der Köpi? Oder war es hauptsächlich eine große Party?
In der Köpi wohnten irgendwann 40 Menschen, da gab es natürlich Leute, die gerne Partys oder Konzerte organisierten. Aber es gab auch immer Leute, die in verschiedenen politischen Bereichen aktiv waren. Gerade in der Anfangszeit im Frühjahr 1990 war die Situation angespannt.Es gab immer wieder Angriffe von rechten Jugendlichen auf die besetzten Häuser in der benachbarten Adalbertstraße und nachts musste man schon aufpassen, wer einem da in der Gegend entgegenkam.
Die Köpi nannte sich Internationales Haus. Welcher Stellenwert spielte die Arbeit mit Geflüchteten und Migranten damals?
Die Bezeichnung entstand als Kontrapunkt zum deutschnationalen Wiedervereinigungstaumel. Wir hatten viele Besucher und auch einige Bewohner aus dem meist europäischen Ausland. Den Begriff »Arbeit mit Migranten« würde ich nicht verwenden. Wir stellten Räume zur Verfügung zum Beispiel für eine türkische Antifa-Jugendgruppe, einige ihrer Mitglieder wohnten dort auch eine Zeitlang. Ein paar Wochen lebte bei uns ein Ägypter, der in Pirna zusammengeschlagen worden und aus dem Flüchtlingsheim dort nach Berlin geflohen war. Er ging jeden Tag arbeiten, um seiner Familie in Ägypten Geld zu schicken.
Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?
In einigen Stadtteilen wie Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg entstanden durch die besetzten Häuser politische und kulturelle Anlaufpunkte.
Dietmar Wolf
Dietmar Wolf war linker DDR-Oppositioneller und Mitbegründer der Antifa Ostberlin. Er ist seit der Gründung im Oktober 1989 Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Telegraph. Er wohnt in Berlin.
Wie hast du als linker DDR-Oppositioneller den Sommer 1990 erlebt?
Heute wird ja immer vom »Kurzen Sommer der Anarchie« geredet. Ich finde den Begriff Quatsch. Hier war nichts mit Anarchie. Die Macht lag im Oktober/November 1989 vielleicht kurz auf der Straße. Doch das Volk wollte sie nicht. Dann hat die SED sie schnell wieder aufgehoben und, wohlgeordnet und mit Zustimmung der DDR-Bevölkerung, an die BRD-CDU und das BRD-Kapital übergeben. Die Gruppen der DDR-Opposition haben sich, statt sofort und konsequent die Kontrolle über die DDR zu übernehmen und natürlich auch die SED-Regierung samt gleichgeschaltetem Parlament zum Teufel zu jagen, derweil an Runden Tischen ohne jeglichen Einfluss und ohne wirkliche Befugnisse abgearbeitet und sich sogar von der Regierung Modrow mit »Ministerposten ohne Geschäftsbereich« bestechen lassen. Viele in der linken DDR-Opposition hatten auf eine neue Gesellschaft mit einem wirklich freien und echten Sozialismus gehofft. Dass die Menschen aber so derart grundsätzlich auf diese dummen und offensichtlichen Wahlkampflügen hereinfielen und schon zur Volkskammerwahl im März 1990 mit so einer überwältigenden Mehrheit auf deutsche Einheit, D-Mark und Kapitalismus setzten, hat viele von uns doch sehr erschüttert.
Welche Rolle spielte der Kampf gegen die Neonazis in der damaligen Zeit?
Das war schon sehr dominant. Es gab ja andauernd Zwischenfälle, was die besetzten Häuser betraf. Zuerst hauptsächlich im Prenzlauer Berg, weil der BFC Dynamo im Jahn-Stadion gespielt hat. Der Anhang von Nazi-Hooligans hat da regelmäßig vor oder nach den Spielen bei den nahegelegenen besetzten Häusern vorbei gesehen. Im Prenzlauer Berg bildete sich damals leider auch eine stärkere Naziszene um die Nazipartei FAP. Mit denen hatten wir dann noch bis Mitte der neunziger Jahre richtig viel Stress. Dann gab es auch im Bezirk Friedrichshain Übergriffe auf besetzte Häuser. Das war schon eine ständige Bedrohung. Und in der Lichtenberger Weitlingstraße gab es ja auch ein besetztes Haus der Nazis. Das war ein bundesweites Anlaufziel und Treffpunkt vieler Nazikader und -führer.
