Zu Diensten

Mehr als ein Sommerlochfüller: In Deutschland wird die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht erwogen.

Nicht zum ersten Mal wird in der Republik über die Einführung eines allgemeinen Dienstjahrs geredet. Meistens wird die Debatte im Sommerloch von Politikern aus der zweiten Reihe gestartet und ist nach wenigen Tagen wieder beendet. Doch in diesem Jahr ist es die als Merkel-Nachfolgerin gehandelte CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer gewesen, die ein allgemeines Dienstjahr gefordert hat, wobei sie auch Geflüchtete miteinbeziehen wollte. »Wenn Flüchtlinge ein solches Jahr absolvieren, freiwillig oder verpflichtend, dient das ihrer Integration in Staat und Gesellschaft«, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe und dem französischen Blatt »Ouest-France«.

Kritik an Kramp-Karrenbauers Plänen kam vor allem aus dem traditionell-bürgerlichen Lager. So wandte sich der FDP-Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle in einem »Tagesspiegel«-Artikel gegen die Dienstpflicht. »Diese Forderung bedient den Eindruck vieler Menschen, dass den Jungen heutzutage viel zuviel geschenkt werde. Man selbst habe für ein vergleichbares Niveau an gesellschaftlichem Wohlstand und gesellschaftlicher Freiheit härter arbeiten müssen. Früher sei der Zusammenhalt in der Gesellschaft größer gewesen. Und geschadet habe der Zwangsdienst ja schließlich auch nicht«, so Kuhle in seinem Plädoyer gegen die Dienstpflicht. Er verwies zudem darauf, dass selbst bei der Bundeswehr eine allgemeine Dienstpflicht sehr kritisch gesehen werde, was Fachleute bestätigten. So erklärte der ehemalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU), der die Aussetzung der Wehrpflicht abgelehnt hatte, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass es in der Bundeswehr keine Strukturen für die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht mehr gebe: »Die Bundeswehr hat ganz andere Strukturen. Wir hatten früher – ich war auch ein großer Anhänger der Wehrpflicht – 20.000 Offiziere und Unteroffiziere, die die Wehrpflichtigen ausgebildet haben. Die haben Sie gar nicht mehr, diese Strukturen. Und Sie würden die jetzige neue Bundeswehr endgültig ins Chaos führen, wenn Sie versuchen würden, jetzt wieder Wehrpflichtige draufzupflanzen.«

Aus der Perspektive von kleinen und mittleren Handwerksbetrieben hat sich der FDP-Politiker Marco Buschmann ebenfalls im Deutschlandfunk gegen eine Dienstpflicht ausgesprochen. »Ein Dienstjahr für alle passt ja in Wahrheit überhaupt nicht in die Zeit … Schauen Sie, wir haben Zehntausende von Handwerksbetrieben, die händeringend nach Auszubildenden suchen. Und dann wollen wir jetzt in dieser Generation beginnen, dass die jungen Menschen noch ein Jahr später oder, was weiß ich, wie lange diese Dienstverpflichtung sein soll, in den Arbeitsmarkt, in den Ausbildungsmarkt kommen? Das wäre volkswirtschaftlich ein ganz großer Unsinn.«

Allerdings ist eine Dienstpflicht in Handwerksbetrieben von den Initiatorinnen und Initiatoren der momentanen Debatte nicht intendiert. Vorrangig geht es ihnen um den Pflegebereich, wo bereits heute Personal fehlt. Gleichzeitig wächst die Zahl der Personen, die auf Pflege angewiesen sind. Welche Rolle die Debatte um die Einführung der Dienstpflicht für diesen Bereich spielt, hat Buschmann klar benannt: »Jetzt wird gesagt, wir müssten was für die Pflege tun, indem wir dieses Dienstjahr einführen oder indem wir beispielsweise Flüchtlinge dort einsetzen. Ich glaube, da ist ein ganz großer Haken dran, denn es führt ja kein Weg daran vorbei, dass wir qualifiziertes Personal dort brauchen und nicht Menschen, die nur eine ganz kurze – man könnte auch sagen: Schmalspur-Ausbildung bekommen, und mehr kann man ja gar nicht bei einem kurzen Dienstjahr machen.«

