Fotografischer Blick auf die Krise

Ausstellung »The Bitter Years« über in Armut geratene Menschen im luxemburgischen Düdelingen
Bittere Jahre erlebt nicht nur Europa in seiner jetzigen Krise. Fotografien von Menschen in den USA während der großen Depression verdeutlichen die Gefahr sozialer Leiden.

»Ich sehe ein Drittel der Nation, in schlechten Wohnungen, schlecht gekleidet, schlecht ernährt«, erklärte der damalige US-Präsident Franklin Delano Roosevelt am 20. März 1937 in einer Rede über die soziale Situation in den USA. Die langanhaltende Wirtschaftskrise hatte Millionen Menschen in die Armut getrieben. Davon kann man sich jetzt ein Bild machen. In einem umgebauten Wasserturm hinter dem Kulturzentrum am Rande des luxemburgischen Städtchens Dudelange kann die beeindruckende Fotoausstellung „The bitter Years“ besichtigt werden. Mehr als zwölf Fotografen haben im Auftrag der Farm Security Administration (FSA) zwischen 1935 und 1944 in allen Teilen der USA die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Menschen festgehalten. Die Ausstellung, die kürzlich vom Museum of Modern Art in New York nach Luxemburg umgezogen ist, zählt zu den Pionierarbeiten der sozialkritischen Fotographie. Der Ort wurde gewählt, weil Luxemburg die Heimat des langjährigen Leiters der fotografischen Abteilung MoMA ist.
Auch heute noch verschaffen die Fotos dem Betrachter einen Eindruck von den Entbehrungen, die die Krise für Millionen Menschen mit sich brachte. Oft hat man den Eindruck, es seien Szenen aus der sogenannten dritten Welt. Ben Shahn hat Kinder in Arkansas fotografiert, deren Körper Hungerödeme zeigen. Rusell Lee zeigt das Gesicht eines blonden Mädchens, das aus einem schmutzigen zerfledderten Zelt blickt, das ihre Wohnung ist. Wie Millionen Menschen musste die Familie ihre Wohnungen in Zeiten der Krise räumen. Auf mehreren Fotos sind die Trecks zu sehen, in denen die Obdachlosen in die Zeltstädte ziehen, die damals am Rande der Städte entstanden sind. Sie zogen an Plakatwänden vorbei, die eine Mittelstandfamilie in einem Auto zeigt und für den American of Life als den höchsten Lebensstandard auf Welt preist.
Die Fotografen machten die Realität einer Klassengesellschaft und den alltäglichen Rassismus in den USA bekannt. Wenn die Arbeiten heute erstmals in Europa gezeigt werden, ist es durchaus auch ein Blick in die Gegenwart. Wer heute die Krisenfolgen und die Verarmung in Ländern der europäischen Peripherie wahrnimmt, kann durchaus Parallelen finden zu den Szenen der Fotos. Selbst in Luxemburg, das eher zu den Gewinnern in der aktuellen europäischen Krise gehört, sind die Zeichen sozialer Auseinandersetzungen nicht zu übersehen. Eine kürzlich im luxemburgischen Parlament beschlossene Rentenreform hat zu heftigen Protesten von Gewerkschaften und linken Parteien geführt. Die Armut der einfachen Bevölkerung ist indes in den Krisenländern Europas zu sehen. Zwangsräumungen wurden in Spanien nach mehreren Suiziden zwar ausgesetzt. In Griechenland aer geraten immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808908.fotografischer-blick-auf-die-krise.html

Peter Nowak
Hinweise zu geführten Touren durch die Ausstellung unter: www.steichencollections.lu

„Ihr Arbeitslosengeld fällt komplett weg“

Während Bild gegen selbstbewusste Erwerbslose hetzt, gehört ein Totalentzug von Hartz IV-Leistungen zur scharfen Waffe der Jobcenter

„Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 % des Arbeitslosengeld II“, teilte die Sachbearbeiterin des Forster Jobcenters dem erwerbslosen Bert N. mit. Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, wurde, wird im nächsten Absatz des Schreibens noch einmal wiederholt: „Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.“

Als Grund für den Komplettentzug von Hartz IV wurde vom Jobcenter in dem Schreiben angegeben, N. sei einem PC-Grundkurs des Bildungswerks Futura GmbH unentschuldigt ferngeblieben. „Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde“, erklärte der Erwerbslose gegenüber Telepolis. Dort seien den Kursteilnehmern die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden, damit sie das es bei den Bewerbungen nutzen können. Da N. seit Jahren mit Computern umgehen kann, langweilte er sich in dem Kurs schon beim ersten Mal. Dass ihn die Sachbearbeiter im Jobcenter gleich dreimal zum Kursbesuch aufforderten, interpretiert N. genauso als Schikane wie der Totalentzug des ALGII.

