Für die Bundeskanzlerin wird Deutschland weiterhin am Hindukusch verteidigt
Keine großen Überraschungen gab es bei der heutigen Debatte über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr im Bundestag. In ihrer Regierungserklärung versicherte Bundeskanzlerin Merkel den in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten ihre volle Unterstützung. Bei ihrer Verteidigung des Afghanistan-Engagements bezog sie sich ausdrücklich auf den vormaligen SPD-Bundesverteidigungsminister Peter Struck, der für seine Aussage, Deutschlands Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt, viel Kritik einstecken musste.
Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan. Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.
Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen anderen Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind Lebensbedingungen katastrophal – und trotzdem entsendet die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan geht es noch um etwas anderes. Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsministers Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er sagte vor Jahren: Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.
Bundeskanzlerin Merkel in der Regierungserklärung
Auch die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP übte sich im „Weiter so“ und wies alle Forderungen nach Änderungen des Afghanistan-Mandats zurück. Die waren von SPD-Chef Sigmar Gabriel in der Frankfurter Rundschau formuliert worden.
Weil Gabriel und nicht Frank-Walter Steinmeier in der Afghanistandebatte für die SPD gesprochen hat und SPD-Politiker aus der zweiten Reihe über einen schnelleren Abzug nachgedacht haben, wurden die Sozialdemokraten aus Kreisen der Regierungskoalition der Fahnenflucht geziehen. Doch Gabriel bekräftigte, dass seine Partei hinter dem Einsatz stehe, warnte aber, dass die Unterstützung der Bevölkerung verloren gehen könnte und sich die Gesellschaft nicht an die steigende Zahl der Toten gewöhnen dürfte. Wobei er die Bundeswehrsoldaten und die getötete afghanische Bevölkerung meinte.
Jürgen Trittin kritisierte als Sprecher der Grünen vor allem, das Bundeswehrmandat sei schwammig und die Soldaten wüssten oft nicht, wofür sie ihre Köpfe hinhalten. Die Linkspartei wiederholte erwartungsgemäß ihre Forderung nach einem schnellen Abzug der Bundeswehr und sah sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass es keine militärische Lösung am Hindukusch gäbe.
Soldatenprosa in liberalen Medien
So blieben im Bundestag alle bei ihrer Fahne. In der gesellschaftlichen Debatte wird aber der Ton gegen Abzugsbefürworter rauer. So gab es im Feuilleton der liberalen Frankfurter Rundschau in den letzten Tagen gleich zwei längere Beiträge, die es für verantwortungslos halten, „wenn Prenzlau und Hannover Nein sagen“ und die durchaus zivile Leserschaft damit aufklären, dass „unsere Soldaten“, wenn sie in Afghanistan sterben, ihrem Land „dienen“, um, „wenn es darauf ankommt, das Höchste zu opfern, was ein Mensch hat: das eigene Leben“.
Wer mit dem Totalitarismus- und Extremismusbegriff hantiert, kann keine Kritik an Staat, Nation und Kapital üben.
Man kann die Personen, die sich vor einigen Wochen unter dem Namen »Militante Gruppe Leipzig« zu Wort gemeldet haben, aus vielerlei Gründen heftig kritisieren. Doch ist es wirklich nur der Ärger über deren spätpubertäres Gehabe, wenn einer Autorin des monatlichen Newsflyers des Leipziger Kulturzentrums Conne Island, dem CEE IEH, im März nur Verbalinjurien einfallen: »Militante Gruppe Leipzig – du mieses Stück Scheiße. Geh nach Hause, dich kann niemand leiden«? Oder soll mit der Schimpfkanonade eine Gruppe denunziert werden, weil sie den Anspruch formuliert, die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus mit einer durchaus fragwürdigen Alltagsmilitanz zu verbinden?
Diese Frage kann man sich schon deshalb stellen, weil in einer anderen Ausgabe des CEE IEH Hannes Gießler gegen den »eingeübten linksradikalen Herdenreflex gegen die Totalitarismustheorie« polemisiert. Im Laufe der Geschichte wurden der Linken schon die Reflexe gegen das staatliche Gewaltmonopol, das freie Unternehmertum und die soziale Marktwirtschaft erfolgreich ausgetrieben. Daraus sind unter anderem die SPD, die Grünen und als aktuelles Studienobjekt »Die Linke« entstanden.
Deren Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat erst im März unter Beweis gestellt, dass sie unter keinem »Herdenreflex gegen die Totalitarismustheorie« leidet, als sie gemeinsam mit der CDU, der SPD und den Grünen im Abgeordnetenhaus eine Resolution verabschiedete, in der es unter anderem heißt: »In den letzten Monaten ist es in unserer Stadt zu einer Reihe von Anschlägen gekommen, von denen eine Vielzahl dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen ist. Mit großer Besorgnis stellen wir fest, dass die Zahl der aus diesem Spektrum stammenden Straftaten von 2008 auf 2009 enorm angestiegen ist. Neben brennenden Autos gab es u.a. Angriffe auf Polizeistationen, Jobcenter und Baustellen.«
»Extremismus – Politiker machen Front gegen linke Gewalt«, applaudierte die Berliner Morgenpost. Kritische Töne zu dieser temporären Nationalen Front im Roten Rathaus kamen von der Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus in der Berliner Linkspartei: »Geradezu gefährlich, dass die Fraktion ›Die Linke‹ im Abgeordnetenhaus sich mit der gemeinsamen Erklärung daran beteiligt, Ursachen und Wirkung nicht in Beziehung zu setzen und gemeinsam zu thematisieren, und so auch linke Akzeptanz der Umverteilungspolitik der Bundesregierungen, insbesondere seit der Agenda 2010, signalisiert. Zugleich beteiligt sich die Fraktion damit an der Kriminalisierungskampagne gegen soziale Bewegungen nach dem Konzept ›Teile und Herrsche!‹. Politische Kampfbegriffe wie Linksextremismus dienen allein der Spaltung von gesellschaftlichem Widerstand und gehören nicht in den Wortschatz einer solidarischen Linken. Aktionsformen sind nicht verallgemeinerbar und müssen auch nicht von allen Gruppen und Personen geteilt werden. Dass die Aktionsform nicht geteilt wird, darf aber nicht dazu führen, sich mit dem politischen Gegner gemein zu machen.«
Wie totalitarismustheoretische Ansätze historisch zur Kriminalisierung linker gesellschaftlicher Alternativen beigetragen haben, kann am Fall des linken Gewerkschafters Viktor Agartz verdeutlicht werden. Der Theoretiker einer kämpferischen Gewerkschaftspolitik und scharfe Kritiker der gesellschaftlichen Restauration in der BRD der fünfziger Jahre sowie deren Umsetzung durch die DGB-Führung wurde mangels Beweisen von der Anklage freigesprochen, mit seinen Kontakten zum FDGB der DDR Landesverrat begangen zu haben. Die damals dominante Totalitarismustheorie hatte aber zur Folge, dass Agartz aus der Gewerkschaft ausgeschlossen und seine politische Position gesellschaftlich marginalisiert wurde. Agartz war einer von Tausenden, die in den fünfziger und sechziger Jahren in der BRD beim unter dem Label des Antitotalitarismus geführten Kampf gegen die Linke unter die Räder kamen. In den siebziger Jahren wurde diese Ausgrenzung durch das Instrument der Berufsverbote erleichtert.