Buschmann verwies darauf, dass der mit der Wehrpflicht abgeschaffte Zivildienst offiziell so hatte gestaltet werden sollen, dass durch ihn keine regulären Arbeitsplätze ersetzt würden. Und er räumte ein, dass der Zivildienst in der Realität ebendiese Rolle als billiger Ersatz für gutbezahlte Arbeitsplätze gespielt habe und dass das allgemein bekannt gewesen sei. Allerdings vergaß Buschmann zu erwähnen, dass vor allem linke Kritiker der Zwangsdienste beständig auf dieses Faktum aufmerksam gemacht hatten. Die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden hatte mehrere Streiks gegen deren Verwendung als Billigkonkurrenz zu Lasten der Beschäftigten vor allem im Pflegebereich und in der Sozialarbeit organisiert. Noch im Sommer 1989 sollten etwa 1.000 Zivildienstleistende eine Geldstrafe bezahlen, weil sie sich an einem eintägigen Streik- und Protesttag beteiligt hatten. »Ihre Verhaltensweise ist ein gravierender Verstoß gegen die Ordnung im Zivildienst«, schrieb damals das Kölner Bundesamt für Zivildienst zur Begründung der Geldstrafe.

Bereits in den Jahren 1983 und 1986 waren zahlreiche Zivildienstleistende wegen Teilnahme an Streiks vom Bundesamt mit Geldstrafen belegt worden. Denn sie waren nicht nur billige, sondern auch rechtlose Arbeitskräfte. Sie durften weder streiken noch kündigen. Dieser Aspekt wird in der aktuellen Debatte um die Dienstpflicht in der Regel ausgeblendet. Dabei dürfte gerade hierin der Grund liegen, warum die Einführung einer Dienstpflicht für die CDU sehr attraktiv ist. Schließlich ist im Pflege- und CareBereich nicht nur der Arbeitskräftemangel gravierend. In letzter Zeit hat es in diesem Sektor quer durch die Republik Arbeitskämpfe gegeben, die teilweise Wochen oder sogar Monate andauerten. Dabei ging und geht es nicht nur um die Löhne, sondern auch und vor allem um den Personalschlüssel. Bei ihrem mehrwöchigen Streik im Sommer 2018 im Klinikum Düsseldorf und Essen fand das Personal viel Zustimmung bei Patienten und in der Bevölkerung. Die zentrale Streikparole »Mehr von uns ist besser für alle« leuchtete allgemein ein – wer kann schon ausschließen, dass er/sie mal Krankenhauspatient/in werden könnte? Die Arbeitskämpfe sind zudem bemerkenswert, weil der Pflegebereich aus gewerkschaftlicher Sicht lange Zeit als schwer organisierbar galt.

Dazu hat auch die Vorstellung der entsprechenden Tätigkeiten als Ehrenamt bei vielen der dort Beschäftigten beigetragen. Wo es um Dienst und Ehre geht, kommen gewerkschaftliche Organisierung oder gar Streiks nicht vor. Das Bild der Arbeit als Ehrenamt hat sich jedoch in den letzten Jahren vor allem bei jüngeren Beschäftigten gewandelt, erklärten Rednerinnen und Redner beim diesjährigen Care-Walk, einer Protestaktion von Beschäftigten aus dem Pflegebereich, die im Mai in verschiedenen europäischen Städten Tausende auf die Straße brachte. Mittlerweile sehen viele Beschäftigte im Engagement für mehr Personal und bessere Arbeitsplätze eine Voraussetzung guter Pflege.