Für den Kauf der dringend benötigten Lebensmittel wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von176 Euro ausgehändigt. Das Landessozialgericht NRW hatte 2009 entschieden, dass das Jobcenter zeitgleich mit dem vollständigen Wegfall von Hartz IV-Leistungen auch darüber entscheiden muss, ob dem Hartz IV-Bezieher Sachleistungen oder geldwerte Leistungen wie Lebensmittelgutscheine zur Verfügung gestellt werden. Diese Verpflichtung ergibt sich für das Gericht aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Genussmittel dürfen damit mit dem Gutschein nicht erworben werden. Zudem muss der gesamte Betrag bei einem Einkauf ausgeben werden, sonst verfällt der Restbeitrag, weil kein Wechselgeld ausgezahlt werden darf. Nach dem Ende der Sperre werden die Gutscheine allerdings mit 10 % von seinen Hartz IV-Leistungen abgezogen


Gefahr der Obdachlosigkeit droht

Seit der Streichung des ALG II kann N. auch die Miete nicht bezahlen. „Ich habe es dem Vermieter noch gar nicht gesagt, weil ich befürchte, dass er mir sofort die Kündigung schicken wird“, meint N. Mittlerweile hat er einen Anwalt eingeschaltet, der Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht.

Seine Erfolgsaussichten sind nicht schlecht. Eine 100 % Sanktion sei generell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, erklärt der Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht beim Verein Tacheles Harald Thome gegenüber Telepolis. „Erfolge gibt es regelmäßig. Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung ca. 75 % der Sanktionsbescheide kassiert werden.“ Thome vertritt auch die These, dass eine Sanktion, die einen Wohnungsverlust zur Folge hat, verfassungswidrig ist. Das ist für ihn zumindest die Konsequenz aus den BVerfG- Urteilen zur Höhe von Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz vom Februar 2009 und Juli 2012. Allerdings ist ein Weg durch die juristischen Instanzen zeitaufwendig. Ein Mensch, dem sämtliche Leistungen gestrichen wurden und der befürchten muss, die Wohnung zu verlieren, hat aber diese Zeit oft nicht.

Widerstand gegen Hartz IV-Regime

In Forst hat sich mittlerweile eine Gruppe gebildet, die für Anfang Februar eine Veranstaltung zum Thema „Zwang und Widerstand unter Hartz IV“ plant Eingeladen ist mit Ralph Boes auch ein Erwerbslosenaktivist, der in den letzten Wochen mit einen Hungerstreik gegen Sanktionen der Jobcenter zur Zielscheibe populistischer Boulevardmedien und deren Leser wurde. Dabei ist ein kritisches Hinterfragen der von Boes gewählten Hungerstreikaktion sicherlich berechtigt. Doch Bild hat in ihm nur einen neuen Angriffspunkt für ihre sozialchauvinistische Hetze gegen Erwerbslose gefunden, die eigene Interessen vertreten und die offen sagen, dass sie das Hartz IV-Regime ablehnen.

Wie schon bei ähnlichen Kampagnen gegen „freche Arbeitslose“ wird Bild dabei von einen Teil der Leserschaft unterstützt und überboten. Der Soziologe Berthold Vogel vertritt die These, dass eine von Absturzängsten geplagte Mittelschicht mit den Ressentiments gegen die zu Überflüssigen erklärten „Unterklassen“ reagiert. Dazu gesellen sich noch Menschen im Niedriglohnbereich, die gerade, weil sie sich ausbeuten lassen, alle Kritiker an dem System besonders stark angreifen. Dass nicht ein Totalentzug von Hartz und eine damit zumindest billigende Inkaufnahme von Obdachlosigkeit für Schlagzeilen sorgt, sondern ein Erwerbsloser, der gegen das Sanktionsregime kämpft, ist das eigentliche Problem. Die Zahl der Totalsanktionierten wächst. Allein in Forst sind 5 Fälle bekannt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153474
Peter Nowak

Bafög-Stau auflösen

Kurz vor Weihnachten hat die Berliner GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt in einer Pressemitteilung Alarm geschlagen. Weil die Bafög-Anträge von Tausenden Schülern und Studierenden trotz rechtzeitiger Abgabe noch nicht bearbeitet wurden und die bisher gewährten Vorab-Abschlagszahlungen Ende Dezember auslaufen, sei die Situation der Betroffenen dramatisch.

Es ist völlig richtig, wenn die GEW nun fordert, dass zumindest der Abschlag unbürokratisch über die vier Monate hinaus gewährt werden muss, ohne dass die Betroffenen weitere Anträge stellen müssen. Viele wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Zudem haben sich viele Betroffene verschuldet. Denn von den Abschlagszahlungen, die nur 80 Prozent des Bafög betragen, kann man kaum über die Runden kommen.

Der Bafög-Stau ist aber keine Frage persönlichen Versagens einzelner Behördenmitarbeiter, sondern die Folge des politisch gewollten Personalabbaus im öffentlichen Dienst, der sich in Zeiten der Schuldenbremse noch verstärken dürfte. Die Folgen sind verstärkter Stress bei den verbliebenden Beschäftigten, der bis zum Burnout führen kann, und eine Verschlechterung der Service-Leistungen, wofür der Bafög-Stau nur ein Beispiel ist. Eine Anfrage der bildungspolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Regina Kittler, ergab, dass allein im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf noch 2700 bis 3000 Anträge auf Schüler-Bafög und etwa 600 aus dem Auslandsförderbereich unbearbeitet sind. Das Bafög-Amt Charlottenburg-Wilmersdorf ist für sieben Bezirke zuständig und seit Oktober geschlossen, um den Abarbeitungsstau zu beheben.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/808847.bafoeg-stau-aufloesen.html
Peter Nowak

Staatsschutz ermittelt nach rechtem Übergriff


40-Jähriger von drei Männern beschimpft und schwer verletzt

Noch immer ist nicht klar, ob Jimmy C. das Augenlicht verliert. Er liegt mit schweren Gesichtsverletzungen im Krankenhaus. In den frühen Morgenstunden des 31. Dezember war der in Kenia geborene 40-jährige an seinem Arbeitsplatz in der Discothek Q-Dorf in Charlottenburg, wo er als Reinigungskraft arbeitet, rassistisch beschimpft, zusammengeschlagen und mit einer Glasflasche schwer verletzt worden.

