„Wir werden als Mieter vom Gesetz im Stich gelassen“

Eine Wohnungsräumung in Berlin sorgt für massiven Widerstand

Der Berliner Stadtteil Kreuzberg war gestern Morgen im Ausnahmezustand wie sonst nur am 1. Mai. Ein großes Polizeiaufgebot sperrte mehrere Straßen ab, die U-Bahn wurde unterbrochen und das Knattern eines Hubschraubers war schon von Weitem zu hören. Der Grund war ein Ereignis, das im Europa der Krise eigentlich alltäglich ist. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit mit ihren Hauseigentümer um Mieterhöhungen sollte die seit 30 Jahren in der Lausitzer Straße wohnende Familie G. zwangsweise aus ihrer Wohnung geräumt werden.

Doch während solche Räumungen meistens völlig unbeachtet vollzogen werden, suchte die Familie G. die Öffentlichkeit. „Wir werden als Mieter vom Gesetz im Stich gelassen“, begründete Ali G. seinen Schritt an die Öffentlichkeit. Solidarische Nachbarn und soziale Initiativen unterstützten sie und verhinderten durch eine Blockade im Oktober letzten Jahres den ersten Räumungsversuch. Ein zweiter Termin im letzten Dezember wurde abgesagt. Gestern wurde nun die Räumung mit einem massiven Polizeiaufgebot durchgesetzt. Schon um 6 Uhr stand ein großes Polizeiaufgebot vor dem Haus. Doch die Protestierer waren schneller und blockierten den Hauseingang. Die Polizei fand allerdings einen Zugang über eine Nebenstraße. Trotzdem zeigte sie ihre Macht und räumte die Straße. Im Anschluss bildete sich eine Spontandemonstration durch den Stadtteil, die mehrmals von der Polizei gestoppt wurde.

Mieterbewegung dürfte weiter wachsen

Obwohl die Räumung nicht verhindert werden konnte, sprachen die Aktivisten von einem Erfolg. „Die massenhafte Teilnahme an den Protesten zeigt, dass die Menschen sich davon nicht abschrecken lassen“, erklärte Davis Schuster von der Initiative „Zwangsräumung blockieren“. Auch Ali G. äußerte sich erfreut über die große Unterstützung. „Es geht uns sehr schlecht, weil die Räumung vollzogen wurde, aber es geht uns auch sehr gut, weil wir so viel Solidarität erfahren haben.“

Tatsächlich hat die massive Mobilisierung gezeigt, dass Aktionsformen wie Blockaden, die lange Zeit vor allem gegen rechte Treffen zur Anwendung kamen, auch auf dem sozialen Feld möglich sind. In den letzten Wochen wurde in Berlin flächendeckend zu der Aktion aufgerufen.

Selbst nach der mit Polizeigewalt durchgesetzten Räumung dürfte die Mieterbewegung weiter wachsen. In den letzten Wochen haben sich weitere von Räumung bedrohte Mieter in Kreuzberg an die Öffentlichkeit gewandt und konnten durch politischen Druck schon im Vorfeld Erfolge erreichen. Auch die Berliner Blockupy-Plattform, die sich für die Mobilisierung zu den diesjährigen Krisenprotesttagen Ende Mai nach Frankfurt gegründet hat, rief zur Räumungsverhinderung auf. Schließlich macht sich die Krise bei vielen Menschen eher in steigenden Mieten als am Dax-Kurs bemerkbar. In diesem Sinne ist der Widerstand gegen die Zwangsräumung, genau so wie die seit mehr als 8 Monaten bestehende Mieter-Protesthütte am Kottbuser Tor Krisenprotest im Alltag. Auch in Spanien oder Großbritannien werden nicht mehr bezahlbare Miete oder Zwangsräumungen zu einem Thema vieler Menschen und erzeugen Widerstand.

