Rechtsfreier Raum Jobcenter

Auf Verarmung folgen häufig Verschuldung und Räumung. Obwohl die Folgen der Hartz-IV-Reformen in Studien dokumentiert werden, sind weitere Verschärfungen geplant.

Peter Hartz schmiedet wieder Pläne. Der ehemalige Manager von VW mit SPD-Parteibuch wurde als Namensgeber der Hartz-Reformen berühmt und berüchtigt. Doch erst als Hartz 2007 im Rahmen des VW-Skandals vor Gericht stand und wegen Untreue in 44 Fällen verurteilt wurde, versuchte man, den Namensgeber vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nun will er erwerbslose Jugendliche in Spanien mit einem Konzept beglücken, das sich wie eine Neuauflage der Agenda 2010 liest.

Ein persönlicher Entwicklungsplan für die erwerbslosen Jugendlichen soll am Anfang stehen. Experten sollen herausfinden, wo deren persön­liche Stärken und Schwächen liegen. Menschen, die sich im vergangenen Jahrzehnt mit den Hartz-IV-Gesetzen in Deutschland auseinandergesetzt haben, ist solches Profiling als Instrument der Ausforschung bekannt, mit dem die »Kunden« der Jobcenter vermeintlich passgenauer in bestimmte Maßnahmen gepresst werden können. Überdies wird Erwerbslosigkeit ­damit als Problem mangelnder individueller Marktfähigkeit definiert. Während sich Peter Hartz knapp ein Jahrzehnt nach der der Durchsetzung der Agenda 2010 nun für den Export seines Konzepts stark macht, bestreitet in Deutschland kaum jemand mehr, dass Hartz IV für viele Menschen Verarmung bedeutet.

»Mindestens die Hälfte aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger hat Schulden- und Suchtprobleme sowie psychosoziale Schwierigkeiten«, lautete das Fazit einer Untersuchung, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kürzlich vorstellte. Für das Jahr 2012 geht der DGB von etwa 1,1 Millionen Harzt-IV-Empfängern mit Schuldenproblemen aus. Zu dem gleichen Fazit kommt eine 400seitige Studie, die im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums bereits im vorigen Jahr erstellt wurde.

In beiden Studien wird der Schwerpunkt auf Schulden- und Suchtprobleme von Hartz-IV-Empfängern gelegt. Das ist eine gleich in mehrfacher Hinsicht problematische Methode. Dies fängt schon bei der Wortwahl an. Was bei Hartz-IV-Empfängern als Sucht gebrandmarkt wird, ist bei Menschen mit mehr Geld als individueller Genuss Privatsache. Ein Recht auf Rausch wird Hartz-IV-Empfängern aber weder bei der Errechnung des finanziellen Bedarfs noch in der öffentlichen Diskussion zugestanden. Mit dem Verweis auf die Sucht wird einmal mehr die Schuld und Verantwortung auf die Hartz-IV-Bezieher selbst abgeschoben. Ein Großteil der Bevölkerung sieht sich im Vorurteil vom Hartz-IV-Bezieher bestätigt, der lieber sein Bier vor dem Fernseher konsumiert, als an einer vom Jobcenter verordneten Maßnahme teilzunehmen. Weil er sich zu einer solchen Lebensweise offensiv in einer Talkshow bekannte, wurde Arno Dübel von der Bild-Zeitung »Deutschlands frechster Arbeitsloser« genannt. Den medialen Shitstorm, der daraufhin über ihn hereinbrach, analysierten die Sozialwissenschaftlerin Britta Steinwach und ihr Kollege Christian Baron in dem im Verlag Edition Assemblage erschienenen Buch »Faul, frech, dreist« (Jungle World 29/2012).

Konnte »Deutschlands frechster Arbeitsloser« noch als Ehrentitel durchgehen, griff Bild mit dem Titel vom 13. Mai diesen Jahres eindeutig in die sozialchauvinistische Schublade: »Sozialschmarotzer erklärt, warum ihm Hartz IV zusteht«. Darunter fand sich das Foto von Michael Fielsch, der in der Sendung »Menschen bei Maischberger« erklärt hatte, dass er sein Engagement in der Erwerbslosenbewegung für sinnvoller erachtet als Maßnahmen des Jobcenters. Derzeit tourt Fielsch mit der Ausstellung »In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010« durch die Republik. Diese Installation sammelt Daten von Hartz-IV-Beziehern, die Suizid verübten, weil sie keinen Ausweg mehr sahen, die erfroren, nachdem ihre Wohnung geräumt wurde, oder die verhungerten, nachdem sie vom Jobcenter keinerlei Unterstützung erhalten hatten, wie im April 2007 der 20jährige Andre K. in Speyer. Sein Tod wurde in den Medien als Einzelschicksal abgehandelt. Das passierte bei fast allen Todesfällen, die Fielsch dokumentiert und in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt hat. »Die Agenda 2010 sowie die aus der Hartz-Gesetzgebung resultierende, gewollte Armut und Entrechtung betrifft uns alle, direkt oder indirekt, gestern, heute oder morgen«, heißt es auf der Startseite der Homepage zur Ausstellung. Der Referent für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht und Mitbegründer des Vereins Tacheles e. V., Harald Thomé, kann diesen Befund mit vielen Beispielen untermauern. Die Verschuldung sei bei Strom, Gas und Mieten ­besonders gravierend, sagt er der Jungle World.

»Die Verelendung durch Hartz IV erfolgt schleichend«, betont Thomé. Als besonders schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen nennt er den Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe. Menschen, die sich keinen Restaurantbesuch und kein Ticket für eine Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr leisten können, bleibt oft nur der Rückzug in die eigenen vier Wände. Daher trifft sie eine drohende Räumung oder die Abschaltung von Strom und Gas besonders hart.

Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht. »Es gibt nur die Schätzung, dass weniger als ein Drittel der Haushalte von ALG-II-Beziehenden von Sperrungen betroffen sind«, sagt Anne Allex im Gespräche mit Jungle World. Sie ist Mitherausgeberin der noch erhältlichen Broschüre »Strom und Wasser bleiben an – auch bei wenig Geld«. Auf ihrer Homepage (pariser-kommune.de) informiert Allex über die neuesten juristischen und sozialpolitischen Debatten im Zusammenhang mit Erwerbslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Einen wesentlichen Grund für die Verschuldung im Bereich Energie sieht sie in den zu gering bemessenen Stromkosten im Regelsatz von Erwerbs­losen. So werden in Hamburg für Hartz-IV-Bezieher Stromkosten zwischen 35 und 38 Euro pro Person monatlich berechnet. »Das entspricht einem Verbrauch unter 1 100 Kilowattstunden jährlich. Der Sparverbrauch liegt allerdings bei 1 200 Kilowattstunden. Der Durchschnittsverbrauch eines deutschen Haushalts liegt bei 2 250 Kilowattstunden im Jahr«, rechnet Allex vor.

Neben der systematischen Unterversorgung, die zu Verschuldung führen muss, weist Harald Thomé auf gesetzwidrige Auslegung der Bestimmungen zuungunsten der Betroffenen in vielen Jobcentern hin. Die Behörden lassen es auf Klagen ankommen, die die Hartz-IV-Bezieher in der Regel gewinnen. Doch vielen Menschen fehlt die Kraft, eine Klage einzureichen. Auch der Sprecher der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Martin Künkler, moniert einen »rechtsfreien Raum Jobcenter«. Erwerbslose er­leben immer wieder, dass Jobcenter ihnen Leistungen zu Unrecht vorenthalten, auf die sie Anspruch haben. Neben den Kosten für Energie betrifft das auch die Miete. »Bei Kosten für die Wohnung setzt das Amt häufig die Obergrenze dessen, was gezahlt werden muss, zu niedrig an«, erklärt Künkler.

