KIEZ Der Nachbarschaftsladen A6 in der Kreuzberger Adalbertstraße muss schließen. Eigentümer klagte
Die MieterInnen der Adalbertstraße 6 erwarten in den nächsten Tagen Besuch vom Gerichtsvollzieher. Er soll im Auftrag der T. Akar Hausverwaltung die Erdgeschosswohnung des Hauses übernehmen. Dort befand sich mehrere Jahre ein Nachbarschaftsladen, in dem Stadteilinitiativen zu Treffen und Partys einluden. Die MieterInnen haben einen langen Rechtsstreit um den Bestand ihres Ladens verloren.
Mit der Gewerbesiedlungs-Gesellschaft GSG wurden Mitte der 80er Jahre in dem ehemals besetzten Haus nicht nur Etagenmietverträge abgeschlossen. Man handelte zudem Vereinbarungen über die gemeinschaftliche Hausreinigung, über die Hofbegrünung und außerdem über die Nutzung der Erdgeschosswohnung als Nachbarschaftsladen aus. Doch im Jahr 2005 ging die Adalbertstraße 6 in den Besitz der T. Akar Hausverwaltung über, der in Kreuzberg bereits zahlreiche Mietshäuser gehören.
Seitdem gab es Konflikte mit den MieterInnen, für deren Vorstellungen von gemeinschaftlichem Wohnen die neuen Gesellschafter offenbar wenig Verständnis hatten. „Akar und Hasan Durak haben uns gegenüber deutlich gemacht, das sie jetzt bestimmen, was im Haus geschieht“, erinnert sich Bewohner Jörg Pleha. So seien die Hofbegrünung und die Kompostanlage zerstört und auch der Zugang zum Dach gesperrt worden. Darüber hinaus sei den MieterInnen die Nutzung des Nachbarschaftsladens untersagt worden.
Anfangs Erfolg vor Gericht
Dagegen zogen die MieterInnen mit Verweis auf die mit der GSG geschlossenen Verträge vor Gericht und hatten zunächst Erfolg. In letzter Instanz gab das Berliner Landgericht nun aber den Eigentümern mit der Begründung recht, es habe sich bei der Vereinbarung zwischen der GSG und den BewohnerInnen um einen leicht kündbaren Gewerbevertrag gehandelt. Gegen die Entscheidung ist keine Berufung möglich.
Die BewohnerInnen befürchten auch in Zukunft weitere Konflikte mit den Eigentümern. In der Vergangenheit sei es mit Unterstützung von MieterInnenorganisationen gelungen, mehrere Abmahnungen und Mieterhöhungen als unwirksam zurückzuweisen.
Von der T. Akar Hausverwaltung wollte sich gegenüber der taz niemand zu den Vorwürfen äußern.
Niederlage der Sozialdemokraten, Erfolg für Rechtspopulisten. Die Wahlen zum schwedischen Reichstag lagen im europäischen Trend
Schwedens bürgerliche Koalition bleibt in Schweden an der Regierung, hat aber die absolute Mehrheit verfehlt. Die bürgerliche Koalition des bisherigen Ministerpräsidenten Fredrik Reinfeldt, bestehend aus der konservativen, der christdemokratischen, der liberalen Volkspartei und dem Zentrum, erhielt bei den gestrigen Wahlen zum Reichstag 173 Sitze, die aus Sozialdemokraten, Grünen und Linkspartei bestehende Opposition bekam 156 Sitze. 20 Sitze fielen an die Schwedendemokraten.
Diese Partei hatte in den letzten Jahren eine Wandlung durchgemacht. Aus einer offen mit Neonazis paktierenden Gruppierung wurden Rechtspopulisten, die mit ihren wegen Rassismus nicht ausgestrahlten, aber im Internet häufig abgerufenen Wahlkampfvideo die Diskussion beherrschte . Der offene Antisemitismus früherer Jahre wurde zurückgestellt, dafür wurde der Antiislamismus zum zentralen Wahlthema, das der Partei den Sprung über die in Schweden gültige Vierprozenthürde verschaffte.
Damit gelang den Schwedendemokraten ähnlich wie Vlaams Belang in Belgien die Umwandlung von einer extremen Rechtspartei in eine rechtspopulistische Gruppierung, die eine bürgerliche Minderheitsregierung tolerieren und damit offen Einfluss auf die Politik nehmen könnte. In Dänemark regiert eine solche von Rechtspopulisten tolerierte bürgerliche Koalition schon mehrere Jahre.
Wegen der Geschichte der Schwedendemokraten ist es allerdings eher unwahrscheinlich, dass sich die bürgerliche Koalition von dieser Partei unterstützen lässt. Beobachter rechnen eher damit, dass das Oppositionslager zerfällt und die Sozialdemokraten Reinfeldt als Premierminister unterstützen.
Sozialdemokratischer Absturz
Die Sozialdemokraten haben mit 30,8 Prozent der Wählerstimmen das schlechteste Ergebnis seit hundert Jahren erzielt und nur knapp ihre Position als stärkste Partei vor den Konservativen behaupten können. Wenn man bedenkt, dass der schwedische Wohlfahrtsstaat lange Jahre untrennbar mit der Sozialdemokratie verbunden war, die in Schweden lange Zeit absolute Mehrheiten erzielte, wird die Dimension der Niederlage deutlicher.
Das Wahlbündnis mit Grünen und Linken hat sich für sie nicht ausgezahlt. Die Synthese von sozialdemokratischen und ökologischen Konzepten, die in diesem Wahlbündnis angestrebt wurde, fand an der Wahlurne keine Bestätigung. In der Krise fürchtet sich die sozialdemokratische Arbeiterwählerschaft vor ökologischen Experimenten und wandert ins konservative oder sogar ins rechtspopulistische Lager ab. Bei den schwedischen Wahlen wurden also Tendenzen deutlich, die in vielen anderen europäischen Ländern vergleichbar sind. http://www.heise.de/tp/blogs/8/148409
Peter Nowak
Von einem historischen Moment sprach ver.di-Bereichsleiter Verkehr Ehrhard Ott am vergangenen Mittwoch in Berlin. Dort hatten sich über 270 Betriebsräte aus der ganzen Republik mit Vertretern der Luftverkehrsunternehmerverbände getroffen, um beim Bundeskanzleramt eine Protestnote gegen die vom Kabinett beschlossene Luftverkehrssteuer abzugeben. Während Gewerkschaften und Unternehmer vor Wettbewerbsnachteilen und Arbeitsplatzverlust warnen, hätten sich viele Umweltverbände eine höhere Luftverkehrssteuer gewünscht. Je mehr CO2 ausgestoßen wird, desto höher sollte nach den Vorstellungen von Greenpeace die Abgabe ausfallen. Die Umweltverbände kritisieren zudem, dass die Steuer zum Stopfen von Haushaltslöchern genutzt wird und nicht ökologischen Belangen zugute kommen soll.
