Trump, die NATO und wir Kommentar

„Amerika setzt erstmals die ‚Mutter aller Bomben‘ ein“, titelte die FAZ am 13. April 2017. Tatsächlich hat das US-Militär die größte nichtatomare Bombe über dem – von der Bundesregierung zum „sicheren Herkunftsland“ verklärten – Afghanistan abwerfen lassen. „Der mehr als zehn Tonnen schwere Sprengkörper traf nach Pentagon-Angaben einen Tunnelkomplex des ‚Islamischen Staats‘ in Afghanistan“, hieß es in der FAZ. Die Zeitung, hinter der schon immer ein deutsch-US-amerikanischer Sprengkopf steckte, stellte nicht einmal die Frage nach den Opfern. Dass in einem Tunnelkomplex des IS niemand ein Überlebensrecht hat, scheint für diese Kriegsberichterstatter_innen selbstverständlich zu sein. Gefangene werden nicht gemacht, wer zur falschen Zeit am falschen Ort war, hat Pech gehabt. Schließlich ist ja der Bundeswehroberst Klein nicht bestraft, sondern zum General befördert worden, obwohl er für den Tod von 140 Menschen in Afghanistan verantwortlich ist, die Benzin aus einem manövrierunfähigen Tankwagen abgezapft hatten. Die Drohnen, deren Einsatz unter Obama gestiegen ist, löschten ganze Familien aus. Das waren „Kollateralschäden“ und die Welt wollte es nicht so genau wissen.

Trump übertrumpft seinen Vorgänger nun an Militarismus.

Schon eine Woche nach seiner Inauguration am 28./29. Januar starben bei einen Angriff von US-Spezialkräften im Jemen mindestens 30 Zivilist_innen. Bei der Bombardierung von Mossul sollen Menschen in dreistelliger Höhe umgekommen sein. Am 18. März starben im Norden Syriens etwa 40 Menschen in einer bombardierten Moschee. Am 20. März töteten Bomben der US-
geführten Kriegskoalition, die seit 2014 in Syrien angeblich gegen den IS kämpft, mindestens 33 Menschen, die in einer Schule Zuflucht gesucht hatten. Die Zielkoordinaten hatte wohl die Bundeswehr geliefert. Es gab wenige Berichte darüber
und dann war das Thema erledigt. Eine kritische Öffentlichkeit, die Aufklärung über die Verbrechen verlangt, an denen auch die Bundeswehr beteiligt war, fehlt hier. Vom Unbehagen gegen Trump in den Medien sollten wir uns nicht täuschen lassen.
Denn ein großer Teil dieser Trump-Kritiker_innen befürchtet, dass unter der neuen Administration die NATO und die Feindschaft zu Russland womöglich nicht mehr oberste Priorität haben könnten. Ein mittlerweile zurück genommenes Trump-
Zitat, in dem die NATO für obsolet erklärt wurde, sorgte bis in den Bundesvorstand der Grünen und der taz-Redaktion für Aufregung. Dabei blieb ein Aspekt unterbelichtet. Lange bevor das Trump-Zitat für Furore sorgte, gab es auch in Deutschland eine antimilitaristische Bewegung, die die NATO für überflüssig erklärte. Sogar in den Programmen der Grünen der
1980er Jahre war die Forderung nach Auflösung der NATO enthalten. Linke Sozialdemokrat_innen und Gewerkschafter_innen argumentierten ähnlich und verwiesen auf die zu hohen Militärausgaben. Diese Forderungen waren am stärksten, als es noch
einen Warschauer Pakt gab. Man forderte damals, dass sich die beiden Militärblöcke auflösen sollen, um die Gefahr von Kriegen zu minimieren. Heute will kaum jemand daran erinnert werden. Besonders die Grünen hyperventilierten, als Trump sich kritisch zur NATO äußerte. Sie waren mit die ersten, die nach der Trump-Wahl forderten, dass nun die von Deutschland dominierte EU die Speerspitze der neuen NATO sein müsste. In der Linkspartei gibt es zumindest in der Programmatik noch die Beschlüsse gegen die NATO. Wie schnell sie aber bei einer möglichen rot-rot-grünen Koalition der Regierungslogik geopfert
werden, wird zu beobachten sein. In der BRD darf nur Mitregieren, wer sich zu EU und NATO bekennt, nicht unbedingt auch zur USA.
Je mehr Trump deutlich machte, dass zu seinem „Make America great again“ der Einsatz von Bomben gehört, desto mehr machen die NATO-Freund_innen aller Parteien mit ihm ihren Frieden. Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg war voll des Lobes für den Militärpräsidenten, der die NATO nun nicht mehr für obsolet erklärt. In den USA haben die Militarist_innen aller Parteien aufgeatmet, als klar wurde, dass Trump keine neutralistische Politik betreiben würde. Und in Deutschland ist eine ganz große Koalition von Union bis zu den Grünen zufrieden mit Trump, der nicht nur Drohnen, sondern auch ganz große
Bomben zum Einsatz bringen lässt. Der Präsident, den viele noch vor Monaten als Gefahr erkannten, wird jetzt von diesen Politiker_innen gelobt, weil er sich als Militarist erweist. Rassismus und Sexismus in Trumps Ideologie spielen in dem Augenblick keine große Rolle mehr, in dem er sich als Oberkommandierender der „Freien Welt“ geriert, zu der sich auch eine ganz große Koalition in Deutschland zählt. Antimilitarist_innen hingegen treten an, um den Mythos dieser „Freien Welt“ zu zerstören. Zu ihr
gehören Kriege, Putsche und die Niederschlagung von emanzipatorischen Bewegungen. Der Vietnamkrieg wurde ebenfalls zur Verteidigung dieser vermeintlich „Freien Welt“ geführt, die für schrankenlose Durchsetzung des Kapitalismus steht. Antimilitarist_innen in Deutschland werden gerne auf die Zustimmung all jener Kräfte von Bild bis taz verzichten können, die sich in den letzten Monaten über Trump echauffierten und dabei vor allem an die deutschen Interessen dachten. Die aber sollte
eine antimilitaristische Bewegung in Deutschland an erster Stelle angreifen. Dabei gilt es, sich dem Schulterschluss mit einer deutschen Politik zu verweigern, die mit dem Finger auf Trump und die USA zeigt, um sich umso nachdrücklicher als neue
Führungsmacht anzupreisen. Eine außerparlamentarische Bewegung, die dagegen nicht eindeutig Stellung bezieht, wäre nur eine Hilfskraft für den deutschen Imperialismus.