Der Vorfall war erst bekannt geworden, nachdem Freunde Jimmy C. im Krankenhaus besucht und seinen Bericht auf Facebook veröffentlicht hatten. Demnach sei er an diesem Abend von zwei Männern nach Toilettenpapier gefragt worden. Als er die Toilettenräume betrat, habe ihm ein dritter Mann ein Glas ins Auge geschlagen. Das Trio habe ihn zu Boden geworfen und beschimpft. »Im Polizeibericht war vom rassistischen Hintergrund des Überfalls keine Rede«, kritisierte Dirk Stegemann vom Berliner Bündnis gegen Rassismus gegenüber »nd«.

Tatsächlich hieß es in der ersten Pressemitteilung der Polizei, eine 40-jährige Reinigungskraft sei von drei Unbekannten in eine Toilettenkabine der Diskothek gezogen und dort geschlagen und angegriffen worden. Erst später wurde die Meldung ergänzt und mitgeteilt. dass »wegen fremdenfeindlicher Äußerungen« der Angreifer der Polizeiliche Staatsschutz die Ermittlungen übernommen hat. Die Polizei sucht nun dringend nach Zeugen.

»Zum Zeitpunkt der Pressemeldung war der Geschädigte noch nicht vernommen und Details zur Tat waren noch nicht bekannt. Nach der Vernehmung des Verletzten wurde eine ergänzende Pressemeldung gefertigt«, erklärte der stellvertretende Pressesprecher der Polizei, Thomas Neuendorf. Das antirassistische Bündnis monierte auch, dass der schwer verletzte Mann mehr als 20 Minuten im Krankenwagen auf die Polizei warten musste.


Unter dem Kennwort Jimmy C. kann auf das Konto der Berliner VVN-BdA e.V. für das Opfer rechter Gewalt und seine Familie gespendet werden: Berliner VVN-BdA e.V, Postbank Berlin, BLZ: 100 100 10, Konto: 315 904 105

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809012.staatsschutz-ermittelt-nach-rechtem-uebergriff.html

Peter Nowak

Argument gegen Dogma

In Ansprachen und Interviews stimmten verschiedene Spitzenpolitiker in der Jahreswende die Bevölkerung erneut auf schwere Zeiten ein. Damit sollen Lohnabhängige und Erwerbslose auf weitere Opfer für den Standort eingeschworen werden. Je mehr die Rechte der abhängig Beschäftigten beschnitten werden, desto besser geht das Land aus der Krise hervor, lautet die Propaganda, die in allen europäischen Ländern verbreitet und von vielen Menschen geglaubt wird.

So hat sich im März 2012 in der Schweiz in einer Volksabstimmung eine Mehrheit gegen eine Ausweitung der Ferien ausgesprochen. Mehr Urlaub würde dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden, so lautete die Begründung. Ein vom Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) in Auftrag gegebenes Dossier mit dem Titel »Der liberale Wirtschaftsmarkt der Schweiz – Entzauberung eines Mythos« liefert einmal mehr den Beweis, dass schon diese Grundannahme falsch ist. Weniger Rechte für Lohnabhängige führen nicht zu einer Senkung der Arbeitslosigkeit. Damit kann man gegen die wirtschaftsliberalen Dogmen argumentieren, die in vielen Medien verbreitet werden. Damit es allerdings wirklich zu dem »Umdenken in der Arbeitsmarktpolitik« kommt, das die Autoren des Dossiers anmahnen, ist die Selbstorganisation der Lohnabhängigen und Erwerbslosen nötig. Schließlich ist die Verzichtspolitik keine Folge falscher Zahlen und Untersuchungen, sondern eine Politik im Interesse der Wirtschaft.

Nur kollektiver Widerstand von unten kann hier zu Veränderungen führen. In der Schweiz haben das die Beschäftigten des Bahnausbesserungswerkes von Bellinzona vorgemacht, die mit ihrem Streik 2008 die Schließung verhindert haben. Der erfolgreiche Kampf fand europaweit Beachtung. Tatsächlich gilt es auch 2013 gehen die Verzichts- und Standortlogik in den Köpfen vieler Lohnabhängiger zu kämpfen. Für Diskussionen mit diesen Menschen können Ergebnisse von Studien wie die des SGB nützlich sein.

