Bafögantragstau – oder wie die Krise in Deutschland ankommt

Mit der Agenda 2020 soll der Sozialstaat auf allen Gebieten weiter abgebaut werden

Ende Dezember 2012 hat die Berliner GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt in einer Pressemitteilung Alarm geschlagen. Weil die Bafög-Anträge von Tausenden Schülern und Studierenden trotz rechtzeitiger Abgabe noch nicht bearbeitet worden sind, sei die Situation der Betroffenen dramatisch. Viele wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Zudem haben sich viele Betroffene verschuldet. Denn von den Abschlagszahlungen, die nur 80 Prozent des Bafög betragen, kann kaum jemand über die Runden kommen. Die Berliner GEW forderte, dass zumindest diese Abschläge unbürokratisch weiter gewährt werden muss, ohne dass die Betroffenen weitere Anträge steellen müssen.

„Bafögantragstau – oder wie die Krise in Deutschland ankommt“ weiterlesen

Das Gedenken hat ein Nachspiel

Nach ihrer Protestaktion bei der Erinnerungsfeier am Montag verteidigt sich die Oury-Jalloh-Initiative gegen Vorwürfe
Die Proteste bei der Gedenkveranstaltung für den verbrannten Asylbewerber Oury Jalloh sorgen weiter für Diskussionen.
Der Eklat bei der Gedenkveranstaltung zum achten Todestag des afrikanischen Flüchtlings Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 unter ungeklärten Umständen in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, beschäftigt weiter die Medien. Eine Gruppe von Flüchtlingen hatte am Montag lautstark ihren Unmut über die Veranstaltung deutlich gemacht und von Heuchelei gesprochen (ND berichtete). Einige Medien sprachen darauf von Störer, die von Außerhalb“ gekommen sind und monierten sich über einen „gewaltbereiten afrikanischen Asylbewerber“.
„Mit uns hat niemand geredet gesprochen“ meinte Komi Edzro von der „Initiative In Gedenken an Oury Jalloh e.V. gegenüber ND. Zu den konkreten Vorfällen auf der Kundgebung wolle die Initiative erst Stellung nehmen, wenn man sich genau über die Vorfälle erkundigt hat. Man werde aber auch die eigenen Freunde gegen mögliche strafrechtlichen Konsequenzen aber auch zunehmende öffentliche Angriffe verteidigen, betonte er. Dabei geht es vor allem Abraham H., der sich am Montag gegen die Kundgebung protestierte. „Der Mann ist durch die Ereignisse rund um Oury Jallohs Tod traumatisiert“, betont Edzro. Er erinnerte an die Demonstration zum siebten Todestag von Yalloh im letzten Jahr, als die Polizei brutal gegen die Aktivisten vorging. Zu den verletzten Demonstranten gehörte auch H. Auch bei den Gerichtsverfahren, die die Todesumstände von Jalloh klären sollten, sei H. immer wieder gemaßregelt worden, wenn er seine Empörung über den Umgang mit dem Fall äußerte. Schließlich habe er sogar ein Hausverbot für das Gerichtsgebäude bekommen. „Die Menschen, die dafür sorgten, dass sich die Justiz mit den Todesumständen befassen muss, werden so davon ausgeschlossen. Das schafft Empörung und Wut“, beschreibt Edzro die Gefühle vieler der in der Gedenkinitiative aktiven Flüchtlinge. Der Tod der Mutter von Oury Jalloh, die sich bis zum Schluss für die Aufklärung des Todes ihres Sohnes einsetzte habe die Verbitterung ebenso erhöht, wie die Meldung, dass in Polizeikreisen einen Spendenaufruf kursiert, mit dem die Geldstrafe beglichen werden soll, zu der der Dessauer Polizeibeamte Andreas S. verurteilt wurde. Er war der nach zwei langwierigen Gerichtsverfahren der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen worden. Dass aber die Frage, wie es zu dem Tod von Jalloh kam, unbeantwortet blieb, sorgt bei der Initiative für besonders große Wut. Schließlich hatten sie über Jahre für die Gerichtsverfahren gekämpft, weil sie dort Aufklärung erhoffen haben. „Jetzt wird uns gesagt, wir müssen das Urteil akzeptieren. Doch wir verlangen weiter Aufklärung“, betont Edzro.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/809512.das-gedenken-hat-ein-nachspiel.html

Peter Nowak

Werbefreies Internet, Zensur oder Kampf gegen Google?


In Frankreich sorgt der zweitgrößte Internetprovider Free mit seinem Angebot, das standardmäßig einen Werbeblocker integriert hat, für Diskussionen

In Frankreich schien sich das neue Jahr mit einer Revolution im Internet anzukündigen. Millionen Surfer konnten die Webseiten ohne jegliche Werbung aufrufen. Der zweitgrößte Internetprovider Freebox hatte zum Jahreswechsel den Werbeblocker Adblock Plus in sein Angebot Freebox Revolution integriert. Doch schon nach wenigen Tagen war Schluss mit dem werbefreien Internet.

Die französische Ministerin für Telekommunikation Fleur Pellerin hatte Freebox die Nutzung des Werbeblockers untersagt. Der Mitgründer von Adblock Plus Till Faida gibt sich in einem Pressestatement trotz des politischen Eingriffs zufrieden:

„Der Vorstoß des Internetproviders Freebox in Frankreich zeigt, in welcher Krise sich Online-Werbung derzeit international befindet. Mittlerweile wurde Freebox zwar untersagt, diese Funktion zu nutzen; dennoch ist die Nachfrage der Verbraucher nach Werbeblocker groß.“

Die Suchanfragen nach „Adblock“ in Frankreich hätten sich nach der Bekanntgabe von Freebox mehr als verdoppelt. Circa 100.000 neue Abonnenten sollen sich in den letzten Tagen das Add-on Adblock Plus heruntergeladen haben.

Zweite Front im Kampf gegen Google?

Doch die Geschichte von der bösen Industrie, die mit Unterstützung der Politik ein werbefreies Internet verhindert, klingt zu schön, um wahr zu sein. Vor allem erklärt sie nicht, warum Freebox den Werbeblocker überhaupt integrierte, statt selber an der Werbung zu verdienen. In der FAZ beschreibt Jörg Altwegg die Maßnahme als zweite Front im Kampf gegen Google:

„Die französischen Internetprovider wollen den Suchmaschinenkonzern an den Kosten für die technische Infrastruktur beteiligen. Orange, SFR und Bouygues, die wichtigsten Anbieter, unterstützen das Anliegen. Sie investieren Milliarden in die Netze und Sendeanlagen und halten Google für einen Parasiten, der kaum Kosten hat und überall profitiert.“

Zudem hat Freebox mit seiner Maßnahme keineswegs ein webefreies Internet im Sinn und wollte Marktanteile und Sympathien erhöhen. Schließlich gehört Free gehört dem Unternehmer Xavier Niel, der mit seinen Billigangeboten für Internet und mobiles Telefonieren die Marktführer in Zugzwang brachte und die ganze Landschaft verändert hat. Er ist inzwischen auch einer der drei Eigentümer der Zeitung Le Monde.

Wer entscheidet, was akzeptable Werbung ist?

Auch der Adblock Plus steht schon länger in der Kritik. Denn ganz so konsequent sind die Verantwortlichen bei ihrem Kampf gegen die Werbung nicht. Mittlerweile haben sie den Terminus akzeptable Werbung eingeführt und meinen damit die Anzeigen, die den Programmentwicklern als akzeptabel erscheinen.