Ökologische Aspekte sucht man auch in den Stellungnahmen von ver.di vergeblich. Ein Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und Unternehmern für die Rettung von Arbeitsplätzen ist nicht neu. Man braucht sich nur an gemeinsame Aktionen für den Erhalt von Atom- oder Kohlekraftwerken erinnern. Man hätte allerdings gedacht, dass sich ver.di mittlerweile Umweltgesichtspunkten nicht mehr so verschließt.
Manche Bündnispartner aus den sozialen Bewegungen, mit denen ver.di in den letzten Jahren öfter in Bündnissen kooperiere, haben allerdings schon nach dem Europäischen Sozialforum in Istanbul enttäuscht festgestellt, dass die Gewerkschaften dort jegliche Kritik am Wirtschaftswachstum abgebügelt haben.
Dabei könnte sich ver.di dafür einsetzen, dass die Bahn als Alternative zu den Inlandsflügen ausgebaut und attraktiver gemacht wird. Auch dadurch würden Arbeitsplätze geschaffen.
Eine solche gewerkschaftliche Orientierung hätte das Prädikat historisch tatsächlich verdient. Ein Schulterschluss mit den Unternehmern zum vermeintlichen Erhalt von Arbeitsplätzen ohne Rücksicht auf die Umwelt hingegen ist nur als vorgestrig zu bezeichnen.
Längst diskutieren Politik und Kunst über die Frage, ob und wie sich die Menschen dem Klimawandel anpassen können
Anfang September 2010 fand in Dessau eine vom Wetterdienst und Bundesumweltamt organisierte Konferenz unter dem Titel „Forschung des Bundes zur Anpassung an den Klimawandel“ statt. Schon wird heftig über die verschiedenen Anpassungsmaßnahmen und die Prioritäten gestritten. Denn die Liste der Maßnahmen ist lang und nicht gerade billig.
Sie beginnt bei der Neujustierung von Klimaanlagen in ICE, damit die nicht gerade dann ausfallen, wenn sie am Dringendsten gebraucht werden. Auch die Folgen des Klimawandels für die Versicherungswirtschaft spielen bei der Debatte über die Anpassungsmaßnahmen eine wichtige Rolle. Denn in Gegenden, in denen das Hochwasser oder der Wirbelsturm immer häufiger zuschlagen, wird es für die Betroffenen immer schwerer, sich versichern zu lassen.
Fast jedes Wochenende wird irgendwo in Deutschland über Anpassungsstrategien auf den Klimawandel debattiert. Am 13. September ging es in München um die Folgen des Klimawandels für die kommunalen Wassersysteme.
Anpassung oder Vermeidung?
Fast könnte man denken, der Diskurs über die Anpassung an den Klimawandel hat die Diskussion darüber verdrängt, wie sich ein weiterer Klimawandel vermeiden lässt. Weil es dazu schon zu spät ist? Oder weil sich auch in der Debatte ein technokratischer Ansatz durchsetzt, der davon ausgeht, dass die technischen Möglichkeiten so groß sind, dass die Menschen auch den Klimawandel in den Griff bekommen. Debatten über die Änderung der Wirtschafts- und Lebensweise wären dann wieder in Randbereiche abgedrängt.
Einer solchen technokratischen Sichtweise widerspricht das Kompetenzzentrum Klimafolgen und Anpassung, das als Ansprechpartner für die Anpassungsprozesse fungiert, auf seiner Homepage. Dort heißt es:
——————————————————————————–
Treibhausgase, die jetzt in der Atmosphäre sind, beeinflussen das Klima der nächsten Jahrzehnte. Sich auf diese Veränderungen vorzubereiten heißt: rechtzeitig und aktiv auf Klimaänderungen zu reagieren, die bereits nicht mehr vermeidbar sind. Gleichzeitig muss der Klimaschutz zügig voranschreiten. Denn Anpassung ist nur in dem Maße hilfreich, wie man gleichzeitig die Anpassungszwänge nicht weiter wachsen lässt; also heißt die Maxime zügig den Ausstoß der Treibhausgase zu mindern und uns zugleich an die Folgen des Klimawandels anzupassen.
Trotz dieser Klarstellung vermittelt ein Sparziergang durch die Homepage des Kompetenzzentrums den Eindruck, dass beim Klimawandel, wenn schon nicht auf die Technik so doch auf die Regelung von Staat und Behörden vertraut werden kann. Das liegt allerdings auch an der Aufgabenstellung. Da werden detailliert Vorschläge für Alternativen in der Tourismusbranche unterbreitet, wenn witterungsbedingt Skigebieten oder Kurorten das Publikum abhanden kommt. Über die Millionen Menschen, die witterungsbedingt in ihren Heimatorten nicht mehr leben können, erfährt man dagegen auf der Homepage nichts, weil die in der Regel im globalen Süden leben und weil darauf vertraut wird, dass ein immer effektiveres Grenzregime schon verhindern wird, dass sie in den EU-Raum gelangen.
Zur Nachahmung empfohlen?
Wer sich den globalen Realitäten des Klimawandels stellt, sollte sich eher der Kunst als der Politik widmen. So findet der Besucher auf der Ausstellung Zur Nachahmung empfohlen, die zurzeit in Berlin zu sehen ist, neben viel Ökokitsch auch mancher Einbruch in die Realität. So vermitteln die Zelte, die der Aktionskünstler Hermann Josef Hack auf dem Ausstellungsgelände präsentiert, einen Eindruck von den Klimaflüchtlingen, die aktuell in Pakistan und anderen Ländern darin leben müssen. Hier wird zumindest angedeutet, dass Klimaanpassung mehr sein muss, als nur die Umstellung der Kaufgewohnheiten und neue Tourismusangebote.
Wer ist drin und wer bleibt draußen?
Ganz ohne Wohlfühlfaktor kam eine Ausstellung in Hamburg aus, die ebenso wie die Berliner Exposition von der Kulturstiftung des Bundes gefördert wurde. Schon der Titel Klimakapseln, Überlebensbedingungen in der Katastrophe, machte das deutlich. Die Ausstellung basiert auf dem von Friedrich von Borries herausgegebenen Buch Klimakapseln.