aus: graswurzelrevolution
418 mai 2017

Peter Nowak

Der Präsident als Sheriff der Welt und seine neuen Freunde

In der kurzen Zeit seiner Amtszeit hat Trump schon eine Bombenspur hinterlassen, die Politiker überzeugt, die zuvor noch skeptisch waren

Trump versöhnt sich mit der Nato“, lautete der Tenor der Meldungen[1] über das Treffen des US-Präsidenten mit dem Nato-Generalsekretär. Eine ganz große Koalition in den USA und Deutschland war sehr zufrieden.

Die vermeintlichen Trump-Kritiker hatten befürchtet, dass unter der neuen US-Administration die Nato keine so große Rolle mehr spielen und Trump womöglich eine neutralistische Außenpolitik betreiben könnte. Ein schmales Spektrum der Konservativen in den USA propagierte schon lange den Rückzug der Vereinigten Staaten auf ihr eigenes Territorium. Man wollte nicht mehr weltweit aktiv sein.

Eine solche Politik hat eine gewisse Logik, weil der Einfluss des US-Kapitalismus weltweit zurückgeht und die Warnung vor einer Überdehnung der USA schon einige Jahre auch von US-Denkfabriken ernst genommen wird. Nun hatte Trump im Wahlkampf sicherlich auch neutralistische Versatzstücke in seinem Wahlkampfrepertoire. Bewusst wählte er auslegbare Formulierungen. So sagte er nie, dass die Nato überflüssig, sondern obsolet ist und nun ist sie das eben nicht mehr.

Und schon hat Trump einige seiner lautesten Kritiker zumindest vorerst zufrieden gestellt. Die störten sich nämlich nicht an seiner rassistischen und sexistischen Agenda. Die befürchteten vor allem, Trump könne sich nicht so als „Vorkämpfer der freien Welt“ initiieren wie seine Vorgänger. In Deutschland sahen das führende Kreise von den Grünen bis zur Union als Chance, diese Rolle nun selber zu übernehmen.