„Werbung soll nicht blinken oder Töne von sich geben, sie soll Webseiten nicht mit Scripten verstopfen und so die Ladegeschwindigkeit behindern. Am besten sind reine Textanzeigen, die den Nutzer mit Inhalten und nicht mit aufmerksamkeitsheischenden Effekten zu überzeugen versuchen“, so die Philosophie der Adblock-Entwickler

Weil auch der größte Teil der Werbeindustrie das Interesse haben dürfte, Produkte zu entwickeln, die die Interessenten nicht gleich nerven, könnten so vermeintliche Vorkämpfer für ein werbefreies Internet, die vor zwei Jahren noch heftig bekämpft wurden, zu Propagandisten einer besonders freundlichen, aber auch besonders erfolgreichen Werbung werden. Schon monieren Kritiker im Netz, dass sich Adblock von der Werbeindustrie kaufen ließ. Das dürfte allerdings ein ähnliches Märchen sein, wie die Erzählung von Freebox als Vorkämpfer für ein werbefreies Internet.


Vorreiter einer neuen Zensurmöglichkeit

Wache Beobachter fürchten noch ganz andere Folgen. Der Präzidenzfall Free Revolution hat ein Modell vorgeführt, wie ein Provider standardmäßig Zensur in sein Angebot einbauen kann, warnt das Magazin Numérama. Free habe in dieser Hinsicht großen Schaden angerichtet:

„Free hat gezeigt, dass ein Provider dazu bereit ist, Inhalte zu blockieren (vergessen wir für zwei Minuten, dass es Werbung war, es handelt sich in erster Linie um HTML-Code), ohne die Abonnenten davon in Kenntnis zu setzen, ohne ihnen zu sagen, welche Inhalte auf der Webseite, die sie aufsuchen, unterdrückt wurden.“

Mit der Aktion habe Free ein Feld für alle Lobbyisten aus allen möglichen Richtungen eröffnet, die gerne bestimmte Zugänge zu bestimmten Inhalten gesperrt hätten. Die Einrichtung einer Option, die es ermöglicht, den Blocker zu desaktivieren, macht die Angelegenheit nicht viel besser, kritiert Numérama. Um diese Wahl überhaupt zu haben, müsse man informiert sein. Noch schlimmer sei aber, dass sich die Option ‚Filter ausschalten‘ auf „perverse Weise“ gegen die Interessen der Nutzer verwenden ließe – nämlich als Information darüber, wer den Filter ausschaltet. Das kann in Frankreich rechtliche Konsequenzen haben – bei Usern, die auf Filesharer-Seiten gehen.

Das Hadopi-Gesetz schreibt vor, dass der Rechner mit einem Filter versehen sein muss, um ihn vor Missbrauch im Zusammenhang mit Verletzungen von Immaterialgüterrechten zu schützen. Ansonsten drohen dem User unter der angegebenen IP bei Verletzungen von Lizenzrechten Strafen, wenn ihm nachgewiesen wird, dass er sich der „Nachlässigkeit“ schuldig gemacht hat. Bislang war dieser Nachweis schwer zu führen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153497
Peter Nowak

»telegraph« über DDR-Jugendkultur

. In der DDR stand die Kirche von Unten (KvU) für eine staatsferne, unangepasste Kultur- und Jugendszene. Sie erkämpfte sich in der DDR Freiräume, doch im realexistierenden Kapitalismus soll die KvU aus ihrem Domizil im Prenzlauer Berg vertrieben werden. Diese Geschichte beschreibt der Historiker und einstige Aktivist der DDR-Jugendopposition, Dirk Moldt, in der neuen Ausgabe der ostdeutschen Zeitschrift »telegraph« (Nr. 124, 76 Seiten, 6 Euro). Dietmar Wolf, Mitbegründer der Autonomen Antifa Ostberlins erinnert darüber hinaus an die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Rostock und Mannheim-Schönau. Über den Zusammenhang von Krise und Rassismus informiert der Journalist Thomas Konicz und der österreichische Verleger Hannes Hofbauer beschreibt, wie in Osteuropa sogenannte bunte Revolutionen in westlichen Stiftungen geplant werden. Ein interessantes Heft, das Themen abseits des Mainstreams behandelt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809375.bewegungsmelder.html
telegraph.ostbuero.de
Peter Nowak

Wowereit – Rücktritt auf Raten?

Der Regierende Bürgermeister von Berlin steht nach der fünften Verschiebung der Flughafenöffnung unter Druck – aber vielleicht wird der Bevölkerung dann klar, dass der neue Airport gar nicht gebraucht wird

Am gestrigen Nachmittag kündigte der Regierende Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit seinen Rücktritt an, vorerst aber nur aus dem Aufsichtsrat der Berliner Flughafengesellschaft. Zuvor wurde eine Meldung der Bildzeitung bestätigt, dass sich die Eröffnung des Airport am Rande von Berlin erneut verschiebt und vor dem Frühjahr 2014 nicht denkbar ist.

Damit ist der Termin bereits vier Mal verschoben worden. Ursprünglich sollte er am 30.Oktober 2011 in Betrieb gegangen sein. Das Datum war schon lange stillschweigend und ohne öffentliche Aufmerksamkeit gecancelt worden. Doch für die Eröffnung am 3.Juni 2012 waren nicht nur bereits Plakate gedruckt. Auch viele Läden haben schon Verträge abgeschlossen. Daher sorgte die Verschiebung dieses Termins für erheblichen Druck auf die Politik. Nachdem kurzzeitig der 17.März 2013 als neuer Eröffnungstermin genannt wurde, hatte man sich dann auf den 27.Oktober verständigt. Auch dieser Termin ist nun Makulatur.

Hätte Wowereit, der sicher schon länger über das Flughafendebakel informiert war, nicht schon nach den letzten Wahlen sehr zur Überraschung eines Großteils der Berliner Bevölkerung – und zum Unmut großer Teile seiner eigenen Partei – eine Koalition mit der CDU statt mit den Grünen durchgesetzt, wäre er wahrscheinlich nicht mehr im Amt. Denn ein Bündnis aus SPD und Grünen hatte nur eine knappe Mehrheit gehabt. Die Grünen, die die Brüskierung durch Wowereit bis heute nicht verwunden haben, zeigen nun, dass sie auch Opposition können und waren die ersten, die Wowereits Rücktritt fordern. Die gesamte übrige buntscheckige parlamentarische Opposition aus Piraten, FDP und Linken schloss sich an.

Doch solange der christdemokratische Koalitionspartner bei der Stange bleibt, wird Wowereit im Amt bleiben können. Am kommenden Donnerstag dürfte er das Misstrauensvotum im Abgeordnetenhaus daher überstehen. Aber auch die Union wird nur auf einen günstigen Moment und gute Umfragewerte warten, um Wowereit zu Fall zu bringen. Das ist schließlich das politische Geschäft. Der damalige SPD-Hoffnungsträger hat 2001 genauso gehandelt, als er den Diepgen-Senat stürzte und die erste Koalition mit der PDS einging.

Diese Zeit mit einem so pflegeleichten Koalitionspartner dürften Wowereits beste Jahre gewesen sein. Damals war in der Hauptstadtpresse auch gelegentlich gerätselt worden, wie lange Wowereit es in Berlin aushält. In jenen Tagen wurde er als reif für einen Posten in der Bundespolitik gehandelt, sogar als möglicher Kanzlerkandidat stand er zur Diskussion.

Wowereit statt Steinbrück?

Würde Wowereit demnächst zurücktreten müssen, ist davon nicht mehr die Rede. Warum eigentlich? Sollte die SPD bei der Landtagswahl in Niedersachsen nicht gewinnen und der Unmut über Peer Steinbrück zunehmen, wäre doch Wowereit die perfekte Alternative. Schließlich hat er es in seinen besten Zeiten in Berlin verstanden, neoliberale Politik charmant zu verkaufen. Er lamentierte nicht über zu geringe Einkommen der Spitzenpolitiker, sondern kreierte den Spruch „arm, aber sexy“. Dass er damit selbst nicht gemeint war, wurde ihm gerne verziehen.