Dort wurden verschiedene zeltähnliche Gebilde präsentiert, die den Menschen vor einem durch den Klimawandel lebensfeindlich gewordenen Planeten Erde schützen soll. In der Kapsel, die auch die Form eines Ganzkörperanzugs haben kann, wird die Nahrungs- und Sauerstoffzufuhr komplett geregelt. Ein kleiner Defekt kann zum Tode führen. Die Ähnlichkeit mit einem für Astronauten konzipierten Raumanzug ist kein Zufall. Tatsächlich wird bei den Modellen an futuristische Konzepte der späten 1960er und frühen 1970er Jahren angeknüpft.
Nur der Kontext hat sich geändert. Träumten damals fortschrittsgläubige Wissenschaftler davon, das Weltall von einer durch die Technik prosperierenden Erde aus kolonisieren zu können, dienen die Kapseln in der Hamburger Ausstellung als Fluchtort von einer Erde, die durch den Klimawandel unbewohnbar geworden ist. Nach dieser Horrorvision könnten einige wenige, die es sich leisten können, in einer Art kosmischer Arche Noah die Katastrophe zumindest für kurze Zeit überleben. Wie nah Vision und Realität in der Ausstellung beieinander liegen, zeigt die Arbeit ParaSite von Michael Rakowitz.
Dabei handelt es sich um ein Zelt für Obdachlose, das in der Nähe der Häuser der Sesshaften aufgespannt und von der dort erzeugten warmen Abluft aufgeblasen wird. Rakowitz hat diese Zelte entwickelt, nachdem in seiner kanadischen Heimatstadt die U-Bahnschächte umgestaltet wurden, so dass Obdachlose dort nicht mehr Zuflucht vor der Witterung nehmen konnten. „Wollen wir so leben?“, lautete die Frage, die sich der Besucher am Ende der Ausstellung stellen konnte.
„Wer darf überhaupt so leben?“, heißt die Frage, die auf der gesamten Ausstellung immer mitschwang. Denn dass die Klimakapsel keine Lösung für die Menschheit sondern für eine kleine Elite, wäre, ist völlig klar. Wer in der Kapsel darf und wer draußen bleiben muss, könnte dann aber über Leben oder Tod entscheiden. Die Ausstellung ist in diesen Sinne völlig realistisch. Denn auch heute ist der Klimawandel schon eine Frage des Ein- oder Ausschlusses. Während ein alpiner Bewohner sich über veränderte Tourismuskonzepte informieren kann, muss ein Pakistani froh sein, wenn er ein Zelt zum Überleben findet.
Weil im Streit zwischen dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und den BewohnerInnen des Hinterhauses der Reichenberger Straße 63a eine außergerichtliche Einigung nicht möglich scheint, wird das Berliner Landgericht das letzte Wort haben.
Die BewohnerInnen sehen nicht ein, warum sie einen für sie günstigen Vertrag neu verhandeln sollen, der 1990 mit dem Bezirksamt geschlossen wurde und bis 2020 gilt. Das Bezirksamt vertritt den Standpunkt, diese Befristung hätte ein Mitarbeiter, der dazu gar nicht berechtigt gewesen sei, handschriftlich in den Vertrag eingefügt, und fordert eine Neuverhandlung.
Dahinter stecken finanzielle Gründe. Während das Bezirksamt mit den BewohnerInnen einen niedrigen Mietzins vereinbart hat, sieht der Vertrag mit den HauseigentümerInnen, der Immobilienfirma Heymann und Kreuels (H&K), die Zahlung der ortsüblichen Miete vor. Die Differenz trägt das Bezirksamt. Der Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) sieht darin „eine nicht mehr zu rechtfertigende Subventionierung“.
„Wir sehen keinen Grund, auf dieses Angebot einzugehen, weil wir uns weder einen Kündigungstermin setzen noch die Miete erhöhen werden“, begründet Bewohnerin Julia Plöger die Ablehnung des Angebots. Den BewohnerInnen gehe es um den langfristigen Erhalt des Wohnprojekts, in dem auch Menschen mit geringen Einkommen leben. Das wäre aber durch höhere Mieten und eine kürzere Laufzeit des Vertrags gefährdet.
Wenn es bis Ende September zu keiner Einigung kommt, muss das Landgericht entscheiden. „Sollte es sich die Version der BewohnerInnen zu eigen machen, werden wir das selbstverständlich akzeptieren. Aber dann haben wir Rechtssicherheit“, erklärt Franz Schulz der taz. Er fürchtet, dass der Landesrechnungshof wegen der Mietzahlungen an die Eigentümer intervenieren könnte. Mit einem gültigen Gerichtsentscheid könne er dem gelassen entgegensehen.
Die BewohnerInnen sehen sich unterdessen nach anderen BündnispartnerInnen um. „Wir sehen unsere Auseinandersetzung mit dem Bezirksamt als Teil eines gemeinsamen Kampfes gegen steigende Mieten und profitorientierte Immobilienpolitik“, betont Plöger. Sie fände es auch gut, wenn sich BezirkspolitikerInnen gegen Mietsteigerungen einsetzen, ist aber pessimistisch. „Leider nehmen wir in unserem Fall das Bezirksamt eher als Erfüllungsgehilfen bei der Verdrängung wahr.“
Der Hamburger Politikwissenschaftler Helge Buttkereit analysiert in seinem Buch „Utopische Realpolitik – Die Neue Linke in Lateinamerika“ die Entwicklungen in Bolivien, Venezuela, Ecuador und die zapatistische Bewegung in Südmexiko. Dabei stellt er vor allem die Gemeinsamkeiten heraus und versucht, diese Entwicklungen auf die hiesigen Verhältnisse rückzukoppeln. Seine Auswahl begründet der Autor schlüssig: Er wolle einen „Schwerpunkt auf die Bewegungen legen, die konkret über das derzeit möglich erscheinende hinaus orientiert sind, die also eine mehrheitsfähige utopische Realpolitik betreiben.“ Anders als in Brasilien, Chile und Uruguay erkennt er in den von ihm behandelten Ländern grundlegende Transformationsprozesse. Als Beispiel nennt er die Einberufung von Verfassungsgebenden Versammlungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela, die bisher ausgeschlossene Bevölkerungsteile wie die Indigenen oder die BarriobewohnerInnen einbeziehen. Dabei setzt er sich im Fall Venezuela durchaus kritisch mit dem Chavez-Kult auseinander, ohne die eigenständige Organisierung an der Basis zu vernachlässigen. Anders als andere linke Lateinamerikaspezialisten sieht Buttkereit in der zapatistischen Bewegung keinen fundamentalen Gegensatz zu den Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Im ersten Kapitel versucht er, über das Konzept der revolutionären Realpolitik einen Brückenschlag zwischen der Linken in Lateinamerika und den sozialen Bewegungen in Europa herzustellen. Allerdings bleibt sein Konzept einer Neuen Linken, das er von einer Realpolitik wie bei der Linkspartei abgrenzt, recht vage. Die Stärken des Buches liegen da, wo Buttkereit politische und soziale Prozesse in Lateinamerika mit Sympathie analysiert, ohne die kritischen Punkte auszublenden.
