Kronstädter Aufstand

Zum 90. Jahrestag der Niederschlagung des Arbeiter- und Matrosenaufstands von Kronstadt veröffentlicht „Die Buchmacherei“ Klaus Gietingers Darstellung von Vorgeschichte, Verlauf und Ende des Aufstandes. Erstmals erschienen sind die Texte 1997 in der jungen Welt. Der Autor widerspricht der sowohl von AnhängerInnen Stalins als auch Trotzkis verbreiteten Behauptung, der Aufstand sei von Zaristen und Konterrevolutionären zu verantworten gewesen. Die Erhebung war vielmehr das Ergebnis der Unzufriedenheit über die ökonomische Situation und den beginnenden Bürokratismus in der jungen Sowjetunion. Im Grunde forderte die aufständiche Kommune etwas, was die Bolschewiki nur wenig später gezwungenermaßen nachvollzogen: den Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik. Später von den Bolschewiki als „ultralinks“ verurteilte Konzepte, wie die sofortige Abschaffung des Geldes als Zahlungsmittel, wurden auch von den Kronstädtern abgelehnt. Umso verhängnisvoller war, dass Vermittlungsversuche, auch aus den Reihen der Bolschewiki, nicht aufgegriffen wurden. Hier hätte der Autor auch die politischen Fehler auf Seiten der Kronstädter stärker herausarbeiten können. Sie waren wenig kompromissbereit, weil sie meinten, international unterstützte Vorreiter einer dritten Revolution zu sein. Manches in Gietingers Arbeit ist historisch fragwürdig, etwa die These, dass Lenin von Rosa Luxemburg spätestens seit 1911 nichts mehr gehalten habe, oder der Vergleich Lenins mit Noske. Auch dass Trotzki die russische Bauernschaft hasste, kann zumindest aus dessen Schriften nicht begründet werden.
 
http://www.akweb.de/ak_s/ak561/08.htm

Peter Nowak
 
Klaus Gietinger: Die Kommune von Kronstadt. Die Buchmacherei, Berlin, 2011. 138 Seiten, 10 EUR

Nazis in „Angst und Schrecken“

GESCHICHTE Ein Buch schildert Fälle politischer Gewalt in der Weimarer Republik. Linke Gruppen wie die Kreuzberger Antifa stempelten die Richter schnell zu „Terrorbanden“ ab, Faschisten wurden zu Opfern

Sie nannten sich „Lustig Blut“ oder „Edelweiß“, ihr Motto war: „Wo wir Nazis sehn, da jibt’s Kleinholz“. Sie rissen Nazipropaganda ab und verhinderten gelegentlich ganz handfest Treffen von Faschisten in Kreuzberg. Hier entwickelte sich zwischen 1930 und 1933 die erste Jugendantifa. Der Berliner Historiker Johannes Fülberth beschreibt sie in einem kürzlich erschienenen Buch, in dem er 18 Konflikte mit Todesfolge und politischem Hintergrund in der Endphase der Weimarer Republik untersucht.

Auch der SA-Mann Hans Hoffmann gehört dazu, der bei einer Auseinandersetzung mit der Antifa am Lausitzer Platz im Juli 1931 so schwer verletzt wurde, dass er Wochen später starb. Danach wurden die Jugendantifastrukturen von der Polizei in kurzer Zeit aufgerollt. Der wegen schwerer Körperverletzung angeklagte Jungkommunist Kurt Gersing verteidigte sich politisch: „Der Staatsanwalt hat von roten Terrorbanden gesprochen. Ich protestiere dagegen. Wenn junge Antifaschisten sich gegen Nationalsozialisten verteidigen, um ihr Leben zu schützen, sind sie noch lange keine Terrorbanden.“ Gersing setzte die Widerstandsarbeit fort und wurde 1943 in Plötzensee hingerichtet.

Es wundert nicht, dass viele Nazis, die in der Weimarer Republik für den Tod von GegnerInnen verantwortlich waren, im NS-Regime aufstiegen. Dasselbe gilt aber auch für die meisten Richter, die vor 1933 in politischen Konflikten mit Todesfolge urteilten. Wie Fülberth nachweist, sahen die oft deutschnationalen Richter in einem Linken schnell den Landesverräter, erkannten aber bei Rechten Notwehr. So wurde der NS-Standartenführer Georg Kuntze, der den Kommunisten Ernst Nathan erschoss, wegen Verletzung des Waffengesetzes zu einem Jahr Haft verurteilt. Weil Kuntze „permanent in Angst und Schrecken“ vor Überfällen der Kommunisten lebte, habe er überreagiert, so der Richter.

Obwohl Fülberth auch bei den Nazigegnern Gewaltbereitschaft konstatiert, setzt er rechts und links nicht gleich. Während die SA mit der Einrichtung von Sturmlokalen und massiver Präsenz oppositionelle Stadtteile erobern wollte, hätten die Reaktionen der AntifaschistInnen der Verteidigung der Stadtteile vor den Rechten gedient.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F05%2F03%2Fa0150&cHash=bcfc272e40

Peter Nowak

 Johannes Fülberth: „… wird mit Brachialgewalt durchgefochten“. Köln 2011, PapyRossa-Verlag, 154 Seiten, 14 Euro

Plädoyers eines Linksanwalts

Der nigerianische Student Obi Ifeobu wurde im Februar 1967 von der Polizei im Hamburger Studentenwohnheim verhaftet, sofort zum Flughafen gefahren und in seine Heimat abgeschoben, weil er an studentischen Demonstrationen, unter anderem gegen den Besuch von afrikanischen Potentaten, beteiligt war. An sein Schicksal erinnerte der Rechtsanwalt Heinrich Hannover in seinem Buch „Reden vor Gericht“. Es beginnt mit dem Fall des NS-Widerstandskämpfers Willy Meyer-Buer, der wegen der Fortsetzung der Aktivitäten der verbotenen KPD angeklagt wurde, weil er 1961 als Parteiloser zur Bundestagswahl kandidierte. Als Verteidiger des Antimilitaristen Lorenz Knorr, der Hitler-Generäle Massenmörder genannt hatte, ging Hannover durch mehrere Instanzen, bis das Verfahren 1972 eingestellt wurde. Später verteidigte er Karl Heinz Roth, der 1975 auf einen Kölner Parkplatz bei einer Polizeikontrolle schwer verletzt und als Terrorist vorverurteilt wurde. Schließlich musste er freigesprochen werden. Auch die RAF-Aussteiger Astrid Proll und Peter-Jürgen Boock hat Hannover verteidigt. Über Boocks Lügen war der Anwalt so enttäuscht, dass er das vorbereitete Plädoyer nicht verlas, sondern zu den Akten legte. Seine prominentesten Fälle waren die Nebenklage im Prozess gegen den Mörder des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann und die Verteidigung von Hans Modrow im Verfahren wegen Wahlmanipulationen in der DDR. Auch einige Plädoyers in „unpolitischen“ Fällen sind in dem Buch dokumentiert. Insgesamt bieten die Texte einen guten Einblick in die politische Verfasstheit dieser Gesellschaft jenseits der Sonntagsreden. Der größte Teil der Plädoyers ist auch auf einer dem Buch beigelegten CD zu hören.