Projekte wie das Internetportal »Nachdenkseiten« leisten hier gute Vorarbeit, sind aber gerade bei vielen Betroffenen noch zu wenig bekannt. Daher sollten auch der DGB und linke Projekte solche Studien als Argumentationshilfen herausgeben und massenhaft verbreiten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/808883.argument-gegen-dogma.html
Peter Nowak

Kein liberaler Arbeitsmarkt


Neues Dossier vom Schweizer Gewerkschaftsbund entkräftet Mythos von wirksamen Arbeitnehmerrechten

Steuerparadies, Heimat der Millionäre, aber was ist mit guter Arbeit? Laut eines neuen Dossiers des Schweizer Gewerkschaftsbundes SGB gehört das Land was Rechte von Beschäftigten angeht zum europäischen Schlusslicht.

Die Schweiz gilt hierzulande als Paradies für Millionäre. Doch wie sieht es mit der Situation der abhängig Beschäftigten aus? Darauf hat kürzlich ein Dossier des Schweizer Gewerkschaftsbund SGB mit dem Titel »Der »liberale« Arbeitsmarkt der Schweiz – Entzauberung eines Mythos« eine klare Antwort gegeben: Das Land gehört bei den Rechten der Beschäftigten zum europäischen Schlusslicht. So verweisen die Autoren des Dossiers, Daniel Lampart und Daniel Kopp auf OECD-Studien, die belegen, dass die Schweiz beim Kündigungsschutz den Rang 31 unter 34 erfassten Ländern inne hat. Nur unwesentlich besser schneidet die Schweiz bei Mindestlöhnen, befristeten Arbeitsverhältnissen und bei der Leiharbeit ab.

Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Kommentatoren wirtschaftsnaher Zeitungen preisen den schwachen Arbeitnehmerschutz als Ausdruck »liberalen Arbeitsmarktes«, der dafür sorge, dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz sehr niedrig sei. Da es in der Schweiz leichter sei, den Beschäftigten zu kündigen kämen mehr Investoren in das Land, die wieder neue Stellen schaffen, lautet die nicht nur in der Schweiz bekannte Argumentation, die die Autoren des Dossiers untersuchen und widerlegen

»Der Zusammenhang dürfte gerade umgekehrt sein. Weil die Gefahr der Arbeitslosigkeit vor allem früher relativ gering war, haben die Schweizer Arbeitnehmenden einen schlechteren Schutz akzeptiert«, schreiben die Autoren. Mittlerweile wirke sich aber der schwache Arbeitnehmerschutz negativ aus, beschreiben Lampart und Kopp die veränderte soziale Situation. »Seit den 1990er Jahren ist die Arbeitslosigkeit in der Schweiz stark gestiegen. Atypische Arbeitsverhältnisse wie die Temporärarbeit, die den Arbeitnehmern im Vergleich zu Normalarbeitsverhältnissen ein geringeres Schutzniveau bieten, nehmen zu«. Gleichzeitig werde es zunehmend schwieriger, sozialpartnerschaftliche Regelungen zu erwirken.

Vor allem in den stark gewachsenen Dienstleistungsbranchen, wie den Call-Centern, Kurierdiensten und Kosmetikinstituten kann es auf absehbare Zeit keine Gesamtarbeitsverträge geben, weil die Ansprechpartner auf Seiten der Arbeitgeber fehlen.

In einigen Branchen weigern sich die Arbeitgeber offen, mit den Gewerkschaften Verhandlungen aufzunehmen. So hat der der Verbandspräsident der Schweizer Schuhgeschäfte mehrmals betont, dass er sich aktiv gegen einen Tarifvertrag einsetzen wird. In der Branche sind die Arbeitsbedingungen besonders schlecht und die Löhne niedrig.

Das Dossier kann auf der Homepage der SGB www.sgb.ch heruntergeladen werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/808884.kein-liberaler-arbeitsmarkt.html
Peter Nowak

Medizin ohne Kommerz


Europäische Organisationen fordern gemeinsam eine andere Gesundheitsversorgung
Verschiedene europäische Organisationen aus dem Gesundheitsbereich wollen sich künftig gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zusammentun.