Peter Nowak
Helge Buttkereit: Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika. Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2010, 162 Seiten, 16,90 EUR
SOZIALES Erwerbslose und Stadtteilinitiativen planen Aktionen gegen Sparpolitik und Umstrukturierung
„Am 1. 10. 2010 geht es los“, heißt es im Aufruf zu den Berliner Aktionstagen. Bis zum 10.Oktober soll dann mit dezentralen Aktionen in Berlin gegen Sparpolitik und Stadtumstrukturierung protestiert werden. Stadtteilinitiativen, Erwerbslosengruppen und soziale AktivistInnen wollen in diesen Tagen ihre Themen bündeln. Im Aufruf werden ausdrücklich „alle Unzufriedenen und Überflüssigen“ angesprochen, die sich von Parteien und Gewerkschaften nicht vertreten fühlen.
Die Herbstaktionstage starten am 1. Oktober mit dem Aufbau eines Temporären Sozialen Zentrums vor dem Neuköllner Jobcenter. Dort sollen Erwerbslose nicht nur Tipps im Umgang mit ihren FallmanagerInnen erhalten. Auf Wunsch werden sie auch auf das Amt begleitet. „Das ist eine große Unterstützung für Menschen, denen Geld verweigert wird oder die auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten“, sagt Erwerbslosenaktivistin Elke Wießler der taz. Am 4. Oktober wollen die AktivistInnen ab 11 Uhr mit einem Umsonstbüffet auf dem Weddinger Leopoldplatz der Kommerzialisierung des städtischen Raums entgegentreten.
Während solche Aktionen in den vergangenen Jahren öfter stattfanden, soll am 10. Oktober mit einer politischen Wohnungsbesichtigung eine in Berlin recht neue Aktionsform erprobt werden. Die AktivistInnen wollen sich in die Schlange von InteressentInnen an teuren Loft einreihen und ein politisches Happening organisieren. Weitere Themen der Aktionstage sind der kostenlose öffentliche Nahverkehr und der Kampf um die kostenlose Bildung. Doch die Liste wächst noch. PETER NOWAK
Interessierte können auf der moderierten Kampagnenhomepage berlinonsale.blogsport.de weitere Aktionen anmelden
Im Vorfeld der diesjährigen „Freiheit statt Angst“-Demo startete eine Initiative eine virtuelle Schnitzeljagd auf der Website des BKA
127 Organisationen rufen zu der diesjährigen Demonstration Freiheit statt Angst auf, die sich gegen den Überwachungswahn in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft wendet. Sie beginnt am 11. September um 13 Uhr auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Die gesellschaftliche Breite zeigt sich an den Spektrum der Redner auf der Auftaktkundgebung. Dort werden padeluun vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die Netzaktivistin Anne Roth, der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske (Rena Tangens vom FoeBuD e.V. und Martin Grauduszus von der Freien Ärzteschaft sprechen.
Auf einer Pressekonferenz am 9.September in Berlin betonten die Organisatoren, dass ihre Datenschutzbewegung schon Erfolge gezeigt habe. So könnte die Vorratsdatenspeicherung in der von der Regierung geplanten Form nicht in Kraft treten, die Internetsperren für pornografische Inhalte wurden zurück gestellt und auch der elektronische Datennachweis Elena steht in der Kritik. Allerdings befürchten Beobachter, dass die Datenschützer Opfer ihres eigenen Erfolgs werden könnten. Weil plakative Projekte und einfache Feindbilder wie der ehemalige Bundesinnenminister Schäuble in diesem Jahr nicht zur Verfügung stehen, könnte die Demonstration kleiner als in den Vorjahren werden, so die Befürchtung.
Die Demoorganisatoren betonten daher auf der Pressekonferenz die Notwendigkeit, weiter für den Datenschutz auf die Straße zu gehen. So wies Rechtsanwalt Meinhard Starostik darauf hin, dass das Thema Vorratsdatenspeicherung auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aktuell bleibt. Die Regierung könnte erneut eine Regelung ausarbeiten, gegen die wieder geklagt werden müsste.
Schnitzeljagd auf BKA-Homepage
Eine Datenschutzinitiative protestierte schon im Vorfeld der Demo gegen Überwachung und Kontrolle im öffentlichen Raum. Am 9. September starteten sie eine Schnitzeljagd auf der Homepage des BKA. Als Anreiz für die Suche haben die Aktivisten elf Fragen ausgearbeitet, die die Besucher bei der virtuellen Schnitzeljagd lösen sollen.
So sollte bei der Internetsuche unter anderem eruiert werden, an welchem Ort BKA-Direktor Jürgen Stock 1993 sein Rechtsreferendariat absolvierte und wann der BKA-Vize Jürgen Maurer seinen Dienst antrat. Jens Plath, der den virtuellen BKA-Besuch mit vorbereitete, erklärt im Gespräch mit Telepolis, das BKA sei ausgesucht worden, weil es eine Schnittstelle der europäischen Sicherheitsarchitektur ist und auch für europäische Datensammlungen verantwortlich ist, die für die Betroffenen oft gravierende Folgen haben können. Plath setzt sich für eine für eine alltägliche kritische Beobachtung der Onlinepräsenz von Organisationen wie dem BKA ein. Dafür soll auch auf der „Freiheit statt Angst“-Demonstration am Samstag geworben werden.
Überschwemmungen, Hitzewellen und Stürme in vielen Teilen der Welt sind Symptome des globalen Klimawandels. Diese Ansicht verbreiteten der Deutsche Wetterdienst (DWD) und das Umweltbundesamt zur Eröffnung einer gemeinsamen Fachtagung in Dessau, der die Anpassung an den Klimawandel in Deutschland zum Thema hatte.