Umkämpfte Treffpunkte real und im Netz

Der Widerstand braucht Räume im Internet und im Stadtteil. Mit dem Irving Zola Haus gibt es in einer besetzten Schule in Kreuzberg ein selbstorganisiertes Stadtteilzentrum. Das Interesse der Nachbarn ist groß, wie dies auf Veranstaltungen zu sehen war, bei denen der Widerstand gegen die Mieterhöhung im Mittelpunkt stand. Das hängt damit zusammen, dass im Stadtteil Kreuzberg ein solidarisches Umfeld existiert, dass solche Mieterproteste wie heute möglich macht. Die genannten unterschiedlichen Treffpunkte dienen als Räume, in denen sich die Nachbarn kennenlernen und austauschen können. Das macht auch deutlich, dass sich Proteste wie in Kreuzberg nicht beliebig auf alle anderen Stadtteilen erweitern können.

Allerdings gibt es auch in anderen Berliner Stadtteilen wie in Neukölln Mieterwiderstand. Dabei sind neben Nachbarschaftstreffpunkten auch Internetforen eine wichtige Kommunikation, die auch immer bedroht und manchen Eigentümer ein Dorn im Auge sind. Dass erfuhren die Bewohner der einer Straße, die das Blog [http://willibald-alexis-strasse34.blogspot.de] betreiben. Ihr Provider in den USA sollte Auskünfte über die Autoren des Blogs geben, was dieser verweigerte. Es wird sich auch zeigen, ob neben den Protesten gegen hohe Mieten auch das Hartz IV-Regime und der boomende Niedriglohnsektor in den Blick genommen werden. Schließlich wird die Miete für viele Menschen auch deshalb zum Problem, weil ihr Einkommen sinkt.
Peter Nowak

Mein Block, meine Blockade

Für die Berliner Mieterbewegung ist die Winterpause vorbei. Mehr als 400 Menschen beteiligten sich am Samstag an der ersten Demonstration im neuen Jahr. Auch eine neue Parole riefen die Aktivisten auf ihrer kurzen Route durch Kreuzberg: »Die Gülbols bleiben in der Lause, die Polizei, die geht nach Hause!« Gemeint ist die Familie Gülbol aus der Lausitzer Straße 8, die zum Symbol des neuen Berliner Mieterwiderstands geworden ist. Nach jahrelangem Rechtsstreit mit ihrem Hauseigentümer André Franell war ihnen der Mietvertrag gekündigt worden, weil sie die Fristen zur Mietnachzahlung um einige Tage versäumt hatten. Sie klagten erneut, verloren jedoch in allen Instanzen, und so wurde ein Räumungstermin angekündigt. Dergleichen passiert eigentlich jeden Tag und meistens erfährt niemand davon. Doch die Gülbols gingen an die Öffentlichkeit, eine Solidaritätsinitiative entstand und über 200 Menschen verhinderten im vergangenen Oktober mit einer Blockade die angesetzte Räumung.

Ein zweiter Termin wurde im Dezember von der Justiz abgesagt. Doch am 14. Februar dürfte es ernst werden. Das Bündnis »Zwangsräumung blockieren« ist vorbereitet und organisierte mehrere Blockadetrainings. Selbst wenn die Räumung mit Polizeigewalt durchgesetzt werden sollte, dürfte die Mieterbewegung weiter an Stärke gewinnen. In den vergangenen Wochen haben sich weitere von Räumung bedrohte Mieter in Kreuzberg an die Öffentlichkeit gewandt und konnten durch politischen Druck einige Erfolge erzielen. Auch die Berliner Blockupy-Plattform ruft zur Räumungsverhinderung auf. Eine kluge Entscheidung, wie es scheint – schließlich spüren viele Menschen die Krise gerade in Form steigender Mieten. In diesem Sinne lassen sich der Widerstand gegen die Zwangsräumung wie auch die Mieter-Protesthütte, die seit acht Monaten am Kottbusser Tor steht, als eine Form des Krisenprotests im Alltag verstehen.
http://jungle-world.com/artikel/2013/07/47151.html
Peter Nowak