»Die Organisation des Gesundheitswesens ist eine öffentliche Aufgabe. Als Gesundheitsprofessionelle sind wir damit betraut, die Krankheiten unserer Patienten zu diagnostizieren, zu behandeln und nach
Möglichkeit zu verhüten. Wir sollten diese Aufgabe ohne Ansehen der Person wahrnehmen.“ Diese Erklärung unterzeichneten 19 europäische Organisationen des Gesundheitspersonals, der Krankenschwestern, Ärzte und Studierender der Medizin. Sie ist Teil eines Manifests des eines europäischen Gesundheitsnetzwerkes, das gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens länderübergreifend aktiv werden will. Im Oktober Am 5. Oktober hat sich diese Kooperation erstmals praktisch bewährt. An diesem Tag beteiligten sich Vertreter der in dem Gesundheitsnetzwerk vertretenen Organisationen aus mehreren europäischen Ländern an einer Demonstration in Warschau, mit der die polnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen (OZZ PiP) unterstützt werden sollte, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung des europäischen Netzwerkes gespielt hat. Vor fünf hatte ein wochenlanger Streik der polnischen Krankenschwestern, die in Warschau Zelte, das sogenannte „Weiße Städtchen“ errichteten, wesentliche Impulse für die polnische Gewerkschaftsbewegung und die europaweite Zusammenarbeit gegeben. Im Anschluss an die Demonstration fand am 5. Oktober in Warschau ein Kongress des europäischen Gesundheitsnetzwerkes statt. Obwohl das Manifest von 7 Organisationen aus Deutschland unterzeichnet wurde, ist das Netzwerk hierzulande bisher noch kaum bekannt. Dazu gehört die Göttinger Basisgruppe Medizin, die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten und der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). „Wir merken, dass Ärztinnen und Ärzte in der Öffentlichkeit nach wie vor eine sehr hohe Akzeptanz haben und versuchen diese zu nutzen, um für eine bedarfsgerechte und sinnvolle medizinische Versorgung einzutreten, die nicht wieder nur den „Leistungserbringern“ und der Gesundheitsindustrie noch mehr Geld in die Taschen spült“, beschrieb die Leiterin der VdÄÄ-Geschäftsstelle Nadja Rakowitz die Pläne ihrer Organisation. Die europäische Vernetzung hat auch große Bedeutung, weil die gegenwärtige Krise unterschiedliche Folgen für das Gesundheitssystem der verschiedenen Länder hat. Besonders in der europäischen Peripherie, vor allem in Spanien und Griechenland, gibt es in einigen Städten Notlagen auf medizinischem Gebiet. In Deutschland hingegen ist in vielen Bereichen eine Überversorgung aus ökonomischen Gründen zu beobachten, betont Rakowitz. Als Beispiel führt sie überflüssige individuelle Gesundheitsleistungen im ambulanten Sektor, die vom Patienten selber bezahlt werden müssen, oder die medizinisch nicht erklärbaren Fallzahlensteigerungen bei Operationen in den Krankenhäusern an. Die Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals hingegen sind in allen europäischen Ländern zu beobachten. Dabei könnte das Gesundheitsnetzwerk eine zentrale Rolle bei einem europaweiten Widerstand bekommen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808686.medizin-ohne-kommerz.htm
Peter Nowak

Vor dem Vergessen gerettet


WIDERSTAND Ein Forschungsprojekt der Freien Universität dokumentiert die Biografien linker GewerkschafterInnen zur NS-Zeit

Seit 2006 erinnert der Name einer kleinen Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs an Ella Trebe. Die im Wedding geborene kommunistische Gewerkschafterin wurde am 11. August 1943 zusammen mit 14 weiteren NazigegnerInnen im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen. Ein Gedenkstein im Wedding, der an sie erinnerte, wurde in den 50er-Jahren wieder entfernt – man wollte im Kalten Krieg keine Kommunistin würdigen.

Ella Trebe teilte dieses Schicksal mit vielen antifaschistischen ArbeiterInnen, die sich schon gegen den Nationalsozialismus engagierten, als die heute gefeierten Männer des 20. Juli noch lange nicht an Widerstand dachten. ForscherInnen der „Arbeitsstelle Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik“ an der Freien Universität Berlin (FU) haben jetzt ein Buch veröffentlicht, das die Biografien von 58 kommunistischen GewerkschafterInnen aus Berlin dokumentiert.

Es ist der zweite Band eines umfangreichen Forschungsprojekts zum Thema „MetallgewerkschafterInnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“. Während der erste Band 82 Biografien aus dem sozialdemokratisch orientierten Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) versammelte, geht es nun um AktivistInnen des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB). Er bestand im Kern aus GewerkschafterInnen, die der DMV wegen kommunistischer Aktivitäten ausgeschlossen hatte, und wurde gegen Ende der Weimarer Republik zum Fokus der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Zu einer linken Massenbewegung konnte diese sich allerdings nie entwickeln, die KPD kritisierte die RGO-Politik schon bald als ultralinke Abweichung. Lange dominierte in der Forschung allerdings das Bild der RGO als einer von der KPD-Zentrale gesteuerten Kaderorganisation.

Konflikte mit der KPD

Das Buch zeichnet die unterschiedlichen Beweggründe für das Engagement in der linken Gewerkschaftsopposition nach. Viele der AktivistInnen waren schon während der Novemberrevolution von 1918 in linken Arbeiterräten aktiv und sahen in der RGO die Fortsetzung einer klassenkämpferischen Politik. Dabei gab es immer wieder Konflikte mit den KPD-FunktionärInnen. Auch in der DDR, wo viele der Porträtierten später lebten, war eine RGO-Vergangenheit nicht gerade karrierefördernd, wie an mehreren Beispielen belegt wird. Der Band füllt nicht nur eine Forschungslücke, sondern gibt den vergessenen WiderstandskämpferInnen aus der Arbeiterklasse ihre Biografie zurück.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2013%2F01%2F03%2Fa0174&cHash=f4f0b32f531368844553773bb17d4de4
Peter Nowak

Stefan Heinz, Siegfried Mielke (Hg.): Widerstand und Verfolgung“. Metropol Verlag, Berlin 2012, 304 Seiten, 19 Euro

Jakob Augstein und die regressive Israelkritik


Der Freitag-Herausgeber und Journalist wird vom Simon-Wiesenthal-Center unter den Top Ten „Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“ geführt

Jakob Augstein hat einen Karrieresprung hinter sich, auf den er wohl gerne verzichtet hätte. Er wurde vom Simon-Wiesenthal-Center vor einigen Tagen auf Platz 9 der 2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs – was mit „antiisraelischen Beschimpfungen“ übersetzt werden kann – gesetzt. Augstein teilt diese zweifelhafte Auszeichnung mit der in Ägypten aktuell herrschenden Regierungspartei, dem iranischen Regime, rechten Fußballfans und Politikern faschistischer Parteien aus Ungarn, der Ukraine und Griechenland.

