Verdient der Reaktionär und Antisemit Luther einen Feiertag?

Dagegen aber die Muslime in Deutschland nicht? Wenn es um arbeitsfreie Tage geht, gäbe es sicher viele andere Anlässe

Reformationstag 2017 – über diesen Feiertag freut sich ganz Deutschland“, heißt es in der Schlagzeile einer Münchner Boulevardzeitung[1]. Sie bezieht sich auf den Reformationstag 2017, der wegen Luthers 500sten Jahrestags des Anschlags der 95 Thesen in Wittenberge in diesem Jahr bundesweit Feiertag ist. Wenn sich die Behauptung verifizieren ließe, wäre das ein Armutszeugnis.

Denn dann würde der Geburtstag eines Hasspredigers und Antisemiten gefeiert, woran eine Schrift[2] der säkularen Giordano-Bruno-Stiftung[3] erinnert. Der Befund dürfte heute unzweifelhaft sein. Der Radau-Antisemitismus des Martin Luther[4] bot alle Elemente, die der NS dann durchsetzte.

Nur die fabrikmäßige Vernichtung konnte der Reformator noch nicht denken. In einer sehr informativen Sonderausstellung in der Berliner Topographie des Terrors[5] wurde dokumentiert, wie die Nazis sich als Luthers willige Vollstecker[6] gegen die Juden zeigte. Die Nazis hatten 1933 mit dem Deutschen Luthertag übrigens einen Gedenktag für ihren Inspirator eingeführt.

Mann des Mittelalters

Doch es gäbe noch viele weitere Argumente gegen einen Feiertag für einen Hassprediger, der zu den Massakern an den aufständischen Bauern aufrief. Zudem war Luther auch in seiner Zeit ein Reaktionär. So heißt es treffend im Humanistischen Pressedienst über den Reaktionär Martin Luther[7].

Luthers Freiheit des inneren Glaubens ist das Gegenteil von dem, wie wir heute Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung verstehen. Dem fundamentalistischen Reformator zufolge entscheidet allein die göttliche Gnade über Heil oder Verdammnis. Luthers Judenhass ist sprichwörtlich und wird heute gern als doch hinreichend bekannt abgetan – ein Zeitgeistphänomen eben, nicht der weiteren Rede wert.

Doch erweist sich der Theologe in seiner Studierstube – durch Wissenschaftsfeindlichkeit gepaart mit Teufels- und Hexenglaube – als Mann des Mittelalters. Längst gibt es zu seiner Zeit – unter den Katholiken – humanistischen Geist, weltoffene Kultur, neue Entdeckungen und gesellschaftskritische Bestrebungen.

Was seinen Judenvernichtungswahn über die Jahrhunderte so brandgefährlich machte: Es war sein gleichzeitiges absolutes Festhalten am Obrigkeitsdenken, an der hierarchisch-ständischen Herrschaftsstruktur.

Humanistischer Pressedienst

Luther und die deutschen Verhältnisse

Schon 100 Jahre nach Luthers Geburtstag wurde dieser Termin politisch instrumentalisiert[8]. Je stärker der deutsche Nationalismus sich gerierte, desto lauter berief man sich auf Martin Luther.

1817 fiel das Datum mit der schon ins Reaktionäre gekippten deutschnationalen Bewegung, die ihren Sieg über die ersten Ansätze von bürgerlichen Verhältnissen feierte, die durch Napoleon nach Deutschland gekommen waren. Auch die ersten Ansätze der Judenemanzipation kamen mit Napoleon nach Deutschland. Nach der Niederlage Napoleons begann bereits der völkische Antisemitismus[9] Raum zu greifen. Er konnte sich auf Luther berufen.

Es gäbe also gute Gründe, sich gegen einen Feiertag für einen solchen Mann zu wehren. Im Potsdamer Freiland wird immerhin der Reformationstag für einen besonderen Kulturabend genutzt. Unter dem Titel „Q – Gegen Luther, Papst und Fürsten – Alles gehört allen“ wird ein von Thomas Ebermann und Berthold Brunner bearbeitetes Theaterstück aufgeführt[10].

In der Republik wird dieses Jahr „500 Jahre Luther“ gefeiert.Allerdings passen Luthers Fundamentalismus und die Brutalität der Lutherschen Äußerungen, sein Juden- und Frauenhass und seine wahnhafte Apokalyptik nicht so recht in das Marketingkonzept von Weltoffenheit, Toleranz und Friedfertigkeit, welches zu diesem historischen Ereignis vermittelt werden soll.