Am Ende steht nicht selten die Räumung. Widerstand von Erwerbslosen ist die absolute Ausnahme, betont Thomé. Schulden werden als individuelles Problem gesehen, das die Menschen eher gesellschaftlich stigmatisiert als politisch mobilisiert. Doch es gibt Ausnahmen. In Forst gründete sich im vorigen Jahr der »Freundeskreis Bert Neumann«, nachdem ein in antifaschistischen Gruppen aktiver Erwerbsloser mit einer Totalsperre seiner Leistungen bedacht wurde (Jungle World 5/2013). In Berlin hat die Jobcenter-Aktivistin Christel T. in Kooperation mit der Gewerkschaft FAU einen Antisanktionskampffond gegründet. Der soll Erwerbslosen, die von einer Totalsperre betroffen sind, finanzielle Unterstützung sichern.

Solche Hilfsmaßnahmen könnten noch öfter ­gebraucht werden. Unter dem unverfänglichen Titel »Rechtsvereinfachung im SGB II« listete eine aus wirtschaftsnahen Verbänden und Vertretern der Bundesagentur für Arbeit zusammengesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf mehr als 40 Seiten Maßnahmen auf, die die Verarmung von Hartz-IV-Empfänger noch beschleunigen könnten. So drängt die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf schärfere Sanktionen für Langzeiterwerbslose, die wiederholt Termine beim Jobcenter versäumten. Bislang werden die Leistungen in diesen Fällen um maximal 30 Prozent gekürzt, künftig sollen sie nach dem Willen der BA auch ganz gestrichen werden können. Die Möglichkeit, Bescheide der Jobcenter auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, soll eingeschränkt werden und mit Kosten verbunden sein. Ab September soll es in mehreren Städten gegen diese Ausweitung der rechtsfreien Zone Jobcenter Protestaktionen geben. Martin Künkler hat bei einem bundesweiten Treffen von engagierten Erwerbslosen Mitte Juni eine neue Proteststimmung nach Jahren der Resignation ausgemacht.

Ob sich indes der Hartz-IV-Export so problemlos durchsetzen lässt wie das Original in Deutschland, ist noch nicht ausgemacht. In Spanien existiert schließlich eine große Protestbewegung, die auch die Initiativen gegen Wohnungsräumungen in Deutschland inspiriert hat. Peter Hartz hat aber nicht nur Spanien im Visier. Er war auch schon als Berater für Sozialreformen beim fran­zösischen Präsidenten François Hollande im Gespräch. Auch dort dürfte die Verarmung per Gesetz nicht so reibungslos durchzusetzen sein wie in Deutschland. Aber es gibt auch Menschen, die dank der Hartz-IV-Reformen gut verdienen. Zu ihnen zählt die konservative Publizistin Rita Knobel-Ulrich. Mit ihrem viel verkauften Buch »Reich durch Hartz IV«, in dem sie Erwerbslosen vorwirft, den Sozialstaat zu schröpfen, tingelt sie durch viele Talkshows und fordert härtere Sanktionen für Erwerbslose.

http://jungle-world.com/artikel/2014/27/50157.html

Peter Nowak

Wir wollen zurück in unseren Kiez«

Tausende demonstrierten für ein Bleiberecht / Senat und Bezirk uneins über die weitere Versorgung der Bewohner der Gerhart-Hauptmann-Schule

Mehrere tausend Menschen demonstrierten am Samstag für ein Bleiberecht für Flüchtlinge. Bezirk und Senat streiten derweil über die finanzielle Versorgung der verbliebenen Bewohner der Schule.

»Europas Grenzen fallen an die Anemonen und Korallen«, lautete eine der kreativen Parolen, die am Samstagnachmittag in Berlin-Kreuzberg zu lesen waren. Über 5000 Menschen hatten sich an einer Demonstration von Neukölln nach Kreuzberg unter dem Motto »Bleiberecht für Alle« beteiligt.

Das Bündnis hatte sich erst in der letzten Woche gegründet, nachdem die Belagerung der Flüchtlinge der Gerhart-Hauptmann-Schule für Empörung in der Stadt gesorgt hatte. Unter diesen Umständen kann ein ungewöhnlich großes Bündnis zusammen. Es reichte von der linken Gruppe Theorie und Praxis (TOP), der Interventionistischen Linken bis zum Berliner Flüchtlingsrat und der ver.di-Jugend. Auch Mitglieder der Linkspartei beteiligten sich mit Fahnen an der Demonstration. Viele Demonstranten trugen Schilder mit der Zahl 23. Damit wiesen sie auf den Paragraphen hin, der es dem Berliner Senat ermöglichen würde, den Flüchtlingen ein Bleiberecht zuzuerkennen. Dass vor allem der Berliner Innensenator diese Forderung ablehnt, sorgte unter den Demonstranten für Empörung. Aber auch die Politik der Grünen wurde von vielen Rednern heftig kritisiert.

»Von anwaltlicher Seite mussten wir zusehen, wie der Bezirk und der Senat alle Zusagen und Versprechungen gegenüber den Geflüchteten vom Oranienplatz gebrochen haben. Wir befürchten, dass den Betroffenen von der Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule das gleiche Schicksal bevorsteht«, monierte die Rechtsanwältin Berenice Böhlo auf der Auftaktkundgebung. Auch Maria, eine Flüchtlingsfrau, die die Gerhart-Hauptmann-Schule in der letzten Woche freiwillig verlassen hatte, übte heftige Kritik an der Politik: »Nach der Räumung transportierte die Polizei uns in ein abgelegenes Lager am äußersten Rand von Berlin. Dabei war uns versprochen worden, dass wir in Kreuzberg bleiben können.« Die Frau beklagte, dass sie jetzt jeden Tag morgens um 5 Uhr aufbrechen muss, um ihre Kinder nach Kreuzberg in die Schule zu bringen. »Unsere ganzen Freunde wohnen in Kreuzberg, wir wollen zurück in unseren Kiez«, rief Maria unter großen Beifall der Demonstranten. Mehrere Wohngemeinschaften in dem Stadtteil haben ihr Unterstützung angeboten. Bruno Watara vom Vorbereitungsbündnis war ebenfalls zufrieden mit dem Verlauf der Demonstration: »Die große Teilnehmerzahl hat deutlich gemacht, dass der Kampf für die Rechte der Flüchtlinge auch nach dem Ende der Belagerung der Gerhart-Hauptmann-Schule weitergeht«, sagte er dem »nd«. Felix Fiedler von der Gruppe TOP Berlin stimmte ihm zu, fügte aber hinzu, dass die Beteiligung der Berliner Zivilgesellschaft größer sein könnte. Demnächst könnte in Kreuzberg die nächste Räumung anstehen. Das Camp auf der Cuvrybrache am Kreuzberger Spreeufer, in dem viele Obdachlose, darunter auch Menschen ohne deutschen Pass, leben, soll verschwinden. Gegen die drohende Räumung mobilisieren in den nächsten Tagen Initiativen und Flüchtlingsgruppen.