Gab es Widerstand dagegen?
Die Antifa war nicht nur defensiv, sondern ging auch ganz bewusst in die Kieze der Nazis. Flugblätter verteilen, fotografieren, aufklären, antifaschistische Ansagen machen. Wir haben dann, ganz in der Nähe des Nazihauses, ein antifaschistisches Straßenfest und eine große Demonstration veranstaltet. Diese beiden Aktionen wurden von einem sehr breiten politischen Bündnis organisiert. Da haben alle möglichen Gruppen und Organisationen aus Berlin mitgemacht. Ich finde es noch heute sehr ärgerlich, dass die Besetzer der Mainzer Straße im Nachhinein behauptet haben, beispielsweise auch in ihrem Film »Sag niemals nie«, sie allein hätten diese Demonstration organisiert und die Antifa-Arbeit dort in Lichtenberg geleistet. Das ist natürlich absoluter Blödsinn und ein Etikettenschwindel, den sie so gar nicht nötig hatten.
Wie war der Umgang zwischen Ost- und Westbesetzern zu dieser Zeit?
Nach der Maueröffnung gab es schnell viele Kontakte zu Westberliner Autonomen. Und die Westler waren anfangs auch sehr interessiert an uns und an unseren Ideen und »Geschichten aus der DDR«. Doch letztlich lief das immer gleich ab. Egal in welchen politischen Zusammenhang man sich begab, es hieß irgendwann: Na ja, ihr könnt bei uns mitmachen, wenn ihr wollt, aber ausschließlich nach unseren Regeln und Prinzipien. Eure DDR-Anekdoten sind ja ganz schön, aber Vergangenheit. Was hier jetzt kommt, hat mit euren Erfahrungen nichts zu tun. Wir wissen, wie man als Linke im Kapitalismus handelt und kämpft, und ihr nicht. Also ordnet euch schön brav unter, dann ist alles gut. Und es gibt manche, die haben so etwas gemacht, und eine Menge andere eben nicht. Wir haben dann in Prenzlauer Berg lieber erst einmal eine eigene Antifa aufgebaut, die viele Jahre sehr gute und erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Viele Gruppen im Osten haben dann auch ihre eigenen Strukturen und Vernetzungen entwickelt. Bis Mitte neunziger Jahre gab es da teilweise eine richtige politische Eiszeit zwischen großen Teilen der autonomen und radikalen Linken in der Ex-DDR und der BRD.
Welche Bedeutung hatte die Räumung der Mainzer Straße für dich?
Aber auch wenn ich Probleme mit der politischen Dominanz der Mainzer Straße hatte, war es wichtig und keine Frage, die Mainzer zu verteidigen. Denn das war ja nicht nur ein Angriff des Staates auf die Leute in der Mainzer, sondern auf die Struktur, auf unser Modell von Leben und Gesellschaft. Die haben uns und allen gezeigt, wo der Hammer hängt, und ihren Herrschafts- und Machtanspruch klar und deutlich unterstrichen. Gnadenlos. Skrupellos. Dieser Staat tut alles, um seine Macht zu sichern. Wenn es darauf ankommt, wird nicht gezögert und auch auf die eigene Bevölkerung geschossen. Übrigens im Gegensatz zu den Herrschenden in der DDR. Die haben sich das 1989 nicht getraut.
Über 50 Prozent der Mitglieder in nur sieben Staaten: Der Niedergang der einst mächtigen US-Gewerkschaften
Gewerkschaften in den USA haben es nicht leicht. Gezielte Angriffe, Das Verschwinden der politischen Ansprechpartner oder gezielter Wirtschaftslobbyismus schränken ihre Möglichkeiten ein.
Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich benannte schon vor 15 Jahren die politisch gewollte Schwächung der Gewerkschaften in den USA als eine wichtige Bedingung für die Durchsetzung des Modells Working Poor – Menschen die trotz mehrere Jobs in Armut leben. In Deutschland fanden ihre Reportagen Beachtung, weil Politiker und Wirtschaftsvertreter die Arbeitsverhältnisse in den USA als Modell bezeichneten. Ehrenreichs Analysen bestätigte jetzt der Geschichtsprofessor Joseph McCartin von der Georgetown-Universität in Washington DC in der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studie »Sanierung des bröckelnden Tarifsystems? Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in den Vereinigten Staaten von Amerika«.
Nur noch 11,3 Prozent der US-Bevölkerung sind gewerkschaftlich organisiert, in der Privatwirtschaft sind es nur 6,7 Prozent. Alarmierender ist, dass sich über die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder auf sieben der 50 US-Bundesstaaten verteilen. Das bedeutet, dass es nahezu gewerkschaftsfreie Regionen gibt. Die Studie benennt die Verantwortung der Politik: Zunehmende Polarisierung zwischen den beiden dominierenden Parteien, Republikaner und Demokraten, sowie die Wahlkampfunterstützung durch Industrie und konservative Organisationen hätten es den Gewerkschaften »in den letzten Jahren weiter erschwert, ihre politische Agenda durchzusetzen« oder in den Demokraten Verbündete zu finden, heißt es.
Ein Kapitel widmet sich systematischen Einschränkungen der Gewerkschaftsarbeit. Dabei werden in einigen Bundesstaaten vor allem Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, etwa Erzieher und Lehrer, zum Ziel von politischen Angriffen. Auch die Einführung neuer Technologien wirkt sich negativ aus. So stehen die drei Großunternehmen Amazon, Google und Wal-Mart, die nicht nur der US-Ökonomie, sondern auch der Weltwirtschaft ein neues Gesicht gegeben haben, für eine extrem gewerkschaftsfeindliche politische Agenda. »Sollten diese und ähnliche Unternehmen die Bedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit in der Privatwirtschaft vorgeben, ist in den kommenden Jahren mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen«, heißt es wenig optimistisch in der Studie.
Gerade weil Republikaner in den USA immer weiter nach rechts rücken und die Führungsebenen der Demokraten sich dem anpassen, fehlen den Gewerkschaften zunehmend die politischen Ansprechpartner. Sie sind gezwungen, sich auf gesellschaftliche Bündnispartner zuzubewegen. Dazu gehören Stadtinitiativen, die Selbstorganisation von Migranten oder die Workers Center, in denen sich Beschäftigte außerhalb ihrer Arbeitsplätze treffen und organisieren. Auch eine verstärkte transnationale Kooperation der Gewerkschaften zählt der Historiker zu den Wegen, mit der sie langfristig auch in den USA wieder an Einfluss gewinnen könnten. Schnelle Lösungen gibt es nicht, betont McCartin. Auch hierzulande werden Gewerkschaften nur eine größere Durchsetzungskraft erlagen, wenn sie sich nicht auf politische Parteien, sondern auf soziale Bewegungen stützen und über Landesgrenzen hinweg kooperieren. In diesem Punkt ist die Analyse der USA mit hiesigen Verhältnissen vergleichbar.
Der Ökonom Kamal Salehezadeh war im Iran bei der revolutionären linken Gruppe Volksfedajin aktiv und lebt in Hamburg. Derzeit plant er eine Veranstaltungsreihe zu den Hintergründen der Gefangenenmassaker im Iran 1988.
Wer genau waren die Opfer der Massenhinrichtungen im Iran vor 27 Jahren?
In nur neun Wochen, vom August bis zum Oktober 1988, hat das iranische Regime Massenexekutionen von Oppositionellen durchgeführt. Die Menschen, die getötet wurden, waren inhaftiert und ein Großteil von ihnen hatte die Haftstrafen, zu denen sie verurteilt waren, bereits verbüßt. Die genaue Zahl der Hingerichteten konnte bis heute nicht ermittelt werden. Es ist aber klar, dass mehrere Tausend Menschen dem Terror zum Opfer fielen. Die Hingerichteten repräsentierten die ganze Bandbreite der Opposition gegen das Mullah-Regime. Doch die meisten der Opfer stammten aus der Linken. Reformerische Kräfte waren ebenso betroffen wie linke Guerillakämpfer und kurdische Aktivisten.