Peter Nowak

Heinrich Hannover: Reden vor Gericht. Plädoyers in Text und Ton. Mit einer Audio-CD. Papyrossa-Verlag, Köln 2010. 276 Seiten, 22 EUR

 http://www.akweb.de/ak_s/ak559/20.htm

Peter Nowak

Kritische Solidarität

Eine Vereinigung von Rentnern besetzt das lokale Büro einer ehemaligen Regierungspartei und richtet dort ein Zentrum ein, in dem sie Tanzkurse, Kulturveranstaltungen und Geburtstagsfeiern abhält. Der besetzte Seniorenclub befindet sich in einem Armenstadtteil von Caracas und ist Teil einer  Rätestruktur in Venezuela. In der öffentlichen Diskussion  über dieses Land steht immer der telegene Präsident Hugo Chavez im Mittelpunkt.  Die im letzten Jahrzehnt ausgebauten Elemente einer partizipativen Demokratie hingegen werden selten erwähnt. Der Berliner Publizist Dario Azzellini hat jetzt in einem Buch eine wissenschaftliche Untersuchung über diese  Formen der Selbstverwaltung in Venezuela vorgelegt, an der niemand vorbeikann, der sich gründlicher mit der Situation in dem Land befassen will. Schon in den vergangenen Jahren hat Azzellini die  bolivarische Revolution in Venezuela in Büchern und Filmen mit kritischer Solidarität begleitet. Von diesem Prinzip ist das auch das aktuelle Buch geleitet. Es beginnt mit einen Überblick über die venezolanische Gesellschaft,  bevor Chavez mit einen gescheiterten Militärputsch auf der politischen Bühne erschienen ist. Er zeigt auf, wie zerstritten und marginalisiert  die Linke in dieser Zeit waren. In dieses Vakuum stieß die von Chavez mitbegründete linke   Bewegung in den Streitkräften, die mit  Stadtteilkomitees, den Resten von Guerillagruppen der späten 70er Jahre nicht aber mit  Parteien und Gewerkschaften kooperierte. Azzellini zeigt auf, dass die Forderung nach einer neuen Verfassung mit Selbstverwaltungselementen von Beginn an ein zentraler Diskurs dieser neuen Bewegung war. Doch erst nach dem knapp gescheiterten Putschversuch im Jahr 2002 und mehreren Unternehmerstreiks in den folgenden Monaten entwickelte der Prozess der Selbstverwaltung eine besondere Dynamik. Azzellini liefert viel Zahlenmaterial   über die Stadtteilorganisationen, die Arbeiterselbstverwaltung in den Fabriken und die dem Präsidenten direkt unterstellten Missiones mit denen Fortschritte im Bereich der Bildung, der Gesundheits- und  Lebensmittelversorgung und     des Städtebaus vorangetrieben werden sollte. Dabei betont  er die Erfolge, ohne die Fehler und Schwierigkeiten zu verschweigen. Bürokratische Tendenzen gehören ebenso dazu, wie die Korruption,  aber auch eine Passivität sich  bei Teilen der Bevölkerung. 
„In den neuen Institutionen… besteht die Gefahr, Logiken der konstitutionellen Macht zu reproduzieren, wie etwa Hierarchien…  und Bürokratisierung.“, schreibt Azzellini, benennt aber auch die Gegenkräfte. Es sind oft Menschen, die sich in den letzten Jahren durch die partizipative Demokratie  politisiert haben und sie in den Stadtteilen,  Fabriken und den Missiones  selbstbewusst auch gegen die Bürokratie verteidigen.  
         „Wer hier wirklich den Prozess führt, das ist die Basis“, zitiert Azzellini eine dieser Stadtteilaktivisten.  Er hat für seine Arbeit  Befragungen in verschiedenen Stadtteilen durchgeführt.   Das Buch ist eine mit Fakten untermauerte Gegenrede gegen  eine oft auf Halbwissen beruhende Aburteilung des bolivarischen Prozesses. Erfreulich, dass sich der Autor trotzdem  den kritischen Blick bewahrt hat und  auch die Gefahren  nicht unerwähnt lässt, die    einer emanzipatorischen Entwicklung in Venezuela drohen könnten  Ausgespart  bleibt in dem Buch die mehr als fragwürdige Bündnispolitik von Chavez, wie seine Unterstützung für Gaddafi  und Achmadinedschah. Auch hier dürfte die Partizipation der Bevölkerung nicht enden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/193229.kritische-solidaritaet.html

Peter Nowak

Azzellini Dario, Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune, Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela, VSA-Verlag, Hamburg, 2011, 24,80 Euro, 406 Seiten, ISBN 978-3-89965-422-6

Kameradinnen

Neonazis

Lange Zeit wurden die Frauen in der extrem rechten Bewegung auch in der Literatur wenig beachtet. Das hat sich nicht zuletzt durch die Arbeiten von Andrea Röpke und Andreas Speit geändert. In ihrem neuesten Buch analysieren die beiden profilierten Experten der rechten Szene die aktuelle Frauenpolitik im Umfeld von NPD und Freien Nationalistinnen. Im Blickfeld steht der Ring Nationaler Frauen (RNF) und die elitäre Gemeinschaft Deutscher Frauen (GDF). Ein eigenes Kapitel widmet sich den lokalen Frauengruppen der Freien Kameradschaften und NS-Seniorinnen wie Ursula Haverbeck, Holocaustleugnerin und Hitler-Verehrerin, die in der rechten Szene eine wichtige Rolle spielt.

Das Autorenduo zeigt, wie es rechten Frauen gelingt, mit ihren scheinbar unpolitischen Aktivitäten in Eltern-, Schul- und Nachbarschaftsvereinen Menschen für die NPD zu interessieren. Wie zielbewusst sie vorgehen, ist am Zuzug von Nationalisten in kleine Dörfer in Mecklenburg-Vorpommern erlebbar. Eine Nationalistin äußerte im rechten Internetforum: »Ich denke, es wäre besser, nicht gleich wie ein Heuschreckenschwarm über das Dorf hereinzubrechen. Besser ist es, wenn wenige den Anfang machen und auch schon ein vernünftiges Vorhaben verwirklichen, z. B. einen kleinen Handwerksbetrieb.« Die NPD kann derart in manchen Regionen durchaus Erfolge verbuchen.

»In Mecklenburg-Vorpommern mischen sich rechte Siedler und Siedlerinnen als Biohändler, Künstler oder Handwerker unauffällig auf Wochenmärkten und Kleinkunstveranstaltungen unter das Volk«, so die Beobachtung von Röpke und Speit. Auch in schwach besiedelten Gegenden Westdeutschlands sind es häufig Frauen, die mit ihrem Engagement Akzeptanz für die rechte Ideologie erreichen. In Berlin-Weißensee nutzte eine rechte Frauengruppe eine Turnhalle zur Verbreitung ihrer Ansichten. Als dies aufflog und ihnen der Zutritt zur Schule verwehrt wurde, ernteten sie Sympathiebekundungen.

Die Autoren setzen sich mit der Frage auseinander, ob und wann es sinnvoll ist, rechte Frauen zu outen. »Ob berichtet wird oder nicht, entscheidet sich auch unter der Prämisse, inwieweit die Berufstätigkeit sensible Bereiche betrifft – etwa pädagogischen Einfluss auf Kinder und Jugendliche oder Tätigkeiten, die potentiell Zugriffe aus Kunden- und Vertragsdaten erlauben.« Wichtig seien regionale zivilgesellschaftliche Netzwerke, die auf die Werbung rechter Frauen schnell reagieren. Röpke und Speit argumentieren gegen die Extremismusklausel, mit der ein Teil des antifaschistischen Spektrums ausgegrenzt werden soll. »Nichtstaatliches Engagement gegen die extreme Rechte scheinen Politiker in vielen Städten und Kommunen mittlerweile gar wieder als störender zu betrachten als die braunen Aktivitäten vor Ort«, so ihr beunruhigendes Fazit.