Angela Merkel wurde nun als Führerin der freien Welt angepriesen. Inzwischen hat Trump längst klargemacht, dass er diesen Posten nicht freiwillig aufgeben wird. Im Gegenteil, er will als strenger Sheriff der Welt seine Version von „Make America Great Again“ einbläuen.

Trump und die „Mutter aller Bomben“

Im Gegensatz zu seiner sonstigen Rhetorik ist das alles nicht nur Dampfplauderei. In der kurzen Zeit seiner Amtszeit hat Trump schon eine Bombenspur hinterlassen. Schon eine Woche nach Trumps Inauguration am 28./29. Januar starben bei einem Angriff von US-Spezialkräften im Jemen 30 Menschen. Bei der Bombardierung von Mosul sollen Menschen in dreistelliger Höhe umgekommen sein.

Am 18. März kamen im Norden Syriens etwa 40 Menschen in einer bombardierten Moschee ums Leben. Am 20. März töteten Bomben der US-geführten Koalition, die seit 2014 in Syrien angeblich gegen den „Islamischen Staat“ kämpft, mindestens 33 Menschen, die in einer Schule Zuflucht gesucht hatten. Die Zielkoordinaten hatte wahrscheinlich die Bundeswehr geliefert.

Es gab einige Tage Berichte darüber und dann war das Thema schon erledigt. Vor zwei Tagen, am 13. April, ließ Trump die „Mutter aller Bomben“ über Afghanistan abwerfen[2]. Der Name wurde in verschiedenen Medien völlig kritiklos[3] übernommen. Man hatte gedacht, solche Begriffe kann sich nur jemand in der Welt eines Saddam Hussein ausdenken, der auch ständig von der Mutter aller Schlachten schwadronieren ließ.

Jedenfalls soll die „Mutter aller Bomben“ einen Tunnelkomplex des Islamistischen Staates getroffen haben. Es gebe unter den 36 Opfern keine Zivilisten[4], heißt es sofort. Auch hier fehlt jede kritische Nachfrage. Wie wurde denn in wenigen Stunden ermittelt, wer die Opfer sind, was ihnen vorgeworfen wird und dass sie garantiert alle überzeugte IS-Kämpfer waren?

Schließlich wissen wir von den Drohneneinsätzen, die unter der Obama-Administration zugenommen hatten, dass neben den Zielpersonen auch oft deren Kinder oder Verwandte oder wer eben gerade zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist, zu den Opfern zählten. Und dann soll ein 10.000 Kilogramm schwerer Sprengkörper keine Zivilisten getroffen haben? Der Unterschied zum Giftgasangriff in Syrien ist einfach der, dass es in Afghanistan keine der durchaus interessengeleiteten NGOs und Nachrichtenstellen gibt, die sofort die Bilder der Opfer in aller Welt verbreiten.

Die Toten in Afghanistan sterben ohne die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, sie sterben still und anonym und nehmen das Stigma des IS-Anhängers mit ins Grab. Es gab und gibt kein unabhängiges Gericht, das entscheidet, ob die Anklage überhaupt stimmt. Der Oberste Befehlshaber entscheidet über den Einsatz, er ist Ankläger, Richter und Henker in einer Person.

In den letzten Monaten haben viele Trump-Kritiker auch zu fragwürdigen psychologisierenden Erklärungsmustern gegriffen und ihn als große Gefahr hingestellt. Nun müssten diese Leute doch besonders vehement protestieren, dass ein solcher Mann nun als Welt-Sheriff agiert und die „Mutter aller Bomben“ losschickt. Doch ein Teil der Kritiker hat ihre Tonlage völlig geändert und lobt Trump dafür, dass er jetzt in die Phalanx seiner Vorgänger eingeschwenkt ist. Er hat also mit seiner Bombardements den Beweis erbracht, dass er als Führer der Freien Welt gut geeignet ist.