Welches Ziel verfolgte das Regime mit dem Terror?
Nach dem Sturz der Schah-Diktatur war die Linke im Iran sehr stark. Im kurdischen Teil des Irans hatte sich die Bevölkerung ebenso in Räten organisiert wie im Nordiran, wo es eine starke Bauernorganisation gab. In allen Bereichen der iranischen Gesellschaft, in Schulen, Universitäten und Fabriken, gab es Versammlungen, auf denen die Menschen selber über ihre Interessen entscheiden wollten. Mit den Massakern sollte jede Alternative zum islamistisch-kapitalistischen Regime ausgelöscht werden.
Gibt es im Iran Gedenkveranstaltungen für die Opfer?
Offiziell wird über das Massaker nicht gesprochen. Doch die Angehörigen organisieren Gedenkveranstaltungen an dem anonymen Massengrab, in dem das Regime die Ermordeten begraben hat. Bei den Veranstaltungen kommt es immer wieder zu Festnahmen. Einige Angehörige sind wegen der Beteiligung an den Gedenkaktionen im Gefängnis, doch davon lässt sich niemand abhalten.
Warum machen Sie jetzt, 27 Jahren danach, in Deutschland eine Rundreise dazu?
Weil ich immer wieder feststellen musste, dass in Deutschland Menschen oder Organisationen, die sich als links verstehen, das iranische Regime verteidigen und dessen staatsterroristischen Charakter ausblenden.
Chris Rotmund ist Mitglied der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V., die kürzlich aus der Arbeitsgemeinschaft (AG) Uckermark ausgetreten ist. Das Gelände des nicht erhaltenen Lagers Uckermark grenzt an das ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in Fürstenberg/Havel (Brandenburg), das bereits eine Gedenkstätte ist.
Welches Ziel hatte die AG Uckermark?
Sie war ein institutionalisierter Runder Tisch für einen würdigen Gedenkort an der Stätte des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers für Mädchen und junge Frauen und späteren Vernichtungslagers Uckermark während des Nationalsozialismus. In den Gremien waren unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA), die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis, die Stadt Fürstenberg sowie verschiedene Abteilungen des Landes Brandenburg und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten vertreten.
Wie verlief die bisherige Kooperation?
Wir konnten die Entfernung der vorhandenen militärischen Bebauung und des militärischewn Geräts der Roten Armee auf dem Gelände beenden. Seit Februar 2015 wurde die AG Uckermark ohne Begründung nicht mehr einberufen.
Warum hat Ihre Initiative das Gremium verlassen?
Es war kein hierarchiefreies und kein gleichberechtigtes Gremium. Das bemängeln im übrigen nicht nur wir, sondern auch andere Beteiligte der AG Uckermark.
Gab es auch inhaltliche Gründe für euren Austritt?
Ja. Die Vertreterinnen und Vertreter der Mahn- und Gedenkstätte verwenden beispielsweise den Begriff »Jugendschutzlager«. Diesen euphemistischen Begriff aus der NS-Zeit lehnen wir aus zwei Gründen ab. Juristisch ist das Lager Uckermark als »KZ-ähnliches Lager« anerkannt, was für die Entschädigung der Opfer eine große Bedeutung hat. Für die ehemals Inhaftierten ist die Verwendung des Nazibegriffs außerdem ein Schlag ins Gesicht.
Wie wollt ihr eure Arbeit fortsetzen?
Wir fordern ein Gremium, in dem alle Personen und Gruppen, die sich für einen würdigen Gedenkort am KZ Uckermark einsetzen, gleichberechtigt zusammenarbeiten. Beim diesjährigen feministischen Bau- und Begegnungscamp, das vom 25. August bis 3. September auf dem Gelände stattfindet, werden wir die Diskussion darüber fortsetzen.
Kampf um die Freilassung des kranken US-Journalisten geht weiter
Free Mumia Abu Jamal« heißt esauf Flugblättern und Plakaten, die wieder im Berliner Stadtbild zu sehensind. Seit der US-Journalist lebensgefährlich erkrankte, ist weltweit die Solidaritätsbewegung erneut gewachssen.