Sarah Uhlmann von der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff hat in ihrem Beitrag (Jungle World 15/2010) darauf hingewiesen, dass man mit der Extremismusformel keine Kritik an Staat, Nation und Kapital üben kann. Den Beweis haben zuvor Mario Möller (13/2010) und Sebastian Voigt (14/2010) in ihren Texten geliefert: Mag Möller auch für sich beanspruchen, einer angeblichen Mitte der Gesellschaft nicht das Wort reden zu wollen, lassen seine nachfolgenden Auslassungen gar keine andere Konsequenz zu: »Rechte wie linke Ideologen stehen für die Verherrlichung des Kollektivs gegen das Individuum und die Ablehnung der auf Vermittlung basierenden bürgerlichen Gesellschaft.« Diese beiden Prämissen sind reine Ideologie. Die Vermittlung in der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet die Zurichtung des Subjekts durch die Zwänge der Kapitalverwertung. Um dagegen anzukämpfen, bedarf es kollektiver Strukturen, die erst die Voraussetzungen für eine Gesellschaft schaffen können, in der jeder Mensch ohne Zwang individuell sein kann. Übrigens ist die Frontstellung gegen den Kollektivismus ein stehender Topos, wenn es in der Geschichte gegen die Organisierungsversuche der Ausgebeuteten und Unterdrückten gegangen ist. Auf ihn haben sich schon die Staatsapparate beim Kampf »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« in der Bismarck-Ära bezogen. Bei der Begründung des KPD-Verbots fehlte die Volte gegen den Kollektivismus ebensowenig wie in der Propaganda der Unionsparteien in den siebziger und achtziger Jahren mit ihrem Motto »Freiheit statt Sozialismus«.
Sebastian Voigt stimmt dem schon zitierten CHE IEH-Autoren Gießler in der Einschätzung zu: »Den Begriff Totalitarismus im Ganzen abzulehnen, ist reflexhafte Abwehr der Linken gegen die Auseinandersetzung mit der eigenen verbrecherischen Tradition.« Dabei wird vergessen, dass die Totalitarismustheorie das ideologische Werkzeug war, mit dem die Nutznießer, Profiteure, Täter und Mitläufer des NS-Regimes in Westdeutschland wieder Staat machen konnten. Damit wurde in der BRD die Grundlage dafür geschaffen, dass am 17. August 1956 die KPD verboten werden konnte. Wenige Wochen später konnte das Bundesministerium für Verteidigung bekannt geben, dass SS-Offiziere bis zum Rang des Obersturmbannführers mit ihren alten Rängen in die Bundeswehr eingestellt werden dürfen, wenn sie den Nachweis einer positiven Einstellung zur Demokratie erbringen.
Während also die alten Nazis nur glaubhaft die Totalitarismustheorie verinnerlichen mussten, wurde ehemaligen Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime von den Richtern nicht selten als strafverschärfend zur Last gelegt, dass ihnen selbst ein Aufenthalt in einem Konzentrationslager die kommunistischen Flausen nicht ausgetrieben hatte. Über diese historischen Zusammenhänge sollte sich im Klaren sein, wer meint, sich heute in irgendeiner Form positiv auf die Totalitarismustheorie berufen zu können.
Um Stalinismus, Nominalsozialismus, Reformismus und andere unter dem linken Label firmierende Irrwege zu kritisieren, braucht man erst Recht keine Hilfskrücken aus dem Fundus des Extremismusansatzes. Es gibt in der linken Theoriegeschichte eine Vielzahl von Autoren, die diese Fehlentwicklungen kritisieren. Viele von ihnen gerieten unter Extremismusverdacht. In Zeiten eines linken Aufbruchs, wie in Westdeutschland um 1968, wurden deren Schriften viel gelesen und hatten einen wichtigen Anteil an der linken Theoriebildung. Diese linken Theorie-Arbeiter handelten die linken Irrwege nicht als Verbrechens- oder Kriminalgeschichte mit fein säuberlich getrennten Täter- und Opfergruppen ab. Sie unterzogen vielmehr die theoretischen und praktischen Fehlentwicklungen von linken Bewegungen einer materialistischen Analyse. Sie konnten sich dabei auf Karl Marx berufen, der nach der Niederschlagung der Pariser Kommune nicht in Klagen über die Verbrechen der Aufständigen ausbrach, sondern die Fehler der Kämpfenden analysierte. Das ist ein entscheidender Unterschied zu Gießler und vielen anderen, die in der Diktion von Pastor Gauck über die linke Verbrechensgeschichte lamentieren.
Wer übrigens, wie Gießler, die Ermordung politischer Gegner als ein Kennzeichen von rechten und linken Diktaturen betrachtet, scheint über die Funktionsweise bürgerlicher Herrschaft Illusionen zu hegen. Aber vielleicht ist eine Selbstaufklärung auch gar nicht erwünscht. Schließlich entdecken in Zeiten einer marginalen Linken unterschiedliche, einst gesellschaftskritische Gruppierungen die ominöse politische Mitte. Der positive Bezug auf die Totalitarismustheorie ist dann nur eine logische Konsequenz. Denn eines lehrt die Geschichte der Unterwerfung linker Bewegungen unter die Staatsraison: Wer in der Mitte der Gesellschaft mitspielen will, muss das staatliche Gewaltmonopol ebenso wie die staatliche Kriegsbereitschaft anerkennen, darf die hiesige Marktwirtschaft nur in Details, ausländische Kapitalisten umso mehr kritisieren und muss die linken Reflexe gegen die Totalitarismustheorie überwinden.