„Q – Gegen Luther, Papst und Fürsten – Alles gehört allen“[11]

Warum nicht auch einen islamischen Feiertag in Deutschland?

Nun könnte man einwenden, dass es den vielen Menschen, die sich über den Reformationstag als Feiertag freuen, vor allem um einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag und nicht um eine Luther-Ehrung gegangen sei. Doch als vor einigen Wochen Bundesinnenminister de Maizière die Idee eines islamischen Feiertags in Deutschland lancierte[12], gab es dagegen sofort Widerspruch auch über das rechtspopulistische Spektrum hinaus.

Selbst Grünen-Wähler haben an einem zusätzlichen Feiertag unter islamistischer Ägide kein Interesse[13]. Die queerfeministische Hamburger Kulturwissenschaftlerin Hengameh Yaghoobifarah[14] hat in einer satirischen Kolumne in der Taz[15] diese Ablehnung mit einer treffenden Polemik bedacht. Das wurde schon ihrer Eingangsfrage deutlich:

In Online-Umfragen darüber, ob es zusätzlich zu den bestehenden christlichen Feiertagen einen muslimischen für alle Leute geben sollte, stimmte die Mehrheit dagegen. Kartoffeln würden lieber auf einen freien Tag verzichten, als Muslim_innen einmal was zu gönnen. Warum machen sie so?

Der deutsche Hass auf Muslim_innen und die Paranoia vor einer – was auch immer das sein soll – Islamisierung der deutschen (wortwörtlich) Dreckskultur hält Kartoffeln davon ab, ein schöneres Leben zu führen. Lieber eine Schweinefleisch-Lobby gründen als halal-Fleisch in ihrer Kantine akzeptieren.

Hengameh Yaghoobifarah

Die humor- und satireresistente Rechte tobte und äußerte Vernichtungsphantasien gegen die Autorin. Ihre Satire hat also die Richtigen getroffen.

Doch aus einer säkularen Perspektive ist es sinnvoller, statt für einen zusätzlichen islamischen, für die Abschaffung aller religiösen Feiertage einzutreten.

Es ist sicher nicht sinnvoll, neben den deutschen Antisemiten Luther jetzt auch noch islamische Judenhasser und Reaktionäre zu ehren. Wenn es um arbeitsfreie Tage geht, gäbe es sicher viele andere Anlässe. Warum ist der 8. Mai kein Feiertag, zum Gedenken an die Männer und Frauen aus aller Welt, die wenigsten aus Deutschland, die den NS zerschlagen haben? Warum kein Feiertag für die Pariser Kommune, den weltweit ersten Versuch einer Arbeiterkommune?

Das hängt auch und vor allem mit der historischen Schwäche von Bewegungen zusammen, die sich auf solche Modelle berufen. Wer die Geschichte um den Kampf um den 1. Mai als Feiertag[16] kennt, wird auch auf die Problematik stoßen, dass auch ein Erfolg eine Niederlage sein kann.

Jahrzehnte hatte die Arbeiterbewegung in Gedenken an die hingerichteten Arbeiteraktivisten vom Haymarket in Chicago[17] am 1. Mai die Arbeit niedergelegt und war auf die Straße gegangen und wurde dafür entlassen und verprügelt.

Dieser Teil der Arbeiterbewegung hat bereits in der Frühphase der Weimarer Republik eine massive Niederlage erfahren, als sie von der SPD und den Freikorps bekämpft wurde. Als das NS-Regime den 1.Mai 1933 zum Tag der Deutschen Arbeitsfront ausrief, hatte die Volksgemeinschaft endgültig über die Arbeiterbewegung gesiegt. Wenn nun im Jahr 2017 ein Extrafeiertag für den Reaktionär und Antisemiten Luther kaum auf Kritik stößt, ist dies auch eine Zustandsbeschreibung für die deutschen Zustände.