Seit Ende 2014 leidet Mumia an schwerem Diabetes. Seitdem wächstbei den Unterstützern des Journalisten die Sorge. Schon in den 90er Jahren rettete eine internationale Kampagne Mumia das Leben. Er saß fast 20 Jahre in einer Todeszelle, weil erwegen Polizistenmordes in einem umstrittenen Verfahren von einer rein weißen Jury zum Tode verurteilt worden war. Der Journalist hatte die Tat immer bestritten. Die weltweite Solidarität konnte die Aufhebung des Todesurteils erreichen. Doch Mumia kam nicht frei und bekam auch kenen neuen Prozess, bei dem seine Anwälte entlastende Beweise hättenvorlegen können, die juristische Komitees zusammengetragen hatten.Das Todesurteil wurde in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt –und das bedeutet nach US-Rechtssystem Gefängnis bis zum Tod. Nachdem die unmittelbare Lebensgefahr für Mumia vorbei war,ebbte die Solidaritätsbewegung ab.Aber Kontakte und Netzwerke können schnell reaktiviert werden. Daszeigte sich in den letzten Wochen,als die Erkrankung bekannt wurde. Schnell waren Plakate und Flugblätter gedruckt, Kundgebungen undDemonstrationen organisiert. Diezentrale Forderung lautet: Freiheitfür Mumia – sofort. Für Anton Mestin von der Berliner Mumia-Solidarität hat die Losung eine besondere Dringlichkeit: »Im Gefängnis ist die Krankheit von Mumia lange Zeit nicht erkannt worden. Unter Gefängnisbedingungen wird er auch nicht wieder gesund werden.« Derharte Kern der Mumia-Solidarität hofft, dass sich nun viele Menschen,die bereits in den letzten 20 Jahren aktiv waren, wieder an der Solidaritätsarbeit beteiligen. Dazu gehörenauch viele ve.rdi-Mitglieder. Schließlich ist Mumia Ehrenmitglied derDienstleistungsgewerkschaft.
Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker lehrt und forscht an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts sowie des bundesweiten „Netzwerks Care Revolution“. Diesen März ist im Transcript-Verlag ihr Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“ erschienen. Peter Nowak sprach für den Vorwärts mit Winker über die Krise sozialer Reproduktion und die entstehende Care-Bewegung.
vorwärts: Im März 2014 fand in Berlin eine Aktionskonferenz zur „Care Revolution“ statt. Was ist seither geschehen?
Gabriele Winker: Die „Care Revolution“ nimmt einen grundlegenden Perspektivwechsel vor. Das ökonomische und politische Handeln darf nicht weiter an Profitmaximierung, sondern an menschlichen Bedürfnissen, primär der Sorge umeinander ausgerichtet sein. Eine Gesellschaft muss sich also daran messen lassen, inwieweit sie grundlegende Bedürfnisse gut und für alle Menschen realisieren kann. Nach der Aktionskonferenz, an der sich etwa 500 im Care-Bereich tätige Menschen in vielfältigen Workshops beteiligten, haben wir im Mai 2014 das „Netzwerk Care Revolution“ gegründet. Das ist eine Art Plattform, über die sich die verschiedensten Care-Initiativen vernetzen, austauschen und gegenseitig unterstützen können. Wir haben uns ferner darauf geeinigt, uns in diesem Jahr als Netzwerk an Aktionen zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März, zu Blockupy und zum 1. Mai zu beteiligen. An diesen drei Tagen war das „Netzwerk Care Revolution“ durch kleine Demonstrationsblöcke oder Infotische in mehreren Städten deutlich sichtbar. Auch gibt es inzwischen regionale Netzwerke in Berlin, Brandenburg, Hannover, Hamburg, Frankfurt und Freiburg. Andere befinden sich im Aufbau. Für April 2016 planen wir die zweite bundesweite Aktionskonferenz Care Revolution, wieder in Berlin.
vorwärts: Warum kommt die Debatte um die Care Revolution gerade in dieser Zeit auf?
