„Auch in der Türkei wurde der Wohnungs- und Immobilienmarkt zum Zugpferd einer kapitalistischen Ökonomie“

Imre Azem Balanli über die Bestrebungen der AKP-Regierung, Istanbul zu einer Global City zu machen, und die Folgen für die Wohnungspolitik, die auch auch zu den Gezi-Protesten geführt haben

Imre Azem Balanli[1] ist Regisseur des Films Ekümenopolis[2], der sich mit der „Recht auf Stadt“-Bewegung in der Türkei befasst.



In Istanbul ist die Umstrukturierung in vollem Gange und wird mit der AKP-Regierung verbunden. Welches ökonomische Modell steht dahinter?

Azem Balanli: Die türkische Regierung will Istanbul zu einer Global City und zum führenden Finanzzentrum des Nahen Osten zu machen. Der Staat schafft dafür die Gesetze und beseitigt die Hindernisse. Allerdings begann diese Entwicklung nicht erst mit der AKP-Regierung, sondern schon mit dem Militärputsch 1980. Das war der Beginn des Neoliberalismus in der Türkei.

Welche Auswirkungen hatte diese Veränderung die Wohnungspolitik ?

Azem Balanli: In den 70er Jahren war eine Wohnung in der Türkei noch eine private Investition in die Zukunft. Das hat sich in den 1980er Jahren verändert. Seit dieser Zeit wurden Wohnungen zum Spekulationsobjekt, mit dem Profite gemacht werden konnte.

Wie in vielen anderen Ländern wurde auch in der Türkei der Wohnungs- und Immobilienmarkt zum Zugpferd einer kapitalistischen Ökonomie, die komplett auf den Import orientiert ist. Während der AKP-Regierung stiegen die Auslandsschulden der Türkei enorm an. Durch die Verkäufe im Wohnungssektor sollte hier ein Ausgleich geschaffen werden.

Welche Anreize schafft die Regierung, um oft mit Verlust gebaute Wohnungen zu verkaufen ?

Azem Balanli: Wohnungen werden verstärkt ins Ausland verkauft. Vor zwei Jahren wurde die Limitierung für Immobilienverkäufe ins Ausland aufgehoben. Schon ein Jahr später wurden in die Golfstaaten Immobilien in Milliardenhöhe veräußert.

Zudem wird im Inland die Herausbildung einer kaufkräftigen Schicht gefördert, die sich einen Kauf dieser Wohnungen leisten kann. Diese Entwicklung wird vom Staat gezielt vorangetrieben und geht mit der Vertreibung der bisherigen Bewohner einher, die sich die neuen, teureren Wohnungen nicht leisten können. In diesem Zusammenhang steht der Kampf gegen die Arbeitersiedlungen, der sogenannten Gecekondular.

Warum sind die Arbeitersiedlungen zum Hindernis für eine Globalcity geworden?

Azem Balanli: Die Gecekondular wurden in den 50er und 60er Jahren von Fabrikarbeitern gebaut, weil der türkische Staat nicht genügend Kapital hatte. Er gab den Arbeitern sogar staatliches Land, damit sie dort ein Haus bauen konnten. Es war eine Subvention der Arbeiter durch den Staat, mit dem sie auch an ihn gebunden werden sollten.

Allerdings wurden diese Stadtviertel oft zu Hochburgen linker Gruppen, in denen eine für den Staat unerwünschte Gegenmacht entstand, die mit repressiven Maßnahmen bekämpft wurde. Seit dem Aufkommen der Dienstleistungsgesellschaft sind die Arbeiter in der Stadt unerwünscht, weil sie nicht genügend Geld zum Konsumieren haben. Sie sollen aus der Innenstadt verschwinden. Die Politik der Stadterneuerung hat das erklärte Ziel, sie an den Stadtrand zu verdrängen.

Welche Schritte hat die AKP-Regierung unternommen?

Azem Balanli: Sie hat ein Gesetz erlassen, dass die Errichtung weiterer Gecekondular verhindert. Die staatliche Wohnungsbaubehörde wurde in ein privates Bauunternehmen umgewandelt. Obwohl Gesetze zum Denkmalschutz erlassen wurden, konnten alte Stadtviertel abgerissen werden. 2012 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das die Wohnungen vor Naturkatastrophen sichern soll. Es ist heute das zentrale Instrument der Umstrukturierung.

Ist ein solches Gesetz angesichts der vielen Erdbeben in der Türkei nicht sinnvoll?

Azem Balanli: Die AKP sorgt für die autoritäre Durchführung der Gesetze, die von der Hauptstadt Ankara zentral durchgeführt werden. Dafür ist das Ministerium für Umweltschutz und Stadtplanung verantwortlich. Es hat die Möglichkeit, ohne jegliche wissenschaftliche Untersuchung ganze Stadtteile als gefährdet zu erklären und abreißen zu lassen.

Wie reagieren die Bewohner darauf?

Azem Balanli: Sie haben keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidungen Widerspruch einzulegen. Mittlerweile wurde ein Gesetz erlassen, das Mietern mit Bestrafung und Verhaftung droht, wenn sie versuchen, die Räumung zu verhindern.

In Istanbul ist die Umstrukturierung in vollem Gange und wird mit der AKP-Regierung verbunden. Welches ökonomische Modell steht dahinter?

Azem Balanli: Die türkische Regierung will Istanbul zu einer Global City und zum führenden Finanzzentrum des Nahen Osten zu machen. Der Staat schafft dafür die Gesetze und beseitigt die Hindernisse. Allerdings begann diese Entwicklung nicht erst mit der AKP-Regierung, sondern schon mit dem Militärputsch 1980. Das war der Beginn des Neoliberalismus in der Türkei.

Welche Auswirkungen hatte diese Veränderung die Wohnungspolitik ?

Azem Balanli: In den 70er Jahren war eine Wohnung in der Türkei noch eine private Investition in die Zukunft. Das hat sich in den 1980er Jahren verändert. Seit dieser Zeit wurden Wohnungen zum Spekulationsobjekt, mit dem Profite gemacht werden konnte.

Wie in vielen anderen Ländern wurde auch in der Türkei der Wohnungs- und Immobilienmarkt zum Zugpferd einer kapitalistischen Ökonomie, die komplett auf den Import orientiert ist. Während der AKP-Regierung stiegen die Auslandsschulden der Türkei enorm an. Durch die Verkäufe im Wohnungssektor sollte hier ein Ausgleich geschaffen werden.

Welche Anreize schafft die Regierung, um oft mit Verlust gebaute Wohnungen zu verkaufen ?

Azem Balanli: Wohnungen werden verstärkt ins Ausland verkauft. Vor zwei Jahren wurde die Limitierung für Immobilienverkäufe ins Ausland aufgehoben. Schon ein Jahr später wurden in die Golfstaaten Immobilien in Milliardenhöhe veräußert.

Zudem wird im Inland die Herausbildung einer kaufkräftigen Schicht gefördert, die sich einen Kauf dieser Wohnungen leisten kann. Diese Entwicklung wird vom Staat gezielt vorangetrieben und geht mit der Vertreibung der bisherigen Bewohner einher, die sich die neuen, teureren Wohnungen nicht leisten können. In diesem Zusammenhang steht der Kampf gegen die Arbeitersiedlungen, der sogenannten Gecekondular.

Warum sind die Arbeitersiedlungen zum Hindernis für eine Globalcity geworden?

Azem Balanli: Die Gecekondular wurden in den 50er und 60er Jahren von Fabrikarbeitern gebaut, weil der türkische Staat nicht genügend Kapital hatte. Er gab den Arbeitern sogar staatliches Land, damit sie dort ein Haus bauen konnten. Es war eine Subvention der Arbeiter durch den Staat, mit dem sie auch an ihn gebunden werden sollten.

Allerdings wurden diese Stadtviertel oft zu Hochburgen linker Gruppen, in denen eine für den Staat unerwünschte Gegenmacht entstand, die mit repressiven Maßnahmen bekämpft wurde. Seit dem Aufkommen der Dienstleistungsgesellschaft sind die Arbeiter in der Stadt unerwünscht, weil sie nicht genügend Geld zum Konsumieren haben. Sie sollen aus der Innenstadt verschwinden. Die Politik der Stadterneuerung hat das erklärte Ziel, sie an den Stadtrand zu verdrängen.

Welche Schritte hat die AKP-Regierung unternommen?

Azem Balanli: Sie hat ein Gesetz erlassen, dass die Errichtung weiterer Gecekondular verhindert. Die staatliche Wohnungsbaubehörde wurde in ein privates Bauunternehmen umgewandelt. Obwohl Gesetze zum Denkmalschutz erlassen wurden, konnten alte Stadtviertel abgerissen werden. 2012 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das die Wohnungen vor Naturkatastrophen sichern soll. Es ist heute das zentrale Instrument der Umstrukturierung.

Ist ein solches Gesetz angesichts der vielen Erdbeben in der Türkei nicht sinnvoll?

Azem Balanli: Die AKP sorgt für die autoritäre Durchführung der Gesetze, die von der Hauptstadt Ankara zentral durchgeführt werden. Dafür ist das Ministerium für Umweltschutz und Stadtplanung verantwortlich. Es hat die Möglichkeit, ohne jegliche wissenschaftliche Untersuchung ganze Stadtteile als gefährdet zu erklären und abreißen zu lassen.

Wie reagieren die Bewohner darauf?

Azem Balanli: Sie haben keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidungen Widerspruch einzulegen. Mittlerweile wurde ein Gesetz erlassen, das Mietern mit Bestrafung und Verhaftung droht, wenn sie versuchen, die Räumung zu verhindern.