Die Prognosen der Organisationen sind eindeutig.
„Die Jahresdurchschnittstemperatur in Deutschland hat von 1881 bis 2009 um 1,1 Grad zugenommen. Am Ende dieses Jahrhunderts werde die Jahresdurchschnittstemperatur nochmals um 2 bis 4 Grad gestiegen sein“, so DWD-Chef Gerhard Adrian. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt soll es in den nächsten 40 Jahren bis zu 27 neue Sommertage geben.
Auf der Tagung wurde auch darüber gesprochen, dass der Klimawandel schon heute viele Menschen belaste. Daher sei die Anpassung an die neuen Verhältnisse angesagt. Dann würden die Klimaanlagen so justiert, dass sie nicht bei großer Hitze ausfallen, wie im Juli im ICE geschehen. Diese Art der Anpassung an den Klimawandel ist sehr vernünftig.
Doch der Diskurs der Anpassung kann auch technokratischen Konzepten Vorschub leisten. Wenn wir uns mit den Gedanken anfreunden, dass wir mittels moderner Technik auch unter widrigsten Bedingungen überleben können, machen wir uns weniger Gedanken über die Umstellung unserer Wirtschafts- und Lebendbedingungen, damit diese widrigen Bedingungen möglichst erst gar nicht eintreten.
Eine Sonderausstellung im Hamburger Museum und Kunstgewerbe, die bis zum 12. September läuft, zeigt einige der technokratischen Lösungsmodelle für das Überleben im Klimawandel. Dort wird aber auch nicht verschwiegen, dass es dabei nicht um Lösungsmodelle für alle Menschen handeln. Schon bei den Klimakatastrophen von Pakistan bis New Orleans zeigte sich, dass auch hier die Armen die Verlierer sind. Darum ist Skepsis angebracht, wenn von einer Anpassung an den Klimawandel ohne Änderung der Wirtschaftsordnung gesprochen wird.
Für die Berliner Abgeordnetenhauswahl im nächsten Jahr gibt es rechte Parteiplanungen, gehofft wird auf Zulauf von den etablierten Parteien
René Stadtkewitz wurde aus der CDU-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses ausgeschlossen. Eigentlich wäre es eine Nachricht ohne große politische Bedeutung. Denn der Rechtsaußenpolitiker Stadtkewitz, der schon vor einigen Monaten nach großen Druck aus der CDU ausgetreten ist (Vor einem neuen Kulturkampf?), hatte bundespolitisch wenig Bedeutung. Auch in Berlin blieb er der Hinterbänkler, der immer wieder rechte Duftmarken setzte. So war er der führende Kopf einer Bürgerinitiative gegen den Bau einer Moschee im Stadtteil Heinersdorf (Kulturkampf in Berlin-Pankow).
Die Moschee ist längst eröffnet. Doch Stadtkewitz blieb seinem Thema treu und lud zur Unterstützung und Vernetzung des Kampfes gegen den Islam den holländischen Populisten Geert Wilders nach Berlin ein (Keine Tea-Party-Bewegung in Deutschland). Weil er an diesem Vorhaben festhielt, musste er nun die CDU-Fraktion verlassen. Damit bekamen die Personalie Stadtkewitz und seine Ankündigung, eine eigene Partei gründen zu wollen, doch eine größere Bedeutung (Kommt die Rechtspartei?).
Europaweite Anti-Islambewegung
Denn anders als Henry Nitzsche oder Martin Hohmann, weitere Rechtsaußenpolitiker, die die CDU in den letzten Jahren verlassen mussten und in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwanden, ist Stadtkewitz nicht isoliert. Schließlich ist die Anti-Islambewegung mittlerweile ein Faktor nicht nur am rechten Rand und nicht nur in Deutschland.
Das kann an der Personalie Wilders gezeigt werden. Denn fast wäre er als Unterstützer der nächsten holländischen Regierung nach Berlin gekommen. Die Verhandlung zwischen seiner rechtspopulistischen Bewegung und den holländischen Konservativen und Christdemokraten waren weit fortgeschritten. Wilders hat die Verhandlungen abgebrochen, weil einige christdemokratische Abgeordnete Probleme hatten, diese Positionen hoffähig zu machen. Jetzt kann sich Wilders als Rebell gegen das politische Establishment feiern lassen und auf weitere Zustimmung hoffen.
Doch nicht nur in Holland existiert mittlerweile eine rechte Bewegung, die den Kampf gegen den Islam als politisches Vehikel entdeckt hat. Spätestens seit der erfolgreichen Volksabstimmung über das Verbot von Minaretten in der Schweiz (Kein Muezzin-Ruf aus der Toblerone) ist kein Land davon ausgenommen. In den meisten Ländern wollen die klassischen Rechtsparteien mit dem Moslembashing Aufmerksamkeit gewinnen. Dabei legen sie es bewusst auf einen Skandal an, um sich dann als Opfer eines linken oder liberalen Meinungsterrors zu gerieren.
So haben die ultrarechten Schwedendemokraten einen Wahlkampfspot kreiert, wo verschleierte Frauen zu sehen sind, die beim Run auf schwedische Sozialleistungen eine Rentnerin überholen. Im schwedischen Fernsehen wurde das Video nicht ausgestrahlt, die Zugriffe im Netz sind hoch. Die österreichische Rechtspartei FPÖ bzw. ihre Filiale in der Steiermark hatte ein Anti-Islam-Spiel ins Netz gestellt, in dem man Symbole, die für einen Imam oder eine Moschee stehen, wegklicken konnte. Kritiker wollten darin ein Abschießen erkennen. Die Aufregung war groß – und das ist ganz nach dem Geschmack der FPÖ. Das macht deutlich, dass die Rechten nicht ins Abseits geraten, wenn sie am Themenfeld Islam mit Provokationen und Skandalen arbeiten.
Suche nach einer Integrationsfigur
Auch in Deutschland hat das gesamte politische Lager rechts von der Union den Kampf gegen den Islamismus auf ihre Fahnen geschrieben. Die rechte Szene ist in Deutschland allerdings besonders zerstritten und der Streit um die Abgrenzung nach Rechtsaußen begleitet seit Jahren jede dieser Gruppierungen. So gab es lange Jahre Streit zwischen der Deutschen Volksunion und den Republikanern, beide Gruppierungen sind heute marginal.