Andrea Röpke/Andreas Speit: Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene. Ch. Links Verlag. 240 S., geb., 16,90 €

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/193209.kameradinnen.html

Peter Nowak

Die Grenzen der linken Macht

 Atilio Borón lotet das emanzipatorische Potenzial der lateinamerikanischen Linksregierungen aus

Der renommierte argentinische Politologe Atilio Borón wirft in seinem jüngsten Buch »Den Sozialismus neu denken« ein Schlaglicht auf den Beitrag, den die Linksregierungen in Lateinamerika für eine neue Gesellschaftsordnung leisten könnten.
Die Einschätzungen zu den linken Regierungen in Lateinamerika sind nicht nur in Deutschland sehr kontrovers. Handelt es sich um Wege zu einer emanzipatorischen und sozial gerechteren Gesellschaft oder wird der Kapitalismus nur anders verwaltet? Welchen Handlungsspielraum haben diese Regierungen im globalen Kapitalismus? Diese Fragen stellt sich der argentinische Politologe Atilio Borón in seiner Streitschrift, die kürzlich im VSA-Verlag in deutscher Sprache erschienen ist.

 In dem Buch werden in drei Kapiteln viele Themenbereiche angesprochen, was die Lektüre nicht immer einfach macht. So rezipiert Borón im ersten Kapitel die Grundzüge der Debatten um Entwicklung und Unterentwicklung, die vor 40 Jahren nicht nur in Lateinamerika eine große Bedeutung hatten. Borón teilt die Meinung der Dependenztheoretiker, die die These vertreten, dass es für die Länder des Südens gar nicht möglich ist, die USA und Westeuropa zu kopieren. Sie plädierten folglich für einen unabhängigen Weg.

Für ihn haben sich die Prognosen dieser linken Theoretiker in den letzten 40 Jahren bestätigt. Den Mitte-Links-Regierungen auf dem amerikanischen Kontinent bescheinigt Borón dagegen, dass sie »mit blindem Optimismus darauf vertrauen, dass ihr Marsch in Richtung Entwicklung erfolgreich sein wird – obwohl dieser Weg schon seit Langem versperrt ist«.

So bekommt der mittlerweile verstorbene ehemalige argentinische Präsident Néstor Kirchner von Borón sein Fett weg, weil er das Ziel verfolgt habe »einen ernsthaften Kapitalismus« zu schaffen.

Die Hauptkritik richtet sich allerdings gegen die Lula-Regierung in Brasilien (2003-2010). »Während der ersten Amtszeit von Lula machte das Kapital phänomenale Gewinne auf Kosten der nationalen Bourgeoisie, die nicht in der Lage war, die Richtung der ultraneoliberalen Wirtschaftspolitik zu verändern.« Borón geht mit der Lula-Regierung besonders hart ins Gericht, weil sie wegen des politischen und wirtschaftlichen Gewichts Brasiliens in der Lage gewesen wäre, eine politische Alternative zur neoliberalen Entwicklung einzuschlagen. Sein Fazit ist ernüchternd: »Nichts hat sich in Brasilien verändert. Der neoliberale Weg wird weiter beschritten.«

Vorsichtig optimistisch äußert sich Borón zur Entwicklung in Venezuela. »Nach einer Reihe von Anfangsschwierigkeiten hat die bolivarische Revolution Beweise geliefert, dass es einen Weg aus dem Neoliberalismus gibt, wenngleich es ein sehr steiniger Weg ist, auf dem zahlreiche Gefahren lauern.«

Im dritten Kapitel beteiligt sich Borón an der Debatte um die Grundlagen eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Als zentrale Lehre aus dem Scheitern bisheriger sozialistischer Experimente legt er Wert auf eine Abkehr vom blinden Vertrauen in die Produktivkräfte und einen »technokratischen Despotismus«. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf Schriften von Che Guevara. Seinen Kampfmethoden erteilt Borón aber eine Absage. »Es wäre falsch zu glauben, dass der Sozialismus des 21. Jahrhunderts in einem aggressiven Kapitalismus durch einen revolutionären Prozess entstehen würde. In Lateinamerika wird dieser Prozess des Aufbaus des Sozialismus in verschiedenen Ländern verschiedene Charakteristika aufweisen, er wird aber in jedem Fall zunächst im Gewand des Reformismus daherkommen.«

Wie sich dann aber der von Borón als notwendig erachtete »Bruch mit der Vergangenheit« vollziehen soll, bleibt offen. Lediglich auf das richtige Bewusstsein und die richtige Organisation wird am Schluss rekurriert. So bleibt der Autor, der in dem Buch viele interessante Fragen aufgeworfen hat, am Ende doch recht vage.

Atilio Borón: Den Sozialismus neu denken. VSA-Verlag. Hamburg 2010, 119 Seiten, 12,20 Euro.

www.neues-deutschland.de/artikel/193096.die-grenzen-der-linken-macht.html
Peter Nowak

Als die Kopf- Handarbeiter wurden

Linke Studenten heuerten in den 70er Jahren in Fabriken an – ein fast vergessenes Experiment
Was heute kaum vorstellbar klingt, war Anfang der 1970er Jahre weit verbreitet. Einige Tausend junge Linke tauschten den Seminarstuhl gegen die Werkbank ein, um die Arbeiterklasse für Revolution und Kommunismus zu begeistern. Einige blieben für immer.
 
Was haben der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber und der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer gemeinsam? Beide heuerten in den 70er Jahren in einer Fabrik an, um über die Gründung einer Betriebsgruppe die Arbeiter zu politisieren und so die Revolution voranzutreiben. Wie Huber und Fischer sind in den 70er Jahren tausende junge Linke in die Produktion gegangen. In Berichten über die 68er Bewegung bleiben diese »Fabrikinterventionen« oft ausgespart. Jetzt hat der Berliner Politikwissenschaftler Jan Ole Arps ein gut lesbares Buch über dieses vergessene Experiment linker Geschichte herausgeben.

Dabei tut er die Idee nicht als Spinnerei ab, wie es heute üblich ist. Vielmehr erklärt Arps, wie es zu dem Interesse an der Fabrik kam. So war die Studierendenbewegung schon 1968 an ihre Grenzen gestoßen, der SDS als größte Organisation war von Flügelkämpfen gelähmt, die erhoffte gesellschaftliche Veränderung blieb aus. Nicht nur maoistisch orientierte Studierende, sondern auch Anhänger der undogmatischen Linken wie Fischer – später Spontis genannt – orientierten sich um in Richtung Betriebsarbeit. Arps hat mit einstigen Aktivisten beider Richtungen gesprochen und arbeitet die Unterschiede heraus.