Am Wochenende tagte das Bündnis »Wir zahlen nicht für Eure Krise« / Christina Kaindl aus Berlin ist Mitbegründerin des bundesweiten Anti-Krisen-Bündnisses
ND: Sie haben am vergangenen Samstag eine bundesweite Aktionsberatung in Wiesbaden durchgeführt. Was war der Inhalt dieser Konferenz?
Kaindl: An dem Treffen haben mehr als 80 Personen teilgenommen. Es gab Referate zu den ökonomischen Aspekten der Krise und zur Stimmung in der Bevölkerung. Ein weiterer Schwerpunkt war die Vorbereitung der beiden bundesweiten Anti-Krisen-Demonstrationen, die am 12. Juni in Stuttgart und Berlin stattfinden werden.
Unter welchem Motto werden die stehen?
Wir haben uns darauf verständigt, das Motto »Wir zahlen nicht für Eure Krise«, unter dem bereits die bisherigen Demos standen, beizubehalten. Der Untertitel wird lauten: »Gemeinsam gegen Erwerbslosigkeit, Kopfpauschale und Bildungsabbau«. Damit wollen wir uns auf die Bildungsproteste beziehen, die Anfang Juni geplant sind. Auch der Protest gegen die geplante Kopfpauschale soll in die Mobilisierung zu den Demonstrationen einfließen. Wie schon im vergangenen Jahr werden auch zum 12. Juni regionale Bündnisse mit eigenen Aufrufen mobilisieren. So heißt das Motto des Berliner Bündnisses »Die Krise heißt Kapitalismus«.
Ist angesichts der vielen Meldungen von einem Ende der Wirtschaftskrise eine Anti-Krisendemo nicht anachronistisch?
Die Probleme der Kapitalverwertung, die zu der Krise geführt haben, sind nicht gelöst; die Regulation der Finanzmärkte ist unterblieben. Auf den Wirtschaftsseiten mancher Zeitungen wird vor neuen Spekulationsblasen gewarnt. Bernd Riexinger von ver.di Stuttgart hat sich auf der Konferenz ausführlich mit den ökonomischen Hintergründen der Krise auseinandergesetzt und beschrieben, dass auch in den Belegschaften die Unruhe wächst. Die Probleme von Erwerbslosigkeit, Kurzarbeit und Sozialabbau brauchen Widerstand von unten.
Aber hat sich nicht ein großer Teil der Bevölkerung mit den von der Bundesregierung favorisierten Maßnahmen wie der Kurzarbeit abgefunden?
Mit diesen Maßnahmen wurde das Problem nur verschoben, aber nicht gelöst. In Zukunft können Firmenzusammenbrüche, die mit Entlassungen verbunden sind, nicht mehr ausgeschlossen werden. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist ja in vielen Umfragen belegt. Verlängerung der Kurzarbeit geht für die Betroffenen auch mit der Befürchtung einher, nie wieder das frühere Lohnniveau erreichen zu können.
Eine weitere Folge der Krise ist die immense Verschuldung der Kommunen. Mehreren Städten im Ruhrgebiet droht die Insolvenz. Sie können dann keinen eigenen Haushalt mehr beschließen. Gebührenerhöhungen und Schließungen von städtischen Einrichtungen drohen ebenso wie weitere Privatisierungen. Das wird die Spaltung in diejenigen, die sich die privatisierten Dienstleistungen leisten können, und diejenigen, die es nicht können, verschärfen.
Muss nicht trotzdem damit gerechnet werden, dass die Demonstrationen eher klein werden?
Ich bin nach der Aktionskonferenz wieder optimistischer. Die Demonstrationen stehen ja auch im Zusammenhang mit den Klimaprotesten am 5. Juni in Bonn und den Bildungsprotesten am 9. Juni. In Süddeutschland haben sich viele Gewerkschafter gegen eine Verschiebung der Proteste auf den Herbst mit den Worten gewandt, wie lange wir noch warten sollen. In den nächsten Wochen wird viel von der Mobilisierung vor Ort abhängen. Demnächst wird es Mobilisierungsmaterial und eine Autobusbörse auf der zentralen Homepage kapitalismuskrise.org geben.
Bundesanwaltschaft stellt Verfahren gegen Oberst Klein ein: „Bombenabwurf zulässig“
Die für den Luftangriff auf Kundus am 4. September 2009 verantwortlichen deutschen Militärs werden juristisch in Deutschland nicht zur Verantwortung gezogen. Die Generalbundesanwaltschaft hat die Einstellung der Verfahren gegen Oberst Klein und Hauptfeldwebel Wilhelm beschlossen. In einer gestern veröffentlichten Pressemitteilung betont die Bundesanwaltschaft, dass die Hintergründe des tödlichen Luftschlags, der eine noch unbekannte Zahl von toten Zivilisten forderte, einer umfassenden strafrechtlichen Prüfung unterzogen worden seien. Da ein Großteil des verwendeten Tatsachenmaterials als geheime Verschlusssache eingestuft wurde, bleibt auch ein Teil der Gründe für die Einstellung des Verfahrens der Öffentlichkeit nicht zugänglich. In den veröffentlichten Punkten kommt die Bundesanwaltschaft zu dem Schluss, dass die Soldaten der Bundeswehr im Rahmen des ISAF-Einsatzes reguläre Kombattanten sind: „Eine Strafbarkeit scheidet daher aus, soweit völkerrechtlich zulässige Kampfhandlungen vorliegen.“ Zudem wird festgestellt: „Der Abwurf von Bomben auf Ziele, in deren unmittelbarer Nähe sich Menschen aufhalten, ist auch nach den Vorschriften des deutschen Strafgesetzbuchs bei Geltung des Konfliktvölkerrechts immer dann gerechtfertigt und damit straflos, wenn der militärische Angriff völkerrechtlich zulässig ist.“ Soweit die Getöteten zu den Aufständischen gehörten, war der Angriff auf sie nach Ansicht der Juristen berechtigt. Eine Bekämpfung durch Bodentruppen sei wegen der damit verbundenen Gefährdung der eigenen Truppen nicht zumutbar gewesen. Da die Militärs nach Ansicht der Generalbundesanwalt vor dem Angriffsbefehl keinen Hinweis auf Zivilisten vor Ort hatten, können sie deswegen auch nicht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Die Entscheidung der Bundesanwaltschaft dehnt in einem Zusatz die straflosen militärischen Angriffsmöglichkeiten noch weiter aus: „Selbst wenn man mit zivilen Opfern einer Militäraktion rechnen muss, ist ein Bombenabwurf nur völkerrechtlich unzulässig, wenn es sich um einen ‚unterschiedslosen‘ Angriff handelt, bei dem der zu erwartende zivile Schaden in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg steht. Dies war hier nicht der Fall.“ Die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights will gegen die Einstellung des Verfahrens rechtlich vorgehen. „Die vorschnelle Einstellung zeugt nun leider von derselben Mentalität, Menschenrechtsverletzungen immer nur bei anderen wahrzunehmen und zu kritisieren“, moniert ECCHR-Mitglied Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck.
Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte über die geplante Gesundheitsreform und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens
Noch ist sich die Regierungskoalition nicht einig über den Umfang und das Tempo die Umgestaltung des Gesundheitssystems. Ein Grund dürfte auch in dem Protesten liegen, die sich in Teilen der Bevölkerung schon jetzt dagegen zu artikulieren beginnen. So berichtete eine Sprecherin des Online-Kampagnendienst Campact, dass deren Unterschriftenaktion gegen die Kopfpauschale auf große Resonanz gestoßen sei. Auch der DGB will in den nächsten Wochen mit einer Kampagne gegen die Kopfpauschale beginnen.
Allerdings warnen gesundheitspolitische Organisationen vor einer Verengung der Proteste auf den Kampf gegen die Kopfpauschale So betont Ole Baumann vom Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, das sich um die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere kümmert, dass es heute schon eine Drei- oder Vierklassenmedizin gäbe, weil Menschen ohne Papier aus der Versorgung herausfallen. Demgegenüber fordert die Initiative eine Gesundheitsversorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Vorsitzende der Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung Pro Familia Gisela Notz plädiert dafür, die Forderung nach kostenfreiem Zugang zu Verhütungsmitteln in die Kampagne einzubeziehen, weil vor allem Frauen mit geringen Einkommen aus finanziellen Gründen bei der Familienplanung eingeschränkt seien.
Auch Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte und Autorin der Zeitschrift express, begründet im Telepolis-Gespräch mit Peter Nowak, warum der Protest gegen die Gesundheitsreform nicht auf die Kopfpauschale begrenzt bleiben sollte.
Könnte die Bewegung gegen die Kopfpauschale der Bundesregierung Dimension wie die Proteste gegen Hartz IV annehmen?
Nadja Rakowitz: Die Proteste könnten sogar noch größer werden. Denn von Hartz IV fühlten sich viele Menschen nicht betroffen, und kümmerten sich deswegen nicht darum. Doch von der Kopfpauschale und anderen Formen der Gesundheitsreform sind viele Menschen betroffen. Das könnte mehr Potenzial zum Widerstand haben.
Aber rücken nicht auch Politiker der großen Koalition schon längst von der Kopfpauschale a la FDP ab?
Nadja Rakowitz: Sicherlich, es ist noch nicht klar, wer sich in der Koalition durchsetzt. Es gibt hier vor allem Differenzen zwischen der CSU und der FDP, während sich die CDU weitgehend aus der Auseinandersetzung heraushält – so scheint es. Es wird nun vor allem vor der für die Bundesregierung wichtigen Landtagswahl in NRW verstärkt betont, dass es einen abrupten Systemwechsel in der Gesundheitspolitik nicht geben soll. Dabei liegt der Schwerpunkt auf abrupt. Doch auch eine stufenweise Hinführung zur Kopfpauschale ist abzulehnen, weil sie ebenfalls dazu beiträgt, dass das Gesundheitssystem unsozialer wird. Zudem sind wir bereits Zeugen der Einführung einer kleinen Kopfpauschale, weil verschiedene Krankenkassen bereits einen pauschalen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben.
Ist es da überhaupt sinnvoll, sich auf die Kopfpauschale zu kaprizieren?
Nadja Rakowitz: Es ist sicherlich das Projekt, gegen das sich der größte Widerstand entfalten wird. Aber eine Bewegung gegen die Kopfpauschale reicht sicher nicht aus. Es muss darum gehen, den Fokus der Kritik auf die Unterwerfung der Gesundheitspolitik unter Kapitalinteressen zu richten.
Wäre da nicht die Attac und anderen sozialen Gruppen schon länger propagierte Parole „Gesundheit ist keine Ware“ ein geeignetes Motto?
Nadja Rakowitz: Sicherlich kann diese Parole dabei helfen, ein größeres Bündnis zu schmieden. Noch ist es in großen Teilen der Bevölkerung weitgehend Konsens, dass Gesundheit keine Ware werden darf. Doch aus einer emanzipatorischen Perspektive kann es nicht ausreichen, nur bestimmte Refugien, wie Gesundheit und Bildung, aus der Kapitalverwertung herauszuhalten, was auf die Dauer auch kaum gelingen kann. Vielmehr müssten wir die Frage stellen, warum andere Teile der Gesellschaft, beispielsweise die Lohnarbeit, weiter unter den Zwängen der Ökonomie stehen sollen. Außerdem wird die Parole „Gesundheit ist keine Ware“ auch schon von ganz konservativen Organisationen aufgegriffen, weil sie ihr Pfründe retten wollen. Man muss also deutlicher machen, was man damit meint.
Ist denn nicht Gesundheit in unserer Gesellschaft jetzt schon eine Ware?
Nadja Rakowitz: Nein, noch nicht flächendeckend. Zum Beispiel in öffentlichen Krankenhäusern herrscht bisher noch keine Notwendigkeit, kapitalistische Profite zu machen. Sie standen bis Anfang der 2000er Jahre nicht in kapitalistischer Konkurrenz zueinander, sondern waren Teil eines Krankenhausplans der öffentlichen Hand und mussten sich nicht auf den Markt bewähren. Durch die Konkurrenz untereinander und mit den privaten Krankenhäusern müssen heute aber auch öffentliche Krankenhäuser wirtschaften, als ob sie Unternehmen wären.
