Humanist oder Tötungsphilosoph?

 

Verleihung des Ethikpreises an den australischen Philosophen Peter Singer wird ein alter Streit neu aufgelegt

Normalerweise wird eine Preisverleihung der Giordano Bruno-Stiftung, die sich selber Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung nennt, in einer größeren Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Doch in diesem Jahr ist das anders.
 
Heute abend erhält der australische Philosoph Peter Singer den diesjährigen Ethikpreis gemeinsam mit der italienischen Tierrechtlerin Paola Cavalieri. Der Festakt findet in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a. M. statt.
Ausgezeichnet werden sollen beide „für ihr engagiertes Eintreten für Tierrechte“, beispielsweise die Initiierung des Great Ape Project, das sich neben Menschen- auch für Affenrechte einsetzt (Menschenrechte für Menschenaffen?). Die beiden Preisträger haben die Debatte um Tierrechte mit ihrem 1993 erschienenen Buch The Great Ape Project: Equality Beyond Humanity wesentlich angestoßen (Sind nur Menschen Personen?). Deshalb sieht die Giordano Bruno-Stiftung in der Wahl der Preisträger auch ein „Signal für Tierrechte und aufgeklärte Streitkultur“.
 
Singers Bedeutung für die Tierrechtsbewegung dürfte unstrittig sein, doch wie sieht es bei ihm mit den Rechten für alle Menschen aus? Darüber hat sich anlässlich der Preisverleihung eine Kontroverse entzündet, nicht zum ersten Mal. Die Kritiker stützten sich auf Singers Bücher „Animal Liberation“ von 1975 und „Praktische Ethik“ von 1979. Damit hat Singer den Begriff des Tierrechts weltweit popularisiert, aber gleichzeitig die Universalität der Menschenrechte mit der These infrage gestellt, dass bestimmte Tiere ein größeres Lebensrecht als manche Menschen besäßen. In dem Buch „Praktische Ethik“ sehen die Kritiker eine weitere Relativierung der Menschenrechte, weil Singer die Kategorie der menschlichen „Nicht-Personen“ in die Debatte einführt (Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?, Tötung „lebensunwerten“ Lebens?).
 
Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit?

Für die Giordano Bruno- Stiftung dürfte die von der Preisverleihung ausgelöste Debatte daher nicht überraschend gewesen sein. Schließlich stand Singer wegen seiner utilitaristischen Philosophie seit Ende der 80er Jahre in der Kritik von Selbstorganisationen der Behinderten, aber auch von antifaschistischen Initiativen. So wurde er nach heftigen Protesten 1996 von den Organisatoren eines Heidelberger Science Fiction-Kongresses, wo er als Redner eingeplant war, wieder ausgeladen. Andere Veranstaltungen konnten nur unter Polizeischutz stattfinden. Auch zahlreiche Bücher beschäftigten sich schon vor 20 Jahren kritisch mit Singers Thesen und lieferten einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Behindertenrechte.
 
Während Aktivisten der Krüppelbewegung, wie sich die selbstbewussten Behinderten selber nannten, betonten, dass über ihr Lebensrecht nicht diskutiert werden könne, gab es aus akademischen Kreisen Warnungen, dass die von Singers Kritikern gewählten Strategie der Auftrittsverhinderungen die Wissenschaftsfreiheit gefährde. In diesem Sinne äußerte sich eine von zahlreichen Wissenschaftlern unterschriebene „Erklärung Berliner Philosophen“ (s.a.: Schwierigkeiten der Medien mit der Philosophie).
 
Singer-Debatte reloaded

Mit der Preisverleihung lebte die Singer-Kontroverse in Deutschland sofort wieder auf. Der in der Berliner Behindertenbewegung aktive Publizist Michael Zander nannte Singer einen „Philosophen der Angst“, und Peter Bierl, Autor zahlreiche Beiträge zur Humanisten- und Tierrechtsszene, weist auf historische Bezüge der wiederaufgelegten Debatte hin, die auch das politische Feld erreicht hat.
 
So bezeichnete der behindertenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth die Auszeichnung als falsches Signal: „Peter Singer plädierte in der Vergangenheit unter anderem dafür, behinderte Kinder bis zum 28. Lebenstag töten zu können. Der Preis für Singer ist ein Schlag ins Gesicht aller Menschen mit Behinderungen“, heißt es in der Erklärung des Politikers.
 
Auch der behindertenpolitische Sprecher der Bundesregierung Hubertus Hüppe teilt die Kritik an den designierten Preisträger und sparte dabei nicht mit starken Worten. In einer Pressemitteilung forderte er, dass die Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt/Main „dem Tötungsphilosophen“ keine Räume zur Verfügung stellen dürfe. „Sollte die Verleihung nicht zu verhindern sein, erwarte ich eine deutliche Distanzierung der Deutschen Nationalbibliothek vom Preisträger“, betonte Hüppe. Soviel administrativer Druck blieb nicht ohne Antwort.
 
Alles nur Missverständnisse?