Mit den Konzepten einer allgemeinen Dienstpflicht soll das brüchig gewordene Ehrenamt rehabilitiert werden. Die Position der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten, die höhere Löhne und mehr Personal fordern, soll durch die Dienstverpflichtung schlecht bezahlter, weitgehend rechtloser Zivildienerinnen und -diener geschwächt werden. Im Effekt würde das zu einer Dequalifizierung der Arbeit von Hauptamtlichen führen, wie die Publizistin Claudia Pinl, die sich seit Jahren kritisch mit Theorie und Praxis des Ehrenamts beschäftigt, erklärt: »Hauptamtliche Pflegekräfte, ganz überwiegend Frauen, haben diesen Beruf einst gewählt, weil sie mit Menschen zu tun haben wollten. Die Beziehungsarbeit, die sie erwartet hatten, geht jetzt jedoch zunehmend auf ehrenamtliche Kräfte über. Nur diese verfügen über die Zeit, mit Alten, Kranken oder sonstwie Hilfsbedürftigen zu reden, sie beim Einkaufen oder Spazierengehen zu begleiten … So wird die ohnehin belastende Arbeit der Hauptamtlichen zusätzlich entwertet.«

Pinl beobachtet die Werbekampagnen für das Ehrenamt seit Jahren kritisch. So gibt es Ehrenamtstage, Ehrenamtswochen, Ehrenamtspreise, es gab das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit. »Es gibt staatlich geförderte Forschung zum Thema, einen regelmäßig erhobenen ›Freiwilligensurvey‹, eine ›Nationale Engagement-Strategie‹ und 1999 bis 2002 eine Enquetekommission des Deutschen Bundestages ›Bürgerschaftliches Engagement‹. Die Medien bringen fast täglich Berichte über positive Beispiele zivilgesellschaftlichen Tuns«, sagt Pinl. Mit der Dienstpflicht würde das Ehrenamt repressiv durchgesetzt.

Die Reaktionen auf den Vorstoß von Kramp-Karrenbauer zeigen, dass noch umstritten ist, welchen Anteil der Zwang bei der Installation einer Dienstpflicht haben soll. Damit ist keineswegs garantiert, dass Zwangskonzepte vom Tisch sind. Wahrscheinlicher ist, dass sie unter unverfänglichen Bezeichnungen wie sozialer oder Gesellschaftsdienst wiederaufgelegt werden. Das klingt dann weniger nach Pflicht und mehr nach Dienst für die Gemeinschaft, und dafür gibt es in Deutschland traditionell viel Zustimmung.

Das geht auch aus einer repräsentativen Umfrage des ZDF-Politbarometers von Anfang August hervor. Demnach befürworten mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten (68 Prozent) eine allgemeine Dienstpflicht bei der Bundeswehr und im sozialen Bereich. Interessant ist, dass die Dienstpflicht bei Anhängern aller Parteien von rechts bis links mehrheitsfähig ist. Unter Unionsanhängern findet sie mit 77 Prozent die größte Zustimmung, dicht gefolgt von der AfD (72). Bei den Grünen halten 66 Prozent eine allgemeine Dienstpflicht für eine gute Idee, bei der FDP 65 und bei der SPD 62 Prozent. Auch bei der Linken sind noch 52 Prozent für einen Pflichtdienst. Ob für Vaterland, Nation oder Gemeinschaft – dienen wollen die Deutschen noch immer gerne.

aus: Konkret

https://www.konkret-magazin.de/hefte/id-2018/heft-102018/articles/zu-diensten.html

Peter Nowak schrieb in konkret 9/18 über die Gedenkstätte Hohenschönhausen

Führt Extremismusklausel zu Misstrauen und Beschnüffelung?

Auch Juden und Muslime fordern die Rücknahme der Extremismusklausel von Bundesfamilienministerin Schröder

Der Zentralräte der Juden und der Moslems in Deutschland haben am Mitwoch auf einer Pressekonferenz zum Thema „Arbeit gegen Antisemitismus, Islamismus und Rechtsextremismus“ in Berlin die Rücknahme der Extremismusklausel gefordert. Sie verpflichtet zivilgesellschaftliche Organisationen, die finanzielle Unterstützung bekommen, nicht nur selber auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu stehen, sondern auch ihre Kooperationspartner auf ihre Verfassungstreue zu überprüfen

Die Klausel behindere Initiativen gegen Rechtsextremismus, statt sie zu unterstützen und säe kollektives Misstrauen, sagte der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, und schloss eine gerichtliche Klage nicht aus. Sein Kollege vom Zentralrat der Muslime, Aiman Mazyek ergänzte: „Ausgangspunkt dieses Bekenntniszwangs ist Misstrauen“. Der Kampf gegen Extremismus und für Demokratie sei eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft und diese dürfe nicht durch solch eine Klausel unter Generalverdacht gestellt werden.