An anderer Stelle wurde am Wochenende darüber diskutiert, wer die (finanzielle) Verantwortung für die in der Schule verbleibenden Flüchtlinge übernehmen soll. Nach Ansicht der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales haben die rund 40 verbliebenen Flüchtlinge keinen Anspruch auf finanzielle Hilfe über das Asylbewerberleistungsgesetz. Grund dafür sei, dass die Besetzer die Schule nicht wie vereinbart verlassen hätten, sagte die Sprecherin von Sozialsenator Mario Czaja (CDU), Constance Frey, der dpa. Auch weitere Bestandteile der Vereinbarung vom Mittwochabend wie Deutsch- und Ausbildungskurse oder die Beratung durch Caritas oder Diakonie während der Bearbeitung der Anträge der Flüchtlinge stünden den Bewohnern der früheren Schule nicht zu. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg dagegen sieht den Senat in der Pflicht. Die Flüchtlinge müssten Unterstützung bekommen, egal ob sie in Charlottenburg, Spandau oder in Kreuzberg lebten, sagte der Sprecher von Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne), Sascha Langenbach am Samstag.

Dass diese nun weiter in der Schule bleiben dürfe, sei »die verlängerte Duldung einer Besetzung«, so die Senatssprecherin. Bislang hätten die Flüchtlinge in der Schule kein Geld vom Senat erhalten, erklärte eine Sprecherin der Senatsverwaltung. Sie lebten vor allem von Spenden.

Auch die Übernahme der Kosten des Polizeieinsatzes ist ungeklärt. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne), hat Forderungen, dass der Bezirk für den rund fünf Millionen Euro teuren Polizeieinsatz rund um die Schule aufkommen solle, zurückgewiesen. »Es erscheint wenig logisch, wenn eine staatliche Stelle plötzlich die andere bezahlen sollte«, sagte sie der »B.Z.«.

Peter Nowak

www.neues-deutschland.de/artikel/938323.wir-wollen-zurueck-in-unseren-kiez.html

Grüne waren nicht willkommen

DEMO Tausende Menschen fordern in Kreuzberg einen Wandel in der Flüchtlingspolitik

Auch zwei Tage nach der Einigung zwischen den Flüchtlingen in der früheren Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg und dem Bezirk geht die politische Auseinandersetzung um die Perspektive der MigrantInnen weiter. Am Samstagnachmittag beteiligten sich nach Angaben der Anmelder über 5.000 Menschen an einer Demonstration für einen Wandel in der Flüchtlingspolitik. Sie startete am Hermannplatz und endete nach einer Zwischenkundgebung am Oranienplatz vor dem Schulgebäude in der Ohlauer Straße mit einem HipHop-Konzert. Viele DemonstrantInnen trugen Schilder mit der Aufschrift „§ 23“. Nach § 23 Aufenthaltsgesetz könnte der Senat für die Flüchtlinge ein Bleiberecht aussprechen.

Der Kreis der UnterstützerInnen reichte von Gruppen der radikalen Linken über den Republikanischen Anwaltsverein (RAV) und die Ver.di-Jugend bis zum Berliner Flüchtlingsrat und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie. Auch Mitglieder der Linkspartei waren an der Demonstration beteiligt. Grüne waren offensichtlich nicht willkommen, viele RednerInnen kritisierten die Rolle der Partei heftig.

Aufgerufen hatte ein Bündnis „Bleiberecht für Alle“, das sich vor ca. einer Woche gegründet hat. Die Initiative ging von den beiden linken Gruppen Theorie und Praxis (TOP) und Interventionistische Linke (IL) aus. „Zwei Tage nach der Belagerung haben wir diese Demonstration beschlossen“, erklärte Felix Fiedler von TOP gegenüber der taz. Die Mobilisierung hat noch während der Belagerung der Schule begonnen. Auch nach der Einigung zwischen Flüchtlingen und Bezirk hat die Demonstration für Fiedler nichts von ihrer Bedeutung einbüßt. „Nichts ist gut in Kreuzberg“, betonte er. Die Räumung habe mehr als hundert Menschen obdachlos gemacht. Die Belagerung sei ein Spiel mit dem Leben der Geflüchteten. Das Lager- und Abschieberegime laufe munter weiter, so der Aktivist.

„Alle Zusagen gebrochen“

Heftige Kritik an der Politik übte auch Anwältin Berenice Böhlo auf der Auftaktkundgebung: „Wir mussten zusehen, wie der Bezirk und der Senat alle Zusagen und Versprechungen gegenüber den Geflüchteten vom Oranienplatz gebrochen haben. Wir befürchten, dass den Betroffenen von der Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule das gleiche Schicksal bevorsteht.“

Maria, eine ehemalige Bewohnerin, die die Schule freiwillig verlassen hatte, klagte über ihre aktuelle Lebenssituation: „Nach der Räumung transportierte die Polizei uns in ein abgelegenes Lager am äußersten Rand von Berlin, obwohl uns versprochen wurde, dass wir in Kreuzberg bleiben können. Jetzt müssen wir jeden Morgen um 5 Uhr aufbrechen, um unsere Kinder nach Kreuzberg in die Schule zu bringen. Unsere Freunde wohnen hier, wir wollen zurück in unseren Kiez.“

Bruno Watara von dem Demobündnis zeigte sich zufrieden über die große TeilnehmerInnenzahl. Es sei deutlich geworden, dass es nach dem Ende der Belagerung keine Ruhe in der Flüchtlingsfrage geben werde. Felix Fiedler stimmt dieser optimistischen Einschätzung mit einer Einschränkung zu. „Vor allem die Beteiligung der Zivilgesellschaft könnte noch wesentlich größer sein.“

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2014%2F07%2F07%2Fa0128&cHash=64c6a9957e2fa19b7f7dd4aff3cb6971

Peter Nowak

Grüne und Linke im ukrainischen Propagandakrieg

Längst dient der Ukraine-Konflikt als Folie für innenpolitische Streitfragen

Der Ukrainekonflikt ist in den letzten Tagen in den hiesigen Medien etwas in den Hintergrund getreten. Dabei gehen die militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine weiter. Das Ende der Waffenruhe durch die ukrainische Regierung sorgte innerhalb unterschiedlicher politischer Lager in Deutschland für Unmut. Doch ausgerechnet die aus der Friedensbewegung kommenden Grünen stehen fest weiter auf der Seite des ukrainischen Präsidenten.

„Wenn eine Waffenruhe beendet wird, bedeutet das immer wieder, dass Menschen ihr Leben lassen müssen“, drückte Marieluise Beck[1], Sprecherin für Osteuropapolitik der Grünen, im Interview mit dem Deutschlandfunk[2] zunächst auf die Tränendrüse. Doch in der Ostukraine habe „eine Mischung aus Freischärlern, Abenteurern, Banditen und Kriminellen 7 Millionen Menschen als Geiseln genommen“, übernahm Beck bis in die Wortwahl die Sprachregelungen der ukrainischen Nationalisten. Dass viele Ostukrainer nach dem Umschwung in Kiew nicht mehr in der Ukraine leben wollten, wird dabei großzügig übergangen.

Maidan und Anti-Maidan

Dabei kommt Beck einmal wohl unabsichtlich der Wahrheit ziemlich nahe. „Wir haben tatsächlich eine beunruhigend bunte Mischung in diesem Gebiet von Bürgerinnen und Bürgern aus der Region selber, die aber oft zu den Verlierern gehört haben und jetzt auf einmal zu ungeahnten Positionen als Präsidenten, Bürgermeister, Verteidigungsminister und Ähnliches aufsteigen konnten“, erklärt sie in dem Interview.