Die diversen maoistischen Gruppen hatten die Devise ausgegeben, dass die Neuarbeiter ihre subkulturelle Phase hinter sich lassen sollen. »Ich hatte vorher eine lange Matte und Bart und als ich dann zu Ford ging, da hatte ich die Haare ganz kurz«, erinnert sich der Ex-Maoist Reiner Schmidt an den Beginn seines neuen Lebensabschnitts. Die Undogmatischen propagierten den umgekehrten Weg. »Es ging nicht um Anpassung ans Arbeiterdasein, sondern um die Bewahrung rebellischer Subjektivität … trotz der Arbeit bei Opel«, schreibt Arps. Sie wohnten weiter in Wohngemeinschaften und erholten sich in der linke Szene von der anstrengenden Fabrikarbeit. Die Revolution konnten beide Strömungen bekanntermaßen nicht anzetteln. Aber das Intermezzo bei den Malochern hatte zumindest für die Spontis vorher nicht erwartete Folgen. Vor allem junge Arbeiter begeisterten sich für deren hedonistischen Lebensstil und schmissen den Job an der Werkbank hin. »Sie entflohen der Enge des elterlichen Zuhauses und der Monotonie der Fabrik, zogen in eine der vielen Szenewohnungen und schalteten sich in die aufkommenden Hausbesetzungen ein.«

Während die Spontis bald ganz Abschied von der Fabrik nahmen, wurde aus manchem Ex-Maoisten ein linker Gewerkschafter. Dafür musste ideologisch abgerüstet, Agitationsanleitungen ignoriert und sich den realen Problemen im Betrieb zugewendet werden. »Die Konkurrenz der Linken untereinander wirkte befremdlich, ebenso die ständige Wiederholung, dass wir Arbeiter uns dieses oder jenes nicht gefallen lassen sollen«, erinnert sich Ingrid Köster an die erste Zeit im Betrieb.

Inzwischen hat die Computerisierung den Beschäftigten Entlastung gebracht, aber zugleich manchen Freiraum genommen, den sie sich in den großen Fabriken erkämpft hatten. Der Meister oder der Akkordfachmann konnte nun im Büro ohne Wissen des Arbeiters die Daten abrufen. »Wie viel Stück hat er in der ersten Stunde gemacht? Wann stand die Maschine still?«, zitiert Arps einen Betriebsrat. Heute sind viele gezwungen, unter prekären Bedingungen zu arbeiten, sitzen vereinzelt zu Hause. Organisierung, nicht Fabrikintervention ist die zentrale Frage.

Jan Ole Arps: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren. Berlin-Hamburg 2011. 238 Seiten, 16 Euro.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/192686.als-die-kopf-handarbeiter-wurden.html

Peter Nowak

Großer Aufwasch bei Accor

Filmdoku über Arbeitskampf von Reinigungskräften in Frankreich

Einigen sind die express-Berichte über den Arbeitskampf der drei Dutzend Reinigungskräfte gegen die Hotelkette Accor in Frankreich sicher noch in Erinnerung: Über drei Jahre, von 2002 bis 2004, hatten wir diese Auseinandersetzung publizistisch und mit Veranstaltungen begleitet. Nicht zuletzt ging es um die Frage, ob und inwiefern politischer und ökonomischer Druck auf den „Generalunternehmer“ in dieser von extremer Fragmentierung und Subunternehmertum geprägten Branche erfolgreich sein kann. Neben den Erfahrungen und Ergebnissen der Auseinandersetzung, die in der Reihe Ränkeschmiede (Nr. 14) festgehalten sind, ist nun eine filmische Dokumentation erschienen, die für gewerkschaftliche und öffentliche Diskussionsveranstaltungen genutzt werden kann:

„Kämpfen – wie in Frankreich“, lautet eine viel strapazierte Parole, wenn es um Streiks und Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit geht. Der Film „Großer Aufwasch im Subunternehmen“, der jetzt auf Deutsch erhältlich ist, zeigt, was damit gemeint sein kann. Er dokumentiert den jahrelangen Kampf von Reinigungsfrauen, meist afrikanischer Herkunft, die in Hotels der Accor-Kette in Frankreich für die Senkung des Arbeitsakkords und die Bezahlung nach Arbeitsstunden statt nach geputzten Hotelzimmern kämpfen. Der Film zeigt einen Streik, wie er in Deutschland kaum denkbar wäre: Die Frauen besetzen Hotelfoyers und lassen sich dort zum Picknick nieder. Unter den Augen der empörten Hotelleitung und mancher nicht minder empörter Hotelgäste, die beim Essen nicht von den Belangen des Reinigungspersonals gestört werden wollen, das ihnen die Zimmer sauber zu halten hat, machen die Frauen deutlich, dass sie sich nicht wegschieben und auch nicht den Mund verbieten lassen werden.
In einem der Hotels hinterlassen die Frauen gemeinsam mit dem Unterstützungskomitee soviel Unordnung, dass es für einige Stunden geschlossen werden muss. Der Film zeigt, mit welcher Gelassenheit diese Menschen Aktionen des zivilen Ungehorsams praktizieren, sich dabei völlig offen äußern und fotografieren lassen. Auch der Druck von Ehemännern und Verwandten kann ihre Kampfbereitschaft nicht dämpfen. Eine Frau berichtet, wie sie während des Streiks von den Eltern ihres Mannes unter Druck gesetzt wurde, den Streik abzubrechen, weil sie doch zum Arbeiten nach Frankreich gekommen sei.
„Großer Aufwasch im Subunternehmen“ dokumentiert damit auch ein Beispiel, wo es die Männer sind, die Druck auf die streikenden Frauen ausüben – und nicht umgekehrt, wie es oft in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung erscheint.

Nachdem die Frauen dem Accor-Konzern und seinen Subunternehmen endlich einen akzeptablen Vertrag abgerungen haben, wird Faty Mayant, eine der Streikaktivistinnen der ersten Stunde, entlassen. Gemeinsam mit einem Solidaritätskomitee nimmt sie den Kampf dagegen auf und lässt sich auch von Polizei und Hotelleitung nicht einschüchtern. Dabei hat sie noch nicht einmal die Unterstützung all jener Frauen, die jahrelang mit ihr gestreikt haben. Doch in dieser Situation zeigt sich, wie wichtig die Arbeit des Solidaritätskomitees ist. Der Film dokumentiert, mit welcher Entschlossenheit Faty Mayant für ihre Sache streitet und schließlich einen Teilerfolg erzielt. Ihren Job bekommt sie zwar nicht zurück, doch erhält sie eine finanzielle Abfindung. Die Filmemacherin Ivora Cusack und das Kollektiv 360°, das die Streikenden begleitet hat, machen in dem Film deutlich, dass die Reinigungskräfte von Accor und insbesondere Faty Mayant mit ihrem Kampf auch vielen anderen Mut gemacht haben, gegen unhaltbare Zustände an ihren Arbeitsplätzen aufzustehen – und dies in einer Branche, die exemplarisch für die Informalisierung, Prekarisierung und Individualisierung von Arbeitsverhältnissen und damit für die These der „Unorganisierbarkeit“ steht.
 
Peter Nowak

„Großer Aufwasch im Subunternehmen“, Frankreich 2010, 70 min., mit deutschen Untertiteln
Produktion/Vertrieb: Kollektiv 360° et même plus
Bestellungen über: http://remue-menage.360etmemeplus.org/
Der Film kann für öffentliche und gewerkschaftliche Schulungs- und/oder Diskussionsveranstaltungen zur Verfügung gestellt werden und kostet, je nach Finanzausstattung der Veranstalter, zwischen 25 und 100 Euro (Solidaritätsveranstaltungen kostenlos).