Da trennt sich die Spreu vom Weizen und die Trump-Kritiker, die befürchteten, dass Trump eine isolationistische Politik betreiben könnte, machen ihren Frieden mit dem Präsidenten. Was sie auch sonst an seiner politischen Agenda kritisiert haben mögen, ist ihnen nicht mehr so wichtig. Dass dürfte sich bis ins Clinton-Lager auswirken, denn auch dort war man in großer Sorge, dass Trump vielleicht zu wenig konfrontativ gegenüber Russland sei.


Rechte Trump-Fans in Verwirrung

Dafür ist bei seinen hiesigen rechten Fans Verwirrung über Trump ausgebrochen. Der Trump-Fan der ersten Stunde Jürgen Elsässer schrieb[5] unmittelbar nach den Luftangriff der USA auf syrische Stellungen: „Fuck Trump. Der Typ ist irre geworden.“ Doch in späteren Kommentaren wurde die Einschätzung relativiert und als Showpolitik bezeichnet, die Trump helfen soll, sein ramponiertes Ansehen zu erhöhen.

Auch andere Rechte, die sogar mit einer Pro-Trump-Demo während des G20-Treffens in Hamburg auf sich aufmerksam machen wollen, werden nun rätseln, wie sie die Politik ihres politischen Freundes im Weißen Haus einschätzen sollen. Diese Verwirrung dürften sie mit Leuten wie Rainer Rupp[6] teilen, die für manche als Linke galten, bevor sie sich zu Trump-Anhängern mauserten[7].

Wie lange allerdings die Flitterwochen zwischen Trump und den Nato-Freunden andauern werden, ist auch völlig offen, es könnte morgen schon eine politische Entscheidung kommen, die die Gräben wieder vertieft. Es geht hier um temporäre Interessen und Zweckbündnisse.

Zudem wird Trump als strenger Sheriff im Weltmaßstab mit einem Problem konfrontiert sein, das auch alle seine Vorgänger hatten. Der US-Kapitalismus verliert weltweit real an Einfluss und der Versuch, diesen Fakt mit einer besonders aggressiven Machtpolitik zu verschleiern, wird überall auf der Welt für neue Konflikte sorgen.

Daher ist die Gefahr eines großen Weltkriegs nicht gebannt, das liegt aber weniger an Trump als an der Irrationalität der kapitalistischen Gesellschaft, die der Sheriff im Weißen Haus nur besonders gut repräsentiert.

https://www.heise.de/tp/features/Der-Praesident-als-Sheriff-der-Welt-und-seine-neuen-Freunde-3686105.html
Peter Nowak

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http://www.heise.de/-3686105

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-nach-treffen-mit-jens-stoltenberg-nato-nicht-laenger-obsolet-a-1143173.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/US-Militaer-wirft-staerkste-nicht-nukleare-Bombe-auf-Ziel-in-Afghanistan-ab-3685970.html
[3] https://www.welt.de/politik/ausland/article163702115/USA-werfen-zum-ersten-Mal-Mutter-aller-Bomben-ab.html
[4] http://www.t-online.de/nachrichten/id_80893932/usa-mutter-aller-bomben-toetete-in-afghanistan-36-kaempfer.html
[5] https://www.compact-online.de/fuck-trump-der-typ-ist-irre-geworden
[6] http://www.spiegel.de/thema/rainer_rupp/
[7] https://deutsch.rt.com/meinung/43036-rainer-rupp-us-prasident-trump

Warum überlässt man es Trump, die Nato für obsolet zu erklären?

Am Ende waren sich alle einig, dass weiter aufgerüstet werden muss

„Die Nato braucht immer eine Herausforderung, um ihre Kräfte gut zur Geltung zu bringen.“ Dieses unfreiwilligenehrlichen Satz sagte[1] die entschiedene Nato-Befürworterin Jeanine Hennis-Plasschaert[2] auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende.

Das Statement der Politikerin sorgte kaum für große Diskussionen. Dabei ist hier die Erklärung für die Suche nach Konflikten, die notfalls propagandistisch aufgeblasen werden. Sie schaffen den inneren Zusammenhalt und verhindern, dass sich jemand die einfache Frage stellt, warum es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Vertrags die Nato überhaupt noch gibt. Schließlich gingen noch in Zeiten des Umbruchs viele davon aus, dass die Nato nun, wo ihr der Gegner abhanden gekommen war, obsolet geworden sei.