Die Giordano Bruno-Stiftung spricht von einer Diffamierung ihres Preisträgers und fordert Hüppes Rücktritt als Behindertenbeauftragter. Der Vorsitzende der Stiftung, Michael-Schmidt-Salomon, sieht die Auseinandersetzung auch als Folge von Missverständnissen.
 

Fakt ist: Würde ich von Peter Singer nur dieses eine, immer wieder zitierte Spiegel-Interview kennen, hätte ich ganz bestimmt nicht zugestimmt, ihn mit einem Ethik-Preis auszuzeichnen. Allerdings gibt dieses Interview Singers Positionen streckenweise nur sehr verzerrt wieder – während der Anfang des Interviews in Ordnung ist, ist der Schluss geradezu ein Musterbeispiel für schlechten bzw. politisch manipulativen Journalismus.
 
Mit dieser wohlfeilen Presseschelte macht es sich Schmidt-Salomon aber entschieden zu einfach. So gibt es in dem Interview verstörende Textpassen, die nicht durch Sprachprobleme oder andere Verzerrungen erklärt werden können:
 
Singer: Wenn Sie vor der Implantation an einem Embryo einen Gentest vornehmen und dann entscheiden, dass dies nicht die Art von Embryo ist, die Sie wollen, dann habe ich keinen Einwand dagegen, ihn zu zerstören.
 
SPIEGEL: Spielt es in Ihren Augen denn gar keine Rolle, dass dieser Embryo zwar keine Vernunft hat, aber doch immerhin das Potenzial, Vernunft zu entwickeln?
 
Singer: Nein – jedenfalls nicht in dieser Welt, in der wir keinen Mangel an Menschen haben. Wir haben ja kein Problem damit, die Weltbevölkerung zu vermehren – wenn überhaupt, dann mit dem Gegenteil.
 
Allerdings sucht Schmidt-Salomon auch zu zeigen, dass sich die Position Singers verändert habe, sie sei nicht „behindertenfeindlich“, sondern „behindertenfreundlich“. Die aktuelle Debatte könnte so auch die Frage nach den Grenzen des Humanismus aufwerfen, wenn sie nicht nach der Verleihung sofort wieder abebbt und erst beim nächsten öffentlichen Singer-Auftritt neu aufgelegt wird.

http://www.heise.de/tp/artikel/34/34877/1.html

Peter Nowak

Townhouses bedrohen Erinnerungsort

LICHTENBERG Am einstigen „Arbeitshaus“ Rummelsburg wird der Opfer einer NS-Aktion gedacht. Der Erhalt des Ortes ist gefährdet

„Arbeitsscheu Reich“ – so hieß eine Maßnahme, mit der am 13. Juni 1938 in Deutschland tausende als „asozial“ stigmatisierte Menschen in sogenannte Arbeitshäuser und KZs verschleppt wurden. In Berlin führte ihr Weg unter anderem ins „Arbeitshaus“ Rummelsburg. Dort erinnert am Sonntag der „AK Marginalisierte – gestern und heute“ mit einer Gedenkveranstaltung an die Opfer der NS-Aktion.

Die Veranstaltung, auf der unter anderem die Historiker Thomas Irmer und Jens Dobler sowie die Zeitzeugin Ilse Heinrich sprechen werden, hat einen ganz aktuellen Anlass: Es geht um den Erhalt des historischen Gedenkorts. Der „AK Marginalisierte“ hatte am Dienstag den Friedhof des einstigen „Arbeitshauses“ an der Rummelsburger Bucht mit Transparenten markiert, auf denen „Privatisierung stoppen – Ge-denk-mal-schutz“ stand. „Es ist der letzte freie Ort, an dem ein würdiger Erinnerungsort für die Opfer der Stigmatisierung als Asoziale und Arbeitsscheue errichtet werden kann“, so Lothar Eberhardt von der Initiative. Die AktivistInnen fürchten, dass das Areal bald den Besitzer wechselt. Ein Bieterverfahren hat bereits stattgefunden. Im Bezirksamt Lichtenberg wird über eine Änderung des Bebauungsplans diskutiert, in dem das Gelände für Gewerbebetriebe ausgeschrieben ist. InteressentInnen wollen hier „Townhouses“ bauen.

„Es gibt einen Zielkonflikt zwischen einem historischen Gedenken und einer Verwertung des Areals für die Stadtentwicklung“, meint Katrin Framke, Lichtenberger Bezirksstadträtin für Kultur. Die als Parteilose für die Linke in das Amt gewählte Gesellschaftswissenschaftlerin begrüßt die Forderung des AK Marginalisierte nach einem Erinnerungsort für die Insassen des „Arbeitshauses“ ausdrücklich. Der Senat habe es versäumt, potenziellen Investoren klare Auflagen zum historischen Gedenken zu machen, kritisiert sie. Theo Stegmann vom AK Marginalisierte ist sich mit Framke einig, dass die historische Forschung über die Geschichte des Friedhofs vorangetrieben werden muss. Eine Bebauung würde der historischen Forschung den Ort rauben, befürchtet er.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F06%2F03%2Fa0173&cHash=e36b154f6e