Sie zählt diese unterschiedlichen Gruppen auf, um damit zu verdeutlichen, dass der Aufstand in der Ostukraine illegitim und zu bekämpfen ist. Dabei könnte dadurch auch ein ganz anderer Schluss gezogen werden. Es handelt sich bei der Bewegung in der Ukraine auch um eine soziale Bewegung der Deklassierten und gerade deshalb wird sie von Beck und Co. vehement bekämpft. Die mittelständisch orientierte Maidan-Bewegung in der Westukraine hingegen findet ihre Unterstützung, weil sie sich in die diversen Bürgerbewegung in Osteuropa eingemeinden lässt, die von den Grünen schon seit ihrer Gründungsphase umworben wurden und denen man seit mehr als drei Jahrzehnten das viel geschmähte System von Jalta zum Einsturz brachte und noch immer bringt.

Schon vor 30 Jahren gehörten diverse rechte Gruppen zu diesen Bürgerbündnissen, daher ist es auch nicht so besonders verwunderlich, wenn Beck, Harms und Co. bei der Maidan-Bewegung in der Westukraine keine Nazis sehen können.

Der russische Soziologe Boris Kagarlitsky[3], ein scharfer Kritiker der gegenwärtigen russischen Politik aber auch des westlichen Putin-Bashings, hat zum Ukraine-Konflikt eine Analyse[4] vorgelegt, die sowohl die Maidan-Bewegung in der Westukraine als auch den Anti-Maidan im Osten des Landes als authentische Bewegungen wahrnimmt, die von Kräften von außen sicher beeinflusst, aber nicht maßgeblich gesteuert werden.

Zum außenpolitischen Einfluss von Maidan und Anti-Maidan schreibt Kagarlitsky:

Eine Ähnlichkeit zwischen Maidan und Anti-Maidan besteht tatsächlich. Ausländisches Geld floss natürlich hier wie dort, im ersten Falle amerikanisches und westeuropäisches, im zweiten Falle russisches (wobei russisches Geld in jedem Fall involviert war). Es gab Einfluss von außen. Eine andere Sache ist, dass der Westen nicht nur ungleich mehr Geld einsetzte, sondern bei weitem effektiver und klüger. Ebenso wenig, wie der Sieg des Maidan im Februar Resultat der Machenschaften westlicher Politiktechnologen war, ist der erfolgreiche Aufstand von hunderttausenden, wenn nicht Millionen Menschen im Osten der Ukraine mit der Einmischung Russlands zu erklären.

Erst auf dieser Grundlage analysiert der Soziologe die Differenzen in den beiden Bewegungen:

Der Unterschied besteht nicht in Ideologien, obwohl ein Vergleich der dominierenden Losungen mehr als lohnenswert ist – faschistisches Geschrei auf dem Maidan, die „Internationale“ und soziale Forderungen in Donezk. Diese ideologischen Unterschiede widerspiegeln letztendlich den fundamentalen Unterschied der sozialen Natur, der Klassenbasis der beiden Bewegungen.

Die rechten Ränder des Maidan und Anti-Maidan

An diesen Punkt wird allerdings auch Kagarlitskys ansonsten sehr gründliche Analyse etwas unscharf. Denn er hätte auch auf den rechten Rand des Anti-Maidan hinweisen können. Erst kürzlich musste eine Veranstaltung von zwei russischen Journalisten über den faschistischen Einfluss in der Maidan-Bewegung in Berlin kurzfristig abgesagt[5] werden, nachdem sich herausstelle, dass die beiden Autoren in der russischen Rechten aktiv waren.

Auf den Unterstützungsseiten der Pro-Maidan-Bewegung wurde diese Meldung natürlich sofort zum Aufmacher. Wenn es um die rechten Gruppen in Maidan-Bewegung geht, findet man dort hingegen wenig. So hat sich dort das Prinzip durchgesetzt, schlägst Du meinen Nazi, schlag ich Deinen Nazi.

Selbst in Teilbereichen durchaus aufklärerische Veranstaltungen und Ausstellungen wirken schnell propagandistisch, wenn sie sich nur gegen eine Seite in dem Konflikt richten. Diese Kritik muss man auch der zurzeit in der Galerie Berliner Sprechsaal[6] gezeigten Ausstellung „Im Westen nichts Neues“ machen. Die dort gezeigten Exponate belegen im Detail eine antirussische Berichterstattung in Deutschland. Wenn dann aber von transatlantischen Netzwerken geraunt und der kleinste Hinweis auf die prorussischen Aktivitäten diverser rechter Kräfte in Deutschland fehlt, stößt man schnell an die Grenzen der Aufklärung.

Wie schmal die Grenze zwischen Aufklärung und Ressentiment sein kann, zeigt sich am Beispiel des Films Wag the Dog[7], der im Rahmenprogramm der Ausstellung gezeigt wurde. Wenn man ihn als bitterböse Satire begreift, hat er bei allen Schwächen durchaus aufklärerische Momente. Wenn man ihn als Beispiel für die Verkommenheit der US-Politik heranzieht, kann er Ressentiments fördern.

Scheitern rosarotgrüne Regierungsspiele am Ukrainekonflikt?

Derweil fürchten Linke bei SPD, Grünen und Linkspartei, die seit Jahren an einer gemeinsamen Regierungsperspektive basteln, dass ausgerechnet der Ukrainekonflikt ihre Pläne zunichte machen könnte. Schließlich haben sich in den letzten Wochen die Fraktionen von Linkspartei und Grünen im Streit um die Bewertung von Maidan und Antimaidan mehrmals heftig angegriffen.

Mit der Formulierung von Thesen[8] und Veranstaltungen sollen Entspannungssignale gesendet werden. Doch dort treffen nur die Kontrahenten zusammen, die sich eigentlich im Ziel einig sind, an der Ukraine sollen ihre Koalitions- und Karrierepläne nicht scheitern.

Die Linksparteiabgeordnete Sevim Dagdelen[9], die sich als scharfe Kritikerin der rechten Gruppen in der Maidan-Bewegung mit den Grünen heftig anlegte, gehört nicht dazu. Von den Freunden rotgrüner Bündnisse in der Linkspartei wurde Dagdelen gerügt[10], von den Kritikern solcher Farbspiele bekam sie dagegen Unterstützung[11]. So dient die Ukraine auch als Folie für viele innenpolitische Auseinandersetzungen.