Hausrecht gegen die Gewerkschaften

Filialleiter von Modekette »H&M« schickt Polizei zur Betriebsratswahl

Am Ende schaltete sich die Bundeszentrale des Klamottenriesen H&M ein. Die Beschäftigten der Stuttgarter Filiale konnte ihren Betriebsrat wählen – ohne die vom Filialleiter gerufene Polizei.

Die Beschäftigten der Stuttgarter H&M-Filiale hatten sich am 8. August gerade in der Heilbronner Stadtgalerie versammelt, um ihren Betriebsrat zu wählen. Doch bevor es zur Abstimmung kam, erschien die die Polizei. Der H&M-Filialleiter hatte die Beamten gerufen, dabei sie zwei Vertretern der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Hausverbot erteilen, die auf Wunsch der Beschäftigten die Wahlen beobachten sollte. Unter den missliebigen Gewerkschaftern befand sich auch der zuständige Verdi-Sekretär Thomas Müßig

Schließlich sollte in der Filiale erstmals ein Betriebsrat gewählt werden und der Leiter war darüber gar nicht begeistert. Dass dann auch noch Gewerkschaftsvertreter bei der Wahl anwesend sein sollten, wollte schon gar nicht akzeptieren und rief nach der Staatsmacht. Er nehme damit sein Hausrecht war, so seine Begründung.

Dass die Wahl schließlich mit Verzögerung doch noch in Anwesenheit der beiden Verdi-Vertreter stattfinden konnten, lag an der Deutschlandzentrale von H&M. Verdi hatte den Gesamtbetriebsrat eingeschaltet und das Unternehmen setzte auf Deeskalation und konnte letztlich auch den Filialleiter davon überzeugen, dass sein Herr im Haus-Standpunkt für die Interessen des Unternehmens kontraproduktiv ist. „Wir wollten den friedlichen Weg gehen“, erklärte eine H&M-Sprecherin, nicht ohne auch der Gewerkschaft eine Mitschuld an der Zuspitzung zu geben. Die Verdi-Vertreter seien nicht als Wahlbeobachter erkennbar und auch nicht vorher benannt gewesen.

Auch die Polizei schien mit dem Einsatz gegen Gewerkschafter nicht besonders glücklich gewesen zu sein. So habe sich nach Angaben der Lokalzeitung Heilbronner Stimme der örtliche Polizeichef Roland Eselei persönlich in den Fall einschalte und vor Ort auf Deeskalation hingearbeitet. „Wenn die Firma darauf bestanden hätte, dann hätten wir – Betriebsratswahlen hin oder her – das Hausrecht durchsetzen müssen“, betonte er allerdings gegenüber dem Lokalblatt seine Rechtsauffassung. Dass in diesem Fall die Gewerkschaftsfreiheit gegenüber Hausrecht gestanden habe, bestätigte auch der langjährige Heilbronner Gewerkschafter Helmut Schmidt gegenüber nd. Er habe in seiner 40jährigen Gewerkschaftstätigkeit viele Versuche erlebt, Betriebsratsgründungen zu verhindern. Einen Polizeieinsatz habe er allerdings noch nicht erlebt. Positiv sieht Schmidt, dass die H&M-Geschäftsleitung wohl aus begründeter Furcht vor einem Imageverlust auf Deeskalation gedrängt habe.

Auch die Heilbronner Verdi-Chefin Marianne Kegler-Wendt, kann sich in ihrer langen Gewerkschaftstätigkeit nicht daran erinnern, dass bei einer Betriebsratswahl die Polizei gerufen wurde. Allerdings hätte sie auch eine juristische Auseinandersetzung nicht gefürchtet. „Wir hätten den Fall gewonnen, wenn der Kollege wegen Hausfriedensbruch angezeigt worden wäre“. Die Betriebsratswahl war übrigens für die Beschäftigten erfolgreich. Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent haben die 56 Beschäftigten vier Frauen und nach der Minderheitenregelung auch einen Mann in das neu gegründete Gremium entsandt.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/830337.hausrecht-gegen-die-gewerkschaften.html

Peter Nowak

Fremdenfeindliche Hetze

Rechtsextremisten mobilisieren gegen Flüchtlingsunterkünfte in Berlin.

„Nein zum Heim“, „Volksverräter“ und „Lügen, Lügen“ lauteten die Sprechchöre, die am Dienstagabend in einem Schulhof im Berliner Bezirk Hellersdorf zu hören waren. Dorthin hatte das Bezirksamt zu einer Bürgerversammlung über eine Flüchtlingsunterkunft eingeladen, die in einer ehemaligen Schule in dem Stadtteil eingerichtet werden soll. Der zunächst für die Veranstaltung vorgesehene Saal in einer Kirchengemeinde war schon vor Veranstaltungsbeginn derart überfüllt, dass die Versammlung in den Hof verlegt wurde.

Unter den rund 800 Besuchern befanden sich zahlreiche bekannte Rechtsextremisten, wie der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke. Sie stimmten die Sprechchöre an, in die auch andere Besucher einstimmten. Organisierte Rechte meldeten sich mehrmals zu Wort, um gegen die Flüchtlingsunterkunft zu agieren und fanden dabei Unterstützung bei einem Teil des Publikums.

Das Auftreten der Rechtsextremisten bei der Veranstaltung ist keine Überraschung. Schon seit Tagen mobilisierte eine anonyme Bürgerinitiative in Hellersdorf gegen die Flüchtlinge. „Touristen sind herzlich willkommen – kriminelle Ausländer und Asylbetrüger sind konsequent in ihre Heimat abzuschieben“, heißt es in einem Aufruf, der im Internet zirkuliert und in der Umgebung verteilt wurde. Als Verantwortlicher im Sinne des Pressegesetzes ist Thomas Crull aufgeführt, der 2011 – erfolglos – für die NPD in Marzahn-Hellersdorf kandidierte. Anwohner konnten Mitglieder der Neonazi-Organisation „Nationaler Widerstand Berlin“ als Verteiler der Flugblätter identifizieren.

Nicht nur in Hellersdorf mobilisiert die extreme Rechte gegen in den Stadtteilen geplante Flüchtlingsunterkünfte. Nachdem vor einigen Wochen einige Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Wilmersdorf an Windpocken erkrankten, wurden in der Umgebung Plakate geklebt, die die Flüchtlinge als Gefahr für die Gesundheit der Umgebung diffamierten. „Ein solch plumper Rassismus ist mir in meiner langjährigen Tätigkeit noch nicht begegnet“,erklärte Snezana Hummel von der Arbeiterwohlfahrt (AWO), die die Unterkunft betreibt. Sie hat Anzeige gegen Unbekannt gestellt.

http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/fremdenfeindliche-hetze

Peter Nowak

Form oder Förmchen?

Ein neuer Sammelband lotet Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen von Arbeiterselbstverwaltung aus -...

…Fabrikbesetzungen und Arbeiterkontrolle, in vielen Ländern der Welt spielen diese Kampfformen auch heute eine wichtige Rolle. Erinnert sei an die Kachelfabrik Zanon und das Textilwerk Bruckmann in Argentinien. Aber auch in Venezuela fand die Bewegung der besetzten Fabriken bei einem Teil der Internationalismusbe-wegung eine starke Beachtung, vor allem bei jenen, die ihren Fokus weniger auf Chavez und die Regierung als auf die Selbstorganisation der Bevölkerung richteten. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Dario Azzellini war einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, die mit Büchern und dem Film „5 Fabriken“ Feldforschung auf dem Gebiet der betrieblichen Selbstorganisation in Venezuela betrieben.

„Form oder Förmchen?“ weiterlesen

Schwierige Erinnerung

Demonstration Für das Neonazi-Opfer Silvio Meier sind am Samstag wieder Tausende auf die Straße gegangen. Doch nun wird über weitere Formen des Gedenkens diskutiert
Schwierige Erinnerung

Tausende haben am Samstag in Berlin-Friedrichshain an den Antifaschisten Silvio Meier erinnert. Der junge Mann war am 21. November 1992 von einem Neonazi im U-Bahnhof Samariterstraße erstochen worden. Meier war zu DDR-Zeiten in der Opposition und hatte nach dem Fall der Mauer mit Freunden ein Haus in Friedrichshain besetzt.

Damals gehörte die Auseinandersetzung mit Neonazis zum Alltag. Rechte Jugendliche überfielen zu dieser Zeit auch in vielen Teilen Ostberlins Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten. Nach Meiers Tod organisierte sein politisches Umfeld Gedenkveranstaltungen, die in den Jahren danach auch für eine neue Generation von Antifaschisten Tradition wurden. Die Parole „Silvio Meier unvergessen“ prangt jedes Jahr auf Plakaten, Flyern und Aufklebern.

„Nicht der Silvio Meier, den ich kannte“

Doch diese Art der Gedenkkultur ist nicht unumstritten, wie vor einigen Tagen auf einer Podiumsdiskussion in Friedrichshain deutlich wurde. „Das ist nicht der Silvio Meier, den ich kannte“, kritisierte ein Jugendfreund. Er erinnerte daran, dass Meier als DDR-Oppositioneller sicher nicht damit einverstanden wäre, nun überall als Genosse bezeichnet zu werden, weil der Begriff zu sehr nach SED klinge.

Aber nicht alle Freunde Meiers sehen das so. „Personen haben sich in unterschiedliche politische Richtungen entwickelt und von dieser Perspektive beurteilen sie heute das Gedenken an Meier“, meinte ein anderer Mitstreiter des Neonaziopfers. Die Spanne ist weit – vom Wissenschaftler, dem die staatsfeindliche Attitüde der Parolen auf dem Meier-Gedenken missfallen, bis zu Anhängern, die sich in anarchistischen Zusammenhängen bewegen. Damit wird deutlich, dass auch der Freundeskreis keine letzte Instanz der Gedenkarbeit ist.