Auch der SPD-Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Hövelmann, warnte vor dem „Unsinn einer solchen Beschnüfflungsklausel“. Kritiker vergleichen die Klausel mit der auch als Berufsverbot bezeichneten Radikalenerlass für Beamtenanwärter, der die innenpolitische Debatte in den 70ern und 80er Jahren prägte. Damals dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis auch führende Politiker diese Praxis als Fehler bezeichneten.

Der Protest gegen die Extremismusklausel hat sich dagegen innerhalb weniger Monaten auch mittels Internet und Facebook schnell verbreitert. Die Diskussion angestoßen hatte die Initiative gegen jeden Extremismusbegriff aus Leipzig. Als im November letzten Jahres der Verein akubiz die Annahme des sächsischen Demokratiepreises ablehnte, weil damit der Unterzeichnung der umstrittenen Klausel verbunden gewesen wäre, nahm eine größere Öffentlichkeit von der Problematik Notiz.

Am 1.Februar hatten sich über 1.500 Organisationen und Einzelpersonen an einem Aktionstag gegen Bekenntniszwang beteiligt und sich mit Briefen, Protestmails und –faxen an das zuständige Bundesfamilienministerium gewandt. Auch eine Onlinepetition wurde mittlerweile eingereicht. Ein vom Land Berlin in Auftrag gegebenes Gutachten stellt infrage, ob die Extremismusklausel mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/149236

Peter Nowak

Datenschutz-Gesetzentwurf für Arbeitnehmer nur Mogelpackung?

Unternehmen sollen u.a. weiterhin Mitarbeiterdaten zur Erforschung „undichter Stellen“ auswerten dürfen – scharfe Kritik von Gewerkschaften und Datenschützern
Den Datenschutz im Arbeitsleben soll ein Gesetzentwurf verbessern, zu dem gestern im Bundesinnenministerium die erste Anhörung stattfand.

„Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die seit Jahrzehnten diskutierte Schaffung umfassender gesetzlicher Regelungen für den Arbeitnehmerdatenschutz verwirklicht“, schreiben die Verfasser in den Entwurf. Dem widersprechen Datenschützer und Gewerkschaften heftig.

So sieht der Bundesbeauftrage für Datenschutz Peter Schaar erheblichen Verbesserungsbedarf an dem noch nicht mit den Ministerien abgestimmten Referentenentwurf. Schaar moniert besonders, dass die Unternehmen weiterhin Mitarbeiterdaten zur Erforschung „undichter Stellen“ auswerten dürfen. So findet sich in dem Entwurf der Passus:

„Der Arbeitgeber darf Beschäftigtendaten auch verarbeiten und nutzen, soweit dies erforderlich und verhältnismäßig ist, um die Begehung von Vertragsverletzungen zu seinen Lasten, Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten durch den Beschäftigten im Beschäftigungsverhältnis zu verhindern oder aufzudecken.“

Zudem können nach dem Entwurf Personalchefs weiterhin über das Internet Daten über Bewerber sammeln. „In Zukunft dürften Arbeitgeber zwar Bewerber auch weiterhin nicht nach einer eventuellen Schwangerschaft fragen, die Forschung in einschlägigen Selbsthilfeforen und sozialen Netzwerken nach entsprechenden Hinweisen wäre ihnen allerdings erlaubt, und sie müssten die Betroffenen nicht einmal darüber informieren, dass sie entsprechende Recherchen angestellt haben“, so Schaar.

verdi: Entwurf ist völlig unbrauchbar

Noch härter ist die Kritik der Dienstleistungsgewerkschaft verdi an dem Referentenentwurf. „Ein Gesetz, das nicht mehr Schutz für die Beschäftigten bietet und sogar noch hinter die geltende Rechtsprechung zurückfällt, wird von den Gewerkschaften abgelehnt“, sagte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Gerd Herzberg.

„Nach der geplanten Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes soll es zukünftig möglich sein, von Bewerbern und Beschäftigten Daten über deren Vermögensverhältnisse oder deren Gesundheitszustand zu speichern. Dies geht weit über die derzeit zulässige Datenerfassung und die Speicherung nach der aktuellen Rechtsprechung hinaus“, präzisiert die Expertin für Arbeitsrecht bei verdi, Kerstin Jerchel, gegenüber Telepolis diese Kritik.