Aktuell wird der innerrechte Machtkampf zwischen der Pro-Deutschland-Bewegung und der NPD ausgetragen. Die Pro-Deutschlandbewegung grenzt sich offiziell von dem neonazistischen Flügel der Rechten ab. Aber einige ihrer Spitzenpolitiker sind im innerparteilichen Flügelkampf der NPD unterlegen, bevor sie sich ein neues politisches Betätigungsfeld suchten. Deshalb steht für viele rechtskonservative Kräfte auch die Pro-Deutschlandbewegung zu stark im alten rechten Lager verankert.
Hier können Politiker wie Stadtkewitz mit ihrer Herkunft aus einer etablierten Partei eine größere Rolle für eine neue Rechtspartei spielen. Da dessen Zugkraft begrenzt ist, hoffen viele im rechten Lager auf einen Zulauf aus der SPD. Der ehemalige Berliner Finanzsenator Sarrazin wird seit Erscheinen seines Buches „Deutschlands schafft sich ab“ aus dem rechten Lager geradezu genötigt, eine eigene Partei zu gründen (NPD und pro Deutschland werben um Thilo Sarrazin).
Umfragen, die ihr ein zweistelliges Ergebnis prognostizieren, sollen den Entscheidungsprozess beschleunigen (18-Prozent-Potenzial für Sarrazin-Partei). Schließlich gibt es ein konkretes Datum: den 4. September 2011. Dann wird in Berlin ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Die Rechten sehen hier gute Chancen für die erfolgreiche Kandidatur einer neuen Partei jenseits der Union. Die alten rechten Parteien sind in Berlin marginal, die NPD ist beispielsweise intern zerstritten, die Republikaner spielen kaum mehr eine Rolle. Diese Partei war in Westberlin Ende der 80er Jahre mit über 7 % ins Abgeordnetenhaus gewählt worden, was ein Indiz für die Existenz eines rechtes Potentials in der Stadt ist, das aktiviert werden kann. Zudem war die Westberliner Frontstadt-CDU immer ein Sammelbecken für rechte Strömungen, die sich in einer Hauptstadt-CDU, die die Modernisierung auf ihre Fahnen geschrieben hat und auch für die Grünen koalitionsfähig sein will, nicht mehr wohl fühlen. Zudem kann gerade in Berlin mit einer Anti-Islam-Kampagne das Bürgertum gegen Kreuzberger oder Neuköllner Verhältnisse mobilisiert werden.
Lafontaine von rechts?
Die Karten für eine rechte Kandidatur in Berlin werden in den nächsten Monaten gemischt. Die Pro-Bewegung hat sich als erste angemeldet, ein Büro in Berlin bezogen und hoffte auf finanzielle Unterstützung durch den rechten Multifunktionär Patrik Brinkmann (Libertäre als Tea-Party-Großsponsoren). Doch das ist mittlerweile fraglich. Denn Brinkmann will die Kreise um Stadtkewitz mit in die Parteigründungspläne einbeziehen, für die die Pro-Bewegung als notdürftig modernisierte alte Rechte bisher kein Bündnispartner ist.
Nun droht für die Rechte der Supergau, eine Kandidatur gleich mehrerer Parteien, die sich rechts von der Union profilieren wollen und unter der Fünfprozenthürde bleiben. In dieser Situation könnte eine Kandidatur von Sarrazin die Einigung beschleunigen. Was Lafontaine 2005 mit seiner Kandidatur bei den vorher zerstrittenen linkssozialdemokratischen Gruppen gelungen ist, könnte Sarrazin in Berlin von Rechts wiederholen, so das Kalkül der Rechten. Der hat sich bisher aber noch nicht zu solchen Plänen geäußert, weil sie eine Steilvorlage für das laufende SPD-Ausschlussverfahren wären. Da er aber auch solche Pläne nicht kategorisch ausschloss, hoffen die Rechten weiter.
Partei des aggressiven Bürgertums
Dass solche Parteibildungsspiele keine Kopfgeburten sind, zeigt ein Gastkommentar des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz im Tagesspiegel, wo er für eine neue rechte Partei auf bürgerlich-konservativer Linie eintritt. Dafür wäre Sarrazin der ideale Kandidat. Schließlich hat er als Senator in seiner Frontstellung gegen Hartz IV-Bezieher beispielsweise Politik für ein Bürgertum gemacht, das die sogenannten Unterklassen in die Schranken weisen will.
Sollte ein solches Parteiprojekt in Berlin erfolgreich sein, dürfte es auch Nachahmer aus anderen Bundesländern geben. Dann könnten vielleicht auch abgehalfterte Politiker wie Friedrich Merz noch einmal in den Ring steigen. Allerdings würde auch ein Überraschungserfolg in Berlin wenig über die Beständigkeit einer solchen Bewegung aussagen. Schließlich hatte die Schill-Partei in Hamburg mit einen ähnlichen Politikkonzept einen rasanten Aufstieg und einen ebenso fulminanten Absturz hingelegt.
Datenschützer beobachten ab heute das Bundeskriminalamt / Demo am Sonnabend in Berlin
Das Bundeskriminalamt (BKA) ist für die Beobachtung von Webseiten von Personen und Gruppen zuständig, die sich nicht in der politischen Mitte bewegen. Heute wollen Datenschützer die Rollen tauschen.
Genau vor einem Jahr – am 11. September 2009 – demonstrierten in Berlin 35 000 Bürger für Freiheit statt Angst. Foto Ulli Winkler
»Wir wollen die Webseiten des BKA besuchen, um uns dort mit einer Schnitzeljagd über deren Verständnis von Freiheit und Bürgerrechten zu informieren«, erklärt Jens Plath gegenüber ND. Er ist Mitglied der Initiative, die die Internetperformance vorbereitet, wie die Aktivisten den virtuellen BKA-Besuch nennen. Als Anreiz für die Suche finden sich auf einer eigens dafür eingerichteten Webseite elf Fragen, die der Besucher bei der virtuellen Schnitzeljagd lösen soll. Unter anderem soll erkundet werden, an welchem Ort BKA-Direktor Jürgen Stock 1993 sein Rechtsreferendariat absolvierte, wann der BKA-Vize Jürgen Maurer seinen Dienst antrat, an welchen Tag das Informationssystem INPOL startete und in welchem Jahr das BKA seinen ersten Verbindungsbeamten nach Thailand geschickt hat. Wer sich die Mühe des Suchens ersparen will und Suchmaschinen benutzt, hat schon verloren, so die Aktivisten. Schließlich könne sich das BKA bei seiner Arbeit in der Regel auch nicht bei Google bedienen.