Angehörige einbeziehen

Für ein weiteres Neonazi-Opfer wird nun erstmals eine andere Art der Erinnerungskultur diskutiert: ein Gedenkstein in der Nähe des Tatortes. Dieter Eich wurde am 24. Mai 2000 von vier Neonazis in seiner Wohnung Berlin-Buch ermordet, offenbar nur deshalb, weil er erwerbslos und damit in den Augen seiner Mörder ein „Assi“ war. Eine Initiative im Nordosten Berlins widmet sich seit vielen Jahren seiner Erinnerung.

2013 wird der Haupttäter aus der Strafhaft entlassen. Bis dahin soll auch der Gedenkstein gesetzt sein. Noch werden Spenden dafür gesammelt. Staatliche Sponsoren scheiden für die Initiatoren aus, weil sie sich nicht abhängig von politischen Vorgaben machen wollen.

Selbst beim Gedenken an Opfer der NS-Zeit tut sich die Gesellschaft immer noch schwer, wie Dirk Stegemann vom Berliner Bündnis „Rechtspopulismus stoppen“ berichtete. Er setzt sich für einen Erinnerungsort für die Opfer des größten Berliner Arbeitshauses in Berlin-Rummelsburg ein. Von dort wurden in der Nazizeit mehrere Insassen in Konzentrationslager verschleppt. Weil es sich beim dem Areal um lukrative Grundstücke handelt, soll aber kein Investor mit Tafeln verschreckt werden, die an Geschichte erinnern.
Benennung verschoben

Einen Gedenkort wollen auch Freunde von Silvio Meier durchsetzen. Nach ihm soll gleich in der Nähe des Orts seiner Ermordung eine Straße benannt werden. Der Beschluss wurde schon vor Monaten auf einer Bürgerversammlung gefasst und vom Bezirksparlament bestätigt.

Ein Anwohner hat allerdings geklagt und damit die Umbenennung zu Meiers 20. Todestag vorerst verhindert. In der taz wird er mit der Begründung zitiert, dass Meier als ehemaliger Hausbesetzer kein würdiger Träger eines Straßennamens und für seinen Tod auch selber verantwortlich sei.

http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/schwierige-erinnerung
Peter Nowak

Anti-AKW-Bewegung sieht Mission nicht erfüllt

ATOM AktivistInnen wollen weiter protestieren – gegen deutsche Beteiligungen am Nukleargeschäft

BERLIN taz Die bundesweite Antiatomkraftbewegung will künftig ihren Blick auf Organisationen, Firmen und Institutionen richten, die unabhängig von deutschen Ausstiegsbeschlüssen weiterhin auf Atomkraft setzen. Das ist das Ergebnis der Herbstkonferenz am Wochenende, auf der sich jährlich AktivistInnen aus ganz Deutschland austauschen. Außerdem soll die Kooperation mit ausländischen Gruppen verstärkt werden.

Die Naturfreunde Deutschland nannten Euratom als Beispiel, die Europäische Gemeinschaft zur Förderung der Atomenergie. „Deutschland ist dort Mitglied und finanziert dadurch weiterhin die Atomforschung, den Weiterbetrieb und unter Umständen auch den Neubau von Atomkraftwerken in der EU“, sagte Uwe Hiksch, Mitglied im Bundesvorstand von Naturfreunde. Regine Richter von der Gruppe Urgewald kritisierte, dass die deutsche Industrie und Politik weiterhin den Bau von AKWs unterstützen. Als Beispiel nannte sie eine mögliche Hermesbürgschaft für das Atomkraftwerk Angra 3 in Brasilien oder Kredite der Hypovereinsbank für einen Zulieferer eines AKWs im russischen Kaliningrad – was die Bank bis heute weder dementiert noch bestätigt hat. Der Fall war unter anderem durch einen Protestbrief russischer UmweltschützerInnen an den Vorstand der Hypovereinsbank in Deutschland zum Thema geworden. In Zukunft sollen solche Aktionen länderübergreifend koordiniert werden.

AKW-Pläne im Osten

Einfach scheint das aber nicht zu sein. Zwar berichteten Gruppen aus Russland und Weißrussland, dass der Widerstand gegen Atomkraft in ihren Ländern zunehme – Russland baut mehrere neue Atomkraftwerke, in Weißrussland finanziert Moskau den geplanten Bau eines AKWs. Auch Polen will in die Kernkraft einsteigen, von dort waren drei Anti-AKW-Initiativen angereist. Sie wollen im nächsten Jahr stärker mit den Deutschen zusammenarbeiten. Doch ein polnisches Wendland ist nicht das Ziel: Die polnischen AKW-GegnerInnen fürchten, dass eine zu starke Beteiligung deutscher UmweltschützerInnen den polnischen NationalistInnen mit ihren ständigen Warnungen vor ausländischen Einmischungen in die Hände spielen könnte.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=wu&dig
=2012%2F10%2F30%2Fa0075&cHash=d678e7a16b242d733c936f1a1278b7a3
Peter Nowak

„Trans ist keine Krankheit, sondern ein Menschenrecht“

Beim weltweiten Aktionstag gegen die Pathologisierung von Transsexuellen wurde auch auf die steigende transphobe Gewalt hingewiesen

Am 20. Oktober fand der Internationale Aktionstag gegen die Pathologisierung von Transmenschen statt. In über 30 Ländern rund um den Globus gab es Aktionen vom Infostand bis zu Demonstrationen.
Das Berliner Bündnis „Stopp Trans-Pathologisierung“ organisierte eine Kundgebung vor dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité unter der Parole „Trans ist keine Krankheit, sondern ein Menschenrecht“.
Die Aktivisten wenden sich dagegen, dass Menschen, die das ihnen zugeordnete Geschlecht nicht akzeptieren, in diagnostischen Handbüchern, die Ärzten und Psychologen als Grundlage dienen, in die Kategorie Störungen der Geschlechtsidentität eingeordnet werden. Weltweit setzen sich Transmenschen für die vollständige Streichung der Kategorie aus dem Handbuch ein.

Besondere Kritik übt das Bündnis an Professor Klaus Beier, der an dem Institut für Sexualwissenschaft lehrt. Es wirft dem Mediziner vor, die Pathologisierung eines 11jährigen Kindes vorangetrieben zu haben, das das ihm zugewiesene männliche Geschlecht nicht akzeptiert und dabei von der Mutter unterstützt wird (Geschichte vom „Jungen, der ein Mädchen sein wollte“). Der Sorgerechtsstreit um Alex, wie das Kind in den Medien genannt wurde, seine mögliche Zwangseinweisung in die Jugendpsychiatrie und eine damit verbundene Behandlung hin zu einem geschlechtskonformen Verhalten als Junge sorgten Ende März für Diskussionen. Beier und die Charité hatten damals allerdings bestritten, das Kind gegen seinen erklärten Willen oder den erklärten Willen der Mutter aufzunehmen.

Zunahme von transphober Gewalt

Transgender-Aktivisten sehen auch einen Zusammenhang zwischen der Pathologisierung von Transmenschen und der Zunahmen von Gewalt gegen Transmenschen. So heißt es in einer Pressemeldung von Transinterqueer:

„In den letzten Jahren ist in vielen Ländern ein Anstieg transphober Gewalt zu beobachten. Forschungen zeigen, dass 2009 bereits an jedem zweiten Tag der Mord an einer Trans-Person berichtet wurde. In 2008 liegt für jeden dritten Tag eine Meldung vor.“

Rechtzeitig zum Aktionstag ist im Verlag AG Spaak ein Büchlein unter dem Titel „Stop Trans*-Pathologisierung“ erschienen. Der im Untertitel „Berliner Beiträge für eine internationale Debatte“ vertretene Anspruch wird auf den knapp 100 Seiten eingelöst. In den kurzen Kapiteln, wird ein guter Einstieg in die Thematik geliefert.

Soziale Folgen der Ausgrenzung

Ein besonderer Stellenwert wird in dem Buch auf die sozialen Aspekte gelegt, was sicher auch darin liegt, dass die Herausgeberin Anne Allex seit vielen Jahren in der Erwerbslosenbewegung aktiv ist und den Arbeitskreis „Marginalisierte gestern und heute“ mitbegründet hat. In ihrem Beitrag zeigt sie die sozialen Folgen der Pathologisierung auf:

„Trans*-Menschen gehören zu einer der am meisten diskriminierten Populationen in Europa. Ihre Erwerbslosenquote ist signifikant höher als beim Rest der Gesellschaft. Sie haben keine Aussicht auf eine der Ausbildung entsprechende Arbeit. Sie sind überwiegend arm und sozial ausgegrenzt.“

Die Zuschreibung der Geschlechtsidentitätsstörung führt dazu, dass Transmenschen bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen in die Kategorie „erwerbsunfähig“ eingeordnet und ausgesteuert werden. Dass aber bedeutet ein Leben am Rande des Existenzminimums. „Landen Erwerbslose nach solchen Feststellungsverfahren in einer kleinen Erwerbsminderungsrente oder in der Sozialhilfe, hat das schwere, dauerhafte Folgen für ihren künftigen Lebensstandard und ihre Lebensqualität“, beschreibt Allex die soziale Realität, die nicht nur viele Transmenschen tangiert. So werden in den letzten Jahren immer häufiger ALG II-Berechtigte von den Jobcentern zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens aufgefordert. Zu den Begründungen gehört auch eine häufige Krankschreibung vor oder Entlassungen aus Eingliederungsmaßnahmen.
http://www.heise.de/tp/blogs/3/153024
Peter Nowak

Nicht krank machen lassen

Die Diskriminierung von Transmenschen ist in Deutschland alltäglich. Dagegen richtet sich ein am Wochenende stattfindender Aktionstag.