Zudem fällt der Entwurf hinter ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2004 zurück, das die Einführung einer Videoüberwachung am Arbeitsplatz unter das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats stellt. Die Gewerkschaft lehnt den aktuellen Gesetzentwurf komplett ab, betonte Jerchel gegenüber Telepolis.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/147852

Peter Nowak

»Nicht auf unserem Rücken«

Gewerkschaftsinterne Kritik bei ver.di am Tarifabschluss öffentlicher Dienst reißt nicht ab
Führende Gewerkschaftslinke in ver.di kritisieren in einem Papier den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst und fordern eine »Aufarbeitung« der defensiven Haltung in der Tarifrunde.
Innerhalb der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di reißt die Kritik an den Ergebnissen der letzten Tarifrunde im öffentlichen Dienst nicht ab. So fühlt sich die »Unabhängige Betriebsgruppe am Klinikum Bremen-Mitte« von »ver.di verkauft«. »Die Bereitschaft, für ein besseres Ergebnis zu kämpfen, war vorhanden. Das freiwillige Herunterschrauben der ursprünglichen Forderung von fünf Prozent Gesamtvolumen auf 3,5 Prozent demotiviert die Basis«, lautet die Einschätzung der aufmüpfigen Gewerkschafter. Für Angelika Teweleit vom »Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di« haben sich bei dem Tarifabschluss die Arbeitgeber durchgesetzt. Nicht nur die Laufzeitverlängerung des Vertrags auf 26 Monate und die vage Formulierung bei der Übernahme der Auszubildenden wird von ihr moniert. Das defensive Agieren von ver.di habe die Basis demotiviert. Die Einschätzung der Gewerkschaft, dass es keine Streikbereitschaft bei den Mitgliedern gegeben habe, sei falsch gewesen, sagte Teweleit.

 Der Geschäftsführer von ver.di- Stuttgart, Bernd Riexinger, äußert sich in dieser Frage differenzierter. Es habe bei ver.di Bereiche gegeben, die in der Tarifrunde nicht mobilisieren wollten oder konnten. Die Beschäftigten des Öffentlichen Nahverkehrs und der Kindertagesstätten hingegen hätten ihre Kampfbereitschaft durch mehrere Warnstreiks zum Ausdruck gebracht. Warum es trotzdem nicht gelungen sei, eine offensive Tarifauseinandersetzung zu führen, bedürfe einer kritischen Aufarbeitung.

Gemeinsam mit den ver.diGewerkschaftern Werner Sauerborn und Günther Busch hat Bernd Riexinger den Tarifabschluss, der sich nach ihrer Ansicht dem »vorherrschenden Krisenmanagement von Regierung und Arbeitgeberseite« unterordnet, in einem Text mit dem programmatischen Titel »Nicht auf unserem Rücken« einer kritischen Analyse unterzogen.

Die drei Gewerkschaftslinken sehen das Hauptmanko in der fehlenden Politisierung der Tarifrunde. »Ein Offensivkonzept wäre nur auf der Basis des Selbstbewusstseins möglich gewesen, nicht für die Krise verantwortlich zu sein, sie vielmehr von denen zahlen zu lassen, die sie verursacht und zuvor maximal von der Umverteilung nach oben profitiert haben.« Dazu wäre es aber nötig gewesen, dass ver.di sich aktiv an Antikrisenbündnissen beteiligt und mit anderen sozialen Initiativen zusammenschließt.