Anhang

Links

[1]

http://marieluisebeck.de/

[2]

http://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-banditen-und-gewissenlose-abenteurer.694.de.html?dram:article_id=290647

[3]

http://www.tni.org/users/boris-kagarlitsky

[4]

http://transform-network.net/de/blog/blog-2014/news/detail/Blog/eastern-ukraine.html

[5]

http://euromaidanberlin.wordpress.com/2014/06/27/von-borotba-vermittelte-nazi-veranstaltung-abgesagt-wann-distanziert-sich-die-linke/

[6]

http://www.sprechsaal.de

[7]

http://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?wert=508287&sucheNach=titel

[8]

http://www.tagesspiegel.de/politik/thesen-aus-spd-linken-und-gruenen-zur-ukraine-grenzverschiebungen-wie-bei-der-krim-sind-inakzeptabel/10055074.html

[9]

http://www.sevimdagdelen.de/

[10]

http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sevim-dagdelen-linken-spitze-distanziert-sich-von-eigener-abgeordneten/9998214.html

[11]

http://www.antikapitalistische-linke.de/?p=492

http://www.heise.de/tp/artikel/42/42181/1.html

Peter Nowak

Vereinbarungen mit Flüchtlingen in Kreuzberg – aber keine Lösung

Viel wird davon abhängen, ob der außerparlamentarische Druck der letzten Tage für die Rechte der Geflüchteten anhält

Im Mittwochabend kam es in letzter Minute zu einer Vereinbarung im Konflikt um dievon Geflüchteten besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule [1]in Berlin-Kreuzberg: Die Flüchtlingsaktivisten können in der Schule bleiben, der Bezirk nahm das Räumungsbegehren zurück und die Polizei hebt nach über einer Woche die Sperrzone auf.
Ein Sicherheitsdienst soll nun in der Schule den Zuzug neuer Flüchtlinge verhindern. Eine Flüchtlingsunterstützerin sieht hier neue Konflikte vorprogrammiert: „Die Bewohner der Schule sind keine Gefangenen und werden sich nicht vorschreiben lassen, wer sie besuchen darf.“

Die Kreuzberger Grünen geben sich in einer Presseerklärung erleichtert und betonen, dass sie sich immer für eine einvernehmliche Lösung eingesetzt haben. Sie beschweren sich noch einmal darüber, dass in den letzten Tagen Spitzenpolitiker der Grünen in Kreuzberg bedroht worden seien. Tatsächlich dürften der als links geltenden Kreuzberger Parteiorganisation Schlagzeilen wie „Grüne wollen besetzte Schule räumen lassen“ [2] sauer aufgestoßen sein. Selbst ihnen nahestehende Medien wie die Taz haben die Grünen kritisiert. Nun können sie stolz auf eine andere Berichterstattung verweisen.

Jetzt solle man gefälligst die Kritik an den Senat richten, an dem die Grünen nicht beteiligt sind, kommentiert [3] die Taz heute. In die gleiche Kerbe schlägt der Berliner Co-Vorsitzende der Grünen, Daniel Wesener. Nachdem er auf die positiven Folgen der Einigung für den Stadtteil Kreuzberg hingewiesen hat, schreibt [4] Wesener:

Gleichwohl ist der Kompromiss keine Lösung für die dahinter stehenden Probleme. Wenn die Ereignisse rund um die ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule eines gezeigt haben, dann doch wohl: Wir brauchen eine neue Asylpolitik und einen anderen Umgang mit Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. Beides kann es nur geben, wenn sich alle politischen Ebenen, kommunale, Landes- und Bundesebene, unterhaken. Viel zu lange wurde von den verschiedenen Seiten nur die Verantwortung bei den anderen gesucht oder sich weggeduckt, anstatt gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.

Neue Demonstrationen angekündigt

Wesentlich gedämpfter ist die Stimmung unter den Flüchtlingen [5]. „Dass wir nicht geräumt werden, ist ein Erfolg. Aber das geforderte Bleiberecht haben wir nicht erreicht“, erklärt ein Aktivist. Daher haben auch nicht alle Dachbesetzer die Vereinbarung unterschrieben.

Eine Ruhepause gönnen sich die engagierten Flüchtlinge auch nach dem Stress der letzten Tage nicht. Bereits am Donnerstagnachmittag mobilisieren sie zu einer Demonstration gegen die Verschärfung der Asylgesetzgebung (im Bundestag wurde die dritte Lesung zum Gesetzesvorhaben „Asylrechts-Verschärfung und den Doppelpass für Migrantenkinder [6]„, die ursprünglich nach der Sommerpause geplant war, vorverlegt).

Wie Geflüchteten Proteste erschwert werden, zeigte sich erst vor wenigen Tagen. Ein Busunternehmen, das die Teilnehmer einer antirassistischen Demonstration [7] von Brüssel nach Berlin zurückbringen sollte und schon im Voraus bezahlt worden war, stornierte [8] kurzfristig den Vertrag und die Demoteilnehmer saßen damit in Brüssel fest. Die Aktivisten werfen der Polizei vor, auf den Busunternehmer Druck ausgeübt zu haben, den Vertrag zu kündigen, damit sich die Flüchtlinge nicht an den Protesten gegen die damals noch angedrohte Räumung der besetzten Schule beteiligen können.

Tatsächlich wird jetzt viel davon abhängen, ob die außerparlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich in den letzten Tagen für die Rechte der Geflüchteten eingesetzt haben, weiter engagieren und kritisch bleiben gegen die Parteien im Berliner Senat und Rathaus Kreuzberg. Ohne sie wäre die Schule schon längt geräumt und viele der Geflüchteten abgeschoben worden.

http://www.heise.de/tp/news/Vereinbarungen-mit-Fluechtlingen-in-Kreuzberg-aber-keine-Loesung-2249193.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.heise.de/tp/news/Sperrzone-mitten-in-Berlin-2248231.html

[2]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article129678886/Gruene-wollen-besetzte-Schule-raeumen-lassen.html

[3]

http://www.taz.de/Kommentar-besetzte-Schule-Kreuzberg/!141658/

[4]

http://gruene-berlin.de/pressemitteilung/gerhart-hauptmann-schule-ein-guter-kompromiss-aber-keine-echte-l%C3%B6sung

[5]

http://ohlauerinfopoint.wordpress.com

[6]

http://www.migazin.de/2014/07/03/asyl-gesetz-doppelpass-sommerpause-bundestag/

[7]

http://freedomnotfrontex.noblogs.org/

[8]

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2014%2F07%2F02%2Fa0135&cHash=cc89db6ae113375484f5e63deda266c6

Erst fang’n se ganz langsam an

Ohlauer Trotz der Einigung über die von Flüchtlingen besetzten Schule in Berlin: Die Probleme der Asylpolitik sind noch nicht gelöst


Seit dem 24. Juni herrscht Belagerungszustand. Ein massives Polizeiaufgebot hat zahlreiche Straßen rund um die Gerhart-Hauptmann-Schule im Berliner Ortsteil Kreuzberg abgesperrt. Das seit Jahren leerstehende Gebäude war im Winter 2012 von Flüchtlingen besetzt worden. Nun sollte die Schule geräumt werden. Doch nur ein Teil der Menschen, die derzeit dort leben, akzeptierte die angebotenen Ausweichquartiere. Mehr als 50 Bewohner weigerten sich, das Haus zu verlassen, und besetzten das Dach.

Trotz der Polizeiblockade finden die Flüchtlinge Wege, mit ihren Unterstützern zu kommunizieren. Über die Sperrgitter hinweg werden gemeinsam Parolen skandiert: „No lager, no nation!“ Oder: „Stop Deportation!“ Die Polizisten, die dazwischenstehen, werden immer wieder von Passanten gefragt, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, Flüchtlinge an ihrer Bewegungsfreiheit zu hindern. Doch die meisten Polizisten schweigen.

Die weiträumige Blockade sollte die Flüchtlinge offenbar zermürben und zum Aufgeben zwingen. Allerdings scheint die Polizei trotz Verstärkung aus dem gesamten Bundesgebiet nach fast einer Woche Belagerung am Ende ihrer Kräfte. Die sogenannten Besetzer wollten Pressekonferenzen abhalten, aber Journalisten verschiedener Medien wurde der Zutritt zur Schule verweigert. Das war für die Polizei ein Schuss ins eigene Knie. Es brachte ihr unter anderem den Vorwurf ein, nicht einmal ein Grundrecht wie die Pressefreiheit durchsetzen zu können.