Im Februar 2006 wurde die brasilianische Transsexuelle Gisberta Salce Junior in Portugal von einer Gruppe junger Männer gefoltert, vergewaltigt und schwer verletzt in einen Brunnen geworfen, wo sie starb. Auf den Fall von Brandon Teena und die Gewalt gegen Transmenschen machte der Film »Boys Don’t Cry« im Jahr 1999 international aufmerksam: Brandon, der körperlich weiblich war, aber als Mann leben wollte, wurde 1993 im Alter von 21 Jahren in Nebraska ermordet.

Auch in Deutschland sind Transmenschen Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt, die tödlich enden können. Bekannt wurde der Selbstmord der Berliner Kriminalhauptkommissarin Bianca Müller im Jahr 2005. Die als Sprecherin des Arbeitskreises Kritischer Polizisten bekannt gewordene Beamtin war nach einer Geschlechtsumwandlung dem brutalen Mobbing ihrer Kollegen ausgesetzt, das sie in ihrem Abschiedsbrief schilderte. Einen PDS-Bürgermeister aus Quellendorf in Sachsen-Anhalt kostete sein Outing als Transmensch vor 14 Jahren nicht das Leben, aber sein Amt und sein soziales Umfeld. Nachdem der als Norbert Lindner gewählte Politiker zu Michaela Lindner geworden war, brachten Einwohner ein erfolgreiches Abwahlverfahren in Gang. Die Transfrau verließ den Ort. In verschiedenen Zeitungen äußerten sich damals Einwohner von Quellendorf über die »Krankheit« Lindners.

Die Pathologisierung von Menschen, die das ihnen zugeordnete Geschlecht nicht akzeptieren wollen, wird auch von Psychologen und Ärzten vorangetrieben. So ist in internationalen Krankheitskatalogen Transsexualität noch immer als »Geschlechtsidentitätsstörung« aufgeführt. Die Trans*-Initiativen, so die Eigenbezeichnung, befürchten, dass diese Diagnose demnächst noch ausgeweitet werden könnte. Denn zurzeit wird das Diagnostische und Statistische Handbuch psychischer Störungen (DMS) überarbeitet. Zu den 13 Arbeitsgruppen, die damit befasst sind, gehört auch die »sexual and gender identity disorder work group«, der 13 Psychiater und Psychologen angehören.

Doch weltweit setzen sich Transmenschen für die vollständige Streichung der Kategorie »Geschlechtsidentitätsstörung« aus dem Handbuch ein. Der 20. Oktober wurde zum internationalen Aktionstag für die Entpathologisierung von Transmenschen ausgerufen. In über 20 Ländern sind die unterschiedlichsten Aktionen geplant, von Infoständen bis zu Demonstrationen. Das Berliner Bündnis »Stopp Trans*-Pathologisierung« hat für kommenden Samstag um 15 Uhr eine Kundgebung vor dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Universitätsklinikums Charité in der Luisenstraße 15 unter dem Slogan »Trans ist keine Krankheit, sondern ein Menschenrecht« angekündigt.

Besondere Kritik übt das Bündnis an Professor Klaus Beier, der an diesem Institut lehrt. Er vermittle in seinen Vorlesungen »ein pathologisierendes und diskriminierendes Bild von Transgendern, Transvestiten und anderen Queers«, behauptet es. Es wirft dem Mediziner zudem vor, die Pathologisierung eines elfjährigen Kindes vorangetrieben zu haben, das das ihm zugewiesene männliche Geschlecht nicht akzeptiert und dabei von der Mutter unterstützt wird. Der Sorgerechtsstreit um Alex, wie das Kind in den Medien genannt wurde, seine mögliche Zwangseinweisung in die Jugendpsychiatrie und eine damit verbundene Therapierung hin zu einem geschlechtskonformen Verhalten als Junge sorgten Ende März für Diskussionen (Jungle World 14/2012). Beier und die Charité hatten damals öffentlich bekundet, eine solche Therapie nicht anzuwenden und nicht dazu bereit zu sein, das Kind gegen seinen erklärten Willen oder den erklärten Willen der Mutter aufzunehmen.

Auch die Berliner Gruppe Transinterqueer kritisiert Beier, der als Sexualmediziner mit der Begutachtung des Kindes beauftragt war. Sie war Teil eines Bündnisses zahlreicher Organisationen, die vor einigen Monaten die Zwangseinweisung von Alex verhindern konnten. Der Fall hat die Diskriminierung und Pathologisierung von Transmenschen in Deutschland einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die Organisatoren hoffen daher auch auf eine stärkere Beteiligung am Aktionstag als in den Vorjahren.

Rechtzeitig dazu ist nun im Verlag AG Spak ein Büchlein unter dem Titel »Stop Trans*-Pathologisierung« erschienen. Der im Untertitel vertretene Anspruch, »Berliner Beiträge für eine internationale Debatte« zu liefern, wird auf den knapp 100 Seiten eingelöst. In den kurzen Kapiteln, darunter auch Redebeiträge der Protestkundgebungen der vergangenen drei Jahre, wird eine gute Einführung zum Thema geliefert. In einem Glossar werden die Fachbegriffe erläutert, am Ende werden Interessierte mit einer kommentierten Bücherliste und einigen Filmempfehlungen über »Geschlecht und Trans*« zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema ermuntert.

Ein besonderer Akzent wird in dem Buch auf die sozialen Aspekte gelegt, was sicher auch daran liegt, dass sich die Herausgeberin Anne Allex seit vielen Jahren in der Erwerbslosenbewegung engagiert und den »Arbeitskreis Marginalisierte gestern und heute« mitbegründet hat. In ihrem Beitrag zeigt sie die sozialen Folgen von Pathologisierung auf. »Trans*-Menschen gehören zu einer der am meisten diskriminierten Populationen in Europa. Ihre Erwerbslosenquote ist signifikant höher als beim Rest der Gesellschaft. Sie haben keine Aussicht auf eine der Ausbildung entsprechende Arbeit. Sie sind überwiegend arm und sozial ausgegrenzt«, schreibt Allex. Die Zuschreibung einer Geschlechtsidentitätsstörung könne dazu führen, dass Transmenschen bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen in die Kategorie »erwerbsunfähig« eingeordnet würden. Das aber bedeute ein Leben am Rande des Existenzminimums. »Landen Erwerbslose nach solchen Feststellungsverfahren in einer kleinen Erwerbsminderungsrente oder in der Sozialhilfe, hat das schwere, dauerhafte Folgen für ihren künftigen Lebensstandard und ihre Lebensqualität«, schreibt die Autorin.

Dies betrifft nicht nur viele Transmenschen. So wurden in den vergangenen Jahren immer häufiger ALG-II-Berechtigte von den Jobcentern zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens aufgefordert (Jungle World 22/2011). Zu den Begründungen gehört auch eine häufige Krankschreibung vor oder die Entlassung aus Eingliederungsmaßnahmen. Allex’ Beitrag macht deutlich, dass die Gefahr der Pathologisierung renitenter Erwerbsloser mittels dieser psychologischen Gutachten nicht auszuschließen ist.

Mit der Benennung der sozialen Dimension weisen die Autoren des Buches auf mögliche Bündnisse auch über den Aktionstag hinaus hin, die vom Bündnis gegen Zwangspathologisierung bis zu Erwerbslosengruppen und Sozialbündnissen reichen können. Beispiele gibt es bereits. In dem Buch ist das Foto eines Transparents mit der Parole »Dekadenz in Permanenz, Existenzgeld 1 500 Euro für hetero, homo, bi, lesben, trans, queer« zu sehen, das auf einer Demonstration gegen Sozialabbau im Sommer 2010 getragen wurde.

http://jungle-world.com/artikel/2012/42/46414.html

Peter Nowak

Eine neue Qualität?

Fragen an Christoph Schulze, Mitarbeiter der Opferperspektive Brandenburg, die rechte Vorfälle
dokumentiert und Opfer rechter Gewalt berät.

Die rechten Drohungen gegen die Lausitzer Rundschau in Spremberg haben vor einigen Wochen bundesweit Aufsehen erregt.
CHRISTOPH SCHULZE: Dass eine gesamte Lokalredaktion im Visier von Neonazis steht, war mir zumindest
bisher nicht bekannt und zeugt vom gestiegenen Selbstbewusstsein der Rechten. Deshalb hat die Aktion in
der Tat eine neue Qualität. Dass Pressevertreter in den Fokus der Rechten geraten, ist allerdings weder neu
noch überraschend. So wurde die Journalistin Andrea Röpke, die seit Jahren über die rechte Szene schreibt, von Neonazis angegriffen und geschlagen. Auch Fotojournalisten geraten immer wieder ins Visier der Rechten, so unter anderem bei einem Neonaziaufmarsch am 1. Mai 2010 in Hamburg.

Sind Ihnen auch aus der Region solche Angriffe gegen Journalisten bekannt?
C.S.: Ja, so wurde der Journalist Peter Huth aus der Uckermark bedroht, der sich in journalistischen Beiträgen
seit Jahren mit der rechten Szene auseinandersetzt. Immer wieder erhalten Journalisten, die sich kritisch
mit den Neonazis beschäftigen, Drohbriefe.

Sind die Angriffe auf die Lausitzer Rundschau Indiz für eine neue rechte Szene, die mit solchen Ak-tionen
von sich reden macht?