Peter Nowak

aus Express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/2011

http://www.labournet.de/express/index.html

Maoistische Anklänge und Harmonie

Von Fabrikarbeitersuiziden über »Bossnapping« bis hin zur Situation von Sexarbeiterinnen – in einem neuen Sammelband untersuchen Wissenschaftler und Aktivisten die aktuelle Lage der Arbeiterklasse in China.
»Sie setzten den Direktor auf die Ladefläche eins Pritschenwagens und zwangen ihn, die schmerzhafte und erniedrigende Flugzeug-Haltung einzunehmen – vorgebeugt und mit den Armen zur Seite ausgestreckt.« Diese Beschreibung eines »Bossnapping« bei einem Streik von Seidenwebern in der chinesischen Provinz Sichuan verdanken wir dem Hongkonger Sozialwissenschaftler Chris King-Chi Chan. Der Bericht findet sich in einem neuen Sammelband zur Situation der Arbeiterklasse in China.

 Vor zwei Jahren war im gleichen Verlag ein Buch über die chinesischen Wanderarbeiterinnen erschienen, die aus ihren Dörfern in die Weltmarktfabriken zum Arbeiten kommen. In dem neuen Band wurde das Blickfeld erweitert. Neun Wissenschaftler und ein sozialpolitischer Zusammenhang analysieren die Situation der unterschiedlichen Sektoren der chinesischen Arbeiterklasse. So widmet sich US-Anthropologin Zhan Tiantian chinesischen Sexarbeiterinnen, die offiziell als Hostessen bezeichnet werden. Sie zeigt auf, dass die regierungsoffizielle Anti-Prostitutionskampagne ihre Arbeitsbedingungen verschlechtert. Über Formen des Widerstands gibt es in dieser Branche indes wenig zu berichten.

Die unterschiedlichsten Formen des Widerstands, von individuellen Verzweiflungstaten bis zu kollektiver Gegenwehr, werden im Buch vorgestellt. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte ein Streik beim Autokonzern Honda im Mai und Juni 2010. Die Hintergründe der Arbeitsniederlegungen werden detailliert untersucht und betont, dass die Arbeitsniederlegungen ohne jegliche gewerkschaftliche Unterstützung von den Arbeitern selbst organisiert wurden. Beim Autokonzern Foxconn hingegen lenkten mehrere Selbstmorde von Beschäftigten den Blick auf die schlechten Arbeitsbedingungen.

Bei ihren Protesten benutzten die Beschäftigten oft Losungen aus der maoistischen Tradition. »Die Arbeiter sind die Herren des Staates. Nieder mit der neu entstandenen Bourgeoisie. Ja, zum Sozialismus. Nein, zum Kapitalismus«, lauteten die Parolen auf Transparenten, mit denen Arbeiter aus der Eisen- und Stahlindustrie in der Provinz Liaoning auf die Straße gegangen sind. Mehrere Autoren berichten über maoistische Bezüge auch bei anderen Kämpfen. Die in Hongkong lehrende Sozialwissenschaftlerin Pun Ngai zeigt in einem kurzen historischen Abriss auf, dass bis Ende der 70er Jahre der Klassenkampf in der offiziellen chinesischen Politik eine große Rolle spielte. Erst in den 80er Jahren sei auch in China offiziell Karl Marx durch Max Weber ersetzt worden. Ngai betont, dass ein aktueller Klassenbegriff sinnvoller- weise nur als Waffe von unten in den Fabriken und Arbeiterwohnheimen neu begründet werden kann. Dafür liefert das Buch viele Beispiele.

Mehrere Autoren setzen sich in dem Buch kritisch mit unterschiedlichen Integrationsversuchen der Arbeiterkämpfe auseinander. Dazu gehört für sie auch der veränderte Diskurs der chinesischen Regierung, die für ihr Konzept einer harmonischen Gesellschaft Gewerkschaften als Sozialpartner akzeptiert. Dazu gehören auch die neu eingerichteten und von den Beschäftigten häufig genutzten Schlichtungsverfahren bei Problemen am Arbeitsplatz. Kritisch wird auch der Versuch bewertet, aus kämpferischen Arbeitern Bürger mit Rechten zu machen. Genauso kritisch müssen auch die falschen Freunde der chinesischen Arbeiter in den westlichen Ländern eingeschätzt werden, die die berechtigten Kämpfe der chinesischen Beschäftigten gleich zu einem Kampf gegen das chinesische Gesellschaftssystem hochstilisieren wollen.

Pun Ngai, Ching Kwan Le, u.a.: Aufbruch der zweiten Generation, Wanderarbeiter, Gender und Klassenzusammensetzung in China. Berlin/Hamburg 2010. Verlag Assoziation A, 294 Seiten, 18 Euro.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/190665.maoistische-anklaenge-und-harmonie.html

Peter Nowak

NS-Falschgeldaktion

Durch den preisgekrönten Film „Der Fälscher“ wurde ein bisher wenig beachtetes Kapitel der NS-Verbrechensgeschichte bekannt. Im Rahmen der „Operation Bernhard“ mussten jüdische Zwangsarbeiter im KZ-Sachsenhausen Falschgeld herstellen. Florian Osuch hat sich in der Abschlussarbeit seines Diplomingenieur-Studiums im Bereich Drucktechnik diesem Thema gewidmet. Das daraus entstandene Buch beginnt mit einem kurzen historischen Exkurs über die Geschichte von Geldfälschungen seit der Antike. Osuch arbeitet die besondere verbrecherische Qualität der NS-Falschgeldaktion heraus, die in einem abgeschirmten Bereich im KZ Sachsenhausen durchgeführt wurde. 142 Drucker, Graveure und Schriftsetzer wurden zwischen 1942 und 1944 in die Fälscherwerkstatt verschleppt; sieben erkrankte Häftlinge wurden von der SS erschossen. Die Nazis wollten mit der Falschgeldaktion zunächst Großbritannien und später auch die USA ökonomisch destabilisieren. Mit der absehbaren Niederlage des NS-Regimes dienten die gefälschten Geldmengen auch dazu, NS-Verantwortlichen die Flucht nach Spanien oder Lateinamerika zu erleichtern. Adolf Burger, einer der letzten Überlebenden der „Operation Bernhard“, mit dem Osuch Gespräche führte, berichtet auch, wie die Zwangsarbeiter unter Lebensgefahr den Druck des Falschgeldes verzögerten und so einen Beitrag zum Widerstand leisteten. In seinem Fazit kommt Osuch zu dem Schluss, dass die „Operation Bernhard“ der britischen Ökonomie beträchtlichen Schaden zugefügt hat. Noch in den 1950er Jahren mussten zahlreiche Geldscheine aus dem Verkehr gezogen werden. Im Anhang listet Osuch die Namen von 70 an der Falschgeldaktion federführend beteiligte NS-Tätern auf. Es wäre lohnend zu erforschen, wie viele davon später das Falschgeld für den Einstieg in die Post-NS-Ära nutzten.

 http://www.akweb.de/ak_s/ak557/33.htm

Peter Nowak

Florian Osuch: „Blüten“ aus dem KZ. Die Falschgeldaktion „Operation Bernhard“ im Konzentrationslager Sachsenhausen. VSA-Verlag, Hamburg 2009. 136 Seiten, 12,80 EUR

Lob der Lagerfeuer-Initiative

Vom Sturm auf die Gipfelorte zur Blockade – der libertäre Teil der globalisierungskritischen Bewegung

Während die globalisierungskritische Bewegung in der Flaute ist, scheint das Interesse an der Zeit zu wachsen, als internationale PolitGipfel von länderübergreifenden Massenprotesten begleitet waren. So hat der Laika-Verlag gerade einen Film von Verena Vargas wieder ausgegraben, die den Sonderzug von Globalisierungskritikern zu den G8-Protesten nach Evian im Juni 2003 begleitet hatte. In »evainnaive« zeigt Vargas auch, wie in zahlreichen Plena in einem speziellen Waggon die direkte Demokratie auf die Probe gestellt wurde. Für den israelischen Sozialwissenschaftler und Anarchisten Uri Gordon sind diese Versuche von Selbstorganisierung Beispiele für aktuelle anarchistische Theorie und Praxis.