Denn er war eher dafür bekannt, dass er auf Festivals und Partys als bei Banken und Großunternehmen Ansprachen hielt. Über Honorare wurde gar nicht gesprochen. War es seine Bescheidenheit oder ist Wowereit in finanziellen Dingen nur dezenter als sein Parteifreund Steinbrück?

Und warum sollte ausgerechnet ein sich länger dahinziehender Hauptstadtflughafenbau einen Karriereknick für Wowereit bedeuten? Könnte er die Vorwürfe der Opposition nicht in Pluspunkte für sich umwandeln? Da wird ihm vorgeworfen, im Aufsichtsrat mit stoischer Ruhe der BER-Pleite zugesehen zu haben. Ja, wäre es besser gewesen, er hätte das Ganze durch hektische Symbolaktionen noch mehr chaotisiert? Oder hätten die Oppositionsparteien, wenn sie an der Regierung gewesen wären, die Bevölkerung etwa aufgerufen, am Wochenende Freiwilligenarbeit am Flughafengelände zu leisten, damit der Eröffnungstermin eingehalten wird? Hektisch genug waren ja schon die Verantwortlichen der Flughafengesellschaft, die nach der Debatte um die Terminverschiebung fast alle Fachleute entlassen haben, so dass niemand mehr wusste, wie es jetzt weitergeht.

Vom Flughafen mit Terminverzögerungen zur Bauruine

Sie haben aus einem Flughafenbau mit Terminverzögerungen eine Bauruine gemacht. Gäbe es bei der parlamentarischen Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus auch noch Menschen, die nicht wie die Regierung im Wartestand agierten, würden sie ihre Chance nutzen und die Parole ausgeben, der Berliner Flughafen soll eine Bauruine bleiben. Schließlich sind in den 1970er und 1980er Jahren auch viele AKW-Projekte entweder Bauruinen geblieben oder aus der Planung erst gar nicht hinausgekommen und die Grünen haben applaudiert.

Denn eines zeigt sich doch durch die dauernden Verzögerungen ganz deutlich. Es geht auch ohne den neuen Großflughafen. Außerdem wäre es ein durchaus umweltfreundliches Unterfangen, wenn der Vielfliegerei vor allem auf Kurzstrecken Grenzen gesetzt würden. Vor mehr als 25 Jahren waren die Grünen noch Teil eines breiten, bundesweit beachteten Bündnisses gegen den Bau der Startbahn am Frankfurter Flughafen. Der Kampf, in den die ganze Rhein-Main-Region einbezogen war, ging verloren.

Mit dem Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 hat ein solch entschiedener Ein-Punkt-Protest gegen ein Verkehrsinfrastrukturprojekt seine Fortsetzung gefunden. Dort beobachten die Aktivisten akribisch, ob sich eine seltene Fledermaus oder ein Juchtenkäfer in die Bäume und das Gestrüpp verirrt, damit das Bauvorhaben verzögert werden kann.

Beim Berliner Flughafen klappt das ohne animalische Hilfe. Wenn schon die parlamentarische Opposition so phantasielos ist, könnte ja vielleicht eine außerparlamentarische Bewegung entstehen, die nicht nur den Weiterbau einer Stadtautobahn verhindern will, sondern sich auch die Forderung nach Erhalt des Airports als Bauruine zu eigen macht.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153487
Peter Nowak

»Ihr Arbeitslosengeld fällt komplett weg«


Weil er zum dritten PC-Grundkurs nicht mehr ging, erhält ein Koch aus Forst drei Monate kein Geld

Bert Neumann ist empört. Der gelernte Koch aus Forst, dessen Name hier auf seinen Wunsch hin geändert wurde, ist seit mehreren Jahren erwerbslos und hat Hartz IV bezogen. Gerade hat ihm sein Jobcenter mitgeteilt, dass er von 1. Januar bis 31. März keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen wird. »Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 Prozent des Arbeitslosengeld II«, heißt es in dem Schreiben einer Sachbearbeiterin. Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, wurde im nächsten Absatz des Schreibens noch einmal wiederholt: »Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.«

Als Grund wird angeben, Neumann sei einem PC-Grundkurs des Bildungswerks Futura GmbH unentschuldigt ferngeblieben. Neumann bestreitet diesen Vorwurf nicht. »Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde«, erklärt er. Dort seien den Kursteilnehmern die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden. Dadurch sollten sie in die Lage versetzt werden, im Netz nach Stellenangeboten zu suchen und sich übers Internet zu bewerben. »Wir lernten in dem Kurs, wie man einen Computer anschaltet und die Maus bedient. Da ich aber schon lange mit dem Computer arbeite, war das für mich überhaupt nichts Neues«, begründete Neumann sein Verhalten. Das habe er auch seiner Sachbearbeiterin beim Jobcenter mitgeteilt. Die aber habe ihn mit der Begründung, dass auf einer der Bewerbungen, die er zu dem Termin mitbringen musste, ein Fleck gewesen sei, aufgefordert, den Kurs erneut zu besuchen.

»Mit einer teilweisen Streichung des ALG II habe ich gerechnet, nachdem ich den Kurs verlassen habe, nicht aber mit einer Totalstreichung« erzählt Neumann. Um dringend notwendige Lebensmittel zu kaufen, wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von 176 Euro ausgehändigt. Den darf er nur für bestimmte Waren eintauschen. Zudem muss er den Betrag bei einem einzigen Einkauf ausgeben. Ist der Wert des Einkaufs geringer, verfällt der Rest, weil kein Wechselgeld ausgegeben werden darf. Neumanns größte Sorge ist momentan, seine Wohnung zu verlieren, weil er seine Miete nicht bezahlen kann. »Ich habe es dem Vermieter noch gar nicht gesagt, weil ich befürchte, dass er mir sofort die Kündigung schicken wird«, sagt Neumann. Mit Hilfe der Linkspartei hat er einen Anwalt gefunden, der Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht hat.

Die Erfolgsaussichten sind nicht schlecht. Eine 100-prozentige Sanktion sei zwar generell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, erklärt Harald Thome. »Erfolge gibt es regelmäßig. Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung zirka 75 Prozent der Sanktionsbescheide kassiert werden«, betont der beim Verein Tacheles arbeitende Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht.

Doch bis zu einer juristischen Entscheidung kann es einige Wochen dauern. Zurzeit wird Neumann von Freunden unterstützt. Sie planen für Anfang Februar eine Veranstaltung zum Widerstand gegen Zwangsmaßnahmen unter dem Hartz-IV-Regime. Dort soll etwa der Berliner Aktivist und Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens Ralph Boes reden, der vor einigen Wochen mit einem Hungerstreik gegen die Sanktionen der Jobcenter bundesweit für Aufsehen sorgte. Auf der Veranstaltung soll auch die Initiative vorgestellt werden, die zum Ziel hat, dass sich Erwerbslose bei ihren Terminen beim Jobcenter von Personen ihrer Wahl begleiten und unterstützen lassen können. Die Gruppe hat mittlerweile erfahren, dass in Forst aktuell fünf Erwerbslosen die Bezüge komplett gestrichen wurden.

