Neo-osmanischer Politiker auf Deutschland-Tour

Der türkische Präsident bezeichnet Deutschland und die Türkei als Krisengewinner

Eine Bombendrohung verhinderte gestern eine Rede des türkischen Präsidenten Abdullah Gül im Audimax der Berliner Humboldt-Universität. Der vollbesetzte Saal musste geräumt werden. Sprengstoff wurde nicht gefunden. Im kleineren Kreis holte Gül schließlich die Rede nach. Für ihn war das Ereignis sogleich die Gelegenheit, vor der terroristischen Gefahr zu warnen. Obwohl bisher nicht klar ist, wer hinter der Bombenwarnung stecken könnte, nannte er sogleich eine kurdische Exilorganisationen und Sender wie Roj TV, die zu friedlichen Kundgebungen gegen Gül in der Nähe der Universität aufgerufen hatten. Sie protestieren damit gegen die neue Eskalation des Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Minderheit im östlichen Teil des Landes. Ob damit auch die schwere Explosion im Zusammenhang steht, die am Dienstagvormittag das Zentrum von Ankara erschütterte, ist noch nicht klar. Die türkische Regierung geht von einem Bombenanschlag aus. Der Sprengstoff, den der Gül-Besuch in Deutschland enthielt, war mehr politischer Natur. Schon kurz vor dem Besuch monierte der islamische Politiker die deutsche Einwanderungspolitik. Diese Kritik wird nicht dadurch falsch, dass die türkische Praxis nicht besser ist, worauf viele Zeitungen hinwiesen. Gül will sich mit seiner Kritik an der deutschen Asylpolitik als guter Interessenvertreter der in Deutschland lebenden Menschen türkischer Herkunft in Szene setzen. Die forderte er auf, die deutsche Sprache zu lernen. Damit blieb er ganz auf der Linie, die andere türkische Politiker in der Vergangenheit bei Deutschland-Besuchen vorgegeben haben (Integration oder Assimilation?). Auch Ministerpräsident Erdogan forderte wiederholt die türkische Community auf, einerseits die Sprache Deutschlands zu lernen und sich zu bilden, andererseits aber ihre türkische Herkunft nicht zu vergessen.

Privilegierte deutsch-türkische Partnerschaft?

Wie bei Besuchen anderer türkischer Politiker blieb die EU-Frage ein Streitpunkt. Während Kanzlerin Merkel weiterhin eine privilegierte EU-Partnerschaft anbot, lehnte Gül diesen Vorschlag ab. Schließlich bestehe eine solche Beziehung bereits. Er forderte eine Vollmitgliedschaft. Allerdings kommt Gül nicht als Bittsteller, der unbedingt in die EU will. Denn in den letzten Jahren haben sich die Kräfteverhältnisse innen- und außenpolitisch geändert. Bestimmte anfangs der Streit zwischen kemalistischen Militärs und islamischer Regierung die innenpolitische Agenda, so hat letztere mittlerweile auf ganzer Linie gesiegt. Daher ist sie nicht mehr auf die EU angewiesen, um die Macht der Militärs zu beschneiden, die die sich nach dem letzten Putsch selber in die Verfassung geschrieben haben. Auch außenpolitisch zeigt die Türkei Muskeln und kehrt zu einem Neo-Osmanismus zurück, der durchaus auch neben und sogar gegen die EU agieren kann. Die dezidiert antiisraelische Volte der türkischen Regierung ist ebenso ein Anzeichen dafür, wie die Hinwendung zu den arabischen Ländern. Vor allem im nachrevolutionären Ägypten und Libyen versucht die türkische Regierung Sympathien zu gewinnen. Auch ökonomisch sieht sich die türkische Regierung auf der sicheren Seite. Schließlich gehört das Land zu den expandierenden Ökonomien. Dass der Preis ein großer Niedriglohnsektor ist, wird in der Türkei genau so gerne übersehen wie in Deutschland. Wenn daher Gül Deutschland und die Türkei als die beiden Gewinner der Wirtschaftkrise klassifiziert, dürfte diese Beurteilung auch im politischen Berlin auf offene Ohren stoßen. Schließlich gibt es eine lange Tradition der besonderen deutsch-türkischen Beziehungen. Der Dissens in der Beurteilung der EU-Mitgliedschaft und der Nahostpolitik dürfte bei dem Wiederaufleben einer privilegierten Partnerschaft zwischen beiden Ländern kein Hindernis sein.

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Peter Nowak