 PETER NOWAK

Die späte Gerechtigkeit

In Rom wurden drei der letzten Wehrmachtssoldaten verurteilt, über neun weitere soll im Juni entschieden werden. Doch eine Auslieferung haben sie nicht zu fürchten

Jung sind die Verurteilten nicht gerade: Zwischen 88 und 94 Jahre sind die drei deutschen Staatsbürger alt, die letzte Woche von einem Militärgericht in Rom zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurden. Das Gericht befand sie für schuldig, im August 1944 in der Ortschaft Padule di Fucecchio nahe Florenz an der Ermordung von 184 Zivilisten – zum Großteil Frauen, Kinder und alte Menschen – beteiligt gewesen zu sein. Zeitgleich forderten die Staatsanwälte beim Militärgericht in Verona eine lebenslängliche Haftstrafe gegen neun ehemalige Wehrmachtsangehörige. Den ehemaligen Angehörigen der Fallschirm-Panzerdivision „Hermann Göring“ wird vorgeworfen, im Frühjahr 1944 bei als „Partisanenbekämpfung“ getarnten Massakern in Norditalien über 400 Zivilisten ermordet zu haben. Am 22. Juni soll in diesen Fall das Urteil gefällt werden.

Eine Verhaftung haben die Angeklagten ebenso wenig zu fürchten, wie diejenigen, die jetzt in Rom schuldig gesprochen wurden. Als deutsche Staatsbürger können sie nicht nach Italien ausgeliefert werden. Die deutsche Justiz hat aber auch erklärt, dass ihr die Beweise nicht ausreichen, um eigene Verfahren einzuleiten. Eine öffentliche Auseinandersetzung darüber gibt es in Deutschland kaum.

Opfer: Kinder, Alte, Kranke

Den Angeklagten wird die Beteiligung an den blutigen Massakern vorgeworfen, die Angehörige der Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“ der Wehrmacht zwischen März und Mai 1944 an italienischen Zivilisten verübten. Dabei wurden oft ganze Dörfer dem Erdboden gleich gemacht. Die dort lebenden Männer zwischen 16 und 60 hielten sich versteckt – meist aus Angst, von den Deutschen als Zwangsarbeiter verschleppt zu werden. Deshalb wurden vor allem Kinder, Alte, Kranke und Frauen zum Opfer deutscher Soldaten, die ihre Wut über den wachsenden antifaschistischen Widerstand an den Zivilisten ausließen.

In einem Dorf wurden die Opfer in eine Kapelle gesperrt, in die ein Wehrmachtssoldat eine Handgranate warf. Während die Opfer grausam umkamen, feierte die Einheit vor der Kapelle ein feuchtfröhliches Fest. Dabei handelte es sich keineswegs um Vergeltungsaktionen für Partisanenaktionen, wie von konservativen Kreisen zur Entschuldigung oder Relativierung der Verbrechen gerne angeführt wird. Abgelegene Dörfer waren von den Mordaktionen besonders oft betroffen, weil sich die deutschen Täter dort ungestört austoben konnten.

 Schon kurz nach der Niederlage des Nationalsozialismus begannen britische und amerikanische Juristen zu ermitteln – gestützt auf die Berichte der wenigen Überlebenden. Doch die Ermittlungen gerieten bald ins Stocken. In Zeiten des kalten Krieges wurden die ehemaligen Wehrmachtssoldaten wieder für den Kampf gegen den Kommunismus gebraucht, und man wollte Westdeutschland als neu umworbenen Bündnispartner nicht mit der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen verärgern. Die Proteste der wenigen Überlebenden wurden in Italien ignoriert.

Schrank der Schande

Die belastenden Akten wanderten in den „Schrank der Schande“ – so bezeichnet die italienische Öffentlichkeit den braunen Holzschrank, der von 1960 bis 1994 in der Allgemeinen Militäranwaltschaft in Rom stand. In diesem Schrank wurden im Jahr 1960 auf Beschluss des damaligen allgemeinen Militärstaatsanwaltes, Enrico Santacroce, Aktenbündel über 2274 Fälle von NS-Kriegsverbrechen in Italien während des zweiten Weltkriegs „provisorisch archiviert“. 1966 wurden etwa 1300 Fälle an die zuständigen italienischen Staatsanwaltschaften abgegeben und 20 weitere an deutsche Ermittlungsbehörden. Für 695 Fälle – angeblich die wichtigsten – dauerte die „Archivierung“ jedoch 34 Jahre. Diese Akten wurden erst im Jahr 1994 wiederentdeckt und bilden die juristische Grundlage für die Verfahren, die bis heute gegen ehemalige deutsche Wehrmachtssoldaten laufen.

„Der Prozess ist die längst fällige Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die von der Allgemeinheit verdrängt und vergessen wurde“, meint Marianne Wienemann, die die Verfahren als Prozessbeobachterin verfolgt und kürzlich auf Einladung der antifaschistischen AG-Reggio-Emilia auf einer Veranstaltung in Berlin darüber berichtete. Sie blieb die Ausnahme. In Deutschland sind die Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrechen kein großes Thema in Öffentlichkeit und Medien.

http://www.freitag.de/politik/1122-die-spaete-gerechtigkeit

Peter Nowak