„Lob der Lagerfeuer-Initiative“ weiterlesen

Vom Linkskommunisten zum Ustascha-Freund

1926 fuhr der kroatische Kommunist Ante Ciliga voll Begeisterung in die junge Sowjetunion. Dort wurde er schnell zum Kritiker der sowjetischen Entwicklung. Zunächst sympathisierte er mit der trotzkistischen Opposition, der er aber bald vorwarf, lediglich Symptome zu kritisieren. Seitdem reklamieren einige rätekommunistische und anarchistische Gruppen Ciliga für sich. Das könnte sich jetzt ändern. Denn der Berliner Verlag Die Buchmacherei hat Ciligas Schrift über seine Jahre in der Sowjetunion aufgelegt und auch seinen weiteren Werdegang nicht verschwiegen. Genau schildert Ciliga das Leben in Sibirien, wohin er in den 1930er-Jahren mit vielen anderen Oppositionellen deportiert wurde. Auch die soziale Realität beschreibt der Autor präzise. So hatte sich 15 Jahre nach der Oktoberrevolution die Lohnschere wieder weit geöffnet: SpezialistInnen konnten jetzt 20 Mal so viel verdienen wie einfache ArbeiterInnen. Doch Ciliga kam zunehmend auch zu äußerst zweifelhaften Urteilen. So behauptete er, viele Sowjetmenschen würden auf eine Besetzung durch NS-Deutschland hoffen. Obwohl er in die USA hätte emigrieren können, kehrte er in das von der faschistischen Ustascha regierte Kroatien zurück. 1944 floh er vor den Tito-Partisanen nach Deutschland. „Er war neugierig auf die sozialen Verhältnisse in Deutschland zwischen dem NS-Staat und den Massen“, bagatellisiert der britische Historiker Stephen Schwartz im letzten Kapitel diesen Schritt. Anfang der 1990er-Jahre wurde Ciliga noch einmal auf unrühmliche Weise bekannt, weil der ultrarechte kroatische Präsident Tudjman Ciligas Angriffe auf die von der Ustascha ermordeten Juden wiederholte und damit einen internationalen Skandal ausgelöste. Als Stichwortgeber für Links- oder RätekommunistInnen taugt ein solcher Mann also keineswegs.

http://www.akweb.de/ak_s/ak556/04.htm

Peter Nowak

Ante Ciliga: Im Land der verwirrenden Lüge. Herausgegeben von Jochen Gester und Willi Hajek. Die Buchmacherei, Berlin 2010. 304 Seiten, 12 EUR

Teufelswerk?Neue Studie zur RGO –

 

 Stefan Heinz: „Moskaus Söldner? Der Einheitsverband der Metallarbeiter Berlins: Entwicklung und Scheitern einer kommunistischen Gewerkschaft“, VSA-Verlag, Hamburg 2010, 34,80 Euro, ISBN 978-389965-406-6

Das Argument, die Kandidatur auf eigenen Listen gefährde die Gewerkschaftseinheit und die Mitglieder solcher „alternativer“ Listen hätten aus der Geschichte nichts gelernt, ist bis heute verbreitet und wird manchmal bis hinein in die Gewerkschaftslinke vertreten. Damit wird auf die Endphase der Weimarer Republik Bezug genommen, als sich nicht nur SPD und KPD feindlich gegenüberstanden. Auch auf Gewerkschaftsebene lieferten sich der SPD-nahe Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) und die der KPD nahestehende Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) heftige Auseinandersetzungen. Für manche war schon damals klar, wer hinter der Spaltung steht: „Ihr seht auf der anderen Seite das Werk von Moskau.  Teuflische Pläne, dem Hirn Moskauer Diktatoren entsprungen, mit den gemeinsten und verwerflichsten Mitteln, mit Lügen und Verleumdungen in Deutschland in Szene gesetzt, zum Schaden der deutschen Arbeiterklasse, zum Wohle der Kapitalisten“ (S. 442), so drosch die Ortsverwaltung des SPD-nahen Deutschen Metallarbeiterverbands (DMV) in einem Rundschreiben an ihre Mitglieder auf die linke Konkurrenz ein. Diese Lesart der Geschichte hat sich weitgehend durchgesetzt. Die RGO-Politik wird als Werk der Kommunistischen Internationale und des Zentralkomitees der KPdSU angesehen.

Der Berliner Politikwissenschaftler Stefan Heinz hat jetzt in einer monumentalen Arbeit diese These infrage gestellt. Heinz widmet sich auf 572 Seiten der Vorgeschichte, der Entstehung, der Arbeit und dem Ende des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins, des ersten Verbands innerhalb der RGO. Dazu wertete er eine Vielzahl von Akten aus den Archiven der beiden Gewerkschaftsverbände aus, aber auch Überwachungsprotokolle von Polizei und Gestapo, interne Berichte der KPD und der SPD sowie Artikel aus der linken Presse, die weder der KPD noch der SPD nahestand. An erster Stelle sind die Berichte der Publikation „Gegen den Strom“ zu nennen, die der Kommunistischen Partei Deutschlands – Opposition (KPO) verbunden war. Sie hatte schon früh für eine Zusammenarbeit aller Arbeiterparteien gegen den NS geworben und analysierte die Ereignisse rund um die Betriebsarbeit mit analytischer Schärfe und ohne parteipolitische Einseitigkeit. Für Heinz liegen die Wurzeln der RGO nicht in Moskau, sondern im Kampf gegen die Burgfriedenspolitik von SPD und Gewerkschaften während des ersten Weltkriegs. Damals hatte sich vor allem unter den Berliner Metallarbeitern ein Kreis linker Arbeiteraktivisten herausgebildet, die sich in Opposition zu den offiziellen Gewerkschaften befanden und während der Novemberrevolution 1918 die Räte als Alternative zu den durch die Burgfriedenspolitik kompromittierten Gewerkschaften propagierten. Viele dieser Aktivisten bildeten den Kern der Revolutionären Obleute, die entscheidenden Anteil am Ausbruch der Novemberrevolution hatten. Viele von ihnen engagierten sich auch im linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD). In den ersten Jahren der Weimarer Republik initiierten sie Proteste für eine Räteverfassung, die im Januar 1920 in Berlin von der Reichsregierung blutig unterdrückt wurden. Heinz beschreibt dies am Beispiel zweier führender Arbeiteraktivisten, die sich später in der RGO engagierten. „Arbeiter wie Hermann Braun und Karl Jarick erlebten erneut, wie der Ausnahmezustand über Berlin verhängt wurde und 42 Arbeiter bei Protesten ums Leben kamen“ (S. 391). Solche Erlebnisse bestärkten eine ganze Generation von Metallarbeiteraktivisten zum Widerstand gegen die offizielle ADGB-Politik. Dadurch standen sie zugleich immer am Rande des Ausschlusses und wurden mit allen administrativen Mitteln von der Gewerkschaftsbürokratie bestraft. Sie bildeten die Basis für die spätere RGO-Politik, wie Heinz betont.