Peter Nowak

https://www.heise.de/tp/features/Verdient-der-Reaktionaer-und-Antisemit-Luther-einen-Feiertag-3876395.html
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3876395

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tz.de/welt/reformationstag-feiertag-2017-termin-und-gesetzlicher-feiertag-zr-8619270.html
[2] https://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/luther-hassprediger
[3] https://www.giordano-bruno-stiftung.de
[4] http://564.html
[5] https://www.topographie.de/topographie-des-terrors/ausstellungen/sonderausstellungen/
[6] http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/28289
[7] https://hpd.de/artikel/luther-und-juden-vertiefter-blick-einen-brandbeschleuniger-14229
[8] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1068338.reformation-gott-zu-ehren-und-dem-teufel-zu-trotz.html
[9] https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/17729/meyfeld.pdf?sequence=1
[10] https://www.freiland-potsdam.de/?ID=6629
[11] https://www.freiland-potsdam.de/?ID=6629
[12] http://www.focus.de/politik/videos/ueber-vorschlag-nachdenken-muslimische-feiertage-in-deutschland-schulz-zeigt-sich-angetan-von-de-maizieres-idee_id_7715040.html
[13] http://www.huffingtonpost.de/2017/10/17/feiertag-islamisch-umfrag_n_18285840.html
[14] https://queervanity.com/
[15] http://www.taz.de/!5453932/
[16] http://www.tag-der-arbeit.com/geschichte
[17] https://h2g2.com/edited_entry/A627662

Leben und leben lassen

Wieder einmal sorgt eine Preisverleihung an den Philosophen Peter Singer für heftige Diskussionen. Jetzt gehen auch einige seiner Anhänger auf Distanz

Es ist ungewöhnlich, dass eine Auszeichnung nach einer lebenden Person benannt wird. Noch ungewöhnlicher ist es, wenn diese Person den nach ihr benannten Preis selbst erhält. Doch genau das wird heute um 18 Uhr in der Berliner Urania geschehen: Der australische Philosoph und Bioethiker Peter Singer wird in der Urania den mit 10.000 Euro dotierten „Peter-Singer-Preis für Strategien zur Tierleidminderung“ [1] entgegennehmen. Moderatorin des Festakts ist die amerikanische „Karnismus-Kritikerin“ Melanie Joy [2]. Europa-Parlamentarier Stefan Bernhard Eck wird darlegen, weshalb er sich in Brüssel für eine andere Tierpolitik auf der Grundlage des Ethikkonzepts von Peter Singer stark macht.

Die Laudatio auf den Preisträger sollte der deutsche Philosoph Michael Schmidt-Salomon [3] halten. Doch wenige Tage vor der Preisverleihung sagte [4] der Vorsitzende der Giordano Bruno Stiftung seine Teilnahme an der Preisverleihung ab. Als Grund führt er ein Interview [5] an, dass Singer kürzlich der Neuen Züricher Zeitung gegeben hat. (Der Philosoph Georg Meggle in Telepolis über Peter Singer:Schwierigkeiten der Medien mit der Philosophie. [6])
.

„Ein Embryo hat kein Recht auf Leben“

Dort geht es um genau die Themen, die in Deutschland und in vielen anderen Ländern oft zu Protesten führen, wenn Singer irgendwo auftritt oder einen Preis erhält. Deswegen wird er auch gerne mit den Adjektiven umstritten [7] oder renommiert versehen. Beide Adjektive sagen aber wenig über den Gegenstand der Kontroverse aus.

Gegen die aktuelle Preisverleihung ruft in Berlinein Bündnis „Kein Forum für Peter Singer“ [8] zu Protesten vor der Urania auf. Dass dort Singer als Euthanasie-Befürworter bezeichnet wird, irritiert aus zwei Gründen. Zunächst ist schon der Begriff Euthanasie ein Euphemismus, heißt er doch übersetzt schöner Tod. Unter diesem Begriff wurden im NS Tausende Menschen ermordet, die als unwertes Leben bezeichnet wurden. Es ist fraglich, ob die Kritiker sich einen Gefallen tun, wenn sie Singer, der eine philosophische Position einnimmt, zum Euthanasiebefürworter stempeln. Warum kann Singer nicht kritisiert werden, ohne ihn gleich in die Nähe von Massenmördern zu rücken?

Doch diese Überspitzung hat im Umgang mit Singer Tradition. Immer, wenn eine neue Preisverleihung an Singer ansteht, wird er entweder als der große Humanist oder als Todesphilosoph [9] tituliert. Dass Kritik an seiner Podien berechtigt ist, zeigt sich schließlich an dem Interview in der NZZ, das Schmidt-Salomon zum Rückzug von der Laudatio animierte. In dem Protestaufruf wird auf zwei Zitate von Singer verwiesen, die er sinngemäß in dem NZZ-Interview wiederholt bzw. radikalisiert hat.