Hier spricht Mimi

Presse und Dachbesetzer finden trotzdem Wege, miteinander zu sprechen: Die Verbindung wird etwa in einem Café in der Nachbarschaft via Webcam hergestellt. „Wir haben die Angst vor der Polizei verloren“, war am vergangenen heißen Wochenende, als es bei einer weiteren Protestveranstaltung beinahe zum Showdown kam, der erste Satz einer Migrantin, die sich als Mimi vorstellte. Sie betonte, dass die Gruppe in der Schule für eine grundlegende Veränderung der Flüchtlingspolitik kämpfe, nicht nur für persönliche Vorteile.

Mimi gehört zu den bekannteren Gesichtern des Widerstands. Sie sprach und spricht mit Journalisten, diskutierte auch schon mit Politikern und motiviert ihre Mitstreiter, wenn die aufgeben wollen. Die Enddreißigerin mit den Rastazöpfen ist als politisch Verfolgte aus einem afrikanischen Land nach Deutschland gekommen. Mehr will sie zu ihrer Biografie nicht sagen. Es gehe nicht um sie, sondern um den Kampf aller Flüchtlinge, betont sie immer wieder.

Unterdessen ist die Unterstützung in der Bevölkerung sichtbar gewachsen. Von Tag zu Tag steigt die Zahl der Menschen, die an der Dauermahnwache vor den Polizeiabsperrungen teilnehmen. An der jüngsten Demonstration gegen die Räumung der Schule beteiligten sich mehr als 6.000 Menschen. Mittlerweile hatte Christian Ströbele, Kreuzberger Bundestagsabgeordneter der Grünen, einen Kompromissvorschlag präsentiert. Danach soll auf die Räumung verzichtet werden. Stattdessen sollten die Flüchtlinge in einem Pavillon untergebracht werden, bis das Gebäude renoviert sei. Die Besetzer sahen in dem Angebot einen Fortschritt, bemängelten aber, dass das auch keine dauerhafte Lösung bringe, sondern den Konflikt nur vertage.

„Wir lassen uns nicht ein zweites Mal über den Tisch ziehen wie auf dem Oranienplatz“, erklären die Besetzer. Schließlich haben sie auf sehr konkrete Weise erfahren können, wie hart die angeblich moderate Kreuzberger Linie sein kann: Vor einigen Wochen wurde ein Flüchtlingscamp am Kreuzberger Oranienplatz geräumt. Ruhe ist dort bis heute nicht eingekehrt. Kürzlich setzten Unbekannte das Informationszelt in Brand, das die Flüchtlinge dort durchgesetzt hatten. Auch am Oranienplatz wurde mittlerweile eine Dauermahnwache für Flüchtlingsrechte eingerichtet. Und auch dort ist Polizei fast immer vor Ort und achtet darauf, dass kein neues Camp entsteht.

Dort moderiert Monika

Die aufgeheizte Lage wift ein grelles Licht auf den CDU-geführten Berliner Innensenat und die grüne Bürgermeisterin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann. Herrmann drückte ihre Solidarität mit den Protesten im Allgemeinen aus – machte aber deutlich, dass das Camp nicht mehr toleriert werde. Diese doppelbödige Moderatorinnenrolle konnte sie nur spielen, weil der Innensenat eine schnelle Räumung ohne weitere Verhandlungen forderte. Mit jener Strategie gelang es, die Bewohner des Camps auf dem Oranienplatz zu spalten. Die Bilder von auszugswilligen Flüchtlingen, die die Zelte und Hütten derjenigen niederrissen, die bleiben wollten, gingen durch die Presse. Und es stellte sich heraus, dass mehrere der Migranten, entgegen anderen Zusagen, doch abgeschoben werden sollen, ohne weitere Prüfung ihres Aufenthaltsstatus.

Nach gut einer Woche der Absperrung wächst bei den Anrainern der Kreuzberger Schule die Wut. Sie kommen nur mit Personalkontrollen zu ihren Wohnungen, Ladenbesitzer beklagen Umsatzeinbußen. „Ich habe eine Petition ans Abgeordnetenhaus geschrieben, ich frage mich, was die überzogenen Maßnahmen sollen“, sagt Manfred Schuffenhauer, der im Sperrgebiet eine Filmkunstbar betreibt.

Lange Zeit wurde der Kampf für eine humane Flüchtlingspolitik als Marginalie wahrgenommen. Doch jetzt ist der Widerstand nicht mehr zu ignorieren. An erster Stelle sollte dabei ein gesicherter Status für die Beteiligten stehen. Mit Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes, der den Behörden großen politischen Spielraum einräumt, gibt es dafür längst eine gesetzliche Grundlage.

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Update vom 3.7.2014

Am Mittwochabend kam es zu einer Einigung im Konflikt. Der Bezirk zog das Räumungsbegehren zurück, die Polizei hat bereits die die Sperrzone aufgelöst und die Flüchtlingsaktivisten sollen in der Schule bleiben können. Ein Sicherheitsdienst soll nun in der Schule den Zuzug neuer Flüchtlinge verhindern. Eine Flüchtlingsunterstützerin sieht hier neue Konflikte vorprogrammiert. „Die Bewohner der Schule sind keine Gefangenen und werden sich nicht vorschreiben lassen, wer sie besuchen darf.“

Die Kreuzberger Grünen geben sich in einer Presseerklärung erleichtert und betonen, dass sie sich für eine einvernehmliche Lösung eingesetzt haben.

Wesentlich gedämpfter ist die Stimmung unter den Flüchtlingen. „Dass wir  nicht geräumt werden, ist ein Erfolg. Aber das geforderte Bleiberecht haben wir nicht erreicht“, erklärt ein Aktivist. Daher haben auch nicht alle Dachbesetzer die Vereinbarung unterschrieben. Eine Ruhepause gönnen sich die engagierten Flüchtlinge auch nach den Stress der letzten Tage nicht. Bereits am Donnerstagnachmittag mobilisieren sie zu einer Demonstration gegen die Verschärfung der Asylgesetzgebung. Die dritte Lesung, die ursprünglich noch der Sommerpause geplant war, ist vorverlegt werden.

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https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/erst-fang2019n-se-ganz-langsam-an

Peter Nowak

Sperrzone mitten in Berlin

Noch immer droht die Räumung einer von Geflüchteten besetzten Schule

Seit dem 24. Juni herrscht in einem Teil des Berliner Stadtteils Kreuzbergs Belagerungszustand. Ein großes Polizeiaufgebot hat zahlreiche Straßen rund um die Gerhart-Hauptmann-Schule [1] weiträumig abgesperrt. Das seit Jahren leerstehende Gebäude war im Winter 2013 von Geflüchteten besetzt worden. Nun sollte die Schule geräumt werden. Doch nur ein Teil der Personen, die in den letzten Monaten in dem Gebäude gelebt haben, akzeptierte die angebotenen Ausweichquartiere. Mehr als 50 Bewohner weigerten sich, das Gebäude zu verlassen und besetzten das Dach [2].

Die Absperrungen sollten sie zermürben und zum Aufgeben bewegen. Nach der mehr als einwöchigen Belagerung zeigen sie sich aber weiterhin entschlossen, ihren Kampf für ein Bleiberecht und „gegen die deutsche Flüchtlingspolitik“ fortzusetzen. Manche drohen damit, vom Dach zu springen, wenn die Polizei das Gelände betreten sollte. Unterstützer, die zu den Geflüchteten regelmäßig Kontakte haben, betonen, dass es den Personen mit ihren Warnungen bitterernst ist.