Lange bevor ein entsprechendes Trump-Zitat für Furore und viele Deutungsansätze hervorrief, gab es eine große Antikriegsbewegung, die die Nato für überflüssig erklärte. Auch in den Programmen der Grünen der 1980er Jahre war die Forderung nach der Auflösung der Nato enthalten. Linke Sozialdemokraten und Gewerkschaften argumentierten ähnlich und verwiesen auf die hohen Kosten durch die Militärausgaben. Diese Forderungen waren am stärksten, als es noch einen Warschauer Vertrag gab. Man forderte damals, dass sich die beiden Militärblöcke auflösen und dadurch die Gefahr von Kriegen und militärischen Konflikten zumindest minimiert ist.

Im Jahr 2017 will kaum jemand daran erinnert werden. Gerade die heutigen Grünen wollen möglichst nicht daran erinnert werden, dass eine Partei gleichen Namens mal die Nato für obsolet erklärt hatte. Gerade die heutigen Grünen hyperventilierten besonders, als Trump sich in diesem Sinne äußerte, und waren mit die ersten, die darauf die Konsequenzen zogen, dass dann eben die von Deutschland dominierte EU die Speerspitze der neuen Nato sein müsste.

In der Linkspartei gibt es zumindest in der Programmatik noch die Beschlüsse gegen die Nato. Wie schnell sie aber bei einer möglichen rot-rot-grünen Koalition der Regierungslogik geopfert werden, wird zu beobachten sein. Jedenfalls ist klar, dass der Preis für das Mitregieren in Deutschland ein Bekenntnis zur EU und zur Nato, nicht unbedingt zur USA gehört.

Historische Amnesie und Reaktivierung der alten Bündnisse

Nun argumentieren die neuen Freunde der Nato mit der veränderten Sicherheitslage und verweisen vor allem auf die Rolle Russlands unter Putin. Russland präsentiert sich nicht mehr als die willfährige Mittelmacht, zu der sie unter Jelzin herabgestuft wurde. Doch selbst zu diesen Zeiten, kamen von der Nato keine Anzeichen, sich auflösen zu wollen. Insofern ist das neue Feindbild Russland vorgeschoben, um im Sinne der eingangs zitierten niederländischen Politikerin die eigenen Kräfte besonders gut zur Geltung zu bringen.

Zudem zeigt der Konflikt mit Russland auch, dass die Nato nach 1989 nicht zu siegen aufgehört hat. Man muss sich nur mal kurz vergegenwärtigen, dass sich Helmut Kohl 1990 nicht sicher war, ob er dem damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow das Zugeständnis abringen könne, dass auch auf dem Territorium der ehemaligen DDR Nato-Truppen stationiert werden können. Hinterher hat er das als besonderen Verhandlungserfolg hingestellt, und es gab wohl auch einen Plan B, wenn die russische Seite damit nicht einverstanden ist.

Heute steht die Nato nicht nur an der russischen Grenze, sondern sogar auf ehemals sowjetischem Territorium. Man braucht nur zwei Schlagzeilen der letzten Tage als Illustration dieses Nato-Durchmarsches heranzuziehen: „USA verlegen 1000 Soldaten zur Abschreckung nach Polen“[3] titelte NTV unter einem Foto, das US-Soldaten samt Flagge zeigen, als hätten sie gerade einen großen Sieg errungen. In der Oberüberschrift heißt es: „Litauen hofft auf Luftabwehr“. „Bundeswehr verlegt Panzer nach Litauen“[4] lautet eine Spiegel-Meldung dieser Tage, wo man Bundeswehrsoldaten vor den neuesten Militärgerät sieht. In dem Spiegel-Artikel heißt es lapidar:

Insgesamt wurden damit seit Mitte Januar bereits etwa 120 Container und 200 Fahrzeuge verladen. Die Bundeswehr führt in Litauen ein Nato-Bataillon zur Abschreckung Russlands. Litauen fühlt sich wie die beiden anderen baltischen Staaten und Polen durch den mächtigen Nachbarn Russland bedroht.