„Würden behinderte Neugeborenen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Geburt nicht als Wesen betrachtet, die ein Recht auf Leben haben, dann wären die Eltern in der Lage (…), auf viel breiterer Wissensgrundlage (…), ihre Entscheidung zu treffen“, wird aus Singers Bestseller „Praktische Ethik“ [10] zitiert. Im NZZ-Interview radikalisiert Singer diese Auffassung. Ein „Frühgeborenes im Alter von 23 Wochen“ habe „keinen anderen moralischen Status als ein Kind mit 25 Wochen in der Gebärmutter“.

Schmidt-Salomon wies darauf hin, dass Singer in einem philosophischen Disput 1993 noch erklärt habe, dass nur die Geburt „als Grenze sichtbar und selbstverständlich genug“ sei, „um ein sozial anerkanntes Lebensrecht zu markieren. Würde die Vorstellung in das öffentliche Denken eingehen, „dass ein Kind mit dem Augenblick der Geburt nicht zugleich auch ein Lebensrecht besitzt, sinke möglicherweise die Achtung vor kindlichem Leben im allgemeinen“, schreibt Singer in seinem Buch „Muss dieses Kind am Leben bleiben“.

Schmidt Salomon fasst das Motto seiner Organisation so zusammen: „Lebensrecht für Alle. Lebenspflicht für Niemanden“ [11]. Damit soll deutlich gemacht werden, dass es ein individuelles Recht auf Sterbehilfe gib

»Letzte Hilfe ist auch ein Recht«

Die Kampagne »Mein Ende gehört mir« fordert eine Entkriminalisierung der Sterbehilfe in Deutschland. Michael Schmidt-Salomon, Vorstandsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung, erklärt im Gespräch, warum Sterbehilfe als Lebenshilfe verstanden werden sollte.

Was ist das Ziel der öffentlichen Plakatkampagne »Mein Ende gehört mir«?

Wir wollen verhindern, dass die Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten am Lebensende eingeschränkt werden. Denn bislang ist ärztliche Freitodbegleitung in Deutschland strafrechtlich nicht verboten. Ein solches Verbot einzuführen, ist Ausdruck eines illiberalen Denkens, das schwerstleidenden Menschen die Chance nimmt, ihr Leben so zu beenden, wie sie es wünschen. Wir sind überzeugt: So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, das dafür sorgt, dass unser Leben im Notfall gerettet wird, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben, das garantiert, dass wir unser Leben in Würde beschließen können. Die Umsetzung eines solchen Rechts verlangt nicht nur eine Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung, sondern auch die Möglichkeit, mit Unterstützung eines Arztes eigenverantwortlich aus dem Leben zu scheiden, wenn das Leiden unerträglich wird.

Sollten Ärzte nicht Leben erhalten, statt beim Sterben zu helfen?

Ärzte sollten sich dem Patientenwillen verpflichtet fühlen – nicht einem religiösen, medizintechnokratischen oder von ökonomischen Interessen gespeisten Dogma der unbedingten Lebensverlängerung. In der Regel gehen Patienten zum Arzt, weil sie möglichst lange und möglichst gut weiterleben wollen. Doch es gibt Bedingungen, unter denen selbst die beste Palliativmedizin nicht verhindern kann, dass das Leben zu einer Qual wird. Ein guter Arzt sollte den Sterbewunsch seiner freiverantwortlich handelnden Patienten ebenso respektieren wie deren Willen zum Leben.

Was aber ist, wenn der Patient nicht freiverantwortlich entscheidet, wenn sein Sterbewunsch auf eine psychische Störung zurückzuführen ist?

In einem solchen Fall wäre eine Freitodbegleitung schon unter geltendem Recht unzulässig. Ein schwerstdepressiver Mensch braucht keine Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe zum Leben. Allerdings ist diese Hilfe sehr viel leichter möglich, wenn ärztliche Freitodbegleitungen akzeptiert werden.

Warum?

Weil man mit Sterbewilligen nur dann ein offenes Gespräch führen kann, wenn der Suizid nicht prinzipiell verpönt ist. Wir sollten hier von Erfahrungen auf anderen Gebieten lernen. Rigorose Forderungen wie »Keine Drogen!«, »Kein Sex unter Teenagern!«, »Keine Abtreibung!«, »Keine Suizide!« sind kontraproduktiv. Sie führen im Ergebnis zu mehr Drogentoten, mehr Teenager-Schwangerschaften, mehr Schwangerschaftsabbrüchen und auch zu mehr Verzweiflungssuiziden.