Silvia Friese vom Jobcenter Spree-Neiße verwies darauf, dass Neumann in der Vergangenheit bereits zwei Maßnahmen abgebrochen habe und nun unentschuldigt bei dem PC-Kurs fehlte. Da der Erwerbslose bisher nicht seine Bereitschaft erklärt habe, »die Pflichten nachträglich erfüllen zu wollen«, sei »eine nachträgliche Begrenzung der Sanktion auf 60 Prozent des Regelbedarfes nicht möglich.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809300.ihr-arbeitslosengeld-faellt-komplett-weg.html

Peter Nowak

Keine Erfolge ohne Basisbewegungen

Peter Nowak über „Politische Streiks im Europa der Krise“

Am 14. November streikten Gewerkschaften in mehreren europäischen Ländern erstmals koordiniert gegen die europäische Krisenpolitik. Viele fragten sich nachher: War das der Beginn eines neuen Protestzyklus?
Gerade rechtzeitig kommt da ein Buch auf den Markt, in dem sich knapp 20 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern mit der aktuellen Bedeutung der politischen Streiks im Europa der Krise befassen. Einige AutorInnen gehen dabei auch auf die Debatten über Massenstreiks in der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren ein und heben dabei die Positionen von Rosa Luxemburg positiv hervor. Bezug genommen wird auf Rosa Luxemburg Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, wo sie aus den Erfahrungen der gescheiterten Russischen Revolution von 1905 das Konzept des Massenstreiks als offensive Waffe einer erstarkenden Arbeiterbewegung bezeichnete. Auch 1913 schrieb sie in einem Artikel dass sich die Massen mit der Anwendung der neuen Kampfform vertraut machen müssen.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt aber auf der Untersuchung der aktuellen Arbeitskämpfe.
Der Historiker Florian Wilde, der als Referent für Gewerkschaftspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet und im Mai 2012 einen Kongress zum Thema politische Streiks in Europa vorbereitet hat, skizziert in der Einleitung den politischen Kontext, der sich fundamental von den Zeiten, als Rosa Luxemburg wirkte, unterscheidet. Während die Anzahl ökonomischer Streiks in den letzten Jahren zurückgegangen sei, hätten politische Generalstreiks zugenommen, denen er aber – anders als den Generalstreiks zu Beginn der Volksfrontregierung 1936 in Frankreich oder den 1968er-Streiks kein revolutionäres Potenzial attestiert.
„Im Gegenteil: Die zunehmende Zahl von politischen Streiks und Generalstreiks ist zunächst Ausdruck der hochgradig defensiven Stellung, in der sich die Gewerkschaften nach drei von Niederlagen geprägten Dekaden heute befinden (…) Die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke kämpfen in dieser Situation mit dem Rücken an der Wand. Aus dieser Konstellation ergibt sich sowohl die massive Zunahme politischer Streiks als auch ihr vorrangig defensiver Charakter“ (S. 12).
In einer längeren, vergleichenden Studie (S. 24-106) werten die Sozialwissenschaftler Jörg Nowak und Alexander Gallas die aktuelle Streikgeschichte von Großbritannien und Frankreich aus und zeigen die Grenzen der auf den ersten Blick im Vergleich zur Situation in Deutschland beeindruckenden Auseinandersetzungen auf. In beiden Ländern konnten mit den Arbeitskämpfen keine grundlegenden Änderungen der Politik erreicht werden. „So gelingt es der Arbeiterbewegung nicht, konstruktive Gestaltungsmacht zu erlangen. Im Kontext der Krise, in der fast keine Regierung in Europa Zugeständnisse machte, hat sich dieses Protestmuster weitgehend erschöpft“ (S. 64), so Jörg Nowaks ernüchterndes Fazit zu den Streiks in Frankreich. Wenn er im Anschluss darauf verweist, dass der Wahlsieg der Sozialisten ein Effekt der Arbeitskämpfe war, ist damit angesichts der Politik der europäischen Sozialdemokratie keinesfalls gesagt, dass in diesem Wahlsieg auch ein politischer Erfolg der Streikenden lag. Alexander Gallas zeigt in seinem Großbritannien-Schwerpunkt, wie sich Gewerkschaften, Studierende und soziale Bewegungen in ihren Kämpfen in den Jahren 2010 und 2011 aufeinander bezogen haben. Überzeugend argumentiert er, dass es nur so möglich ist, einen gesellschaftlichen Einfluss zu erreichen – die Gewerkschaften alleine seien dazu nicht mehr in der Lage, da sie durch die drastische Deindustralisierung in Großbritannien massiv geschwächt worden seien.
Auch in Griechenland und Spanien, wo in den letzten Jahren die meisten Generalstreiks stattgefunden haben, die aber oft nur Aktionstage waren, ist es nicht gelungen, wenigstens Teile des Krisenprogramms zu verhindern. Olga Karyoti, die die griechische Basisgewerkschaft der Übersetzer vertritt, spricht sogar von ritualisierten Generalstreiks, die ohne politische Erfolge zu Enttäuschung und zum Rückzug der Aktivisten führen (S. 168).
Ähnlich selbstkritische Äußerungen finden sich vor allem in den zehn Länderbeiträgen, in denen linke BasisgewerkschafterInnen zu Wort kommen, wobei die Begründungen durchaus unterschiedlich ausfallen: So analysiert Christine Lafont vom Gewerkschaftsdachverband Solidaires, (den ehemaligen SUD-Gewerkschaften, Anm. d. Red.) wie in Frankreich die zögerliche Haltung der mitgliederstärkeren CGT-Gewerkschaft die letzten großen Streiks gegen die Sozialpolitik von Sarkozy in eine Niederlage führte (S. 145ff.). Deolinda Martin, die dem oppositionellen Flügel der portugiesischen Gewerkschaft CGTP angehört, beschreibt dagegen, dass der dritte Generalstreik seit 2010 im Januar 2012 von der Masse der Bevölkerung ignoriert wurde (S. 150ff.). Bisher wenig bekannte Informationen über das Streikgeschehen in Rumänien und im ehemaligen Jugoslawien liefert Boris Kanzleiter in seinem knappen, aber informativen Aufsatz (S. 114).
So beteiligten sich am 18. April 2012 an der größten Demonstration seit der slowenischen Unabhängigkeit fast 1000000 Menschen an einer Großdemonstration in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana gegen die Kürzungspolitik im öffentlichen Sektor. „In einem Land nur zwei Millionen EinwohnerInnen zählenden Land war dies eine Demonstration der Stärke der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und des Gewerkschaftsdachverbandes ZSSS“, schreibt Kanzleiter (S.115). In Kroatien wiederum bildete sich in Universitätsprotesten zwischen 2008 und 2010 eine neue Linke heraus, die sich im Zuge der Finanzkrise auch mit streikenden Arbeitern und protestierenden Landwirten solidarisierte. „So hielten bereits im Dezember 2009 protestierende Milchbauern an der Philosophischen Fakultät von Zagreb ein Plenum ab“, so Kanzleiter (S.119). Auch in verschiedene lokale Arbeitskämpfe habe die studentisch geprägte Linke in den letzten beiden Jahren interveniert. Als Treffpunkt der neuen kroatischen Linken habe sich das jährlich im Mai in Zagreb stattfindende Subversive Festival“ etabliert, in dem neben kulturellen Darbietungen auch politische Debatten eine wichtige Rolle spielen. In Serbien, wo sich durch die Dominanz des Nationalismus eine landesweite neue Linke bisher nicht herausgebildet hat, listet Kanzleiter in den letzten Jahren lokale Streiks auf, unter Anderem im Textilkombinat Raska. Der bekannte Aktivist dieses Streiks Zoran Bulatovic wurde anschließend mehrmals tätlich angegriffen und lebt daher mittlerweile im Ausland. Auch in Rumänien, wo sich bisher keine neue emanzipatorische Linke formieren konnte, haben im Januar 2012 massive soziale Proteste zum Rücktritt der dem Präsidenten nahestehenden neoliberalen Regierungskoalition geführt. Seitdem liefern sich der Präsident und die neue sozialliberale Regierung einen erbitterten Machtkampf. Eine eigenständige parteiabhängige soziale Bewegung hat sich aber bisher in dem Land nicht herausbilden können.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Streiks in Deutschland. So erinnert Heidi Scharf, erste Bevollmächtigte der IG-Metall Schwäbisch Hall, an vergessene Arbeitskämpfe der letzten Jahrzehnte, die den Charakter politischer Streiks angenommen hatten. Dazu zählten Arbeitsniederlegungen gegen den heute weitgehend vergessenen „Franke-Erlass“, benannt nach dem ehemaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit: Dieser verfügte Mitte der 80er-Jahre, dass Lohnabhängige, die während eines Streiks von den Unternehmen ausgesperrt wurden, keine Unterstützung vom Arbeitsamt mehr bekommen sollten (S. 212). Auch der Frauenstreiktag vom 8. März 1994, der für Scharf und eine weitere Gewerkschafterin einen Strafbefehl wegen Rädelsführerschaft zur Folge hatte, weil die Aktivistinnen eine nicht für den Fußgängerübergang vorgesehene Straßenkreuzung überquerten, wird noch einmal in Erinnerung gerufen (S. 214). Der ehemalige IG Medien-Vorsitzende Detlef Hensche ruft ein Problem in Erinnerung, das sich für jede Geschichtsschreibung über politische Streiks stellt, wenn er schreibt, dass diese in der BRD nie so benannt wurden, weil die offiziell verboten sind. Hensche fordert dazu auf, sich das Recht auf politische Streiks zu erkämpfen. „Die Gewerkschaften sind unter ihren Möglichkeiten geblieben (S. 220)“, skizziert er sehr vorsichtig die Rolle der DGB-Gewerkschaften, die vom politischen Streik in der Mehrheit bis heute nichts wissen wollen und auf die Gesetzeslage verweisen. Dagegen richtet auch sich der „Wiesbadener Appell“ für ein Recht auf politischen Streik, den der Initiator und hessische IG Bauen Agrar Umwelt-Sekretär Veit Wilhelmy im Buch vorstellt und begründet (S. 227).
Leider fehlt aus Deutschland ein Beitrag von einer Basisgewerkschaft außerhalb des DGB. Schließlich waren in den letzten Jahren die GDL, die UFOs in den letzten Jahren oft viel streikfreudiger gewesen, als die DGB-Gewerkschaften. Die anarchosyndikalistische FAU befürwortet seit Langem politische Streiks. Dafür wäre der Schlusstext (S. 232ff.), eine Eröffnungsrede des Linken-Politikers Klaus Ernst auf der schon erwähnten Konferenz der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Mai 2012, entbehrlich gewesen, weil er keine neuen Argumente liefert.
Das Buch liefert insgesamt einen guten Überblick über das politische Streikgeschehen im gegenwärtigen Europa. Das politische Fazit lautet, dass Streiks auch heute noch eine wichtige politische Kampfform im Europa der Krise sind. Die Länderbeispiele zeigen aber auch, dass dafür eine Basisorientierung der Gewerkschaften und eine Kooperation mit sozialen Bewegungen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Ablauf sind. In Deutschland aber muss das Thema ohnehin erst einmal auf die Tagesordnung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gesetzt werden.
Denn die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in vielen europäischen Ländern haben gerade kampferfahrene Gewerkschaften geschwächt. Isolierte Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor, die in vielen Ländern boomen, sind auch nicht die besten Voraussetzungen für solidarische Kämpfe. In Deutschland, wo sich die DGB-Gewerkschaften sich als Sozialpartner begreifen und politische Streiks keine Tradition haben, war es schon ein relativer Erfolg, dass auf Initiative von außerparlamentarischen Linken auch die DGB-Gewerkschaften in Berlin am 14. November zu einer Kundgebung mit anschließender Demonstration aufriefen. Die Krisenproteste des Jahres 2012 vom antikapitalistischen Aktionstag am 31. März über die Blockuppy-Aktionstage Mitte Mai bis zum 14. November machen noch einmal deutlich, dass die Konzentration auf mit großen Aufwand organisierte Aktionstage verpuffen, wenn es an Widerstand im Alltag fehlt. Dass er möglich ist, zeigt der MieterInnenwiderstand in verschiedenen Städten. So hat sich n Berlin in den letzten Wochen ein Bündnis gegen Zwangsräumungen von Mietern, die ihre Miete nicht zahlen konnte, gebildet. Mit der Parole „Mieten runter – Löhne hoch“ wurde der Zusammenhang zwischen der MieterInnenbewegung und Arbeitskämpfen zumindest beim Motto hergestellt. Hier bieten sich Ansätze für Proteste, die da ansetzen, wo bei den Leuten die Krise ankommt.