C.S.: In der jüngeren Generation der Neonazis ist grundsätzlich eine gesteigerte Gewaltbereitschaft sowie
die Suche nach neuen politischen Ausdrucksformen festzustellen. Dazu gehören auch maskierte Nachtde-monstrationen, wie sie eine Neonazigruppe unter dem Namen »Die Unsterblichen« am Vorabend des 1. Mai
2011 erstmals durchführte und mit PR-Methoden propagierte. Inzwischen wurden diese Aktionen dutzendfach
in anderen Städten wiederholt. In der Lausitz hat sich eine Neonaziformation »Spreelichter« damit hervorgetan. Es gibt starke Indizien, dass aus ihrem Umfeld auch die Angriffe auf die Lausitzer Rundschau ausgehen.

Wo liegt der Grund für diese Art von neuem rechten Aktivismus?
C.S.: Ich sehe das als einen Erfolg der Nazigegner, die mit erfolgreichen Blockadeaktionen wie in Dresden
und anderen Städten rechte Aufmärsche erfolgreich be- oder verhinderten.

Am 12. Mai wurden auch linke Jugendliche in Spremberg angegriffen. Zeigt sich in den Reaktionen
darauf ein Ungleichgewicht an öffentlicher Aufmerksamkeit?

C.S.: Nein, die Aufmerksamkeit, die durch Drohungen gegen die Lausitzer Rundschau auf die rechte Szene
in der Region gelenkt wurde, hat dazu geführt, dass auch Angriffe auf Punks in einer größeren Öffentlichkeit
wahrgenommen wurden. Denn dass es eine aktive Neonaziszene in Spremberg gibt, ist nun wahrlich
nichts Neues. Es ist aber bislang kaum gelungen, darüber breiter zu debattieren. Unabhängig von den letzten Angriffen ist inzwischen in vielen Medien eine größere Sensibilität für Opfer rechter Gewalt entstanden, was
sich beispielsweise bei den Angriffen auf die Jugendlichen in Spremberg zeigte. Immer mehr Redaktionen berichten über rechte Aktivitäten vor Ort. Die Zeiten, als darüber geschwiegen wurde, weil man das »eigene
Nest« nicht mit schlechten Nachrichten in Misskredit bringen wollte, gehören zum Glück weitgehend
der Vergangenheit an.

Aber gibt es nicht noch immer das Argument, dass die Touristen wegbleiben, wenn wir über rechte Vorfälle schreiben?
C.S.: Solche Stimmen gibt es auch heute noch vereinzelt. Doch auch da hat sich quer durch alle Parteien
einiges verändert. Ein gutes Beispiel ist der Umgang der Verantwortlichen in Neuruppin mit der Neonaziszene.
Die rechten Vorfälle werden ausführlich dokumentiert, Menschen, die sich dagegen wehren, werden aktiv
unterstützt. Dieses offene Engagement gegen Rechts führt gerade nicht dazu, dass die Touristen wegbleiben.
Im Gegenteil: Weil sich mittlerweile rumgesprochen hat, dass Rechte in Neuruppin keine Chance
haben, kommen mehr Menschen dorthin.

INTERVIEW: PETER NOWAK
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012


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„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm“

Entfacht Buschkowsky erneut die von Sarrazin ausgelöste Debatte?

Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky gehört zu den bekanntesten Berliner SPD-Politikern. Die Hauptstadt-SPD weiß diese Beliebtheit zu schätzen und stellt sich immer wieder vor Wahlen sehr öffentlichkeitswirksam hinter Buschkowsky, auch wenn der aus seiner politischen und persönlichen Freundschaft mit dem umstrittenen ehemaligen Berliner Senator Sarrazin nie einen Hehl gemacht hat. Lediglich dessen Rückgriff auf die Eugenik hatte Buschkowsky schon auf den Höhepunkt der Sarrazin-Debatte kritisiert. Nun hat Buschkowsky mit „Neukölln ist überall“ selber ein Buch veröffentlicht, das durchaus zu einer Debatte „Sarrazin Light“ führen könnte.

Im Stil von Sarrazin

Die Werbekampagne des Ullstein-Verlags ist durchaus darauf angelegt. Wird doch Buschkowsky ganz im Sarrazin-Stil als Autor vorgestellt, der sagt, was viele denken, aber angeblich nur wenige sagen. So heißt es dort:

„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm: Zoff auf den Straßen, hohe Arbeitslosigkeit, Überfremdungsängste bei der einheimischen Bevölkerung das ist die Realität in Berlins Problembezirk Nr. 1. Doch Neukölln ist überall. Buschkowsky sagt, was sich in Deutschland dringend ändern muss.“

Als hätte es nicht bereits 2006 den Film Knallhart gegeben, der mit dem gleichen Gestus beworben wurde. Auch damals ging es um „Migrantengewalt in Neukölln“ und Buschkowsky hatte es verstanden, den Film zu einer Breitseite gegen naive Multikulti-Anhänger zu machen. Tatsächlich hat das Multikulti-Konzept Kritik verdient, weil es Menschen an die Herkunft und ihre daran verknüpfte Kulturen festnageln will. Doch in diesem Sinne ist Buschkowsky wie viele seiner Anhänger selber Kulturalist. Das macht sich schon daran fest, dass er Menschen, die teilweise in Deutschland geboren wurden und auch oft die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, als Migranten beschreibt, denen er, wenn sie sich nicht in Deutschland integrieren wollen, gerne beim Kofferpacken helfen würde.

Das ist nur ein Beispiel für den Buschkowskyschen Populismus, der sein Buch auch in den verschiedenen Ultrarechtsgruppen und Medien attraktiv macht. So hat sich der ehemalige NPD-Vorsitzende Voigt in einem aktuellen Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung in seiner Verteidigungsstrategie auf Buschkowskys Buch berufen.

Mittlerweile wird in verschiedenen Medien wie dem Freitag und der Taz über darüber diskutiert, wie viel Rassismus in Buschkowskys neuen Buch steckt. Freitag-Redakteurin Verena Schmitt-Roschmann sieht in dem Buch die Fortsetzung des „Stummsinns“, den Sarrazin vorgemacht hat. Alke Wirth sieht hingegen in Buschkowskys Buch den Rassismus des Kleinbürgers am Werk, gesteht ihm allerdings zu, als Politiker pragmatischer zu agieren denn als Buchautor und will in ihm keinen zweiten Sarrazin erkennen. Tatsächlich kalkuliert das Buch den Skandal ein und der Autor kann sich sofort als verfolgte Unschuld inszenieren, wenn der Vorwurf des Rassismus und Rechtspopulismus kommt. Genau darin aber besteht die Strategie vieler Rechtspopulisten.

Soziale Probleme kulturalisiert

Bisher gibt es bei den Buschkowsky-Kritikern eine wenig beachtete Gemeinsamkeit mit den Gegnern von Sarrazin. Sie verweisen auf rassistische Textstellen und vergessen die soziale Dimension. Wie Sarrazin hat sich auch der Neuköllner Bürgermeister schon öfter über freche Erwerbslose ausgelassen, deren einziges Ziel nicht Arbeit um jeden Preis sei

Wenn er jetzt schreibt, dass Integration eine Bringschuld sei, dass die „einheimische“ Bevölkerung ihr Land im Großen und Ganzen eigentlich ganz gut finde und von Zugewanderten, auch denen der 2. und 3. Generation, eine Anpassung an die hiesigen Lebensweisen erwarte, dann grenzt er auch alle die Menschen mit aus, die die Zustände hier überhaupt nicht gut finden. Gerade in Neukölln boomt der Niedriglohnsektor und die Zahl der Hartz IV-Empfänger mit und ohne Lohnarbeit steigt. Davon sind Menschen betroffen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, aber auch alte Neuköllner und zunehmend auch die sogenannten jungen Kreativen, die nach Nordneukölln ziehen.

In diesem Sinne bekommt der Slogan „Neukölln ist überall“ eine ganz neue Bedeutung. Es ist ein Labor für schlechte Arbeitsbedingungen, Niedriglohn und Hartz IV. Doch Buschkowsky versteht es genau wie Sarrazin, diese sozialen Zustände mit den sich daraus ergebenden Problemen zu kulturalisieren, indem er den Jugendlichen, deren Vater eingewandert ist, zum Problem erklärt und nicht die sozialen Verhältnisse, die auch die Menschen tangieren, die schon seit Generationen hier leben. Diese Aufteilung wird von dem Großteil der Betroffenen nachvollzogen. Das ist der Grund von Buschkowskys Beliebtheit über Neukölln hinaus. In der Ignorierung dieser sozialen Dimension besteht auch der blinde Fleck vieler Buschkowsky- und Sarrazin-Kritiker.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152853
Peter Nowak

Schrei vor Schreck


Das Online-Versandunternehmen Zalando ist wegen schlechter Arbeitsbedingungen in die Kritik geraten.

cht den Internethandel auf«, diesen Titel wählte das Hamburger Abendblatt vor einigen Monaten für einen Bericht, der sich wie eine deutsche Version des Mythos »Vom Tellerwäscher zum Millionär« liest. »Diese Geschichte beginnt in einer Berliner Wohnung, einer kleinen Bude, in der sich 2008 fünf ehemalige Kommilitonen von der Universität Koblenz trafen, darunter Marc, Oliver und Alexander Samwer, deren legendärer Geschäftssinn sie schon in jungen Jahren zu Millionären gemacht hatte. Hier tüftelten sie das Konzept für Zalando aus, einen Schuhladen im Internet. Und hier verpackten sie anfangs auch selber Flipflops, Budapester oder Turnschuhe für die Kunden und brachten die Pakete zur Post.«