Nicht nur konservative Politiker, sondern auch Stimmen aus der Linken warnen vor der Aufweichung der Regelungen zur Sterbehilfe. Was halten Sie davon?

Auch unter Linken gibt es einige Menschen, die den Nazivergleichen reaktionärer Sterbehilfegegner wie Robert Spaemann auf den Leim gehen. Deshalb zur Klarstellung: Im Nationalsozialismus ging es niemals um Euthanasie, also den »guten, schönen Tod«, sondern um systematischen Massenmord an behinderten und psychisch kranken Menschen. Wer den vernebelnden Sprachgebrauch der Nazis übernimmt, bagatellisiert damit den Massenmord und verhöhnt die Opfer. Zudem belegen zahlreiche Studien, dass nicht die Gewährung, sondern die Verhinderung der ärztlichen Suizidassistenz die Gefahr erhöht, dass Patienten ohne deren Verlangen getötet werden. Tatsächlich ist nirgends die Gefahr größer, fremdbestimmt sterben zu müssen, als dort, wo Menschen nicht selbstbestimmt sterben dürfen.

Aber könnte bei einer vereinfachten Sterbehilfe nicht gerade auf arme Menschen der Druck wachsen, nicht weiter die öffentlichen Haushalte zu belasten?

Das wird oft behauptet, die langjährigen Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, in der Schweiz und den Benelux-Ländern zeigen aber, dass es einen derartigen Effekt nirgends gegeben hat. Gegenwärtig zielt der ökonomische Druck exakt in die umgekehrte Richtung, denn das Geschäft mit der Leidensverlängerung ist sehr viel lukrativer als das Geschäft mit dem Tod! In unserem Buch »Letzte Hilfe« berichten Uwe-Christian Arnold und ich unter anderem von dem Fall einer Patientin, die gegen ihren Willen fünf Jahre lang im Wachkoma gehalten wurde. Das brachte dem Pflegeheim einen zusätzlichen Umsatz von 200 000 Euro. Wenn man nachforscht, warum ­einige Gruppen heute so massiv gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende eintreten, stößt man nicht nur auf religiöse Motive, sondern auch auf handfeste ökonomische Interessen. »Leidensverlängerung« ist heute ein Multimilliardengeschäft, das sich keiner der Profiteure verderben lassen möchte.

Wäre es nicht sinnvoller, die Welt so zu gestalten, dass sie für alle Menschen lebenswert ist, als die Sterbehilfe zu vereinfachen?

Natürlich sollten wir alles dafür tun, dass Menschen ihre Existenz bis zum Schluss als lebenswert empfinden können. Doch selbst unter idealen gesellschaftlichen Bedingungen, von denen wir bekanntlich weit entfernt sind, wären wir nicht in der Lage, jeder Person einen würdevollen natürlichen Tod zu ermöglichen. Hospizdienste und Palliativmediziner können vielen Patienten helfen, aber längst nicht allen. Dies gilt insbesondere für Patienten, die gar nicht befürchten, in absehbarer Zeit sterben zu müssen, sondern auf unabsehbare Zeit unter für sie unwürdigen Bedingungen weiterleben zu müssen. Es wäre zutiefst inhuman, Menschen, die aufgrund einer schweren Form von MS oder ALS unbedingt sterben wollen, in ihrer Not allein zu lassen.

Dennoch: Würden nicht viele Schwerkranke durchaus weiterleben wollen, wenn die Pflege und Betreuung besser wäre?

Genau darum geht es ja! Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Länder, die Freitodbegleitungen ermöglichen, über die beste palliativmedizinische Versorgung der Welt verfügen. Zudem sollte man die positiven Effekte nicht übersehen, die mit der Möglichkeit der ärztlichen Freitodbegleitung einhergehen. Denn die Gewissheit, im Notfall mit Unterstützung des Arztes das eigene Leid beenden zu können, führt zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität– auch wenn viele Patienten diese Hilfe am Ende gar nicht in Anspruch nehmen. Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigt, der erkennt schnell, dass Sterbehilfe vor allem Lebenshilfe ist.

Wie beurteilen Sie Sterbehilfeprojekte, wie sie von dem ehemaligen konservativen Politiker Roger Kusch vorangetrieben wurden?