Bis heute zirkuliert auch ein großer Teil des Geldes im Gesundheitswesen zwischen Körperschaften öffentlichen Rechts und öffentlichen Einrichtungen und ist nur sehr beschränkt Teil der Kapitalakkumulation. Daher kann man sehr wohl sagen, dass das Gesundheitswesen nicht vollständig in das Kapitalverhältnis einbezogen war. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass das Krankenhaus unberührt vom Kapitalverhältnis war. Im ambulanten Sektor ermöglichte die rot-grüne Gesundheitsreform im Jahr 2003 die Gründung von medizinischen Versorgungszentren (MVZ). Wenn diese von Konzernen wie z.B. Rhön oder Asklepios übernommen werden, sind auch hier die Anreize verstärkt, medizinischen Entscheidungen betriebswirtschaftlichen Kriterien unterzuordnen
Gab es nicht auch schon bei den vorigen Bundesregierungen Bestrebungen, die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu fördern?
Nadja Rakowitz: Diese Bestrebungen gehen bis Mitte der 90er Jahre zurück. Unter der Ägide des im Kabinett Kohl amtierenden Bundesgesundheitsministers Horst Seehofer wurden schon Weichen gestellt, als z.B. die Konkurrenz der Gesetzlichen Krankenkassen eingeführt wurde. Den größten Beitrag zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens leistete allerdings die Politik der rot-grünen Bundesregierung. Sie ist unter anderem für die Einführung der Praxisgebühr und die einseitige Erhöhung des Arbeitnehmeranteils um 0,9 Prozentpunkte bei der Finanzierung des Gesundheitssystems verantwortlich. Damit wurde das Prinzip der paritätischen Finanzierung im Gesundheitswesen aufgegeben.
Warum gibt es in der letzten Zeit verstärkte Bestrebungen, das Gesundheitswesen unter das Kapitalverhältnis zu subsumieren?
Nadja Rakowitz: Viele Gesundheitsökonomen erwarten, dass die Wirtschaftskrise den Trend zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens beschleunigen wird, weil das anlagensuchende Geldkapitel im Gesundheitsmarkt noch Möglichkeiten der Verwertung sieht. Die politischen Rezepte des Doktor Rösler aber auch anderer Politiker wollen hier die Rahmenbedingungen schaffen.
Von der Leyen stellt Innovationspaket für den Arbeitsmarkt vor
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen sucht nach Lösungen für den Arbeitsmarkt: Laut einer aktuellen Beschäftigungsinitiative müssen erwerbslose Jugendliche bald mit neuen Härten rechnen. Hartz-IV-Empfänger, die jünger als 25 sind, sollen nach dem Willen von FDP-Chef Guido Westerwelle binnen sechs Wochen nach Beginn der Erwerbslosigkeit ein verpflichtendes Arbeits- oder Fortbildungsangebot erhalten. Wenn sie das ablehnen, sollen ihnen die Bezüge gekürzt werden. »Wer jung ist, wer gesund ist, wer keine eigenen Angehörigen zu versorgen hat, dem ist es zumutbar, dass er für das, was er vom Staat bekommt, auch eine Gegenleistung erbringt«, erklärte Westerwelle in der »Bild am Sonntag«. Wenn der Staat ein Angebot mache, könne er erwarten, dass es angenommen werde. Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) erklärte am Wochenende der »Welt am Sonntag«, dass sich Jugendliche nicht an die Arbeitslosigkeit gewöhnen dürften: Entweder solle der Schul- oder Berufsabschluss nachgeholt werden oder sie müssten einen Arbeitsplatz erhalten. Bei einigen müssten auch »Probleme wie Sucht« »konsequent angegangen« werden, so die Ministerin. Jedem Jugendlichen solle ein Ansprechpartner zur Seite gestellt werden, »der ihn beim schwierigen Übergang von der Schule in die Ausbildung bis in den Beruf hinein an die Hand nimmt.« Von der Leyen will mit ihrem »Innovationspaket« auch ältere Menschen und alleinerziehende Mütter aus der Arbeitslosigkeit holen. Alleinerziehenden Müttern sollten die Jobcenter bei der Organisation der Kinderbetreuung helfen, sagte sie. Für Über-50-Jährige komme eine öffentliche Beschäftigung nach dem Vorbild der Bürgerarbeit in Betracht. Am Mittwoch will die Regierung bei einer Kabinettsitzung die Initiative beschließen. Neu an den Vorstößen aus dem Regierungslager ist nur die Pflicht, die jungen Erwerbslosen für die Annahme des Angebots auferlegt werden soll. Denn schon heute gehören Hartz-IV-Bezieher zwischen 15 und 25 Jahren »zu einer besonders diskriminierten Hartz-IV-Gruppe«, wie es auf einer Internetseite von Hartz-IV-Gegnern heißt. So sind Erwerbslose nach Vollendung des 15. Lebensjahrs für die Arbeitsagenturen nach geltender Rechtslage sofort vermittelbar. Wenn sie Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes benötigen, müssen sie jede Arbeit oder Arbeitsgelegenheit annehmen. Ein Recht auf Berufsausbildung haben sie nicht. Zudem kann Erwerbslosen unter 25 vom Jobcenter der Bezug einer eigenen Wohnung verwehrt werden. Schon 2006 zog daher die DGB-Jugend Brandenburg ein ernüchterndes Fazit: Demnach würden Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren unter Androhung harter Sanktionen gefördert, aber hauptsächlich gefordert. Kritik an den Vorstößen der Regierungskoalition kam von Erwerbslosengruppen und der Linkspartei. Deren stellvertretender Vorsitzender Klaus Ernst nannte Westerwelles Äußerungen eine »Heiße-Luft-Politik«. Die Sanktionsdrohungen seien schon heute geltendes Recht. Auch das Erwerbslosen Forum Deutschland kritisierte die Initiative heftig und sprach von »Zwangsarbeit« und »Verfolgungsbetreuung«, die mittels »Aushungern« durchgesetzt werden solle. Der Sprecher des Erwerbslosenforums, Martin Behrsing, erklärte: »Erneut müssen junge Menschen als Zielscheibe für puren Populismus herhalten. Es hört sich so an, als ob junge Menschen die Probleme mangelnder Ausbildungs- und Arbeitsplätze oder das Versagen des Schulsystems selbst verursacht hätten.« Behrsing kündigte zudem die juristische Unterstützung junger Erwerbsloser an, wenn sie unterbezahlte Arbeiten oder überflüssige Fortbildungen annehmen müssten.
