Kein Gott, kein Staat, kein Chef

Ménilmontant war der Ort der Handwerker, Arbeiter und politischen Rebellen, nun wird der Pariser Stadtteil von Besserverdienenden erobert

Politaktivisten schauen bei einem Besuch in Paris gern beim Alt-Anarchisten Lucio Urtubia vorbei. In dieser Ecke ist die revolutionäre Geschichte der Stadt noch gegenwärtig. Doch wie lange noch?

Rund um die Mauer ist schon lange kein Platz mehr und auch auf den Wiesen haben sich viele Menschen zum Picknick niedergelassen. Bei schönem Wetter entwickelt sich der Park von Belleville zum größten Naherholungsgebiet von Paris. Schließlich hat man von dem über 100 Meter hohen Hügel aus einen hervorragenden Blick auf die Stadt. Doch auch die nähere Umgebung der Anlage lockt Menschen aus aller Welt an. Schließlich gilt der Ménilmontant, wie der 20. Bezirk von Paris heißt, als einer der letzten Orte jenes vielbesungenen rebellischen Paris der letzten Jahrhunderte.

An allen Aufständen seit der Revolution 1789 waren die Arbeiter und Handwerker des Quartiers an vorderster Front beteiligt. Auch die Pariser Kommune hatte hier viele Anhänger. Die alten Gewalten nahmen nach ihrem Sieg auch unter den Bewohnern des Stadtviertels grausame Rache. Die meisten Gefangenen wurden sofort erschossen, von Schnellgerichten abgeurteilt oder nach Versailles deportiert. Die ermordeten Kommunarden wurden am nahen Friedhof Père Lachaise in Massengräbern verscharrt.

Lucio Urtubia sieht mit seiner Baskenmütze nicht nur so aus, als wolle er diese rebellische Tradition fortsetzen. Als Dokumenten- und Banknotenfälscher im Dienste verschiedenster revolutionärer Bewegungen wurde der Anarchist einst zum Schrecken von Bankiers und Grenzbeamten. Unter den Rebellen aller Länder genießt Lucio, wie man ihn nennt, hingegen große Anerkennung. Schließlich hat er sich bei den Fälschungen nie selber bereichert oder andere persönliche Vorteile verschafft. Für ihn waren diese Aktivitäten politische Solidarität. In einer steilen Gasse des Ménilmontant hat er mit dem »Espace Louise Michel« einen Ort geschaffen, in dem für Widerständige aus aller Welt die Türen immer offen stehen. Seit seine Lebensgeschichte in Buchform und als Film in mehreren Sprachen veröffentlicht wurde, bekommt er ständig Besuch. Gewerkschafter, Bauernaktivisten, Angehörige politischer Gefangener schauten schon bei ihm vorbei. Auch für die Teilnehmer der alternativen »Tour de Frances« ist eine Visite im »Espace Louise Michel« ein fester Termin. Aus Deutschland machen sich jedes Jahr Mitte Mai Basisgewerkschafter und soziale Aktivisten zu einer einwöchigen Reise in die französische Hauptstadt auf. Sie bewegen sich auf den Spuren des widerständigen Paris.

Inzwischen ist Lucio Urtubia über 80 Jahre alt und begrüßt jeden Teilnehmer freundlich. Immer wieder bleiben Touristen vor der Tür stehen und fotografieren das Haus mit der schwarzroten Fahne. Sie sind nicht zufällig hier. An den Aufdrucken auf ihren T-Shirts und Taschen erkennt man schnell, dass sie mit den politischen Vorstellungen des modernen Robin Hood sympathisieren, die sich mit der Parole »Kein Gott, kein Staat, kein Chef« zusammenfassen lassen.

Doch nicht nur Menschen auf der Suche nach der Revolte kommen nach Ménilmontant. Zunehmend wird der Stadtteil im Osten von Paris für die »Bobos« interessant. Das ist die Abkürzung für die »Bourgeois Bohèmes«, wie in Frankreich der besserverdienende Mittelstand mit seiner Vorliebe für Altbauwohnungen in historisch gewachsenen Stadtteilen und multikultureller Umgebung leicht spöttisch bezeichnet wird. Viele Stadtteilbewohner sehen den Zuzug der Bobos mit wachsendem Argwohn.

Elsa ist in Ménilmontant aufgewachsen und schwärmt von dem Leben im Quartier: »Das ist fast wie in einem Dorf. Nach einer gewissen Zeit kennen dich die Leute und man redet miteinander.« Doch sie befürchtet, dass es mit dem idyllischen Leben mitten in Paris bald vorbei ist. »Auch in Ménilmontant entwickelt sich der private Immobilienmarkt rasant. Die vergleichsweise niedrigen Preise und nicht zuletzt dieser dörfliche Charakter ziehen eine neue Bevölkerung an«, erklärt die Frau. In die Stuben der Handwerker und Arbeiter, die für den Stadtteil so typisch waren, ziehen jetzt Künstler, Designer und Architekten ein. Zuvor wurden die Häuser luxusmodernisiert. »Die Immobilienbüros sind in den letzten Jahren wie Champignons aus dem Boden geschossen«, erklärt Luis, der seit 15 Jahren in Ménilmontant wohnt. Allein zwischen 1991 und 2007 seien de Wohnungspreise um 120 Prozent gestiegen.

Viele glauben, dass einkommensschwache Bewohner auch hier bald nicht mehr wohnen können, wie es im Rest der innenstadtnahen Teile von Paris bereits seit Langem der Fall ist. Von den zehn Millionen Einwohnern der französischen Metropole leben acht Millionen in den Außenbezirken.

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Peter Nowak