„Ab 1930/31 konnten die ›roten Verbände‹ dort am ehesten Resonanz beanspruchen, wo bereits in der Anfangsphase der Weimarer Republik in der USPD auf Autonomie gerichtete Radikalpositionen in der Gewerkschaftsfrage vertreten wurden“ (S. 395).

Rationalisierung und Radikalisierung

Sehr gut zeigt Heinz auch die ökonomischen Aspekte auf, die die Herausbildung der RGO begünstigten. Da wären in erster Linie die Folgen der Rationalisierung zu nennen, wodurch vor allem im Metallbereich viele Arbeitskräfte freigesetzt wurden, was die kommunistischen GewerkschafterInnen besonders tangierte. So hieß es in dem Bericht einer kommunistischen Betriebszelle in den Berliner AEG-Werken aus dem Jahr 1926: „Wir haben durch die Rationalisierung 50 Prozent, darunter zwei Drittel unserer aktiven Genossen, verloren. Durch die fortgesetzte Akkordpreissenkung und die Einführung des Fließbandsystems haben unsere Genossen nicht mehr die Zeit und die Möglichkeit, eine größere mündliche Agitation während der Arbeitszeit betreiben zu können“ (S. 418). Zudem ging die ADGB-Bürokratie in der Endphase der Weimarer

 

Zeit verstärkt dazu über, Kollegen durch ihre Unterschrift bestätigen zu lassen, dass sie die Gewerkschaftspolitik der KPD nicht unterstützten. Wer sich weigerte, konnte ausgeschlossen werden. Die Zahl der Ausgeschlossenen  stieg schnell, als infolge der Weltwirtschaftskrise die Angriffe auf die Löhne und die erkämpften sozialen Rechte der Lohnabhängigen von Seiten der Wirtschaft und der Politik zunahmen. Als sich im  Herbst 1930 die staatlichen Schlichtungsstellen auf die Seite des Unternehmerlagers stellten und Lohnkürzungen festlegten, die vom ADGB akzeptiert wurden, war das der unmittelbare Anlass für die Gründung des Einheitsverbands der Metallarbeiter Berlin (EVMB), des ersten RGO-Verbands. Heinz weist nach, dass die Initiative zur Gründung nicht von der KPD-Führung oder der KI, sondern von der Basis ausging. Viele vom ADGB ausgeschlossene GewerkschafterInnen hatten schon lange auf eine eigene kommunistische Gewerkschaft gedrängt.

Kritik aus der KPD

Vor allem die vom ADGB Ausgeschlossenen und Gemaßregelten standen im EVMB auch für einen Kurs der strikten Abgrenzung von den alten Gewerkschaften und zogen sich damit schnell den Unmut der KPD zu. Vor allem, nachdem sich bald herausstellte, dass dem linken Verband eine massenhafte Abwerbung von Mitgliedern aus der alten Gewerkschaft nicht gelingen würde und dass vom EVMB organisierte Streiks deshalb bis auf seltene Ausnahmen erfolglos abgebrochen werden mussten, begann eine Auseinandersetzung mit den KPD-Gremien, die sich bis in die Phase der Illegalität beider Organisationen während des NS hinzog. Die Parteigremien warfen den roten Verbänden vor, die Bündnisarbeit mit den noch unorganisierten Kollegen zu vernachlässigen. „Ich habe in Berlin kontrolliert, dass die Funktionäre der EVMB seit Monaten nicht die reformistischen Zeitungen gelesen haben. Sie haben keinen Dunst, wie man die reformistischen Gewerkschaftsmitglieder für die Oppositionsarbeit im DMV gewinnen will“ (S.231), lautete die Kritik auf einer Sitzung der Kommunisten im Reichskomitee der KPD. Dabei handelte es sich um politische Gegensätze. Während die KPD eine linke Fraktionstätigkeit im DMV nicht aufgeben wollte, wurde eine solche Option immer unwahrscheinlicher, je mehr sich der EVMB als eigenständiger roter Gewerkschaftsverband verstand. Diese Auseinandersetzung sollte 1933/34 noch einmal an Schärfe gewinnen. Während die KPD die Taktik des trojanischen Pferdes propagierte und einen Eintritt von linken GewerkschafterInnen in die nazistische Deutsche Arbeitsfront vertrat, lehnten viele EVMBAktivistInnen diesen Schritt vehement ab. Der rote Verband hatte sich nach der Zerschlagung des ADGB in der Illegalität zunächst konsolidiert. Doch durch mehrere Verhaftungswellen wurden in den Jahren 1933 und 1934 die Strukturen des Verbandes empfindlich geschwächt. Im Zuge der von der KPD verfolgten Volksfrontpolitik, die eine Kooperation mit den Sozialdemokraten propagierte, wurde der EVMB von der KPDFührung schließlich aufgelöst, vor allem weil er die Volksfrontpolitik und den taktischen Eintritt in die DAF nicht mitmachen wollte. Doch viele der AktivistInnen setzten ihren Widerstand fort. Heinz zieht Verbindungen bis zur Uhrig-Gruppe, die während des zweiten Weltkrieges kommunistische Widerstandszellen in vielen Berliner Betrieben aufgebaut hatte. Nachdem die Gestapo ihnen auf die Spur gekommen waren, wurden viele ihrer Mitglieder hingerichtet.

Widerspenstige Genossen

Stefan Heinz hat in seinem Buch die Geschichte einer Generation von ArbeiteraktivistInnen  nachgezeichnet, die im Widerstand gegen die Kriegspolitik des ersten Weltkriegs politisiert, in den Wochen der Novemberrevolution radikalisiert wurden und die syndikalistische Tradition auch in der Auseinandersetzung mit den KPD-Strukturen verteidigt haben. „Ihr im ›roten Metallarbeiterverband‹ praktiziertes, oft widerspenstiges Verhalten gegenüber der eigenen Partei wandten einige Personen später auch in der SED an. Es führte nach den Worten Peschkes (eines EVMB-Aktivsten, P.N.) dazu, dass manche frühere EVMB-Führungskräfte wie er nur ungern als ›erste Garnitur‹ der Partei- und Staatsführung verwendet wurden“ (S. 474). Kennzeichnend  für die EVMB-Aktivisten sind nach Heinz unter anderem „Elemente syndikalistischer Politik, der radikale Anspruch und der sozialrevolutionäre Bewegungscharakter, die Forderung nach eigener Entscheidungsfreiheit, die Verweigerungshaltung bei Eingriffen von Außen“ (S. 475). Mit der gründlichen historischen Rekonstruktion dieser linken Gewerkschaftsopposition liegt eine gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Krise verdienstvolle und interessante Studie vor – auch wenn das Buch aufgrund seines wissenschaftlichen Stils oft nicht ganz leicht zu lesen ist. Mit seinem Blick auf die Akteure vor Ort beantwortet Stefan Heinz zugleich auch die Frage des Titels: Das waren keine Söldner Moskaus – wie die RGO-AktivistInnen noch heute gerne dargestellt werden.