Gabriele Winker: Der Wandel vom Ernährermodell zu verschiedenen neoliberalen Reproduktionsmodellen, die alle kein gutes Leben ermöglichen, ist in der BRD sehr langsam erfolgt, nicht zuletzt wegen der jahrzehntelangen Konkurrenz mit der DDR. Die neoliberale Familienpolitik, die mit dem Ziel der Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit und der Geburtenrate Wirtschaftspolitik betreibt und sehr stark zwischen Leistungsträgerinnen und -trägernund Ausgegrenzten unterscheidet, beispielsweise durch grosse Unterschiede in der Höhe des Elterngelds, nahm erst nach der Jahrtausendwende Fahrt auf. So wird erst derzeit deutlich spürbar, dass Menschen damit überfordert sind, sich – unabhängig von Geschlecht, Familienstatus, Umfang der Sorgeaufgaben – je einzeln durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft existenziell abzusichern und gleichzeitig die wegen der staatlichen Kostensenkungspolitik zunehmende Reproduktionsarbeit in Familien zu leisten. Arbeit ohne Ende wird für immer mehr Menschen zur Realität. Die Selbstsorge kommt zu kurz. Musse ist zum Fremdwort geworden. Und auch diejenigen, die auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, wie Kinder oder pflegebedürftige Erwachsene, können ihre Bedürfnisse nicht realisieren. Es nimmt nicht nur der Stress zu, sondern auch die Erschöpfung, da Erholungsphasen fehlen. Dies führt nicht zuletzt zu mehr Fällen psychischer Erkrankungen.
vorwärts:Sie haben den Begriff der „Care Revolution“ wesentlich geprägt. Auf welche theoretischen und praktischen Vorarbeiten haben Sie sich gestützt?
Gabriele Winker: Einerseits bin ich beeinflusst von der Zweiten Frauenbewegung. Bereits in den 70er Jahren wurde in diesem Rahmen auch in der BRD dafür gekämpft, die nichtentlohnte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anzuerkennen. Dies führen beispielsweise Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Beitrag zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977 aus. In den 90er Jahren begannen dann in den USA Debatten um die Care-Arbeit. Mit diesem Begriff wies beispielsweise Joan Tronto sehr früh darauf hin, dass Menschen ihr ganzes Leben lang Sorge von anderen benötigen und somit nicht völlig autonom leben können, sondern ihr Leben vielmehr in interdependenten Beziehungen gestalten. Meine Vorstellung von einer solidarischen Gesellschaft, die ich als Ziel einer Care-Revolution entwickelte, baut deswegen auf menschliche Solidarität und Zusammenarbeit.
vorwärts: Worauf stützt sich die neue Care-Revolution-Bewegung?
Gabriele Winker: Auffallend ist, dass es im entlohnten Care-Bereich, in Bildung und Erziehung sowie Gesundheit und Pflege, aber auch im unentlohnten Bereich, ausgehend von der Sorgearbeit in Familien, viele kleine Initiativen gibt, zum Beispiel Elterninitiativen, Organisationen von pflegenden Angehörigen, Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungen, Initiativen von und für Flüchtlinge, aber auch Verdi-Gruppen sowie queerfeministische und linksradikale Gruppen, die das Thema Care aufnehmen. Viele engagieren sich für bessere politisch-ökonomische Rahmenbedingungen, damit sie für sich und andere besser sorgen können. Alleine und vereinzelt sind sie allerdings bisher zu schwach, um politisch wahrgenommen zu werden und eine grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erreichen. Hinter der Care Revolution steht die Idee, diese Gruppen nicht nur über diesen Begriff zu verbinden, sondern damit auch aufeinander zu verweisen und eine sichtbare Care-Bewegung zu entwickeln. Wichtig ist dafür allerdings auch eine klare Analyse, die deutlich macht, dass der gesamte Care-Bereich unter den Folgen staatlicher Kostensenkungspolitik leidet, die mit der politisch-ökonomischen Krise sozialer Reproduktion verbunden ist. Davon ausgehend können wir mit der Care-Revolution als Transformationsstrategie gemeinsam erste Reformschritte in Richtung bedingungslose existenzielle Grundsicherung, deutliche Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit sowie Ausbau der sozialen Infrastruktur gehen.
vorwärts: Sie fassen in Ihrem Buch Aktivitäten der „Interventionistischen Linken“ über Verdi-Gruppen bis zu Pflegeinitiativen unter den Begriff „Care Revolution“. Wird da nicht über ganz unterschiedliche Aktivitäten ein Label gestülpt?