Der Spiegel

Vor 27 Jahren hätten es wohl selbst die Kritiker einer neuen deutschen Großmachtpolitik, die vor einem Vierten Reich warnten, kaum für möglich gehalten, dass die Bundeswehr wieder dort militärisch in Erscheinung tritt, wo ihre Vorläufer von der Wehrmacht erst mit großen Opfern vertrieben wurden.

Es wird auch kaum noch jemand darauf hinweisen, dass sich hier im Wesentlichen die alten historischen Bündnisse wieder reaktivieren. Denn die baltischen Staaten waren auch enge Verbündete der Wehrmacht, ließen sich auch Judenmorden von den Nazis nicht übertreffen und nach 1945 wollten sie keine Nazis gewesen, sondern nur gegen die sowjetische bzw. russische Aggression gekämpft haben. Deswegen werden auch immer noch SS-Angehörige in diesen Ländern geehrt.

Doch darüber macht man sich heute in Deutschland kaum noch Gedanken, wenn es um das neue Feindbild Russland geht. Es ist erstaunlich, dass auch bei kritischen Zeitgenossen eine historische Amnesie eingesetzt hat.

Man kann die Putin-Regierung kritisieren, ohne antirussische Töne anzuschlagen

Kritische Zeitgenossen verknüpfen die berechtigte Ablehnung des Putin-Regimes und die Unterstützung einer emanzipatorischen Opposition auch in Russland mit geostrategischen Interessen, reden von einer russischen Gefahr und befinden sich dann mit im Lager der Nato-Befürworter, die genau so argumentieren.

So wiederholt sich die Geschichte wieder einmal als Farce. Schon im Vorfeld des 1. Weltkriegs war es die geschürte Angst vor dem zaristischen Russland, die die anfangs militärkritische Sozialdemokratie ihren Frieden mit Staat und Militär machen ließ. Dabei war es damals wie heute nicht schwer, zwischen einer Ablehnung eines Regimes und einer Einreihung in eine antirussische Fronde zu unterschieden.

Wenn man emanzipatorische Oppositionelle in Russland unterstützen will und das sind in der Regel nicht die Liberalen, die wir hier immer präsentiert bekommen, sondern oft Anarchisten und Anhänger von Basisbewegungen, die hierzulande kaum bekannt sind und etwa in dem Buch „Isolation und Ausgrenzung als postsowjetische Erfahrung“[5] vorgestellt werden, braucht man nicht mit den neuen und alten Freunden der Nato heulen. Schließlich kommt man nicht in Verlegenheit, für das gleiche wie die Rechten einzutreten, die seit einigen Jahren Putin als ihren Hoffnungsträger erkoren haben und auch manchmal Transparente mit der Parole „Frieden mit Russland“ schwenken.

Die Rechten unterstützen Putins illiberale Gesellschaft. Eine linke Kritik an der antirussischen Kampagne hingegen würde auf einer antimilitaristischen Grundlage argumentieren und vor allem auch die Verbrechen der deutschen Wehrmacht anführen, um die Anmaßung der Deutsch-EU entgegenzutreten, wieder als Schutzmacht der einstigen Bündnispartner der Wehrmacht aufzutreten.

Gerne wird auch bei den neuen Freunden der Nato auf den Willen der osteuropäischen Staaten verwiesen, die sich von Russland bedroht fühlen. Auch hier wird unhistorisch argumentiert. In all diesen Ländern gab es vor allem nach der Oktoberrevolution Kräfte, die ein enges Bündnis mit der Sowjetunion anstrebten und Kräfte der Oberschicht, die mit Deutschland verbündet waren. Bis 1945 hatten sich Letztere blutig und mit vielen Repressalien durchgesetzt. Nach der Niederlage der Wehrmacht und ihrer Verbündeten trug der stalinistische Terror allerdings mit dazu bei, die prosowjetischen Kräfte in den Ländern nachhaltig zu diskreditieren. Ihre Gegner bekamen so wieder Oberwasser und setzen sich nach 1989 durch.

Nur ein Geschichtsbild, dass in all den Ländern die Sowjetunion nur als Aggressor sieht und alle innenpolitischen Differenzierungen ausblendet, dient vor allem den neuen Freunde der Nato als Vorlage, hat aber nichts mit den historischen Realitäten zu tun.