Ultimatum des Polizeipräsidenten an die Politik

Dagegen wird in Medien immer wieder behauptet, dass die Polizei trotz Verstärkung aus dem gesamten Bundesgebiet am Ende ihrer Kräfte sei. Damit soll auch Druck für eine schnelle Räumung gemacht werden.

So gibt es ein von der Gewerkschaft der Polizei unterstütztes Ultimatum [3] des Berliner Polizeipräsidenten an die Berliner Politik. Entweder es wird jetzt schnell geräumt oder die Polizei soll abgezogen werden, heißt es dort. Nun legt die GdP noch nach und fordert [4], dass die Kosten für den langen Polizeieinsatz nicht aus dem Haushalt der Polizei, sondern der Politik beglichen werden soll.

Spiel mit verteilten Rollen

Dass es in dem Konflikt um ein Spiel mit verteilten Rollen zwischen den von den Grünen regierten Bezirk Kreuzberg und dem von der CDU geleiteten Berliner Innensenat geht, ist richtig. Diese Arbeitsteilung war bei der Räumung des Flüchtlingscamps am Oranienplatz [5] vor einigen Wochen deutlich geworden.

Während die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Die Grünen) ihre Solidarität mit den Flüchtlingsproteste im Allgemeinen ausdrückte, machte sie sehr deutlich, dass das Camp in ihrem Stadtteil nicht mehr toleriert wird. Ihre Rolle als Moderatorin konnte sie in dem Konflikt nur spielen, weil der Innensenat und die CDU eine noch schnellere Räumung ohne weitere Verhandlungen forderten.

Damit wuchs der Druck auf die Flüchtlinge, entweder die Räumung des Platzes zu den Bedingungen des Bezirks zu akzeptieren oder „Henkel [6] übernimmt das Kommando“. Mit dieser Strategie gelang es, die Bewohner des Camps auf dem Oranienplatz erfolgreich zu spalten. Die Bilder von auszugswilligen Flüchtlingen, die die Zelte und Hütten der Mitstreiter niederrissen, die den Platz nicht verlassen wollten, gingen durch die Presse.

Bald stellte sich heraus, dass die Zusagen für das Verlassen des Platzes, von den Behörden ignoriert wurden. So sollen mehrere der Flüchtlinge abgeschoben werden, obwohl eigentlich ihre Aufenthaltsstatus noch einmal überprüft werden sollte [7].

„Wir lassen uns nicht ein zweites Mal über den Tisch ziehen lassen, wie auf dem Oranienplatz“, erklärten die Besetzer der Schule immer wieder. Schließlich haben sie am eigenen Leib erfahren, wie repressiv auch die angeblich moderate „Kreuzberger Linie“ sein kann. Seit Monaten forderten die Bewohner der Schule den Einbau von Duschen. Doch der Bezirk stellte sich taub.

Schließlich hoffte man, die Bewohner eher zum Verlassen des Gebäudes zu bewegen, wenn die Lebensbedingungen dort so unerträglich wie möglich sind. Vor einigen Wochen endete ein Streit um die Benutzung der einzigen Dusche in der besetzten Schule für einen der Bewohner tödlich.

Wo bleibt die Zivilgesellschaft?

Die Auseinandersetzung um die Schule wird von vielen Medien häufig so dargestellt, als ginge es um einen Show-down zwischen den Geflüchteten und der Politik. Dann gibt es in dieser Lesart noch einige antirassistische Unterstützer, die die Geflüchteten angeblich radikalisieren. Diese Darstellung war in den letzten beiden Jahren über den neuen Flüchtlingswiderstand immer wieder verbreitet worden, entspricht aber nicht den Tatsachen.

Der politische Kampf der Geflüchteten, der im Sommer 2012 mit einem Marsch für Menschenrechte durch die gesamte Republik begonnen hat und zum Camp am Berliner Oranienplatz und später zur Besetzung der Schule führte, wurde von den Betroffenen selbstbestimmt geführt. Dieser Grundsatz ist ihnen wichtig. Wenn in Medien trotzdem immer wieder die Steuerung der Aktivisten durch Antirassisten aus Deutschland behauptet wird, so machen sie nur deutlich, dass die das politische Anliegen der Geflüchteten und ihre Erklärungen ignorieren.

Mittlerweile hat sich die Zivilgesellschaft in Berlin zu Wort gemeldet und die sofortige Aufhebung der Blockade gefordert. Am vergangenen Samstag beteiligten sich mehr als 5.000 Menschen an einer Demonstration gegen die Absperrungen. Unterstützt werden sie dabei von Anwohnern in Kreuzberg. Am 1. Juli beteiligten sich mehrere hundert Schüler und Studierende an einem Schulstreik [8] und solidarisierten sich mit den Geflüchteten.

Die Forderung nach einem Bleiberecht für die Geflüchteten wird auch in liberalen Medien Berlins jetzt erhoben. So begründet [9] die Berliner Zeitung diese Forderung so:

Berlin hat diesen Flüchtlingen in den vergangenen zwei Jahren die größtmöglichen Schwierigkeiten gemacht. Nach diesem kollektiven Politikversagen müssen endlich Konsequenzen gezogen werden.

Diese Forderung wird auch in einem Öffentlichen Appell [10] an die Politik unterstützt. Mittlerweile gibt es unabhängig davon auch einen bundesweiten Aufruf [11], der für die Rechte der Geflüchteten eintritt. „Wir fordern die Gewährung eines dauerhaften Bleiberechts nach § 23, Abs. 1 Aufenthaltsgesetz für die Refugees“, heißt es dort.

Mit § 23 des Aufenthaltsgesetzes [12], der den Behörden einen großen politischen Beurteilungsspielraum einräumt, gäbe es dafür eine gesetzliche Grundlage, um die Forderungen der Geflüchteten umzusetzen und die Polizei sofort zurückzuziehen.

Räumungsdrohung nicht vom Tisch

Obwohl es in den letzten Tagen Signale gab, die auf eine Entspannung der Situation hindeuteten, hat sich in den letzten Stunden die Situation wieder zugespitzt. Von einem Abzug der Polizei ist nicht die Rede, dafür werden immer wieder Unterstützer, die Blockaden vor dem Sperrbezirk versuchen, von der Polizei angegriffen. Auch die Erklärungen des Berliner Innensenators Frank Henkel tragen wenig zur Entspannung bei. In einem Radiointerview [13]antwortete der CDU-Politiker auf die Frage des Moderators:

Zu einem Zeitpunkt kann und werde ich jetzt nichts sagen, ich empfinde es allerdings als einen Fortschritt, dass wenigstens Herr Panhoff, also aus dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, sich seit mehreren Monaten, dessen was sich da abgespielt hat, entgegenstellt und jetzt ein entsprechendes Räumungsersuchen gestellt hat.