Kleingärten haben in Deutschland eine lange Geschichte. Doch seit einigen Jahren versucht die Guerilla-Gardening-Bewegung dem Laubenpieper-Image zu entkommen. Sie pflanzen auf städtischem Brachland zur Not auch ohne die behördliche Genehmigung Obst und Gemüse an. Statt über die Länge von Gräsern und Ästen reden sie über die politische Dimension der Selbstversorgung mit Obst und Gemüse. Daher ist es auch nur konsequent, wenn sich einige der Politgärtner am vergangenen Samstag am globalen Aktions- und Informationstag für Ernährungssouveränität und bäuerliche Rechte beteiligten. Auf Initiative des Kleinbauernnetzwerkes La Via Campesina gab es rund um den Globus Aktionen der unterschiedlichen Art. Lange Zeit sahen die hiesigen Linken die Aktionen von Via Campesina als Problem des globalen Südens. Manch Marx-geschulter Linker meinte gar, dass da der gesellschaftliche Fortschritt gebremst und die bäuerliche Lebensweise konserviert werde. Doch mittlerweile wird Ernährungssouveränität auch als eigenes Problem wahrgenommen. Das wurde an den unterschiedlichen Aktionen deutlich, die in Deutschland stattfanden. Der Kampf gegen die Gentechnik gehört ebenso dazu, wie der Protest gegen energieaufwendige Vertriebssysteme für Lebensmittel. Als Alternative zu über Tausende Kilometer transportiertes Obst und Gemüse werden Bioprodukte des eigenen Garten zunehmend beliebter. Dass man dabei über den Zaun des eigenen Stadtgartens blicken kann, zeigte das globalisierungskritische Netzwerk Attac. Anlässlich des bäuerlichen Aktionstags monierte Jutta Sundermann von Attac: »Frisch mit Steuermilliarden gerettete Banken bieten Wetten auf die Preisentwicklung von Agrarrohstoffen an. Weit mehr als 100 Millionen Menschen weltweit, die wegen der Krise unter die Armutsgrenze gefallen sind, werden offenbar als Kollateralschäden hingenommen.«
Soziale Initiativen stellten Kampagnen gegen die Gesundheitspläne vor
Während die Bundesregierung an den Plänen zur Umgestaltung des Gesundheitssystems festhält, bereiten sich Gewerkschaften und soziale Initiativen auf Proteste vor.
»Die Kopfpauschale könnte zum Katalysator einer Protestbewegung werden, die noch größer wird als die Bewegung gegen Hartz IV«, sagte Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte am Dienstag in Berlin. Dort hatte sie auf Einladung der AG Gesundheitsreform des Bündnisses »Wir zahlen nicht für Eure Krise« einen Überblick über die Pläne der Bundesregierung im Gesundheitsbereich gegeben. Sie bezeichnete diese Politik als Ökonomisierung des Gesundheitswesens, in dem es noch Bereiche geben würde, die nicht vollständig der Kapitallogik unterworfen sind. Das könnte sich bald ändern. Im Pflegebereich sei die Kapitalisierung schon wesentlich weiter fortgeschritten.
Allerdings machte Rakowitz auch deutlich, dass nicht nur die Rezepte des Doktor Rösler zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens beitragen. Schon Horst Seehofer, der sich jetzt als Gegenspieler zu den FDP-Plänen feiern lässt, habe als Gesundheitsminister im Kabinett von Helmut Kohl die Weichen in Richtung Privatisierung gestellt. Die größte Verantwortung für diese Entwicklung weist Rakowitz allerdings der Politik der rot-grünen Bundesregierung zu. Als Stichpunkte nannte sie die Einführung der Praxisgebühr und die Einfrierung des Arbeitgeberanteils bei der Finanzierung des Gesundheitssystems. Daran will die FDP mit der Kopfpauschale anknüpfen.
Eine Protestbewegung solle sich nicht auf die Kostenfrage beschränken, sondern die Unterwerfung der Gesundheitspolitik unter Kapitalinteressen insgesamt kritisieren. »Gesundheit darf keine Ware sein«, kann dabei eine mobilisierungsfähige Forderung sein, weil diese Überzeugung in großen Teilen der Bevölkerung verbreitet ist. Rakowitz empfahl der Protestbewegung, an diesen Punkt auch stärker antikapitalistische Inhalte in die Bevölkerung zu tragen. »Wenn im medizinischen Bereich eine Unterwerfung unter die Kapitallogik abgelehnt ist, warum soll die dann in der Bildung oder der Arbeitswelt nicht auch infrage gestellt werden können«, fragte sie.
Auf der Veranstaltung stellten verschiedene Initiativen ihre Aktivitäten gegen die Gesundheitsreform vor. Vorreiter war der Online-Kampagnendienst Campact, dessen Unterschriftenaktion gegen die Kopfpauschale auf große Resonanz gestoßen ist. Eine Campact-Sprecherin betonte, dass die Initiative die Widersprüche in der Koalition ausnutzen will.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) will in den nächsten Wochen mit einer Kampagne gegen die Kopfpauschale beginnen. Ole Baumann vom Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, das sich um die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere kümmert, betont, dass es heute schon eine Drei- oder Vierklassenmedizin gebe. Menschen ohne Papiere würden ausgegrenzt. Die Initiative fordert eine Gesundheitsversorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.
Onlinepetition an Präsident Obama soll Leben retten
Die Entscheidung ist eine
Atempause für Mumia. Aber
damit ist sein Leben noch keineswegs
gerettet«. So kommentiert
Anton Mestin von der Berliner
Mumia-Solidarität die Entscheidung
des US-Supreme-Court vom
19. Januar 2010. Das höchste USGericht
hatte zu entscheiden, ob
der seit 1982 in der Todeszelle sitzende
schwarze Journalist hingerichtet
oder ob das Todesurteil
aufgehoben wird.
Unterstützer des Journalisten
befürchten das Schlimmste und
haben sich in den letzten Monaten
besonders intensiv um Solidarität
bemüht. Dass das Gericht
am 19. Januar kein grünes Licht
für Mumias Hinrichtung gegeben
hat, ist ein Erfolg der weltweiten
Solidaritätsbewegung. Doch gerettet
ist Mumia nach der Entscheidung
keineswegs. Im Gegenteil.