Peter Nowak
Alexander Gallas / Jörg Nowak / Florian Wilde (Hrsg.): „Politische Streiks im Europa der Krise.“ VSA-Verlag, Hamburg 2012, 240 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-89965-532-2

Das Buch erscheint unter einer gemeinfreien Creative Commons License und steht auf der Homepage der Rosa Luxemburg-Stiftung zum Download zur Verfügung: http://www.rosalux.de/publication/38866/politische-streiks-im-europa-der-krise-2.html

Veranstaltungshinweis zum Buch:
Die HerausgeberInnen haben Interesse an Diskussionsveranstaltungen zu dem Buch: In Berlin wird sie am 6.Februar 2013 im Stadtteilladen Zielona Gora in der Grünbergstr. 73 stattfinden. Kontakte vermittelt der VSA-Verlag: maren.schlierkamp@vsa-verlag.de oder gerd.siebecke@vsa-verlag.de

aus Express 12/2012
http://www.express-afp.info/newsletter.html

Fotografischer Blick auf die Krise

Ausstellung »The Bitter Years« über in Armut geratene Menschen im luxemburgischen Düdelingen
Bittere Jahre erlebt nicht nur Europa in seiner jetzigen Krise. Fotografien von Menschen in den USA während der großen Depression verdeutlichen die Gefahr sozialer Leiden.

»Ich sehe ein Drittel der Nation, in schlechten Wohnungen, schlecht gekleidet, schlecht ernährt«, erklärte der damalige US-Präsident Franklin Delano Roosevelt am 20. März 1937 in einer Rede über die soziale Situation in den USA. Die langanhaltende Wirtschaftskrise hatte Millionen Menschen in die Armut getrieben. Davon kann man sich jetzt ein Bild machen. In einem umgebauten Wasserturm hinter dem Kulturzentrum am Rande des luxemburgischen Städtchens Dudelange kann die beeindruckende Fotoausstellung „The bitter Years“ besichtigt werden. Mehr als zwölf Fotografen haben im Auftrag der Farm Security Administration (FSA) zwischen 1935 und 1944 in allen Teilen der USA die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Menschen festgehalten. Die Ausstellung, die kürzlich vom Museum of Modern Art in New York nach Luxemburg umgezogen ist, zählt zu den Pionierarbeiten der sozialkritischen Fotographie. Der Ort wurde gewählt, weil Luxemburg die Heimat des langjährigen Leiters der fotografischen Abteilung MoMA ist.
Auch heute noch verschaffen die Fotos dem Betrachter einen Eindruck von den Entbehrungen, die die Krise für Millionen Menschen mit sich brachte. Oft hat man den Eindruck, es seien Szenen aus der sogenannten dritten Welt. Ben Shahn hat Kinder in Arkansas fotografiert, deren Körper Hungerödeme zeigen. Rusell Lee zeigt das Gesicht eines blonden Mädchens, das aus einem schmutzigen zerfledderten Zelt blickt, das ihre Wohnung ist. Wie Millionen Menschen musste die Familie ihre Wohnungen in Zeiten der Krise räumen. Auf mehreren Fotos sind die Trecks zu sehen, in denen die Obdachlosen in die Zeltstädte ziehen, die damals am Rande der Städte entstanden sind. Sie zogen an Plakatwänden vorbei, die eine Mittelstandfamilie in einem Auto zeigt und für den American of Life als den höchsten Lebensstandard auf Welt preist.
Die Fotografen machten die Realität einer Klassengesellschaft und den alltäglichen Rassismus in den USA bekannt. Wenn die Arbeiten heute erstmals in Europa gezeigt werden, ist es durchaus auch ein Blick in die Gegenwart. Wer heute die Krisenfolgen und die Verarmung in Ländern der europäischen Peripherie wahrnimmt, kann durchaus Parallelen finden zu den Szenen der Fotos. Selbst in Luxemburg, das eher zu den Gewinnern in der aktuellen europäischen Krise gehört, sind die Zeichen sozialer Auseinandersetzungen nicht zu übersehen. Eine kürzlich im luxemburgischen Parlament beschlossene Rentenreform hat zu heftigen Protesten von Gewerkschaften und linken Parteien geführt. Die Armut der einfachen Bevölkerung ist indes in den Krisenländern Europas zu sehen. Zwangsräumungen wurden in Spanien nach mehreren Suiziden zwar ausgesetzt. In Griechenland aer geraten immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808908.fotografischer-blick-auf-die-krise.html