Aus dem unbekannten Start-up-Unternehmen wurde ein expandierender Internetkonzern. Noch am 20. Juli vermeldete die Berliner Morgenpost die neuesten Erfolge aus dem Hause Zalando. Das Unternehmen habe seinen Umsatz verdreifacht, während die Konkurrenten Verluste erlitten hätten. Die Zeitung veröffentlichte auch die aktuellen Expansionspläne: »Zalando (…) heizt dem Markt ordentlich ein. Von den Lagern in Brieselang und Großbeeren verschicken sie ihre Ware in zwölf europäische Länder. Polen und Norwegen stehen als Nächstes auf der Expansionsliste. Im Juli eröffnete bereits ein Technologiestandort in Dortmund, an dem bald schon 60 Mitarbeiter Marketingideen entwickeln und Logistik und Versand voranbringen sollen. Im Spätsommer wird ein weiteres Lager in Erfurt dazukommen.«

Über den Preis dieses Aufstiegs verlor die Berliner Morgenpost kein Wort. Dabei packten schon längst nicht mehr die Samwer-Brüder die Schuhe ein, sondern schlecht bezahlte Leiharbeiter. In der vorigen Woche gingen einige Beschäftigte an die Öffentlichkeit, und schnell wurde deutlich, dass es nicht der Geschäftssinn und die Phantasie von drei Brüdern, sondern die schlecht bezahlte Arbeitskraft von vielen Menschen ist, die den Erfolg Zalandos ermöglicht. Nachdem der Online-Versandhändler lange Zeit einem Kamerateam des ZDF ein Interview und eine Drehgenehmigung vor Ort verweigert hatte, heuerte ein Mitarbeiter der Sendung »Zoom« als Leiharbeiter an und dokumentierte mit versteckter Kamera die Zustände in den Lagerhallen.

Die Arbeitsbedingungen beim Versanddienst im brandenburgischen Großbeeren erinnern an frühkapitalistische Zustände. Die Mitarbeiter mussten während der gesamten siebeneinhalbstündigen Arbeitszeit stehen und wurden ständig überwacht. Die Toiletten waren unhygienisch und der Stundenlohn für Leiharbeiter betrug sieben Euro. Wie viele andere Unternehmen, gerade im Versandhandel, hat Zalando Null-Euro-Jobber eingestellt. Sie absolvieren kostenlos ein »Schnupperpraktikum« in der Hoffnung, eine Festanstellung zu finden. In der Sendung berichteten Mitarbeiter, dass die meisten Praktikanten aber statt Festanstellungen immer wieder Angebote für neue Praktika bekamen. In Zeiten der Wirtschaftskrise und der Zumutungen des Hartz-IV-Systems ist die Nachfrage groß, zumal Erwerbslose von den Jobcentern in solche kostenlosen Praktika gedrängt werden. Weigerungen können zu Sanktionen führen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass bei Zalondo wöchentlich zehn neue Null-Euro-Jobber antraten, wie das ZDF, gestützt auf Informationen von Mitarbeitern, berichtete.

Nachdem die Zustände bekannt wurden, gab sich die Geschäftsführung reuevoll, schob aber die Verantwortung auf die Leiharbeitsfirmen ab. »Die Eindrücke der Dokumentation spiegeln aus unserer Sicht nicht die Arbeitsatmosphäre in den Zalando-Standorten wieder. Leider ist uns jedoch bewusst geworden, dass wir auf unsere Dienstleister deutlich mehr Einfluss nehmen müssen. Im Fall von unserem Lager in Großbeeren arbeitet Zalando mit einem Partner zusammen, der größtenteils für das Personal und für die Prozesse im Lager verantwortlich ist. Diesen Partner werden wir stark prüfen und noch regelmäßiger kontrollieren, damit es zu keinen Missständen mehr kommen kann«, hieß es in einer Stellungnahme des Unternehmens. Doch das erwies sich schnell als bloße Rhetorik. Als ein Kamerateam das Unternehmensgebäude vom privaten Straßenrand aus filmen wollte, schritten Sicherheitsleute ein.

Von der Politik braucht das Unternehmen nicht viel zu befürchten, wie die schwache Reaktion des brandenburgischen Arbeitsministers Günter Baaske (SPD) zeigt. Einerseits bestätigte er, dass das Landesamt für Arbeitsschutz eingeschaltet wurde, was angesichts der bekanntgewordenen Arbeitsbedingungen auch eine Selbstverständlichkeit ist. Andererseits aber lobte er die Unternehmensleitung, indem er die Bedeutung von Zalando für den Brandenburger Arbeitsmarkt betonte. »Durch Zalando sind viele hundert Menschen im westlichen Brandenburg in Arbeit gekommen«, sagt Baaske. Rund 900 Beschäftigte seien es allein in Brieselang. Über unbezahlte Praktika und Niedriglöhne sagte er nichts. Besser kann man kaum verdeutlichen, was die Forderung nach Arbeit um jeden Preis bedeutet. Die Brandenburger Landespolitiker, die sich selbst beim Bekanntwerden der desolaten Arbeitsbedingungen gleich als kostenlose Verteidiger von Zalando zur Verfügung stellten, entscheiden auch über die zahlreichen Vergünstigungen, die Unternehmen geboten werden, damit sie in dem Bundesland Investitionen tätigen. Die Konkurrenz ist groß, auch in anderen Bundesländern wird eine solche Standortpolitik betrieben.

Außer mitfühlenden Worten haben die Beschäftigten von Zalando wenig von der Politik zu erwarten. Dass die Geschäftsführung zumindest verbal einzulenken schien, lag denn auch eher an den solidarischen Reaktionen im Internet. Nach Bekanntwerden der Arbeitsbedingungen stand Zalando plötzlich im Shitstorm. Einem Unternehmen, das bisher als Inbegriff eines erfolgreichen Start-ups galt, kann das nicht gleichgültig sein. Wenn die Kunden das Internet nicht nur zur Warenbestellung, sondern auch zum Protestieren nutzen, können sie Zalondo Probleme bereiten, die über eine Beschädigung des Image hinausgehen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es sich beim Shitstorm nicht nur um eine spontane Äußerung von Wut handelt, die beim nächsten günstigen Schnäppchen schon wieder vergessen ist. Ob sich aus wütenden Bloggern kritische Konsumenten entwickeln, ist noch nicht ausgemacht.

Unter dem Motto »Dichtmachen« unterstützten soziale Initiativen den letzten Einzelhandelsstreik 2008 und blockierten eine Berliner Filiale von Reichelt. Solche Aktionen könnten auf das Netz ausgeweitet werden. Die Expansion des Versandhandels führt zu einer Verlagerung des Niedriglohnsektors vom Einzelhandel in die Verpackungs- und Lagerzentren und in die ebenfalls sehr schlecht zahlenden Versandfirmen. Hier sind soziale Initiativen gefordert, sowohl reale als auch virtuelle Räume zu schaffen, in denen sich die Beschäftigten der Warenlieferungskette austauschen und vernetzten können. Damit könnten sie mehr Druck ausüben als eine Kassiererin im Einzelhandel.

»Blogs im Internet sind eine gute Möglichkeit, sich zu vernetzen. Auch das Verdi-Mitgliedernetz bietet den Mitgliedern eine weitere virtuelle Plattform zur branchenübergreifenden Kommunikation«, sagt Verena Frank vom Verdi-Bundesvorstand im Gespräch mit der Jungle World. Sie verweist auf das Online-Unternehmen Amazon, das im Spätherbst 2011 wegen niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen in die Kritik geraten ist. Dort sei es Verdi gelungen, Mitglieder zu werben und Betriebsräte zu gründen.

http://jungle-world.com/artikel/2012/32/46010.html
Peter Nowak

Ziviler Widerstand in Syrien geht weiter

Aktivisten der Initiative „Adopt a Revolution“ erinnern an die Arbeit der gewaltfreien Bürgerkomitees in Syrien und warnen vor dem Eindruck, dass das Regime schon am Ende ist

Wer in den letzten Wochen die Nachrichten über Syrien verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, das Land sei endgültig im Bürgerkrieg versunken. Auch der mörderische Anschlag vom Mittwoch, der die Führung empfindlich traf, scheint dafür zu sprechen, dass nun endgültig die militärische Logik die Oberhand gewonnen hat. In einer solchen Situation drohen zivile Formen der Auseinandersetzung an den Rand gedrängt zu werden. Deshalb erinnert die Initiative Adopt a Revolution, die sich seit Monaten für eine Stärkung der sozialen und zivilgesellschaftlichen Kräfte in Syrien einsetzt, in einer Pressemitteilung daran, dass auch in der aktuellen Situation der Widerstand dieser Kräfte in Syrien weitergeht.

„In einer krisenhaften Situation wie der aktuellen in Damaskus, braucht es zivilgesellschaftliche Akteure mehr denn je, um für Transparenz und zivile Unterstützung der Bevölkerung zu sorgen. Die lokalen Komitees leisten diese Funktion, weshalb wir unsere Unterstützung jetzt mit Hochdruck fortführen“, heißt es in der aktuellen Pressemeldung von Adopt a Revolution.

Deren Berliner Koordinator Elias Perabo betont gegenüber Telepolis, dass es zur Zeit in Syrien ein Nebeneinander zwischen der zivilen Opposition und der militärischen Kräfte gäbe. In der Regel würden auch die zivilen Oppositionsgruppen die bewaffneten Kräfte als Schutztruppe begreifen. Das sei auch eine Folge des Gefühls der Hilflosigkeit und des Eindrucks, von der internationalen Öffentlichkeit allein gelassen zu werden. Dabei gehe es bei der internationalen Hilfe nicht um ein Eingreifen von Armeen der Nato-Länder, das sogar manche Publizisten in linken Medien propagieren, wo die Situation in Syrien kurzschlüssig mit dem Kampf gegen die Niederschlagung des Nationalsozialismus verglichen wird. Dabei wird schon ein grundlegender Unterschied ausgeblendet: Es gibt in Syrien nicht die Volksgemeinschaft wie in Deutschland, die bis zum Untergang mit dem Regime verbunden ist. Im Gegenteil ist es gerade der Widerstand der Bevölkerung, der Syrien in den Mittelpunkt des Weltinteresses brachte.