»Stattdessen mussten sie Anfang 2009 erst aufwendig für die Krisenproteste gewonnen werden und als die zu schwächeln begannen, gehörten sie zu den ersten, die sich abmeldeten«, so das ernüchternde Fazit des Gewerkschaftstrios. Seit Anfang Juni 2009 habe es keine gewerkschaftliche Mobilisierung gegen die Krisenfolgen mehr gegeben, bemängelte Riexinger gegenüber ND. Dabei sei die Einbettung gewerkschaftlicher Forderungen in größere gesellschaftliche Bündnisse für offensive Tarifrunden unbedingt notwendig, betont Riexinger am Beispiel der Debatte über die schlechte Finanzlage der Kommunen. »Nur politischer Druck weit über die Gewerkschaften hinaus kann hier zu Veränderungen führen.« Es wäre ein großer Fehler, darauf zu hoffen, dass sich die Rahmenbedingungen für höhere Tarifabschlüsse von selbst verbessern. Eine Fortsetzung der defensiven Tarifpolitik könnte sogar das gewerkschaftliche Selbstverständnis in Frage stellen, warnt Riexinger. »Dann schwindet in der Bevölkerung und auch in der Gewerkschaftsbasis das Vertrauen, dass Gewerkschaften noch Bollwerke gegen den Neoliberalismus sind.«

Das Papier ist zu lesen in der Onlinezeitung »Trend« vom 18. März, www.trend.infopartisan.net

Peter Nowak 

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/167888.nicht-auf-unserem-ruecken.html

Peinlicher Abschluss

Gewerkschafter kritisieren neuen Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer
Der Tarifvertrag für Zeitarbeiter stößt an der Gewerkschaftsbasis auf Kritik.
»Ein guter Tag für die Zeitarbeit«, lautete der Titel einer gemeinsamen Erklärung des Bundesverbandes Zeitarbeit (BZA) und der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit des DGB. Diese hatten sich Ende vergangener Woche auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Danach sollen Mitarbeiter, die am 1. Mai 2010 vier Monate oder länger ohne Unterbrechung beschäftigt waren, für die Monate Januar bis April eine Einmalzahlung von 80 Euro erhalten. Ab 1. Mai 2010 und 2011 sollen die Löhne jeweils um 2,5 Prozent erhöht werden. Die Tarifpartner empfehlen allen Zeitarbeitsfirmen, sich an dem Vertrag zu orientieren.

An der Gewerkschaftsbasis hingegen wird keineswegs gefeiert. Kritik gibt es vor allem in der IG Metall (IGM), deren Tarifkommission heute über den Vertrag abstimmt. »In den letzten Tagen sind massenhaft Protestmails an die verantwortlichen Funktionäre gegangen«, erklärte ein Gewerkschafter aus der Zeitarbeitsbranche, der nicht namentlich genannt werden will, gegenüber ND. Das Ergebnis gehe nicht über das Angebot des BZA hinaus. Die Gewerkschaft habe die Druckmittel nicht genutzt, die vor allem durch die öffentliche Diskussion um das Lohndumping bei Schlecker entstanden sei. Zudem hätten auch die Unternehmer wegen der ab Januar 2011 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU Interesse an einem Tarifvertrag.

In einem von der IG Metall organisierten Internetforum für Zeitarbeiter überwiegen kritische Kommentare. »Leute, die ich organisiert habe, haben mir geschrieben, es ist peinlich. Die hätten lieber keine solche Erhöhung als so eine Erniedrigung«, schreibt ein Metaller. Ein anderer Gewerkschafter moniert, es habe seines Wissens noch keine Sitzung der Tarifkommission der Gewerkschaft gegeben, obwohl dort auch Betriebsräte aus Verleihbetrieben säßen.

Nicht nur die Basis äußert Kritik. Ein bayerisches Mitglied der Tarifkommission will den Vertrag ablehnen. »Alles was nach zwei Jahren abgeliefert wurde, ist eine Zustandsbeschreibung, die Aktive vor Ort wahrscheinlich in 30 Minuten selbst hätten schreiben können.« Die IGM-Verwaltungsstellen Regensburg und Augsburg hatten Anfang Januar dem Gewerkschaftsvorstand ihre Bedenken mitgeteilt.

Der Verhandlungsführer des DGB bei den Tarifverhandlungen, Reinhard Dombre, sieht die Kritik gelassen. Man solle die heutige Entscheidung der Tarifkommission abwarten, erklärte er gegenüber ND. Zudem betonte er, dass eine reale Gefahr bestanden hätte, dass der BZA mit den Christlichen Gewerkschaften einen schlechteren Tarifvertrag abschließt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/164224.peinlicher-abschluss.html

Peter Nowak