Peter Nowak
Hinweise zu geführten Touren durch die Ausstellung unter: www.steichencollections.lu

„Ihr Arbeitslosengeld fällt komplett weg“

Während Bild gegen selbstbewusste Erwerbslose hetzt, gehört ein Totalentzug von Hartz IV-Leistungen zur scharfen Waffe der Jobcenter

„Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 % des Arbeitslosengeld II“, teilte die Sachbearbeiterin des Forster Jobcenters dem erwerbslosen Bert N. mit. Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, wurde, wird im nächsten Absatz des Schreibens noch einmal wiederholt: „Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.“

Als Grund für den Komplettentzug von Hartz IV wurde vom Jobcenter in dem Schreiben angegeben, N. sei einem PC-Grundkurs des Bildungswerks Futura GmbH unentschuldigt ferngeblieben. „Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde“, erklärte der Erwerbslose gegenüber Telepolis. Dort seien den Kursteilnehmern die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden, damit sie das es bei den Bewerbungen nutzen können. Da N. seit Jahren mit Computern umgehen kann, langweilte er sich in dem Kurs schon beim ersten Mal. Dass ihn die Sachbearbeiter im Jobcenter gleich dreimal zum Kursbesuch aufforderten, interpretiert N. genauso als Schikane wie der Totalentzug des ALGII.

Für den Kauf der dringend benötigten Lebensmittel wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von176 Euro ausgehändigt. Das Landessozialgericht NRW hatte 2009 entschieden, dass das Jobcenter zeitgleich mit dem vollständigen Wegfall von Hartz IV-Leistungen auch darüber entscheiden muss, ob dem Hartz IV-Bezieher Sachleistungen oder geldwerte Leistungen wie Lebensmittelgutscheine zur Verfügung gestellt werden. Diese Verpflichtung ergibt sich für das Gericht aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Genussmittel dürfen damit mit dem Gutschein nicht erworben werden. Zudem muss der gesamte Betrag bei einem Einkauf ausgeben werden, sonst verfällt der Restbeitrag, weil kein Wechselgeld ausgezahlt werden darf. Nach dem Ende der Sperre werden die Gutscheine allerdings mit 10 % von seinen Hartz IV-Leistungen abgezogen


Gefahr der Obdachlosigkeit droht

Seit der Streichung des ALG II kann N. auch die Miete nicht bezahlen. „Ich habe es dem Vermieter noch gar nicht gesagt, weil ich befürchte, dass er mir sofort die Kündigung schicken wird“, meint N. Mittlerweile hat er einen Anwalt eingeschaltet, der Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht.

Seine Erfolgsaussichten sind nicht schlecht. Eine 100 % Sanktion sei generell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, erklärt der Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht beim Verein Tacheles Harald Thome gegenüber Telepolis. „Erfolge gibt es regelmäßig. Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung ca. 75 % der Sanktionsbescheide kassiert werden.“ Thome vertritt auch die These, dass eine Sanktion, die einen Wohnungsverlust zur Folge hat, verfassungswidrig ist. Das ist für ihn zumindest die Konsequenz aus den BVerfG- Urteilen zur Höhe von Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz vom Februar 2009 und Juli 2012. Allerdings ist ein Weg durch die juristischen Instanzen zeitaufwendig. Ein Mensch, dem sämtliche Leistungen gestrichen wurden und der befürchten muss, die Wohnung zu verlieren, hat aber diese Zeit oft nicht.

Widerstand gegen Hartz IV-Regime

In Forst hat sich mittlerweile eine Gruppe gebildet, die für Anfang Februar eine Veranstaltung zum Thema „Zwang und Widerstand unter Hartz IV“ plant Eingeladen ist mit Ralph Boes auch ein Erwerbslosenaktivist, der in den letzten Wochen mit einen Hungerstreik gegen Sanktionen der Jobcenter zur Zielscheibe populistischer Boulevardmedien und deren Leser wurde. Dabei ist ein kritisches Hinterfragen der von Boes gewählten Hungerstreikaktion sicherlich berechtigt. Doch Bild hat in ihm nur einen neuen Angriffspunkt für ihre sozialchauvinistische Hetze gegen Erwerbslose gefunden, die eigene Interessen vertreten und die offen sagen, dass sie das Hartz IV-Regime ablehnen.

Wie schon bei ähnlichen Kampagnen gegen „freche Arbeitslose“ wird Bild dabei von einen Teil der Leserschaft unterstützt und überboten. Der Soziologe Berthold Vogel vertritt die These, dass eine von Absturzängsten geplagte Mittelschicht mit den Ressentiments gegen die zu Überflüssigen erklärten „Unterklassen“ reagiert. Dazu gesellen sich noch Menschen im Niedriglohnbereich, die gerade, weil sie sich ausbeuten lassen, alle Kritiker an dem System besonders stark angreifen. Dass nicht ein Totalentzug von Hartz und eine damit zumindest billigende Inkaufnahme von Obdachlosigkeit für Schlagzeilen sorgt, sondern ein Erwerbsloser, der gegen das Sanktionsregime kämpft, ist das eigentliche Problem. Die Zahl der Totalsanktionierten wächst. Allein in Forst sind 5 Fälle bekannt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153474
Peter Nowak

Bafög-Stau auflösen

Kurz vor Weihnachten hat die Berliner GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt in einer Pressemitteilung Alarm geschlagen. Weil die Bafög-Anträge von Tausenden Schülern und Studierenden trotz rechtzeitiger Abgabe noch nicht bearbeitet wurden und die bisher gewährten Vorab-Abschlagszahlungen Ende Dezember auslaufen, sei die Situation der Betroffenen dramatisch.

Es ist völlig richtig, wenn die GEW nun fordert, dass zumindest der Abschlag unbürokratisch über die vier Monate hinaus gewährt werden muss, ohne dass die Betroffenen weitere Anträge stellen müssen. Viele wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Zudem haben sich viele Betroffene verschuldet. Denn von den Abschlagszahlungen, die nur 80 Prozent des Bafög betragen, kann man kaum über die Runden kommen.