Die größten Grenzverschiebungen in Europa nach 1989 stärkten Deutschland und schwächten Russland

Anfang der 1990er Jahre argumentierten noch die Gegner dieser Entwicklung mit Rosa-Luxemburg-Zitaten gegen die Welle von Staatsneugründungen in Osteuropa. Heute scheint diese Kritik vergessen.

In Jugoslawien trug Deutschland mit seiner Anerkennungspolitik einzelner Staaten wie Slowenien und Kroatien mit neuen massiven Grenzverschiebungen in Europa bei. Am Ende war der Staat Jugoslawien, der sich historisch mit dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung legitimierte, erledigt. Auch in diesem Fall stärkten die GrenzverschiebungenDeutschland und seine Verbündeten.

Die Grenzverschiebung, die durch die russische Annexion der Ukraine bewirkt wurde, liegt hingegen nicht im Interesse Deutschlands. Deshalb wird sie auch als die große Bedrohung hingestellt und die Nato kann sich damit umso besser legitimieren. Deutschland und die von ihm dominierte EU haben spätestens seit Trumps Regierungsantritt auch schon deutlich gemacht, dass sie notfalls auch ohne und gegen die USA die Führung in der Nato beanspruchen.

Dahinter verbergen sich unterschiedliche geopolitische Interessen beider Länder, die immer unzulässig personifiziert werden. Natürlich wird der erratische Charakter von Trump seinen Teil dazu beitragen, aber die Ursachen für die Konflikte sind unterschiedliche Interessen, über die nur kaum geredet wird. Das konnte man gerade im Vorfeld der Münchner „Sicherheitskonferenz“ beobachten. Alle Medien erweckten die Erwartung, dass sich dort klären wird, ob die neue US-Administration jetzt zur Nato steht oder nicht. Doch das stand gar nicht zur Debatte. Das Ergebnis war, dass sich alle Nato-Staaten auf die weitere Aufrüstung verständigten. Das fordert nicht nur die USA, das liegt auch ganz im Interesse der maßgeblichen Eliten der Deutsch-EU.

Hinter dem Nebelvorhang eines Konflikts zwischen Trump und anderen EU-Staaten wurde so die weitere Aufrüstung vorangetrieben. Die Nato-freundliche FAZ zog eine positive Bilanz: „Europas neue Liebe zum alten Verteidigungs-Bund“[6] Natürlich werden die Konflikte zwischen den USA und vor allem Deutsch-EU damit nicht ausgeräumt sein, weil ihre Grundlagen eben unterschiedliche Interessen sind. Doch bisher haben sie im Zweifelsfall als „Brothers in Crime“ gemeinsam kooperiert, beispielsweise in Osteuropa. Die USA zeigt in Polen Flagge, die Bundeswehr in Litauen – und so bleiben auch hier die alten Bündniskonstellationen gewahrt.

Doch der Konflikt EU versus Deutsch-EU, der schon älter ist und sich unter Trump zugespitzt hat, bedeutet keinesfalls das Ende der Nato. Im Zweifel würde Deutschland auch im internen Streit mit den osteuropäischen Verbündeten davon profitieren Auch hier gilt die Devise: „Die Nato braucht immer eine Herausforderung, um ihre Kräfte gut zur Geltung zu bringen.“

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https://www.heise.de/tp/features/Warum-ueberlaesst-man-es-Trump-die-Nato-fuer-obsolet-zu-erklaeren-3632354.html

Peter Nowak

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[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/sicherheitskonferenz-2017-europa-besinnt-sich-auf-nato-wert-14885810.html
[2] http://www.jeaninegoeseurope.nl/
[3] http://www.n-tv.de/politik/USA-verlegen-Soldaten-nach-Polen-article19708766.html
[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/bundeswehr-verlegt-panzer-nach-litauen-a-1135689.html
[5] https://www.edition-assemblage.de/isolation-und-ausgrenzung-als-postsowjetische-erfahrung/
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/sicherheitskonferenz/sicherheitskonferenz-2017-europa-besinnt-sich-auf-nato-wert-14885810.html