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/10

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Peter Nowak

Marx statt Mohammed

Eine Anatomie des kurdischen Freiheitskampfes

PKK – diese drei Buchstaben stehen für die kurdische Arbeiterpartei, die in Deutschland noch immer mit Gewalt und Fanatismus in Verbindung gebracht wird. Die Partei und alle ihre ihr nahestehenden Organisationen sind in Deutschland verboten. Und immer wieder werden deren Aktivisten zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Wer sich über die Hintergründe der kurdischen Nationalbewegung informieren will, kann jetzt auf ein umfangreiches wie informatives Buch zurückgreifen, das von zwei Autoren verfasst wurde, die sich seit Jahren mit der kurdischen Frage und dem kurdischen Freiheitskampf befassen: von der Karlsruher Rechtsanwältin Brigitte Kiechle und dem Berliner Historiker Nikolaus Brauns.

Brauns geht ausführlich auf die Vorgeschichte und Gründung der PKK ein, die ihre Wurzeln in der radikalen Linken der 60er und 70er Jahre hat. Von Anfang an war Abdullah Öcalan die zentrale Figur der Bewegung. 1972 war er beim Verteilen linker Flugblätter verhaftet und musste sieben Monate in einem Militärgefängnis verbringen, wo er seine endgültige politische Prägung erfuhr. Nach der Haft verkündete der junge Öcalan: »Mohammed hat verloren, Marx hat gewonnen.«

Brauns berichtet, wie sich die PKK nach dem Militärputsch von 1980 politisch festigen konnte, während die Linke weitgehend zerschlagen wurde. Vor allem junge Aktivisten mit proletarischem Hintergrund stießen damals zur PKK. Darin sieht der Historiker auch eine Begründung für die Militanz, mit der diese auf vermeintlichen Verrat reagierte. Dutzende junger Männer und Frauen, die sich der PKK anschließen wollten, wurden willkürlich als vermeintliche Spione getötet. Darunter waren auch ein Dutzend Studierende aus Eskisehir, die nach ihrer Ankunft im Guerillacamp exekutiert wurden, nur weil eine junge Frau unter ihnen als Tochter eines Polizisten ausgemacht wurde. Mittlerweile ist ein großer Teil der Mitbegründer der PKK ermordet, einige von den eigenen Genossen. Es spricht für das Buch, dass dieses dunkle Kapitel in der PKK-Geschichte nicht verschwiegen, zugleich jedoch die kurdische Bewegung nicht auf diese oder andere Verbrechen reduziert wird.

Brauns verweist darauf, wie der Kampf der PKK auch die unterdrückte kurdische Bevölkerung in Syrien und Iran mobilisierte. Aktivisten der iranischen Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) sind vom Mullah-Regime in Teheran besonders bedroht. Mehrere der in den letzten Monaten hingerichteten Oppositionellen sollen dieser Strömung nahegestanden haben. Während das iranische Regime die PJAK als von den USA gesteuert diffamiert, bekämpft die Administration in Washington diese wiederum wegen mangelnder Distanz zur PKK.

Ausführlich setzen sich Brauns und Kiechle mit der islamischen AKP-Regierung auseinander. Sie diskutieren, wie sich ein EU-Beitritt der Türkei auf die Lage der Kurden auswirken würde. Sie zeigen sich im Gegensatz zu anderen Autoren diesbezüglich skeptisch. Im letzten Kapitel bilanzieren Brauns und Kiechle, dass die kurdische Bewegung die Inhaftierung Öcalans und nachfolgende innerparteiliche Machtkämpfe, Umbenennungen und Neugründungen relativ gut überstanden habe. Eine Emanzipation der Kurden hält das Autorenduo jedoch nur im Rahmen einer internationalen antikapitalistischen Bewegung für möglich. Brauns und Kiechle verweisen darauf, dass zahlreiche kurdische Organisationen innerhalb der türkischen Linken eine wichtige Rolle spielen. Das aktuelle Wiederaufleben der Kämpfe in Kurdistan ist auch eine Folge der Enttäuschungen über die gegenwärtige Politik in Ankara.

In einem speziellen Kapitel geht Brigitte Kiechle auf die Rolle der Frauen in der kurdischen Bewegung ein. Ihr Fazit: »Im Vergleich zu anderen Parteien und politischen Strömungen in der Türkei, in Kurdistan und in dem gesamten Nahen und Mittleren Osten fällt die PKK durch eine hohe Beteiligung von Frauen im politischen und militärischen Bereich und eine intensive Diskussion über die Geschlechterverhältnisse und die Befreiung der Frau auf.« Dies ist nur ein Aspekt, der in der hierzulande üblichen einseitigen Beurteilung des kurdischen Freiheitskampfes ignoriert wird oder schlichtweg nicht bekannt ist.

Nikolaus Brauns/Brigitte Kiechle: PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes. Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010. 510 S., geb., 26,80 €.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/183357.marx-statt-mohammed.html

Peter Nowak

Linke Basisprozesse in Lateinamerika

Der Hamburger Politikwissenschaftler Helge Buttkereit analysiert in seinem Buch „Utopische Realpolitik – Die Neue Linke in Lateinamerika“ die Entwicklungen in Bolivien, Venezuela, Ecuador und die zapatistische Bewegung in Südmexiko. Dabei stellt er vor allem die Gemeinsamkeiten heraus und versucht, diese Entwicklungen auf die hiesigen Verhältnisse rückzukoppeln. Seine Auswahl begründet der Autor schlüssig: Er wolle einen „Schwerpunkt auf die Bewegungen legen, die konkret über das derzeit möglich erscheinende hinaus orientiert sind, die also eine mehrheitsfähige utopische Realpolitik betreiben.“ Anders als in Brasilien, Chile und Uruguay erkennt er in den von ihm behandelten Ländern grundlegende Transformationsprozesse. Als Beispiel nennt er die Einberufung von Verfassungsgebenden Versammlungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela, die bisher ausgeschlossene Bevölkerungsteile wie die Indigenen oder die BarriobewohnerInnen einbeziehen. Dabei setzt er sich im Fall Venezuela durchaus kritisch mit dem Chavez-Kult auseinander, ohne die eigenständige Organisierung an der Basis zu vernachlässigen. Anders als andere linke Lateinamerikaspezialisten sieht Buttkereit in der zapatistischen Bewegung keinen fundamentalen Gegensatz zu den Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Im ersten Kapitel versucht er, über das Konzept der revolutionären Realpolitik einen Brückenschlag zwischen der Linken in Lateinamerika und den sozialen Bewegungen in Europa herzustellen. Allerdings bleibt sein Konzept einer Neuen Linken, das er von einer Realpolitik wie bei der Linkspartei abgrenzt, recht vage. Die Stärken des Buches liegen da, wo Buttkereit politische und soziale Prozesse in Lateinamerika mit Sympathie analysiert, ohne die kritischen Punkte auszublenden.

Peter Nowak

Helge Buttkereit: Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika. Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2010, 162 Seiten, 16,90 EUR

http://www.akweb.de/ak_s/ak552/03.htm