Der Bafög-Stau ist aber keine Frage persönlichen Versagens einzelner Behördenmitarbeiter, sondern die Folge des politisch gewollten Personalabbaus im öffentlichen Dienst, der sich in Zeiten der Schuldenbremse noch verstärken dürfte. Die Folgen sind verstärkter Stress bei den verbliebenden Beschäftigten, der bis zum Burnout führen kann, und eine Verschlechterung der Service-Leistungen, wofür der Bafög-Stau nur ein Beispiel ist. Eine Anfrage der bildungspolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Regina Kittler, ergab, dass allein im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf noch 2700 bis 3000 Anträge auf Schüler-Bafög und etwa 600 aus dem Auslandsförderbereich unbearbeitet sind. Das Bafög-Amt Charlottenburg-Wilmersdorf ist für sieben Bezirke zuständig und seit Oktober geschlossen, um den Abarbeitungsstau zu beheben.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/808847.bafoeg-stau-aufloesen.html
Peter Nowak

Staatsschutz ermittelt nach rechtem Übergriff


40-Jähriger von drei Männern beschimpft und schwer verletzt

Noch immer ist nicht klar, ob Jimmy C. das Augenlicht verliert. Er liegt mit schweren Gesichtsverletzungen im Krankenhaus. In den frühen Morgenstunden des 31. Dezember war der in Kenia geborene 40-jährige an seinem Arbeitsplatz in der Discothek Q-Dorf in Charlottenburg, wo er als Reinigungskraft arbeitet, rassistisch beschimpft, zusammengeschlagen und mit einer Glasflasche schwer verletzt worden.

Der Vorfall war erst bekannt geworden, nachdem Freunde Jimmy C. im Krankenhaus besucht und seinen Bericht auf Facebook veröffentlicht hatten. Demnach sei er an diesem Abend von zwei Männern nach Toilettenpapier gefragt worden. Als er die Toilettenräume betrat, habe ihm ein dritter Mann ein Glas ins Auge geschlagen. Das Trio habe ihn zu Boden geworfen und beschimpft. »Im Polizeibericht war vom rassistischen Hintergrund des Überfalls keine Rede«, kritisierte Dirk Stegemann vom Berliner Bündnis gegen Rassismus gegenüber »nd«.

Tatsächlich hieß es in der ersten Pressemitteilung der Polizei, eine 40-jährige Reinigungskraft sei von drei Unbekannten in eine Toilettenkabine der Diskothek gezogen und dort geschlagen und angegriffen worden. Erst später wurde die Meldung ergänzt und mitgeteilt. dass »wegen fremdenfeindlicher Äußerungen« der Angreifer der Polizeiliche Staatsschutz die Ermittlungen übernommen hat. Die Polizei sucht nun dringend nach Zeugen.

»Zum Zeitpunkt der Pressemeldung war der Geschädigte noch nicht vernommen und Details zur Tat waren noch nicht bekannt. Nach der Vernehmung des Verletzten wurde eine ergänzende Pressemeldung gefertigt«, erklärte der stellvertretende Pressesprecher der Polizei, Thomas Neuendorf. Das antirassistische Bündnis monierte auch, dass der schwer verletzte Mann mehr als 20 Minuten im Krankenwagen auf die Polizei warten musste.


Unter dem Kennwort Jimmy C. kann auf das Konto der Berliner VVN-BdA e.V. für das Opfer rechter Gewalt und seine Familie gespendet werden: Berliner VVN-BdA e.V, Postbank Berlin, BLZ: 100 100 10, Konto: 315 904 105

http://www.neues-deutschland.de/artikel/809012.staatsschutz-ermittelt-nach-rechtem-uebergriff.html

Peter Nowak

Argument gegen Dogma

In Ansprachen und Interviews stimmten verschiedene Spitzenpolitiker in der Jahreswende die Bevölkerung erneut auf schwere Zeiten ein. Damit sollen Lohnabhängige und Erwerbslose auf weitere Opfer für den Standort eingeschworen werden. Je mehr die Rechte der abhängig Beschäftigten beschnitten werden, desto besser geht das Land aus der Krise hervor, lautet die Propaganda, die in allen europäischen Ländern verbreitet und von vielen Menschen geglaubt wird.

So hat sich im März 2012 in der Schweiz in einer Volksabstimmung eine Mehrheit gegen eine Ausweitung der Ferien ausgesprochen. Mehr Urlaub würde dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden, so lautete die Begründung. Ein vom Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) in Auftrag gegebenes Dossier mit dem Titel »Der liberale Wirtschaftsmarkt der Schweiz – Entzauberung eines Mythos« liefert einmal mehr den Beweis, dass schon diese Grundannahme falsch ist. Weniger Rechte für Lohnabhängige führen nicht zu einer Senkung der Arbeitslosigkeit. Damit kann man gegen die wirtschaftsliberalen Dogmen argumentieren, die in vielen Medien verbreitet werden. Damit es allerdings wirklich zu dem »Umdenken in der Arbeitsmarktpolitik« kommt, das die Autoren des Dossiers anmahnen, ist die Selbstorganisation der Lohnabhängigen und Erwerbslosen nötig. Schließlich ist die Verzichtspolitik keine Folge falscher Zahlen und Untersuchungen, sondern eine Politik im Interesse der Wirtschaft.

Nur kollektiver Widerstand von unten kann hier zu Veränderungen führen. In der Schweiz haben das die Beschäftigten des Bahnausbesserungswerkes von Bellinzona vorgemacht, die mit ihrem Streik 2008 die Schließung verhindert haben. Der erfolgreiche Kampf fand europaweit Beachtung. Tatsächlich gilt es auch 2013 gehen die Verzichts- und Standortlogik in den Köpfen vieler Lohnabhängiger zu kämpfen. Für Diskussionen mit diesen Menschen können Ergebnisse von Studien wie die des SGB nützlich sein.

Projekte wie das Internetportal »Nachdenkseiten« leisten hier gute Vorarbeit, sind aber gerade bei vielen Betroffenen noch zu wenig bekannt. Daher sollten auch der DGB und linke Projekte solche Studien als Argumentationshilfen herausgeben und massenhaft verbreiten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/808883.argument-gegen-dogma.html
Peter Nowak

Kein liberaler Arbeitsmarkt


Neues Dossier vom Schweizer Gewerkschaftsbund entkräftet Mythos von wirksamen Arbeitnehmerrechten

Steuerparadies, Heimat der Millionäre, aber was ist mit guter Arbeit? Laut eines neuen Dossiers des Schweizer Gewerkschaftsbundes SGB gehört das Land was Rechte von Beschäftigten angeht zum europäischen Schlusslicht.

Die Schweiz gilt hierzulande als Paradies für Millionäre. Doch wie sieht es mit der Situation der abhängig Beschäftigten aus? Darauf hat kürzlich ein Dossier des Schweizer Gewerkschaftsbund SGB mit dem Titel »Der »liberale« Arbeitsmarkt der Schweiz – Entzauberung eines Mythos« eine klare Antwort gegeben: Das Land gehört bei den Rechten der Beschäftigten zum europäischen Schlusslicht. So verweisen die Autoren des Dossiers, Daniel Lampart und Daniel Kopp auf OECD-Studien, die belegen, dass die Schweiz beim Kündigungsschutz den Rang 31 unter 34 erfassten Ländern inne hat. Nur unwesentlich besser schneidet die Schweiz bei Mindestlöhnen, befristeten Arbeitsverhältnissen und bei der Leiharbeit ab.

Vertreter von Wirtschaftsverbänden und Kommentatoren wirtschaftsnaher Zeitungen preisen den schwachen Arbeitnehmerschutz als Ausdruck »liberalen Arbeitsmarktes«, der dafür sorge, dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz sehr niedrig sei. Da es in der Schweiz leichter sei, den Beschäftigten zu kündigen kämen mehr Investoren in das Land, die wieder neue Stellen schaffen, lautet die nicht nur in der Schweiz bekannte Argumentation, die die Autoren des Dossiers untersuchen und widerlegen

»Der Zusammenhang dürfte gerade umgekehrt sein. Weil die Gefahr der Arbeitslosigkeit vor allem früher relativ gering war, haben die Schweizer Arbeitnehmenden einen schlechteren Schutz akzeptiert«, schreiben die Autoren. Mittlerweile wirke sich aber der schwache Arbeitnehmerschutz negativ aus, beschreiben Lampart und Kopp die veränderte soziale Situation. »Seit den 1990er Jahren ist die Arbeitslosigkeit in der Schweiz stark gestiegen. Atypische Arbeitsverhältnisse wie die Temporärarbeit, die den Arbeitnehmern im Vergleich zu Normalarbeitsverhältnissen ein geringeres Schutzniveau bieten, nehmen zu«. Gleichzeitig werde es zunehmend schwieriger, sozialpartnerschaftliche Regelungen zu erwirken.