Anwalt Robert R. Bryan
sieht seinen Mandanten sogar in
einer größeren Gefahr als zuvor.
Der US Supreme Court hat eine
Entscheidung des 3. Bundesberufungsgerichtes
von 2008 aufgehoben,
die die Todesstrafe gegen
Mumia ausschloss. Der US Supreme
Court wies das Gericht an,
seine Entscheidung unter Würdigung
des Falles Smith v. Spisak
neu zu fassen. Gegen den Angeklagten
Smith war die Todesstrafe
vor dem US Supreme Court bestätigt
worden. Allerdings weist
Rechtsanwalt Robert R. Bryan darauf
hin, dass etliche juristische
Details in diesem Fall anders liegen.
Mumia, der engagierte Radiojournalist
der Black Community
war angeklagt worden, einen
weißen Polizisten getötet zu haben.
Die Solidaritätsbewegung
hat in vielen Jahren Stück für
Stück das Verfahren demontiert.
Mumia Abu Jamal hatte keinen
fairen Prozess, der zuständige
Richter war voreingenommen
und die Jury war ausschließlich
mit Weißen besetzt. Hier gäbe es
genügend Gründe für eine Neuaufnahme
des Verfahrens.
Das fordern Solidaritätsgruppen
in aller Welt. Sie sind überzeugt,
dass ein faires neuerliches
Verfahren einen Freispruch und
die Freilassung von Mumia zur
Folge hätte. Doch gegen Mumia
agieren in den USA mächtige Interessengruppen
wie die Gewerkschaft
der Polizei, die ihn noch
immer für den Polizistenmord
verantwortlich macht. Die Solidaritätsbewegung
bleibt auch nach
der neuesten Entscheidung nicht
untätig. Mit einer Onlinepetition
an US-Präsident Obama wendet
sie sich per Mausklick gegen jede
Todesstrafe. »Abu-Jamal ist weltweit
zu einem Symbol, zur ‚Stimme
der Unterdrückten’ im Kampf
gegen die Todesstrafe und andere
Menschenrechtsverletzungen
geworden. Über 20.000 Menschen
auf der Welt erwarten ihre
Hinrichtung, davon allein in den
Todestrakten der Vereinigten
Staaten über 3.000«, heißt es
dort.
Das Bündnis von Wischmob und Laptop hat seinen Zenit überschritten
Die jährlichen Mayday-Umzüge brachten am 1. Mai weltweit über einhunderttausend Menschen auf die Straße. Die Organisatoren stießen jedoch bald an ihre Grenzen.
Gehört der Vergangenheit an: Mayday-Parade in Berlin ND-
Foto: B. Lange
Die Berliner Mayday-Parade gegen prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen wird in diesem Jahr ausfallen. Seit 2006 hatte ein Bündnis sozialpolitischer, postautonomer und antifaschistischer Gruppen die Paraden organisiert, an denen sich alljährlich tausende Menschen – oft mit selbstgestalteten Musikwagen, Bannern und Transparenten – beteiligten. Daniel Weidmann von der Berliner Gruppe FelS sieht in der Selbstrepräsentation ein zentrales Anliegen der Parade. »Wir haben leere Plakate und Filzstifte verteilt, damit die Demonstranten ihre eigenen Forderungen daraufschreiben konnten.«
Das war auch das Anliegen von Tausenden Minijobbern, Praktikanten und Flüchtlingen, die zu Beginn des Millenniums in Italien und Spanien gegen prekäre Lebensverhältnisse auf die Straße gegangen sind und die Mayday-Bewegung kreiert haben. Sie war ein Kind der damals starken globalisierungskritischen Bewegung, die ausgehend von den Unruhen während der WTO-Tagung in Seattle 1999 die Gipfel von Weltbank, IWF und EU begleitete. Mit dem Mayday sollte die dort geäußerte Kritik in den Arbeitsalltag der Menschen getragen werden. Damit wollten die Aktivisten eine Repolitisierung des 1. Mai erreichen, der vor allem von den großen Gewerkschaften nicht nur in Deutschland eher als eine Maifeier als ein Kampftag gestaltet wird. Mit dem Fokus auf den Kampf gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse hatte der Mayday ein Thema gefunden, das von den großen Gewerkschaften lange Zeit vernachlässigt worden war. Das hat sich mittlerweile geändert. So haben sich in fast allen europäischen Ländern die Gewerkschaften den Kampf gegen prekäre Arbeitsverhältnisse auf die Fahnen geschrieben.
Die Mayday-Bewegung hingegen ist in ihren Ursprungsländern – wie die globalisierungskritische Bewegung insgesamt – schon vor einigen Jahren an ihre Grenzen gestoßen. Während die Paraden in Italien und Spanien schrumpften, breiteten sie sich in vielen europäischen Ländern, aber auch nach Japan und Lateinamerika, aus. Im Jahr 2004 fanden in fünf europäischen Städten Mayday-Aktionen statt, im darauffolgenden Jahr schon in über einem Dutzend Städte, darunter auch in Hamburg. Ein Jahr später hatte der Mayday Berlin erreicht. Doch auch dort stießen die Aktivisten bald auf ähnliche Probleme wie ihre Mitstreiter in den anderen Ländern. Es gelang nicht, das Prekariat zur Teilnahme an der Parade zu bewegen, geschweige denn dauerhaft zu organisieren.
»Diese Versuche sind in Berlin nach dem 1. Mai meistens wieder eingeschlafen«, meint Heinz Steinle aus der letztjährigen Vorbereitungsgruppe. Vor allem das auf Mayday-Plakaten propagierte Bündnis von Wischmob und Laptop sei in der Praxis schwierig umzusetzen gewesen. Steinle sieht in kulturellen Barrieren den Grund, dass die prekär beschäftigten Kassiererinnen oder Putzkräfte auf der Parade marginal blieben.
In diesem Jahr werden noch in drei deutschen Städten Mayday-Paraden stattfinden: In Hamburg, Bremen und erstmals in Dortmund. Auf dem Ruhrpott-Mayday wollen die Aktivisten die leeren Kassen der Städte und Gemeinden thematisieren. Wegen Geldmangels müssen Theater und andere Kultureinrichtungen schließen, während für bestimmte »Leuchtturmprojekte« im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 finanzielle Mittel vorhanden sind.