Gabriele Winker: Wichtig ist zunächst festzustellen, dass die im Buch genannten Gruppen und viele mehr, die zur Aktionskonferenz Care Revolution im März 2014 aufgerufen haben, sich selbst diesem Begriff und der Vorstellung zuordnen, dass die Bedingungen für Sorgearbeit in unserer Gesellschaft grundlegend revolutioniert werden müssen. Dabei sind das keine grossen Verbände, sondern Gruppen vor Ort, wie die IL Tübingen, die Verdi-Betriebsgruppe Charité, die Elterninitiative „Nicos Farm“ für behinderte Kinder in Hamburg oder kleinere Organisationen wie die Initiative „Armut durch Pflege“, die bereits viele Erfahrungen in sozialen Auseinandersetzungen im Care-Bereich haben. Die Zusammenarbeit dieser Gruppen wird eben nicht durch eine Organisation gestaltet, die über ein Label Bedeutung erringen will. Vielmehr sehe ich die besondere Stärke der im Werden begriffenen Care-Bewegung darin, dass sich Menschen in unterschiedlichen Positionen innerhalb der Care-Verhältnisse austauschen und ihre Kämpfe aufeinander beziehen.
vorwärts: Können Sie Beispiele nennen?
Gabriele Winker: Bei Treffen und Aktionen kommen beispielsweise Beschäftigte in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen mit pflegenden Angehörigen und Menschen zusammen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten zeitlich aufwändig für sich sorgen müssen. Wir alle können morgen von Krankheit betroffen sein und sind dann auf gute Pflege angewiesen. Und die staatliche Kostensenkungspolitik trifft nicht nur die Beschäftigten in allen Care-Bereichen gleichermassen, sondern in der Folge auch Familien, Wohngemeinschaften und andere Lebensformen, wenn Patienten „blutig“ entlassen werden oder notwendige Gesundheitsleistungen für Kassenpatientinnen gestrichen werden. Diese Verbindungen sind noch viel zu wenig präsent, auch in linken politischen Zusammenhängen. Nur wenn sich etwa Erzieherinnen und Eltern oder beruflich und familiär Pflegende als gesellschaftlich Arbeitende begreifen, können sie sich auf Augenhöhe in ihren Kämpfen um ausreichende Ressourcen und gute Arbeitsbedingungen unterstützen. Dies gilt unter dem Aspekt der Selbstsorge auch für Assistenzgebende und Assistenznehmende.
vorwärts:Warum kann im Kapitalismus das Problem der Sorgearbeit nicht gelöst werden?
Gabriele Winker: Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist Profitmaximierung. Die ist nur durch den Einsatz von Arbeitskraft zu erreichen, die allerdings tagtäglich und auch über Generationen hinweg immer wieder neu reproduziert werden muss. Der sich daraus ergebende Widerspruch, dass einerseits die Reproduktionskosten der Arbeitskraft möglichst gering gehalten werden sollen, um die Rendite nicht allzu sehr einzuschränken, gleichzeitig aber diese Arbeitskraft benötigt wird, ist dem Kapitalismus immanent. Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung dieses widersprüchlichen Systems ist, dass ein grosser Teil der Reproduktion unentlohnt abgewickelt wird. Mit der technologischen Entwicklung lassen sich nun zwar Güter und produktionsnahe Dienstleistungen schneller herstellen, nicht aber Care-Arbeit beschleunigen, zumindest nicht, ohne dass es zu einer massiven Verschlechterung der Qualität kommt. Denn Care-Arbeit ist kommunikationsorientiert und auf konkrete einzelne Menschen bezogen und damit sehr zeitintensiv. Die Folge ist, dass Produktivitätssteigerungen in diesem Bereich nur begrenzt möglich sind. Es kommt zu einer Krise sozialer Reproduktion, die ich als Teil der Überakkumulationskrise sehe.
Für mehr Infos siehe:
www.care-revolution.org
VORWÄRTS/1120: Interview mit Gabriele Winker – Soziale Reproduktion in der Krise
vorwärts – die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 3. Juli 2015