Demontage des paritätischen Gesundheitssystems geht weiter

Nach den Plänen der Regierung steigen die Beiträge und wird ein erster Schritt zur Kopfpauschale gegangen
Der Kassenbeitrag von Unternehmern und Lohnabhängigen soll künftig von 14, 5 auf 15,5 % steigen. Die Zusatzbeiträge der Krankenkassen, die nur von den Versicherten bezahlt werden, sollen ebenfalls erhöht werden. Bisher durften sie 1 % des Bruttoeinkommens nicht übersteigen. Diese Deckelung soll künftig wegfallen und die Krankenkassen sollen über die Höhe der Zusatzbeiträge selber entscheiden können. Für Menschen mit niedrigen Einkommen soll ein Sozialausgleich soziale Härten mildern.
   

Das sind die wesentlichen Ergebnisse einer Koalitionsrunde, die am 6. Juli Eckpunkte für eine Gesundheitsreform der Öffentlichkeit vorstellten. In der Presseerklärung des federführenden Gesundheitsministeriums wird die Bedeutung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen hervorgehoben:
——————————————————————————–

 Der Einführung von mehr Wettbewerb auf der Einnahmeseite müssen weitere Wettbewerbselemente auf der Ausgabenseite folgen. Nur mit einer Kombination beider Wettbewerbselemente kann die Umgestaltung des deutschen Gesundheitssystems gelingen.
Gesundheitsministerium

 

Die Einigung kam nicht überraschend. Nach der langwierigen Bundespräsidentenwahl und den fortdauernden Koalitionsquerelen stand die Bundesregierung unter Druck, vor der Sommerpause wenigstens auf einem der zahlreichen umstrittenen Politikfelder mindestens einen Formelkompromiss zu erzielen. Zudem bestand gerade auf dem Feld der Gesundheitspolitik ein besonderer Handlungsbedarf, waren doch innerhalb kurzer Zeit gleich drei gesetzliche Krankenkassen von der Insolvenz bedroht. Gesundheitsexperten sahen hierin erste den Beginn einer Pleitewelle im Bereich der Krankenkassen. Damit wurde aber nicht nur Handlungsbedarf in Richtung Bundesregierung geschaffen. Vielmehr wurde der Druck auf das paritätische Gesundheitssystem erhöht.

Demontage begann bereits unter Rot-Grün

Es basiert darauf, dass Unternehmen und Lohnabhängige gleichberechtigt in die Krankenkassen einzahlen. Dieses Prinzip, das jahrelang als Modell der sozialen Marktwirtschaft galt, wurde aber schon unter der rot-grünen Bundesregierung angetastet. Darauf weist Nadja Rakowitz, die Geschäftsführerin des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, hin:

„Durch die Einführung der Praxisgebühr und die einseitige Erhöhung des Arbeitnehmeranteils um 0,9 Prozentpunkte bei der Finanzierung des Gesundheitssystems unter Rot-Grün wurde das Prinzip der paritätischen Finanzierung im Gesundheitswesen aufgegeben“, betont Rakowitz gegenüber Telepolis. Die Soziologin sieht vor allem in der Erhöhung der Zusatzbeiträge die Fortsetzung einer Entwicklung, die sie als „Ökonomisierung des Gesundheitswesens“ bezeichnet (Protest gegen die Kopfpauschale).

Die Kritik an den Gesundheitsplänen kam prompt. Das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sieht in den Gesundheitsplänen eine „verkappte Kopfpauschale“. Der DGB appelliert an die CSU und Teile der CDU, die in den letzten Monaten mit scharfer Kritik an den FDP-Plänen zur Kopfpauschale hervorgetreten sind. Der Katholische Familienbund moniert, dass vor allem kinderreiche Familien durch die Gesundheitspläne zur Kasse gebeten werden. Auch sämtliche Oppositionsparteien haben die Pläne als unsozial kritisiert. Bei Grünen und SPD wird natürlich nicht erwähnt, dass die Demontage der Parität in ihrer Regierungsägide begonnen hat.

Doris Pfeiffer, die Vorstandsvorsitzende der gesetzlichen Krankenkassen, kritisierte die geringen Sparbemühungen und Ärzte und Krankenhäuser zu schonen: „Die Zusatzbelastungen der Versicherten könnten merklich geringer sein. Die Einnahmen der Ärzte und der Krankenhäuser sind so hoch sind wie noch nie.“ Hier wäre „eine echte Nullrunde angemessen gewesen“.