Noch keine Schlacht um Damaskus

Adopt a Revolution unterhält nach eigenen Angaben allein im Raum Damaskus Kontakt mit 16 Bürgerkomitees und verbreitet deren Widerstand, aber auch die Repression gegen die Aktivsten. Dabei betont Perabo, es sei wichtig dem Eindruck entgegenzutreten, der Kampf gegen das Regime sei schon gewonnen. „Die Schlacht um Damaskus hat noch nicht begonnen, es gibt aber erste Schritte“, betont der Aktivist. Nach seinen Aussagen leben gerade die zivilen Aktivisten in und um Damaskus in großer Angst vor der Repression des Regimes. So habe es in einem damaszener Stadtteil, wo die Opposition aktiv sei, in den letzten 24 Stunden 38 Tote gegeben, die durch die Mörserangriffe regierungstreuer Truppen umgekommen seien. In Damaskus sei die auf bis zu 8.000 Mann geschätzte Republikanische Garde noch weitgehend intakt. Zudem seien Militärs aus anderen Landesteilen wie aus der Region um die Golanhöhen nach Damaskus beordert werden. Deshalb sei die Angst der Opposition dort besonders groß. In anderen Regionen des Landes, etwa in den kurdischen Gebieten, hingegen sei der Optimismus größer, dass die letzten Tage des Regimes begonnen habe, so Perabo. Das liege auch daran, dass dort die Kräfteverhältnisse so seien, dass das Regime dort keine Macht mehr hat.

Auch über den Sturz des Regimes hinaus denken

In den letzten Monaten gab es auch in den hiesigen Medien eine heftige Debatte über die Rolle vor allem der bewaffneten syrischen Opposition, deren Kontakte ins Ausland, vor allem nach Saudi-Arabien und andere Golfstaaten und in die Türkei und über die Menschenrechtsverletzungen der FSA (die sogenannte „Freie syrische Armee“). Dabei wurde von manchen Publizisten der islamistische Einfluss in der bewaffneten Opposition in den Mittelpunkt gestellt, während Journalisten, die auf den Sturz des aktuellen Regimes abzielten, den islamistischen Einfluss eher vernachlässigten, und solche Vorwürfe teilweise als Regimepropaganda abtaten.

Dagegen betont Perabo, dass Adopt a Revolution sich seit Monaten auch mit Einfluss konfessioneller Gewalt in Syrien befasst. Es sei auch von Seiten der Opposition in den letzten Wochen zu Vertreibungen von Alewiten, besonders in den Zentren der Opposition um Horms, gekommen. In der letzten Zeit hätten solche Aktionen weiter zugenommen. Auch Perabo befürchtet, dass sich die konfessionellen Muster in den Auseinandersetzungen verstärken könnten. Daher versucht die Initiative Adopt a Revolution zivile Kräfte zu unterstützen, die sich gegen eine religiöse Zuspitzung wenden. Dazu gehört auch eine Studierendenbewegung, die sich zur Zeit in Syrien entwickelt.

Damit bricht die Initiative auch mit einer in der deutschen Internationalismusbewegung weitverbreiteten Tradition, die Kräfte, die unterstützt werden, möglichst nicht zu kritisieren. So wurden noch in der Lateinamerikasolidarität der 1980er Jahre blutige Abrechnungen innerhalb der linken Gruppen, die in El Salvador die Guerilla bildeten, ausgeblendet oder gar verteidigt. Der kritische Blick auf den Umgang auch der bewaffneten Opposition in Syrien mit den Menschenrechten durch Adopt a Revolution zeigt einen Lernprozess. Schließlich könnte die zivile Opposition nach dem Sturz des Assad-Regimes noch Solidarität brauchen, wenn sich die bewaffneten Kräfte dort machtpolitisch durchsetzen und sich zeigt, dass ihre Ziele gar nicht so demokratisch sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152427
Peter Nowak

-Fährt die Deutsche Bahn auf Reserve oder auf Erfolgskurs?

Die Deutsche Bahn und das Bündnis „Bahn für alle“ ziehen eine völlig unterschiedliche Bilanz

DB-Vorsitzender Rüdiger Grube sieht sein Unternehmen auf Erfolgskurs. Bei der Bilanzpressekonferenz am vergangenen Donnerstag sprach er von „einem kräftigen Gewinn bei Umsatz Gewinn und Investition“. „Wir bringen künftig Ökonomie, Soziales und Ökologie in Einklang“, so Grubes vollmundiges Bekenntnis. Nach seinen Angaben sind die Umsätze im letzten Jahr kräftig gestiegen. Mit fast 2 Milliarden Fahrgästen im letzten Jahr hatte Grube hier auch einen Rekord zu vermelden.

Zeitgleich mit dem Bahnvorstand meldeten sich auch die Kritiker zu Wort und machten eine andere Rechnung auf. Nach der Lesart der im Bündnis Bahn für alle zusammengeschlossenen Gruppen und Einzelpersonen hätte die Deutsche Bahn ohne staatliche Zuschüsse im letzten Jahr 6 Milliarden Euro Verlust gemacht. Daraus zieht Sascha Vogt von den Jungsozialisten, die Teil des Bündnisses „Bahn für alle“ sind, folgenden Schluss:

„Die Allgemeinheit haftet für mögliche Verluste der Bahn, sie hat deshalb auch einen Anspruch darauf, dass sich die Strategie der Bahn am Allgemeinwohl orientiert. Nötig sind deshalb massive Investitionen in den Schienenverkehr und ein Ausbau des Netzes, damit gerade in ländlichen Gegenden nicht immer mehr Orte vom Personenverkehr abgehängt werden.“

Fahren auf Verschleiß und ohne Reserven?

In dem von den Verkehrsexperten Winfried Wolf und Bernhard Knierim unter der Mitarbeit von Peter Kasten und Jürgen Rochlitz vorgelegten mehr als 100 Seiten umfassenden Alternativen Geschäftsbericht werden viele Dinge benannt und auch mit Tabellen und Statistiken nachgewiesen, die der Bahnkunde im Alltag immer wieder erlebt und die man in Grubes Erfolgsbilanz vergeblich sucht: Dazu gehören massive Probleme im Winter und im Sommer und eine weiterhin nicht funktionierende Berliner S-Bahn. Auch die regelmäßigen Fahrpreiserhöhungen, die nach Angaben der Autoren des Alternativen Berichts doppelt so hoch wie die Inflation sind, werden nur dort benannt.

„Wir fahren auf Verschleiß und haben keine Reserven mehr“, erklärte Bahnchef Grube im Januar 2011. Damit hat das Winterchaos die Bahn in Verruf gebracht – während die Deutsche Bahn davon nicht mehr reden will, wollen die alternativen Autoren Grubes Aussage verallgemeinern. Im Bericht heißt es:

„Dieses Fahren auf Verschleiß wird zum zentralen Strukturmerkmal des Schienenverkehrs im Allgemeinen und der Deutschen Bahn AG im Besonderen.“

Das führe zu roten Zahlen in den Jahresbilanzen, aber auch zur Zunahme von Qualitätsmängeln, Ausfällen und vermehrten Belastungen der Bahnkunden. Als Beispiel wird in dem Bericht der Achsenbruch bei einem ICE im Juli 2008 kurz hinter dem Kölner Hauptbahnhof angeführt. Nach Angaben des Alternativen Berichts wurden aus Kostenersparnis Materialien gewählt, die weniger belastbar sind und zu dem Unglück führten.

In dem Bericht werden mehrere Unfälle und Beinahe-Unfälle aufgeführt, die nach Ansicht der Autoren eine Folge von unzureichender Wartung und mangelnden Investitionen sind. Ein eigenes Kapitel ist der Berliner S-Bahn und ihren Notfahrplänen als Dauerzustand gewidmet. Auch auf die Rolle der DB bei dem Projekt Stuttgart 21 gehen die Verfasser noch einmal ein. Sie monieren, dass die Chance das Projekt abzusagen, nicht genutzt wurde. Zitiert werden auch die Ergebnisse einer wissenschaftliche Untersuchung, nach der ein Softwarefehler bei dem Stresstest dazu geführt haben soll, dass die Leistungsfähigkeit des Bahnhofsprojekts zu positiv ausgefallen ist.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151713
Peter Nowak

Und jetzt: Aktion!


Linke Gruppen planen für März und Mai eine Reihe von Aktionstagen gegen die Sparauflagen für Griechenland. Der Schulterschluss mit den Gewerkschaften steht noch aus

Im Bundestag plagt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Abweichlern aus den eigenen Reihen, die Griechenland vorwerfen, nicht genug zu sparen. Doch bald schon wird sie es mit Straßenprotesten zu tun bekommen, die sich gegen ihre rigorosen Sparvorgaben für Athen richten. Am 31. März beginnt in Frankfurt am Main der erste von mehreren Aktionstagen, mit denen linke Gruppen auf die EU-Krise reagieren wollen.
Organisiert wird dieser erste Aktionstag von Basisgewerkschaftlern und linken Gruppen in sieben europäischen Ländern. Ziel einer bundesweiten Demonstration ist an diesem Tag der Neubau der Europäischen Zentralbank (EZB) zwischen dem Frankfurter Osthafen und dem Mainufer. Die aktuelle EZB-Zentrale am Willy-Brandt-Platz soll zum Ort von antikapitalistischen Protesttagen vom 17. bis 19. Mai werden. Geplant sind Besetzungen von zentralen Anlagen und Plätzen in Frankfurt. Für den 18. Mai wird zu Blockaden der EZB und anderer Banken aufgerufen. Eine Großdemonstration am 19. Mai soll Höhepunkt und Abschluss der Aktionstage sein.