Panhoff ist Mitglied der Grünen. Sofort machte die konservative „Welt“ mit der Schlagzeile [14] auf: „Grüne wollen die besetzte Schule räumen lassen.“ Die CDU und Henkel können sich also beruhigt zurück lehnen. Dass der Innensenator wegen seiner Biographie etwa Sympathien mit den Geflüchteten hat, ist nicht anzunehmen. Wie die Taz berichtete [15], kam er 1981 als Kind einer Flüchtlingsfamilie nach Deutschland. Doch, weil er mit seinen Eltern aus der DDR floh, wurde er mit offenen Armen empfangen.

http://www.heise.de/tp/news/Sperrzone-mitten-in-Berlin-2248231.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://ohlauerinfopoint.wordpress.com/

[2]

https://www.youtube.com/watch?v=x1g3UxoLkLA

[3]

http://www.gdp.de/gdp/gdpber.nsf/id/DE_Ultimatum-von-Kandt

[4]

http://(http://www.gdp.de/gdp/gdpber.nsf/id/DE_Einsatzkosten-nicht-zulasten-Polizeihaushalt

[5]

http://asylstrikeberlin.wordpress.com/

[6]

http://www.cdu-fraktion.berlin.de/index.php%3Fka%3D1&ska%3Dprofil&pid%3D25

[7]

http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/der-senat-muss-seine-zusagen-gegenueber-den-fluechtlingen-einhalten-362

[8]

http://refugeeschulstreik.wordpress.com/

[9]

http://(http://www.berliner-zeitung.de/meinung/leitartikel-zur-ohlauer-strasse-die-fluechtlinge-muessen-ein-bleiberecht-bekommen,10808020,27674618,item,0.html

[10]

http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2014/07/ohlauerappell.pdf

[11]

http://worthalten.wordpress.com/

[12]

http://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__23.html

[13]

http://www.radioeins.de/programm/sendungen/der_schoene_morgen/_/muss-die-gerhart-hauptmann-schule-geraeumt-werden-.html

[14]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article129678886/Gruene-wollen-besetzte-Schule-raeumen-lassen.html

[15] http://www.taz.de/Ein-Fluechtling-in-Berlin/!141457

Verweilen zwischen Konsumtempeln

Diskussionsrunde im Abgeordnetenhaus widmet sich Gestaltungskonzepten für den Alexanderplatz

Der zentrale Raum zwischen Alex und Spree befindet sich ständig im Wandel. Zeit für eine Diskussion um Zukunft und Visionen für diesen in mehrfacher Hinsicht zentralen Ort Berlins.

Der Kalte Krieg zwischen Ost und West wurde auch in der Architektur geführt. Für den bekannten westdeutschen Architekten Joachim Schürmann begann Asien am Berliner Alexanderplatz. Seine Äußerung wurde am Montagabend auf einer Diskussionsveranstaltung im Berliner Abgeordnetenhaus mehrmals zitiert. Dorthin hatte die Linksfraktion zur Diskussionsveranstaltung unter dem Motto »Neues Denken vom Alex bis Spree« eingeladen.

Für den ehemaligen Berliner Kultursenator Thomas Flierl und die Linksparteiabgeordnete Carola Blum, die beide aus Ostberlin kommen, ist der Platz eine große Freifläche im Stadtraum. Für die Westberlinerin und Grüne Abgeordnete Antje Kapek ist die erste Erinnerung an den großen Platz in Ostberlin weniger schön. Sie lernte den Platz im Alter von 13 Jahren kennen, als sie mit ihrem Vater kurz nach der Maueröffnung in Ostberlin besuchte. Als Fraktionsvorsitzende ihrer Partei im Abgeordnetenhaus plädiert Kapek dafür, in die Planung über die Zukunft des Platzes sämtliche Interessengruppen einzubeziehen. Damit ist sie sich mit der Linkspartei einig. Ihr sei es besonders wichtig, die Menschen, die dort wohnen und die sich häufig dort aufhalten in den Mittelpunkt zu stellen, betont die stadtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus Katrin Lompscher. Es sei eine besondere Qualität dieses Platzes, dass dort Menschen ohne Konsumzwang ihre Freizeit verbringen können. Das soll nach den Vorstellungen der Linken auch so bleiben.

Daher wendet sich die Partei auch gegen Pläne, die DDR-Geschichte am Alexanderplatz zu tilgen und dafür Anleihen an ein imaginiertes Berlin von vor 100 Jahren zu nehmen. Tatsächlich versuchen verschiedene Interessengruppen, auf die Gestaltung des Alexanderplatzes mit Konzepten Einfluss zu nehmen, die zum Ziel hätten, dass Menschen mit wenig Einkommen vom Platz vertrieben werden. Nach diesen Plänen soll sich der Platz ganz auf die Interessen der Touristen ausrichten. Johanna Schlack vom Fachbereich für Architektur an der TU Berlin sieht die konservativen Konzepte für den Alexanderplatz im Kontext der Berliner Stadtpolitik. Schon als der Palast der Republik abgerissen wurde, habe sie befürchtet, dass auch am Alexanderplatz bald die Abrissbagger rollen.

Den vor allem jungen Menschen mit wenig Geld, die ihren Lebensmittelpunkt am Alexanderplatz haben, widmete kürzlich die Galerie Haus am Lützowpark eine viel beachtete Fotoausstellung. Diese Menschen waren leider bei der Diskussion nicht vertreten. Dabei geht es auch um ihre Zukunft, wenn über die Perspektiven des Platzes gesprochen wird.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/937821.verweilen-zwischen-konsumtempeln.html

Peter Nowak

Rechtsdrehend grün

Die »AG für klares Deutsch« der Grünen dürfte kaum bekannt sein, ihr Leiter Rolf Stolz dafür umso mehr. Nicht nur die deutsche Sprache, auch die deutsche Nation haben es dem 65-Jährigen angetan. »Die Mullahs am Rhein. Der Vormarsch des Islams in Europa« und »Der Deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung« und »Deutschland Deine Zuwanderer« sind nur drei von vielen Büchern, in denen der bündnisgrüne Publizist für Nationalstolz eintritt.

Für die rechtskonservative Wochenzeitung »Junge Freiheit« publizierte Stolz ebenso wie er für verschiedene Rechtsaußenorganisationen als Referent tätig ist. In diesen Kreisen fällt er vor allem wegen seiner Parteimitgliedschaft auf. Denn Stolz ist seit 34 Jahren Mitglied der Grünen. »Ich bleibe bei den Grünen, um das politische Erbe von Petra Kelly und all denen, die wie ich seit 1980 für eine ökologische, pazifistische, soziale Antiparteien-Partei gekämpft haben, zu verteidigen«, sagte er gegenüber »neues deutschland«.

Die Kölner Kreisvorsitzende der Grünen, Katharina Dröge, strebt nun ein Ausschlussverfahren gegen Stolz an. Der aktuelle Anlass ist eine Rede bei der rechtslastigen Burschenschaft Danubia, wo er vor einer Überfremdung Deutschlands und der Antifa warnte. Es ist nicht das erste Mal, dass die Grünen Stolz loswerden wollen.

Er ist der bekannteste Vertreter des deutschnationalen Flügels bei den Grünen, der in der Frühphase viel von sich reden machte, heute aber kaum noch bekannt ist. Schon in den 80er Jahren wollte Stolz Rechte mit Linken ins Gespräch bringen. Davon will er sich auch durch Austrittsdrohungen nicht abhalten lassen. Vor allem nicht, wenn sie von denen kommen, die »aus der freiheitlichen Friedenspartei der 80er Jahre eine olivgrün militarisierte Block-FDP 2.0 gemacht haben«, so Stolz. Auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wollte Scholz ausschließen, ist damit aber gescheitert.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/937667.rechtsdrehend-gruen.html

Peter Nowak