Die Idee, den Zeitpunkt einer Freitodbegleitung von der Höhe der Spende abhängig zu machen, konnte wohl nur einem ehemaligen CDU-Rechtsaußen wie Kusch kommen.

Sollte man dem mit Verbotsgesetzen begegnen?

Nein! Ginge es den Politikern wirklich darum, das »Geschäft mit dem Tod« zu unterbinden, würden sie kein Verbot der Freitodbegleitungen erwägen, sondern dafür sorgen, dass sie als ärztliche Aufgabe anerkannt und vergütet werden. Damit wäre die Gefahr eines »Geschäftsmodells Sterbehilfe« gebannt, da kein Mensch Geld für eine Hilfeleistung ausgeben würde, die er von seinem Arzt ohne Zusatzkosten erhält. Sollte es hingegen zu einem Verbot der Suizidbeihilfe kommen, würden sich begüterte Menschen ihren Sterbewunsch weiterhin verdeckt in Deutschland oder legal in der Schweiz erfüllen können. Die aktuellen Verbotsbestrebungen missachten somit nicht nur die individuellen Selbstbestimmungsrechte, sondern auch das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wir sollten unbedingt verhindern, dass die Höhe des Kontostands darüber entscheidet, ob ein Mensch selbstbestimmt sterben kann.

http://jungle-world.com/artikel/2014/44/50810.html

Interview: Peter Nowak

Humanist oder Tötungsphilosoph?

 

Verleihung des Ethikpreises an den australischen Philosophen Peter Singer wird ein alter Streit neu aufgelegt

Normalerweise wird eine Preisverleihung der Giordano Bruno-Stiftung, die sich selber Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung nennt, in einer größeren Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Doch in diesem Jahr ist das anders.
 
Heute abend erhält der australische Philosoph Peter Singer den diesjährigen Ethikpreis gemeinsam mit der italienischen Tierrechtlerin Paola Cavalieri. Der Festakt findet in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a. M. statt.
Ausgezeichnet werden sollen beide „für ihr engagiertes Eintreten für Tierrechte“, beispielsweise die Initiierung des Great Ape Project, das sich neben Menschen- auch für Affenrechte einsetzt (Menschenrechte für Menschenaffen?). Die beiden Preisträger haben die Debatte um Tierrechte mit ihrem 1993 erschienenen Buch The Great Ape Project: Equality Beyond Humanity wesentlich angestoßen (Sind nur Menschen Personen?). Deshalb sieht die Giordano Bruno-Stiftung in der Wahl der Preisträger auch ein „Signal für Tierrechte und aufgeklärte Streitkultur“.
 
Singers Bedeutung für die Tierrechtsbewegung dürfte unstrittig sein, doch wie sieht es bei ihm mit den Rechten für alle Menschen aus? Darüber hat sich anlässlich der Preisverleihung eine Kontroverse entzündet, nicht zum ersten Mal. Die Kritiker stützten sich auf Singers Bücher „Animal Liberation“ von 1975 und „Praktische Ethik“ von 1979. Damit hat Singer den Begriff des Tierrechts weltweit popularisiert, aber gleichzeitig die Universalität der Menschenrechte mit der These infrage gestellt, dass bestimmte Tiere ein größeres Lebensrecht als manche Menschen besäßen. In dem Buch „Praktische Ethik“ sehen die Kritiker eine weitere Relativierung der Menschenrechte, weil Singer die Kategorie der menschlichen „Nicht-Personen“ in die Debatte einführt (Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?, Tötung „lebensunwerten“ Lebens?).
 
Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit?

Für die Giordano Bruno- Stiftung dürfte die von der Preisverleihung ausgelöste Debatte daher nicht überraschend gewesen sein. Schließlich stand Singer wegen seiner utilitaristischen Philosophie seit Ende der 80er Jahre in der Kritik von Selbstorganisationen der Behinderten, aber auch von antifaschistischen Initiativen. So wurde er nach heftigen Protesten 1996 von den Organisatoren eines Heidelberger Science Fiction-Kongresses, wo er als Redner eingeplant war, wieder ausgeladen. Andere Veranstaltungen konnten nur unter Polizeischutz stattfinden. Auch zahlreiche Bücher beschäftigten sich schon vor 20 Jahren kritisch mit Singers Thesen und lieferten einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Behindertenrechte.
 