Schwache Gewerkschaften

Der Widerstand soll sich sowohl Ende März als auch Mitte Mai gegen die maßgeblich von der Bundesregierung vorangetriebenen Sparpakete richten, die die Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds IWF Griechenland und anderen Ländern der europäischen Peripherie als Vorbedingung für Hilfen vorgibt. Der Vorplatz der EZB-Zentrale wird schon seit Monaten von Occupy-Aktivisten belagert. Während des strengen Frosts vor einigen Wochen bekamen sie Verstärkung von zahlreichen Wohnungslosen, die im Camp etwas sicherer als sonst die kalten Nächte verbringen können.

Die Occupy-Bewegung, die in Deutschland nie eine ähnliche Bedeutung wie in den USA, Griechenland oder Spanien bekam, will bereits am 12. Mai im Rahmen eines internationalen Aktionstag einen Neustart versuchen. Dem Vorbereitungsbündnis gehören zudem das linke Bündnis Interventionistische Linke (IL), das Erwerbslosenforum Deutschland und die globalisierungskritische Organisation Attac an.

Gewerkschaftliche Gruppen sind in den Bündnisses bisher nur schwach vertreten. Dabei zeigt sich in den letzten Wochen, dass die EU-Krise auch in den Gewerkschaften die Protestbereitschaft stärkt. So rief die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zu Protesten während der Verabschiedung des griechische Sparpakets im Bundestag am Montagnachmittag auf. Auf einem zentralen Transparent prangte die Parole „Weg mit Merkels Sparpaket“.

Deutsche Löhne steigern für Griechenland

Die Gewerkschaften spannen inzwischen den Bogen zu den hiesigen Tarifauseinandersetzungen. „Im Namen der Schuldenbremse, der ‚leeren Kassen‘, sprechen die öffentlichen Arbeitgeber den Beschäftigten im öffentlichen Dienst das Recht auf die Forderung nach ‚kräftigen Reallohnerhöhung‘ ab – und das nach jahrelangem Reallohnverzicht“, beklagte ver.di. Der beim ver.di- Bundesvorstand für die Wirtschaftspolitik zuständige Dierk Hierschel schrieb in einem Aufsatz: „Erst wenn hierzulande die Löhne wieder kräftig steigen, haben griechische, italienische und spanische Exporteure die Chance, mehr Waren abzusetzen. Erfolgreiche deutsche Tarifabschlüsse sind somit auch Ausdruck europäischer Solidarität mit den Krisenländern.“

Diese Erkenntnis versuchten belgische Gewerkschafter ihren deutschen Kollegen schon im vergangenen Jahr mit der Kampagne „Helft Heinrich“ nahezubringen. Bei dieser Politsatire ging es darum, Arbeitnehmer in Deutschland beim Kampf um höhere Löhne zu unterstützen, um damit die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors in Europa zu verhindern. Unklar ist, ob in den nächsten Wochen noch eine Kooperation zwischen dem Vorbereitungsbündnis für die Aktionstage und den Gewerkschaften gelingt. Nur dann könnte von der Protestagenda ein gesellschaftliches Signal gesetzt werden, dass über die linke Szene hinausgeht.
http://www.freitag.de/politik/1208-neustart-fuer-occupy?Nowak

Geheimakte Barbie

Der Historiker Peter Hammerschmidt forscht über den Umgang der Bundesrepublik mit Altnazis wie Klaus Barbie. Doch der Verfassungsschutz verweigert die Akten

Der Freitag: Was war der Grund für Sie, über Klaus Barbie zu forschen?
Peter Hammerschmidt: Es war ein Hauptseminar an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz über die deutsche Südamerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert, das mein Interesse an den „Rattenlinien“ weckte. Die „Rattenlinien“ waren die von westlichen Geheimdiensten, dem Roten Kreuz und dem Vatikan initiierten Fluchtrouten, über die hochrangige NS-Funktionäre nach 1945 nach Südamerika und somit einer Strafverfolgung entkamen. Zu den Flüchtigen gehörten beispielsweise der KZ-Arzt Josef Mengele, der Kommandant des Rigaer Ghettos, Eduard Roschmann, und der Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann. Eine weitere Person, die von dieser Protektion profitierte war eben auch Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, der trotz seiner Eintragung auf internationalen Fahndungslisten bis 1983 in Freiheit lebte und sein NS-Repressionswissen an westliche Nachrichtendienste und an südamerikanische Militärdiktaturen weitergab. Der Fall Barbie zeigt exemplarisch, inwiefern die globalpolitischen Rahmenbedingungen die Protektion von NS-Eliten nach 1945 durch westliche Nachrichtendienste begünstigten und inwiefern die Interpretation nationaler Sicherheitsinteressen die moralischen Bedenken einer solchen Protektion konterkarierten.

Wie war der Forschungsstand bisher dazu?

Speziell zum „Fall Barbie“ entstanden im Zuge der öffentlichen Diskussion im Rahmen des Barbie-Prozesses (1987) verschiedene – vor allem journalistische – Publikationen. Eine Analyse von Barbies Biografie auf wissenschaftlicher Ebene steht nach wie vor aus, hier setzt das Promotionsvorhaben an.

Sie haben auch beim Verfassungsschutz Akten zu Barbie angefordert. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Das mittlerweile auf Basis langwieriger Interventionen freigegebene Aktenmaterial ausländischer Nachrichtendienste und Behörden legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen in die Bundesrepublik auch von Seiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz protegiert wurde. Ein Antrag auf Akteneinsicht wurde im Herbst 2011 mit der Begründung abgewiesen, dass aufgrund der „hohen Anzahl von Verschlusssachen“ verschiedener Nachrichtengeber in den Akten sowie aufgrund des „hohen personellen Aufwandes“ keine Einzelprüfung erfolgen könne. Ein gesetzlicher Anspruch auf Akteneinsicht gegenüber dem BfV nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bestehe nicht. Nach einer weiteren Intervention ließ sich der Inlandsnachrichtendienst Mitte Oktober 2011 doch noch zu einer entsprechenden Einzelprüfung bewegen. Nach einer „überschlägigen Sachverhaltsprüfung“ kam das BfV zu dem Ergebnis, dass eine „Offenlegung der – tatsächlich im BfV vorhandenen und grundsätzlich für eine Abgabe an das Bundesarchiv vorgesehenen – Gesamtakte zu Barbie in absehbarer Zeit aus Sicherheitsgründen leider nicht möglich“ sei. Das BfV, dem „die transparente Aufarbeitung“ der eigenen Geschichte nach eigenen Angaben ein „besonderes Anliegen“ ist, verweigert also aus – auch auf Nachfrage – nicht näher definierten „Sicherheitsgründen“ die Freigabe der im Archiv des BfV definitiv existenten Akte des „Schlächters von Lyon“ Klaus Barbie.

Mittlerweile haben sich Hinweise verdichtet, dass Barbie in der Nachkriegszeit neofaschistische Strukturen aufbaute und internationale Waffengeschäfte abwickelte. Warum mauert der Verfassungsschutz bei der Aufklärung?
Die Forschungsergebnisse, die im Rahmen der Recherchen zum Promotionsvorhaben zusammengetragen werden konnten, legen nahe, dass Barbie in Deutschland neofaschistische Strukturen organisierte und darüber hinaus zwischen 1978 und 1979 ausgewählte Neofaschisten für den politischen Umsturz in Bolivien rekrutierte. In den 1970er Jahren scheint Barbie in diesem Zusammenhang auch aktiv an der Organisation von Gladio-Strukturen beteiligt gewesen zu sein.

Gibt es juristische Möglichkeiten, die Herausgabe der Akten einzuklagen?
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig im Fall des Bundesnachrichtendienstes, das die Öffnung von Aktenmaterial im Fall Adolf Eichmann ermöglichte, bietet auch für eine juristische Intervention im Falle des BfV entsprechende Perspektiven. Sie verstehen sicher, dass ich dazu derzeit keine weiteren Angaben machen kann.

Wie bewerten Sie angesichts Ihrer Erfahrungen, die Erklärungen des Verfassungsschutzes, dass eine transparente und wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung der eigenen Geschichte ein wichtiges Anliegen ist?
Die Weigerungshaltung des BfV, die definitiv existente Akte von Barbie freizugeben, ist auch für mich – gerade mit Blick auf die wiederholt proklamierte Transparenz einer historischen Aufarbeitung der eigenen Behördengeschichte – unerklärlich. Der Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter und der Schutz von Informationen befreundeter Nachrichtendienste ist wichtig. Doch stellt sich die Frage, wie eine historische Aufarbeitung des BfV möglich sein soll, wenn bereits der Freigabe einer Einzelakte derartige „Sicherheitsrisiken“ entgegenstehen. Insofern drängt sich der Verdacht auf, dass das anvisierte Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte des BfV zwischen 1950 und 1975 auseinandersetzen soll, einer freien und unabhängigen Forschung entgegensteht. Meines Erachtens ist der Wille zu einer transparenten Aufarbeitung des BfV mit Blick auf personelle NS-Kontinuitäten nicht zu erkennen.


Hintergrund
Peter Hammerschmidt ist Doktorand am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Mainzer
Johannes Gutenberg Universität.

http://www.freitag.de/politik/1208-geheimakte-barbie
Das Interview führte Peter Nowak