Wie lange hält der Formelkompromiss?

Ob mit den gesundheitspolitischen Eckpunkten zumindest bei diesem Thema Eintracht bei der Bundesregierung einkehrt, darf bezweifelt werden. So sieht die Süddeutsche Zeitung den heimlichen Gesundheitsminister und CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer als eigentlichen Sieger gegen den amtierenden Minister Rösler. Seehofer ließ auch gleich verbreiten, dass sich an der Gesundheitspolitik nichts ändern wird. Er hatte sich in den letzten Monaten nicht erfolglos, wie die Appelle des DGB zeigen, als soziales Gewissen und Antipoden zur FDP profiliert.

Dabei sollte man sich auch fragen, ob die medial ausgeschlachtete Gegnerschaft nicht auch eine Arbeitsteilung ist. Seehofer kann sich das Verdient anrechnen, die Kopfpauschale pur verhindert zu haben und damit die realen Belastungen für Menschen mit geringen Einkommen erträglicher zu machen. Oder er meint seine Gegnerschaft dazu wirklich ernst, dann dürfte aber der koalitionsinterne Formelkompromiss bald aufgekündigt werden und der Streit setzt sich fort. Gerade das berühmt-berüchtigte Sommerloch bietet für Politiker mit Profilierungsdrang ein großes Betätigungsfeld.

Interessant dürfte auch werden, wo die von Rösler angekündigten massiven Einsparungen von bis zu 7 Milliarden Euro im Gesundheitswesen zum Einsatz kommen. Denn davon müsste vor allem die immensen Gewinne jener Pharmaindustrie betroffen sein, die in der Vergangenheit in der FDP eine verlässliche Stütze hatte.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32910/1.html

Peter Nowak

Gegen die Rezepte des Doktor Rösler

Die Bundesregierung zeigt sich noch unschlüssig über Umfang und Tempo der Umgestaltung des Gesundheitssystems. Sie befürchtet mit Recht Widerstand aus der Bevölkerung gegen die wirtschaftsliberalen Rezepte des Doktor Rösler. Dass allein der Begriff Kopfpauschale ein mobilisierendes Potenzial hat, können die Mitarbeiter des Online-Kampagnendienstes Campact bestätigen.
Deren auch von ver.di unterstützte Unterschriftenaktion gegen die Kopfpauschale ist auf eine sehr gute Resonanz gestoßen. Der DGB bereitet zurzeit auch eine Kampagne gegen die Kopfpauschale vor. Manche Kollegen an der Basis bedauern, dass die nicht schon am Laufen ist.
Die Geschäftsführerin des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte Nadja Rakowitz wagt die Prognose, dass der Widerstand gegen die Gesundheitsreform ein größeres Mobilisierungspotential als die Proteste gegen die Agenda 2010 haben könnte. Denn von der Kopfpauschale fühlen sich mehr Menschen direkt betroffen, als von der Einführung von Hartz IV. Rakowitz, die in den letzten Wochen auf vielen Veranstaltungen gegen die Gesundheitsreform aufgetreten ist, rät allerdings davon ab, sich nur auf den Kampf gegen die Kopfpauschale zu beschränken. Dann bestünde die Gefahr, dass die von der Bundesregierung diskutierten Modelle einer stufenweisen Umgestaltung des Gesundheitswesens als kleines Übel akzeptiert und nicht gleichfalls als unsoziale Zurichtung wahrgenommen werden. Zum anderen dürften auch die ökonomischen Hintergründe nicht ausgeblendet werden, die Doktor Röslers Rezepten zugrunde liegen.
Es ist der Trend zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens, der durch die Wirtschaftskrise beschleunigt wird, weil das anlagesuchende Geldkapitel im Gesundheitsmarkt Verwertungsmöglichkeiten sieht. Schließlich gibt es im
deutschen Gesundheitswesen noch große Bereiche, die nicht vollständig in das Kapitalverhältnis einbezogen sind.
Dass das Thema Gesundheit in vielerlei Hinsicht Potenzial für politischen Widerstand hat, zeigte sich auch Mitte April bei einem Treffen der AG Gesundheitspolitik des Berliner Bündnisses »Wir zahlen nicht für Eure Krise« in den Räumen von ver.di. Dort hatte sich ein Kreis von sozialen und gesundheitspolitischen Gruppen zusammengefunden, die bisher selten gemeinsam agiert haben.Ihre Anregungen sollten in eine mögliche Kampagne einfließen. So betont Ole Baumann vom Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, die sich um die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere kümmert, bei den Warnungen vor einer Zweiklassenmedizin werde ausgeblendet,dass es heute im Flüchtlingsbereich in Deutschland bereits eine Drei- oder Vierklassenmedizin gebe. Die Vorsitzende der Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung Pro Familia Gisela Notz plädierte für die Einbeziehung der Forderung nach kostenfreiem Zugang zu Verhütungsmitteln in eine geplante Kampagne. Eine der wenig beachteten Nebenwirkungen von Hartz IV ist die Einschränkung, der vor allem Frauen mit geringen Einkommen aus finanziellen Gründen bei der Familienplanung unterworfen sind.
Weil eine große Mehrheit der Bevölkerung die ökonomische Zurichtung des Gesundheitswesens ablehnt, besteht hier ein guter Ausgangspunkt für Widerstand. Und es schließt sich unmittelbar die Frage an, warum andere Bereiche der Gesellschaft, von der Bildung bis zum Arbeitsmarkt, nach kapitalistischen Wirkungsmechanismen funktionieren müssen.
http://dju-berlinbb.verdi.de/publikationen/sprachrohr-ausgaben-2010/data/Sprachrohr-02_2010-als-PDF.pdf