Mit der virtuellen Schnitzeljagd verbinden die Datenschützer mehrere politische Anliegen. »Wir wollen im Vorfeld der Freiheit-statt- Angst-Demonstration, die am kommenden Samstag in Berlin stattfindet, unseren Protest gegen Kontrolle und Überwachung auch auf den virtuellen Raum ausdehnen«, betont Plath. Dabei wolle man mit der Performance das BKA besonders in seiner Rolle als Schnittstelle für die europäische Sicherheitsarchitektur unter die Lupe nehmen. Während die Aktivitäten des BKA im Inland viel diskutiert werden, sei der europäische Bereich noch relativ unbekannt, so Plath. Dabei kann die Zusammenarbeit der europäischen Polizei für die Betroffenen gravierende Auswirkungen haben. »Ein Eintrag in die Dateien ›Gewalttäter Sport‹ oder ›International agierende gewaltbereite Störer‹ hat für die Betroffenen weitreichende Repressalien zur Folge, die bisweilen sogar zum Versagen politischer Betätigung führen«, so Plath als Beispiel.
Am heutigen Donnerstag soll mit der kollektiven Schnitzeljagd die BKA-Beobachtung starten. Sie soll aber keine einmalige Aktion bleiben. »Ziel soll die alltägliche kritische Beobachtung sein«, so Plath. Dafür soll auch am Samstag auf der Freiheit-statt-Angst-Demonstration geworben werden.
In Berlin wird wieder um den blauen Dunst gestritten
Nichtraucher mobilisieren gegen Tabakwerbung und bereiten unter dem Motto Frische Luft für Berlin eine Volksinitiative vor, die weitere Einschränkungen für Raucher in Berlin zur Folge hätte. Die Kampagnenhomepage ist noch im Aufbau.
Vorbild sind die strengen Nichtraucherbestimmungen in Bayern, die mittels Volksbegehren durchgesetzt wurden. Sollte die Berliner Initiative Erfolg haben, wäre das Rauchen in Gaststätten, Cafés, Bars, Clubs und Diskotheken grundsätzlich verboten. Die Volksinitiative fordert klare Regeln ohne Ausnahme. Damit beziehen sich die Initiatoren auf Medienberichte, nach denen die Nichtraucherbestimmungen zu viele Ausnahmen zulassen und zudem in vielen Kneipen nicht beachtet werden.
Dem widerspricht die zuständige Berliner Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz Katrin Lompscher: „Wir haben immerhin so viel Nichtraucherschutz, wie es ihn vorher noch nie gab. Von den über 7.000 Gaststätten sind weniger als 10 Prozent Raucherkneipen“, erklärte sie in einem Interview. Dort betonte sie auch, dass sie sich striktere Bestimmungen gewünscht hätte, was in Berlin allerdings nicht möglich gewesen wäre, weil in der Diskussion um das Rauchverbot die Zunft der Berliner Gastronomie eine starke Rolle spielte.
Aber auch die Gegner eines verschärften Rauchverbots melden sich zu Wort. Die Initiative für Genuss Berlin e.V. erinnert in einer Pressemeldung daran, dass ein völliges Rauchverbot nicht in erster Linie an den kommerziellen Interessen der Berliner Gastronomie gescheitert sei: „Die Initiative für Genuss Berlin e.V. hatte durch ihren politischen Druck maßgeblich dazu beigetragen, dass in dem heute gültigen Gesetz auch den Interessen der rauchenden Bevölkerung Rechnung getragen wird. Mit dem Gesetz in seiner jetzigen Form wurde ein Kompromiss erzielt, der den Nichtrauchern im öffentlichen Leben und in der Gastronomie weitreichende Rauchfreiheit zusichert.“
Die Genuss-Initiative kündigte an, gegen weitere Verschärfungen bei der Nichtrauchergesetzgebung aktiv werden zu wollen. Für die Aktivisten gehören sowohl Raucher als auch Nichtraucher zu einem weltoffenen Berlin. http://www.heise.de/tp/blogs/3/148333
Peter Nowak
Flüchtlingsvertreter und linke Gruppen haben zur Unterstützung eines Aktivisten aufgerufen, der seit dem 26. August in München unter anderem wegen Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vor Gericht steht. Der Prozess, bei dem fünf Vorwürfe mit politischem Hintergrund zusammengefasst wurden, wird am 13. September fortgesetzt (12 Uhr, Amtsgericht München, Nymphenburger Str. 16, Saal B 277). Hans-Georg E. ist wegen seines langjährigen antimilitaristischen und antirassistischen Engagements bekannt. Er wird beschuldigt, den Organisator der NATO-Sicherheitskonferenz in München, Wolfgang Ischinger, bei einer von Attac organisierten und von Protesten begleiteten Diskussionsveranstaltung gegen die Brust geschlagen zu haben. Dabei hatte Ischinger unmittelbar nach der Veranstaltung erklärt, es sei nichts passiert und er wolle gegen die Protestierenden keine Anzeige erstatten. Ein weiterer Anklagepunkt bezieht sich auf E.s Kritik an der Festnahme eines Flüchtlings, der ohne Erlaubnis den ihm zugewiesenen Landkreis verlassen hatte und damit gegen die sogenannte Residenzpflicht verstieß. Er hatte den Beamten Rassismus vorgeworfen.
Neben der Flüchtlingsorganisation The Voice, dem Aktionsbündnis gegen die Münchner Sicherheitskonferenz und der Interventionistischen Linken solidarisierten sich auch 50 türkische Linke mit dem Angeklagten. Für den Prozess sind bis Ende September noch fünf Termine anberaumt.
Bundestagsblockade will Proteste gegen das Sparpaket anheizen
Zu einer Herbstkampagne gegen das Sparpaket der Bundesregierung ruft das Berliner Bündnis »Wir zahlen nicht für Eure Krise« auf, in dem sich soziale Initiativen, Erwerbslosengruppen und Gewerkschafter zusammengeschlossen haben. Es hat seit 2009 mehrere Protestaktionen organisiert, zuletzt eine Großdemonstration am 12. Juni. Jetzt steht die Protestagenda für die nächsten Wochen fest.