Vor allem in den stark gewachsenen Dienstleistungsbranchen, wie den Call-Centern, Kurierdiensten und Kosmetikinstituten kann es auf absehbare Zeit keine Gesamtarbeitsverträge geben, weil die Ansprechpartner auf Seiten der Arbeitgeber fehlen.

In einigen Branchen weigern sich die Arbeitgeber offen, mit den Gewerkschaften Verhandlungen aufzunehmen. So hat der der Verbandspräsident der Schweizer Schuhgeschäfte mehrmals betont, dass er sich aktiv gegen einen Tarifvertrag einsetzen wird. In der Branche sind die Arbeitsbedingungen besonders schlecht und die Löhne niedrig.

Das Dossier kann auf der Homepage der SGB www.sgb.ch heruntergeladen werden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/808884.kein-liberaler-arbeitsmarkt.html
Peter Nowak

Medizin ohne Kommerz


Europäische Organisationen fordern gemeinsam eine andere Gesundheitsversorgung
Verschiedene europäische Organisationen aus dem Gesundheitsbereich wollen sich künftig gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zusammentun.

»Die Organisation des Gesundheitswesens ist eine öffentliche Aufgabe. Als Gesundheitsprofessionelle sind wir damit betraut, die Krankheiten unserer Patienten zu diagnostizieren, zu behandeln und nach
Möglichkeit zu verhüten. Wir sollten diese Aufgabe ohne Ansehen der Person wahrnehmen.“ Diese Erklärung unterzeichneten 19 europäische Organisationen des Gesundheitspersonals, der Krankenschwestern, Ärzte und Studierender der Medizin. Sie ist Teil eines Manifests des eines europäischen Gesundheitsnetzwerkes, das gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens länderübergreifend aktiv werden will. Im Oktober Am 5. Oktober hat sich diese Kooperation erstmals praktisch bewährt. An diesem Tag beteiligten sich Vertreter der in dem Gesundheitsnetzwerk vertretenen Organisationen aus mehreren europäischen Ländern an einer Demonstration in Warschau, mit der die polnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen (OZZ PiP) unterstützt werden sollte, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung des europäischen Netzwerkes gespielt hat. Vor fünf hatte ein wochenlanger Streik der polnischen Krankenschwestern, die in Warschau Zelte, das sogenannte „Weiße Städtchen“ errichteten, wesentliche Impulse für die polnische Gewerkschaftsbewegung und die europaweite Zusammenarbeit gegeben. Im Anschluss an die Demonstration fand am 5. Oktober in Warschau ein Kongress des europäischen Gesundheitsnetzwerkes statt. Obwohl das Manifest von 7 Organisationen aus Deutschland unterzeichnet wurde, ist das Netzwerk hierzulande bisher noch kaum bekannt. Dazu gehört die Göttinger Basisgruppe Medizin, die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten und der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). „Wir merken, dass Ärztinnen und Ärzte in der Öffentlichkeit nach wie vor eine sehr hohe Akzeptanz haben und versuchen diese zu nutzen, um für eine bedarfsgerechte und sinnvolle medizinische Versorgung einzutreten, die nicht wieder nur den „Leistungserbringern“ und der Gesundheitsindustrie noch mehr Geld in die Taschen spült“, beschrieb die Leiterin der VdÄÄ-Geschäftsstelle Nadja Rakowitz die Pläne ihrer Organisation. Die europäische Vernetzung hat auch große Bedeutung, weil die gegenwärtige Krise unterschiedliche Folgen für das Gesundheitssystem der verschiedenen Länder hat. Besonders in der europäischen Peripherie, vor allem in Spanien und Griechenland, gibt es in einigen Städten Notlagen auf medizinischem Gebiet. In Deutschland hingegen ist in vielen Bereichen eine Überversorgung aus ökonomischen Gründen zu beobachten, betont Rakowitz. Als Beispiel führt sie überflüssige individuelle Gesundheitsleistungen im ambulanten Sektor, die vom Patienten selber bezahlt werden müssen, oder die medizinisch nicht erklärbaren Fallzahlensteigerungen bei Operationen in den Krankenhäusern an. Die Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals hingegen sind in allen europäischen Ländern zu beobachten. Dabei könnte das Gesundheitsnetzwerk eine zentrale Rolle bei einem europaweiten Widerstand bekommen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808686.medizin-ohne-kommerz.htm
Peter Nowak

Vor dem Vergessen gerettet


WIDERSTAND Ein Forschungsprojekt der Freien Universität dokumentiert die Biografien linker GewerkschafterInnen zur NS-Zeit

Seit 2006 erinnert der Name einer kleinen Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs an Ella Trebe. Die im Wedding geborene kommunistische Gewerkschafterin wurde am 11. August 1943 zusammen mit 14 weiteren NazigegnerInnen im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen. Ein Gedenkstein im Wedding, der an sie erinnerte, wurde in den 50er-Jahren wieder entfernt – man wollte im Kalten Krieg keine Kommunistin würdigen.

Ella Trebe teilte dieses Schicksal mit vielen antifaschistischen ArbeiterInnen, die sich schon gegen den Nationalsozialismus engagierten, als die heute gefeierten Männer des 20. Juli noch lange nicht an Widerstand dachten. ForscherInnen der „Arbeitsstelle Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik“ an der Freien Universität Berlin (FU) haben jetzt ein Buch veröffentlicht, das die Biografien von 58 kommunistischen GewerkschafterInnen aus Berlin dokumentiert.

Es ist der zweite Band eines umfangreichen Forschungsprojekts zum Thema „MetallgewerkschafterInnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“. Während der erste Band 82 Biografien aus dem sozialdemokratisch orientierten Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) versammelte, geht es nun um AktivistInnen des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB). Er bestand im Kern aus GewerkschafterInnen, die der DMV wegen kommunistischer Aktivitäten ausgeschlossen hatte, und wurde gegen Ende der Weimarer Republik zum Fokus der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Zu einer linken Massenbewegung konnte diese sich allerdings nie entwickeln, die KPD kritisierte die RGO-Politik schon bald als ultralinke Abweichung. Lange dominierte in der Forschung allerdings das Bild der RGO als einer von der KPD-Zentrale gesteuerten Kaderorganisation.

Konflikte mit der KPD

Das Buch zeichnet die unterschiedlichen Beweggründe für das Engagement in der linken Gewerkschaftsopposition nach. Viele der AktivistInnen waren schon während der Novemberrevolution von 1918 in linken Arbeiterräten aktiv und sahen in der RGO die Fortsetzung einer klassenkämpferischen Politik. Dabei gab es immer wieder Konflikte mit den KPD-FunktionärInnen. Auch in der DDR, wo viele der Porträtierten später lebten, war eine RGO-Vergangenheit nicht gerade karrierefördernd, wie an mehreren Beispielen belegt wird. Der Band füllt nicht nur eine Forschungslücke, sondern gibt den vergessenen WiderstandskämpferInnen aus der Arbeiterklasse ihre Biografie zurück.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2013%2F01%2F03%2Fa0174&cHash=f4f0b32f531368844553773bb17d4de4
Peter Nowak

Stefan Heinz, Siegfried Mielke (Hg.): Widerstand und Verfolgung“. Metropol Verlag, Berlin 2012, 304 Seiten, 19 Euro