Als Begründung für Augsteins Aufnahme in die antisemitische Top Ten führt das Simon-Wiesenthal-Zentrum mehrere Kolumnen auf SpiegelOnline an, in denen sich der Journalist mit Israel befasst. Besonders nachdem Günther Grass mit seinem antiisraelischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ für Aufsehen gesorgt hatte, bekam er von Augstein glühende Unterstützung. Der Kolumnist verschärfte die Israelkritik des Schriftstellers sogar noch:

„Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ‚Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.‘ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen.“

Die Simon-Wiesenthal-Stiftung hat darüber hinaus noch die folgende Passage aus Augsteins Kolumne als Begründung für die „Auszeichnung“ des Journalisten angeführt:

„Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.“

Alles nur Diffamierung?

Die Reaktion darauf beschränkt Augstein auf eine knappe Erklärung auf seiner Facebook-Seite:

„Das SWC ist eine wichtige, international anerkannte Einrichtung. Für die Auseinandersetzung mit dem und den Kampf gegen den Antisemitismus hat das SWC meinen ganzen Respekt. Umso betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird.“

Damit wiederholt Augstein nur etwas diplomatischer, was er bereits im Zusammenhang mit der Debatte um die Adorno-Preisverleihung an Judith Butler auf SpiegelOnline in einer Kolumne geschrieben hat. Der Beitrag liest sich schon deshalb wie eine Vorwegverteidigung in eigener Sache, weil Augstein darauf verweist, via Facebook als Antisemit bezeichnet worden zu sein.

„Jeder Kritiker Israels muss damit rechnen, als Antisemit beschimpft zu werden. Das ist ein gefährlicher Missbrauch des Begriffs. Im Schatten solch falscher Debatten blüht der echte Antisemitismus“, so Augsteins Vorwurf in dem Beitrag, in dem er den Freunden Israels vorwirft, mit dem Antisemitismusvorwurf vor allem politische Interessen zu verfolgen. Nun ist man gerade in Deutschland schnell mit der Denunzierung von Interessenvertretungen bei der Hand. Da werden immer hehre Werte vorgeschoben, die sich angeblich nicht damit in Übereinstimmung bringen lassen.

Kein Zweifel, viele derjenigen, die Augstein Antisemitismus vorwerfen, werden das Interesse haben, das Land Israel, manche auch die gegenwärtige Regierung, zu verteidigen. Dagegen kann man polemisieren und argumentieren, aber dieses Interesse sollte anerkannt und nicht per se denunziert werden. Gleichzeitig müsste auch die Frage gestellt werden, ob Augstein mit seiner Israelkritik nicht auch selbst Interessen verfolgt. Schließlich sollte man sich auch die Mühe machen, die Begründungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums für die Aufnahme in die Top Ten nachzuvollziehen.

Regressive Israelkritik

Tatsächlich muss die ganze Argumentation Augsteins in seiner Grass-Verteidigung verwundern. Schließlich ist der Schriftsteller vielleicht der bekannteste, aber bei weiten nicht der erste Deutsche mit der Mitgliedschaft in einer NS-Organisation, der sich besonders für befähigt hält, Israel zu kritisieren. Zudem kann man an vielen Passagen in Augsteins Beitrag deutlich machen, wie eine Kritik an der israelischen Regierung, die so legitim ist wie die Kritik an jeder anderen Regierung dieser Welt, umschlägt in eine regressive Israelkritik, deren Abgrenzung zu antisemitischen Bildern oft sehr dünn ist.

Wenn Augstein schreibt, dass die israelische Regierung die ganze Welt am Gängelband führt, müsste ihm bewusst sein, dass man daraus das Bild von der jüdischen Weltgefahr herauslesen kann. Wenn er dann auch noch von „jüdischen Lobbygruppen“ in den USA spricht, die angeblich dafür verantwortlich sind, dass die USA so fest auf Seiten Israels steht, bedient er ebensolche Klischees.

Natürlich gibt es israelische Lobbygruppen in den USA, die aber längst nicht alle jüdisch sind. Dafür kritisieren viele jüdische Organisationen die gegenwärtige israelische Politik. Auch wenn Augstein den Gazastreifen als ein Lager bezeichnet, in dem Israel „seine Gegner ausbrütet“, eine Wortwahl, die das Simon-Wiesenthal-Center moniert, unterschlägt er vollständig die Rolle der islamistischen Gruppen wie der Hamas, die den Gazastreifen beherrschen. Die palästinensischen Bewohner werden allein als Opfer der israelischen Politik betrachtet.

Es ist in den letzten Jahrzehnten einiges publiziert worden über den Unterschied zwischen der Kritik an der israelischen Regierungspolitik und antiisraelischen Ressentiments. Die bisherigen Beiträge von Augstein und seiner Unterstützer lassen nicht erkennen, dass sich der Publizist und seine Verteidiger die Mühe gemacht haben, sich damit auseinander zu setzen.