Am 29. September sollen im Rahmen des europäischen Aktionstages gegen unsoziale Politik auch in Berlin mehrere Banken belagert werden. »Wir gehen zu den Profiteuren der Krisenpolitik, protestieren vor und in Banken gegen die Sozialisierung ihrer Verluste und fordern eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums«, erklärt der emeritierte Berliner Politologe Peter Grottian die Aktion. Der Aktionstag soll mit einer Demonstration enden, die unter dem Motto »Sparpakete stoppen, hier und europaweit!« steht.
Der Höhepunkt der herbstlichen Protestagenda ist Ende November: Am Tag der Verabschiedung des Sparpakets ruft das Antikrisenbündnis zur »Belagerung« des Bundestags auf. Die letzte, entscheidende Lesung des Sparpakets wird nach den aktuellen Planungen am 26. November stattfinden. »Der Aktionsvorschlag wurde vom Berliner Bündnis ohne Gegenstimmen verabschiedet«, so Michael Prütz gegenüber ND über die geplante Blockade. »Erst gehen wir zu den Banken, dann zur Politik«, beschreibt er die Choreographie der nächsten Wochen.
»Wir rufen zu einer legitimen Form des zivilen Ungehorsams und zu keinen kriminellen Handlungen auf und erwarten daher auch keine Kriminalisierung«, betont die zweite Bündnissprecherin Christina Kaindl in Richtung Polizei. Sie kritisiert die Bannmeilenbestimmung, die politische Manifestationen im Regierungsviertel enorm erschwert. »Der Bundestag und seine Umgebung dürfen kein demokratie- und politikfreier Raum sein. Auch hier können sich die Betroffenen zu Wort melden«, so Kaindl. Die Details für den konkreten Ablauf der Blockaden werden in der Vorbereitungsgruppe noch beraten, erklärt Prütz. In der Vergangenheit wurden bei Protesten im Regierungsviertel Kundgebungen häufig am Rande der Bannmeile angemeldet.
Die bisher größte Bundestagsblockade fand vor mehr als 15 Jahren statt – damals noch in Bonn. Die Aktion am 26. Mai 1993 richtete sich gegen die Verschärfung der Asylgesetzgebung. In Berlin ist eine Bundestagsblockade dagegen politisches Neuland. Vorbild dafür sind die Protestaktionen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007. Seitdem wurden mit Blockadeaktionen mehrere Naziaufmärsche erfolgreich verhindert, beispielsweise im Februar 2010 in Dresden. Sollte die Mobilisierung in Berlin ähnlich erfolgreich sein, dürfte diese Aktionsform künftig noch häufiger bei sozialen Protesten zur Anwendung kommen.
Linke Strukturen beklagten drohende Verdrängung
Noch immer ist die Zukunft des Linienhofes offen. Das Gelände in der Linienstraße in Mitte wird von unkommerziellen Handwerkern und Künstlern für ihre Arbeiten genutzt. Nun will eine Baugruppe, die das Gelände gekauft hat, mit der Errichtung eines Mehrfamilienhauses beginnen. Anfang August sollten die Bauarbeiten starten und die Nutzer des Linienhofes mobilisierten ihre Unterstützer. Doch die Bagger sind bisher nicht angerollt.
Seitdem herrscht Funkstille zwischen Platznutzern und Baugruppe. Bei der Diskussionsveranstaltung unter dem Motto »Baugruppen und gewachsene linke Strukturen im Interessenkonflikt« am Montagabend in dem Berliner Cafe Morgenrot war kein Baugruppenmitglied anwesend. Ob fehlende Bereitschaft oder Kommunikationsprobleme der Grund waren, ist unklar. Das Baugruppenmitglied Mathias Greffrath erklärte der ehemaligen Baustadträtin von Mitte, Karin Baumert, die die Veranstaltung moderierte, er habe die per Mail verschickte Einladung zu spät erhalten.
Wäre Greffrath anwesend gewesen, hätte er sich manche Kritik anhören müssen. »Baugruppen sind eine Form der Eigentumsbildung, die denen verschlossen bleibt, die nicht das nötige Eigenkapital zum Einstieg mitbringen. Ihre Mitglieder kommen aus kreditfähigen Mittelklassehaushalten«, erklärte ein Vertreter des Bündnisses »Steigende Mieten stoppen«. Weil die Grundstücke, auf denen Baugruppen ihre Häuser errichten, für einen sozialen Wohnungsbau nicht mehr zur Verfügung stehen und sich durch das Konsumverhalten der Baugruppenmitglieder teure Läden und Restaurants in der Umgebung ansiedeln, tragen sie auch zur Verdrängung von Menschen mit wenig Einkommen bei.
Das bestätigte Karla Pappel, eine Aktivistin der Alt-Treptower Stadtteilinitiative, wo sich mehrere Baugruppen angesiedelt haben. Sie trügen zu Mietsteigerungen in der Umgebung bei. Die Stadtteilaktivistin kritisierte zudem, dass die Baugruppen Begrifflichkeiten verwenden, die in sozialen Bewegungen entwickelt worden sind. So sei das Schlagwort vom kollektiven Wohnen oder die Parole »Die Häuser denen, die drin wohnen«, in den 80er Jahren von der Hausbesetzerbewegung kreiert worden. »Damals ist es aber um Aneignung und nicht um Eigentumsbildung gegangen«, betonte sie. Die Nutzung der Begriffe sei aber nicht zufällig. Nicht wenige der Baugruppenmitglieder waren in ihrer Jugend Hausbesetzer oder sind noch heute in sozialen Bewegungen aktiv. So hat sich Mathias Greffrath publizistisch im Umfeld von Attac gegen eine unsoziale Globalisierung positioniert.
Dass es bei dem Konflikt um die Baugruppen um unterschiedliche Interessen geht, machte der Stadtsoziologe Andrej Holm deutlich. »Mitglieder von Baugruppen profitieren von der Aufwertung eines Stadtteils, weil der Wert des Eigentums steigt. Für Mieter hingegen wird dadurch das Wohnen teurer.« Dieser reale Interessenkonflikt bestehe auch dann, wenn sich die Mitglieder der Baugruppe als politisch links definieren und sich sogar, wie in Alt-Treptow geschehen, als Gegner der Gentrifizierung bezeichnen. Der Grund der vor allem ideellen Förderung der Baugruppen durch den Berliner Senat liegt für Holm in dem Interesse, eine wohlhabende Mittelschicht in den Stadtteilen zu etablieren. Die Diskussion soll fortgesetzt werden. Eine größere Veranstaltung auch mit Mitgliedern der Baugruppen ist in Planung. Dann wird sich vielleicht auch die Perspektive für den Linienhof geklärt haben.