Während Aktivisten der Krüppelbewegung, wie sich die selbstbewussten Behinderten selber nannten, betonten, dass über ihr Lebensrecht nicht diskutiert werden könne, gab es aus akademischen Kreisen Warnungen, dass die von Singers Kritikern gewählten Strategie der Auftrittsverhinderungen die Wissenschaftsfreiheit gefährde. In diesem Sinne äußerte sich eine von zahlreichen Wissenschaftlern unterschriebene „Erklärung Berliner Philosophen“ (s.a.: Schwierigkeiten der Medien mit der Philosophie).
 
Singer-Debatte reloaded

Mit der Preisverleihung lebte die Singer-Kontroverse in Deutschland sofort wieder auf. Der in der Berliner Behindertenbewegung aktive Publizist Michael Zander nannte Singer einen „Philosophen der Angst“, und Peter Bierl, Autor zahlreiche Beiträge zur Humanisten- und Tierrechtsszene, weist auf historische Bezüge der wiederaufgelegten Debatte hin, die auch das politische Feld erreicht hat.
 
So bezeichnete der behindertenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth die Auszeichnung als falsches Signal: „Peter Singer plädierte in der Vergangenheit unter anderem dafür, behinderte Kinder bis zum 28. Lebenstag töten zu können. Der Preis für Singer ist ein Schlag ins Gesicht aller Menschen mit Behinderungen“, heißt es in der Erklärung des Politikers.
 
Auch der behindertenpolitische Sprecher der Bundesregierung Hubertus Hüppe teilt die Kritik an den designierten Preisträger und sparte dabei nicht mit starken Worten. In einer Pressemitteilung forderte er, dass die Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt/Main „dem Tötungsphilosophen“ keine Räume zur Verfügung stellen dürfe. „Sollte die Verleihung nicht zu verhindern sein, erwarte ich eine deutliche Distanzierung der Deutschen Nationalbibliothek vom Preisträger“, betonte Hüppe. Soviel administrativer Druck blieb nicht ohne Antwort.
 
Alles nur Missverständnisse?

Die Giordano Bruno-Stiftung spricht von einer Diffamierung ihres Preisträgers und fordert Hüppes Rücktritt als Behindertenbeauftragter. Der Vorsitzende der Stiftung, Michael-Schmidt-Salomon, sieht die Auseinandersetzung auch als Folge von Missverständnissen.
 

Fakt ist: Würde ich von Peter Singer nur dieses eine, immer wieder zitierte Spiegel-Interview kennen, hätte ich ganz bestimmt nicht zugestimmt, ihn mit einem Ethik-Preis auszuzeichnen. Allerdings gibt dieses Interview Singers Positionen streckenweise nur sehr verzerrt wieder – während der Anfang des Interviews in Ordnung ist, ist der Schluss geradezu ein Musterbeispiel für schlechten bzw. politisch manipulativen Journalismus.
 
Mit dieser wohlfeilen Presseschelte macht es sich Schmidt-Salomon aber entschieden zu einfach. So gibt es in dem Interview verstörende Textpassen, die nicht durch Sprachprobleme oder andere Verzerrungen erklärt werden können:
 
Singer: Wenn Sie vor der Implantation an einem Embryo einen Gentest vornehmen und dann entscheiden, dass dies nicht die Art von Embryo ist, die Sie wollen, dann habe ich keinen Einwand dagegen, ihn zu zerstören.
 
SPIEGEL: Spielt es in Ihren Augen denn gar keine Rolle, dass dieser Embryo zwar keine Vernunft hat, aber doch immerhin das Potenzial, Vernunft zu entwickeln?
 
Singer: Nein – jedenfalls nicht in dieser Welt, in der wir keinen Mangel an Menschen haben. Wir haben ja kein Problem damit, die Weltbevölkerung zu vermehren – wenn überhaupt, dann mit dem Gegenteil.
 
Allerdings sucht Schmidt-Salomon auch zu zeigen, dass sich die Position Singers verändert habe, sie sei nicht „behindertenfeindlich“, sondern „behindertenfreundlich“. Die aktuelle Debatte könnte so auch die Frage nach den Grenzen des Humanismus aufwerfen, wenn sie nicht nach der Verleihung sofort wieder abebbt und erst beim nächsten öffentlichen Singer-Auftritt neu aufgelegt wird.

http://www.heise.de/tp/artikel/34/34877/1.html

Peter Nowak