Vielleicht wäre eine solche Debatte einfacher, wenn auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum mehr differenzieren würde. Denn in eine Reihe mit dem iranischen Regime sowie europäischen Faschisten gehört Augstein nun wirklich nicht. Warum führt das Simon-Wiesenthal-Zentrum nicht eine eigene Liste ein, auf der ausschließlich regressive Israelkritik bewertet wird? Die kann ja durchaus von offen antisemitischen Positionen unterschieden werden, wie sie bei mehreren der Organisationen und Personen zu finden ist, die mit Augstein auf der Liste stehen. Damit würde das SWZ auch einen wichtigen Beitrag für eine solche Debatte leisten und es den Kritikern schwerer machen.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153463
Peter Nowak

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Replik auf diesen Artikel in der jungen Welt

http://www.jungewelt.de/2013/01-05/003.php


Der Schwarze Kanal: Schleichende Aggression
Von Werner Pirker

Das von den Zionisten und ihren Claqueuren angestimmte Antisemitismusgeschrei sprengt alle Maßstäbe der Vernunft und des Anstandes. So hat das Simon-Wiesenthal-Center (SWC) den Freitag-Herausgeber und Spiegel-Kolumnisten Jakob Augstein unter den „2012 Top Ten Antisemitic/Anti Israel Slurs“ an neunter Stelle gereiht. Israel-Kritik mit Antisemitismus gleichzusetzen und damit eigentlich zu kriminalisieren, ist eine unter den (falschen) Freunden Israels bereits bestens eingespielte Verleumdungsmethode. Obwohl es dann immer wieder heißt, daß Kritik an Israel natürlich gestattet sei und nirgendwo mehr Kritik an der israelischen Politik geübt werde als in Israel selbst. Zum Beispiel, wenn ein Angriffskrieg nicht so erfolgreich verlaufen ist, wie man sich das vorgestellt hatte.

Augstein hat die Politik der gegenwärtigen israelischen Rechtsregierung kritisiert. Nicht Israel und auch nicht den Zionismus. Das SWC wirft ihm unter anderem vor, Günter Grass, der mit seinem Israel-Gedicht ein mediales Beben ausgelöst hatte, verteidigt zu haben. Und nachdem Grass, dessen Kritik sich ausschließlich auf die friedensgefährdende Politik der Netanjahu-Regierung bezog, von der veröffentlichten Meinung in Israel und Deutschland des »Antisemitismus« überführt war, meinen Wiesenthals Erben nun auch Augsteins Parteinahme für den Dichter als »antisemitisch« verurteilen zu dürfen.

Das wollte das Gros der deutschen Journalistenschar so nicht nachvollziehen. Mit wenigen Ausnahmen, darunter ein gewisser Peter Nowak. »Einer muß der Nowak sein«, lautet ein Wiener Sprichwort. Der Mitarbeiter halblinker und pseudolinker Zeitungen, darunter Neues Deutschland, taz und Freitag, stellt im Internet-Portal Telepolis die Frage »Alles nur Diffamierung?« Und bemüht sich, diese »objektiv« zu beantworten. Die offene Auseinandersetzung ist Nowaks Sache aber nicht. Er schleicht sich lieber von hinten ran.

Der Telepolis-Autor stößt sich nicht nur daran, daß Grass von Augstein »glühende Unterstützung« erhielt. »Der Kolumnist verschärfte die Israel-Kritik sogar noch«, empört er sich. Wo die Grenzen der Israel-Kritik zu liegen haben, bestimmen Leute wie Henryk M. Broder – vom SWC als weltweit anerkannter Antisemitismusexperte gewürdigt – und dessen rechtsextreme und antideutsche (sofern es da überhaupt noch einen Unterschied macht) Kohorten. Und natürlich auch der Herr Nowak. Verschärfte Israel-Kritik gerät bei ihm zum Straftatbestand. Zur Erklärung des Kolumnisten: »Umso betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf (gegen den Antisemitismus; W. P.) geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird«, weiß Nowak, daß dieser Ähnliches schon bei der Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler gesagt habe. »Der Beitrag liest sich schon deshalb wie eine Vorwegverteidigung in eigener Sache, weil Augstein darauf verweist, via Facebook als Antisemit bezeichnet worden zu sein.«

Damit begibt sich Peter Nowak auf eine ganz perfide Argumentationsschiene. Zwar sieht sich Kritik an Israel, ja sogar Kritik an der aktuellen Politik der rechtsextremen Regierungskoalition sofort des Antisemitismusverdachtes ausgesetzt. Diese Tatsache zu benennen gilt aber als besonders schwerer Fall von Antisemitismus. So wie das auch Grass ergangen ist, der sich in seiner Befürchtung dann voll bestätigt sah. Und wie das Nowak gegenüber Augstein handhabt. Dessen Bemerkung, daß mit dem Antisemitismusvorwurf politische Ziele verfolgt werden, stellt sich für ihn selbstredend als antisemitische Verschwörungstheorie dar. Obwohl es offenkundig ist, daß der Antisemitismusvorwurf politisch dazu instrumentalisiert wird, alle Vorwürfe gegen Israel niederzubügeln und er sich auch selbst dieser Methode bedient.