Peter Nowak

„Kopfpauschale löst Widerstand aus“

 Von der Gesundheitsreform sind viele betroffen. Deswegen könnten die Proteste größer werden als die gegen Hartz IV, sagt die Ärztin Nadja Rakowitz. “ Nadja Rakowitz ist Geschäftsführerin des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Der Verband fördert Demokratie im Gesundheitswesen.

 In öffentlichen Krankenhäusern herrscht bisher noch keine Notwendigkeit, kapitalistische Profite zu machen“, sagt Rakowitz.

 Frau Rakowitz, könnte die Bewegung gegen die Kopfpauschale der Bundesregierung so groß werden wie die Proteste gegen Hartz IV? Nadja Rakowitz: Die Proteste könnten sogar noch größer werden. Denn von Hartz IV fühlten sich viele Menschen nicht betroffen und kümmerten sich nicht darum. Doch von der Kopfpauschale und anderen Formen der Gesundheitsreform sind viele betroffen. Das könnte mehr Potenzial zum Widerstand haben. Anzeige Aber Politiker der Koalition rücken doch schon längst von der Kopfpauschale à la FDP ab.

 

Sicherlich, es ist noch nicht klar, wer sich in der Koalition durchsetzt. Es wird vor der Landtagswahl in NRW verstärkt betont, dass es einen abrupten Systemwechsel in der Gesundheitspolitik nicht geben soll. Dabei liegt die Betonung auf abrupt. Doch auch eine stufenweise Hinführung zur Kopfpauschale ist abzulehnen, weil sie dazu beiträgt, dass das Gesundheitssystem unsozialer wird. Zudem sind wir Zeugen der Einführung einer kleinen Kopfpauschale, weil verschiedene Krankenkassen bereits einen pauschalen Zusatzbeitrag erheben.

Warum kämpfen Sie dann nur gegen die Kopfpauschale?

Es ist sicherlich das Projekt, an dem sich der größte Widerstand entzünden wird. Aber eine Bewegung gegen die Kopfpauschale reicht sicher nicht aus. Es muss darum gehen, den Fokus der Kritik auf die Unterwerfung der Gesundheitspolitik unter Kapitalinteressen zu richten.

Halten Sie die von Attac und anderen propagierte Parole „Gesundheit ist keine Ware“ für mobilisierungsfähig?

Sicherlich kann diese Parole dabei helfen, ein größeres Bündnis zu schmieden. Denn noch ist es in großen Teilen der Bevölkerung weitgehend Konsens, dass Gesundheit keine Ware werden darf. Doch aus einer emanzipatorischen Perspektive kann es nicht ausreichen, nur bestimmte Refugien wie Gesundheit und Bildung aus der Kapitalverwertung herauszuhalten.

Ist nicht auch Gesundheit in Deutschland schon eine Ware?

Nein, noch nicht flächendeckend. Zum Beispiel in öffentlichen Krankenhäusern herrscht bisher noch keine Notwendigkeit, kapitalistische Profite zu machen. Durch die Konkurrenz müssen heute aber auch öffentliche Krankenhäuser wirtschaften, als ob sie Unternehmen wären.

http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/kopfpauschale-loest-widerstand-aus/

INTERVIEW: PETER NOWAK