Bei Augstein könne man beobachten, schreibt der Autor, wie »legitime Kritik an der israelischen Regierung« in »regressive Israelkritik« umschlage. Als Beispiel führt er an: »Wenn Augstein schreibt, daß die israelische Regierung die ganze Welt am Gängelband führt, müßte ihm bewußt sein, daß man daraus das Bild von der jüdischen Weltgefahr herauslesen kann.« Die antisemitischen Klischees, die die Nowaks beklagen, sind ihre eigenen. Tatsache ist, daß die Netanjahu/Lieberman-Regierung sogar die vom Westen favorisierte Zweistaatenlösung mittlerweile unmöglich gemacht hat. Und daß der Westen trotzdem seinem wichtigsten Vorposten in Nahost die Treue hält. Ebenso unbeirrbar wirft Nowak den Gegnern dieser Politik vor, zwischen Kritik an der israelischen Regierung und »antiisraelischem Ressentiment« nicht unterscheiden zu können. Doch der das nicht kann, ist er selbst.

Beim Recht alleingelassen?

Bernhard Jirku / ver.di-Bereichsleiter für Arbeitsmarkt- und Erwerbslosenpolitik

nd: Herr Jirku, die Gewerkschaft ver.di hat eine Unterschriftenkampagne gegen einen Gesetzentwurf zur Beratungs- und Prozesskostenhilfe begonnen. Warum?Jirku: Der Gesetzesentwurf des FDP-geführten Justizministeriums würde den Zugang zur Beratungs- und Prozesskostenhilfe für die unteren Einkommensschichten verbarrikadieren. Dabei sind die Fallzahlen seit Jahren relativ stabil, Tendenz sinkend, obwohl die Einkommen in den unteren Schichten schrumpfen, also eigentlich eher mehr als weniger Bedarf für Rechtshilfen besteht.

2.) Sie sehen noch weitere Konsequenzen?
Antwort: Untersuchungen haben gezeigt, dass der überwiegende Teil der Beratungs- und Prozesshilfe nicht im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts sondern beim Familienrecht notwendig wird. Dabei geht es beispielsweise um das Sorgerecht für die Kinder, um die Zahlung von Alimenten und so weiter. Eine Einschränkung des Zugangs zur Beratungs- und Prozesshilfe würde also bedeuten, dass der Rechtsweg für sehr viele Familien praktisch weitgehend verschlossen würde, viele in die Verschuldung gedrückt würden. Wir sehen darin eine abermalige Benachteiligung insbesondere für Frauen und Kinder.

3.) Warum interveniert verdi in diesem Bereich und nicht eine Erwerbsloseninitiative?
Antwort: Die Absenkung des Schwellenwertes für den Zugang zur Beratungs- und Prozesskostenhilfe um nahezu 100 Euro und die Verkomplizierung von Verfahren betrifft vor allem die Erwerbstätigen mit Niedriglöhnen und auch solche, die ihren Lohn durch Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. Bei dem in Deutschland boomenden Hungerlohnsektor sind sehr viele Menschen betroffen. Das sind Mini-Jobberinnen ebenso wie Schein-Selbstständige, Leiharbeiter ebenso wie befristet Beschäftigte. Es trifft auch Familien, die auf den Kindergeldzuschlag angewiesen sind, und zahlreiche Kinder, deren Eltern mittlere Einkommen haben.

4.) Müsste bei einem solch großen Kreis der Betroffenen der Protest nicht größer sein?
Antwort: Es haben sich bereits viele Sozial- und Erwerbslosenverbände, aber auch Juristenorganisationen in ihren Stellungnahmen klar gegen die Pläne der schwarz-gelben Bundesregierung ausgesprochen. Auch viele Frauenverbände setzen sich mit dem Thema auseinander, gerade wegen der Barrieren für den Zugang zur Rechtspflege im Bereich des Familien-, Scheidungs-, Sorge- und Unterhaltsrechts.

5.) Aber auch nach der geplanten Regelung kann doch weiterhin Beratungs- und Prozesskostenhilfe beantragt werden.
Antwort: Die Betroffenen müssen dazu zum Rechtspfleger im Gericht gehen, der den Vorgaben der jeweiligen Landesjustizverwaltung unterliegt. Dort werden Barrieren aufgebaut und am Ende wird mit Kennziffern gearbeitet, mit denen die Zahl der Betroffenen gesenkt werden soll.

6.) Sind von verdi neben der Unterschriftensammlung weitere Proteste gegen den Gesetzentwurf geplant?
Antwort: Zunächst konzentrieren wir uns auf die Unterschriftenaktion. Sie soll über den Anhörungstermin im Bundestag, der ursprünglich für Februar 2013 angesetzt war, weiterlaufen. Das Ziel unserer Kampagne ist es, eine öffentliche Debatte anzuregen und deutlich zu machen, dass die Bundesregierung Menschen mit geringen Einkommen auch weiterhin stark benachteiligen will. Die Unterschriftenlisten können übrigens über unter http://erwerbslose.verdi.de/aktuelles_aktionen/beratungs-prozesskostenhilfe ausgedruckt werden.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808516.beim-recht-alleingelassen.html
Interview: Peter Nowak