Wenn Andreas H. Apelt, ein bekennender Deutschnationaler vom rechten Rand der Union, ein Buch über die DDR-Opposition und die „deutsche Frage“ vorlegt, ist dessen Stoßrichtung von vornherein klar. Trotzdem ist das Buch interessant, wenn man sich auf die Fakten konzentriert, die der Autor anführt, und nicht auf das, was er bezweckt. Denn er mag noch so oft behaupten, die Mehrheit der DDR-Bevölkerung sei immer für die „Wiedervereinigung“ gewesen – seine Quellen sprechen eine andere Sprache. Danach gab es noch bis Dezember 1989 eine Mehrheit für eine eigenständige DDR. Erst die massive Einmischung der Bundesregierung brachte diese Mehrheit zum Kippen. Dass Apelt das begrüßt, ist nicht verwunderlich. Er gehörte selbst als Aktivist des Demokratischen Aufbruchs zu den führenden Protagonisten des rechten Flügels der Bewegung. Mit der Deutschen Gesellschaft, dem Neuen Deutschen Nationalverein und dem Deutschen Kreis stellt der Autor drei bisher wenig beachtete rechte Denkfabriken vor, die seit 1989 an der Förderung eines deutschen Nationalismus arbeiten. Das Treiben des rechten Randes in und außerhalb der Union sollte von linker Seite genauer betrachtet werden. So wie es Anfang der 1980er Jahre Linke in der BRD taten, die sich kritisch mit nationalistischen Positionen in Teilen der mit der DDR-Dissidentenszene verbandelten Alternativbewegung auseinandergesetzt haben. Bei Apelt finden diese Aktivitäten eine ausführliche Würdigung. Unter anderem erwähnt er von westdeutscher Seite Figuren wie Alfred Mechtersheimer, Rolf Stolz, Herbert Ammon und Theodor Schweisfurth, die nicht nur als Autoren der Jungen Freiheit fest im rechten Lager verankert sind.
Andreas H. Apelt: Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage 1989/90. Christoph Links Verlag, Berlin 2009. 344 Seiten, 34,90 EUR
Die bibelfesten GlobalisierungskritikerInnen von Turbulence sind ungeduldig und suchen einen Schleichweg ins Paradies. So könnte man ihren in ak 546 unter der Überschrift “Life in Limbo” veröffentlichten Beitrag zusammenfassen. Tatsächlich beschreiben sie präzise die Ernüchterungen des aktionsorientierten Teils der GlobalisierungskritikerInnen, zu denen Turbulence gehörte. Die Hoffnungen, die in manchen Kreisen nach Seattle und Genua in die “Bewegung der Bewegungen” gesetzt wurden, sind zerstoben. In Deutschland konnte durch die Mobilisierung nach Heiligendamm 2007, an der Turbulence-AktivistInnen beteiligt waren, die Krise der Bewegung in all ihren Fraktionen länger ignoriert werden. In Italien, das zu Beginn des Millenniums das große Vorbild der GlobalisierungskritikerInnen war, hatte sich der Zerfall schon lange bemerkbar gebracht. Von den bewegungsorientierten Disobbedienti ist heute genau so wenig zu hören und zu sehen wie von der ehemaligen Parlamentspartei Rifondazione Comunista. Dabei wäre es zu einfach, dem Berlusconi-Regime die Verantwortung für den Niedergang zu geben. Umgekehrt haben Berlusconis Wiederwahl und der Niedergang der globalisierungskritischen Bewegung die gleichen Ursachen: den Zerfall politischer Milieus und die damit verbundene weitgehende Individualisierung der Gesellschaft. Dieser Prozess vollzieht sich in den verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Intensität und ist in der Regel mit dem Machtverlust der Gewerkschaften und der organisierten Lohnabhängigen verbunden. Die globalisierungskritische Bewegung wollte mit ihren Gipfelprotesten diesen Verlust der Arbeiterautonomie kompensieren. Einige Jahre schien das auch zu klappen. Doch tatsächlich war es eine Scheinlösung. Die Gipfelproteste wurden von einer kleinen Schicht, meist junger, sehr flexibler Menschen getragen, die sich für einige Jahre als VollzeitaktivistInnen betätigten und von Event zu Event reisten. Diese Art des Aktivismus war nur für eine kurze Zeit durchzuhalten. So mussten die Gipfelproteste a la Seattle und Genua bald an Grenzen stoßen. Die staatliche Repression beschleunigte diesen Prozess. Das wurde von großen Teilen der Bewegung auch erkannt. Schließlich begleitete die globalisierungskritische Bewegung ständig eine kritische Debatte um das Event-Hopping. Das ist der Hintergrund auch des Turbulence-Beitrags, dessen nüchterne Auseinandersetzung mit manchen Bewegungsmythen ebenso zu begrüßen ist wie die kritische Auseinandersetzung mit dem Antiinstitutionalismus der Bewegung der Bewegungen. Reformistische Positionen gibt es sowohl in den Bewegungen wie auf institutioneller Ebene. Doch diese falsche Gegenüberstellung lösen die VerfasserInnen dadurch auf, dass sie dafür eintreten, künftig das zu machen, was ein Großteil der NGOs schon seit langem als ihre Aufgabe ansieht: eine kritische Begleitung der Politik. Diese Antwort auf die Krise der Bewegung haben in den letzten Jahren individuell schon viele AktivistInnen gegeben, indem sie eben ihre früheren Aktivitäten zum Beruf machen. In der entscheidenden Frage der Organisierung an der Basis gehen die AutorInnen nicht kritisch genug mit den Mythen der GlobalisierungskritikerInnen ins Gericht. Widerstand am Arbeitsplatz, sei es in der Fabrik oder im prekären Bereich, kommt bei ihnen ebenso wenig vor wie Erwerbslosenproteste oder andere Organisierungsprozesse, die auf die Gesellschaft Auswirkungen haben und die institutionelle Politik durch Druck beeinflussen. Wenn die AutorInnen auf die gesellschaftlichen Prozesse in Bolivien und Ecuador verweisen und dabei das Augenmerk auf die Entstehung einer neuen Verfassung richten, erwähnen sie nicht, dass solche Entwicklungen nur möglich waren, weil es in diesen Ländern in den vergangenen Jahren erfolgreiche Organisierungsprozesse von ArbeiterInnen, Frauen und Indigenen gab. In den europäischen Ländern stellt sich heute in erster Linie die Frage, wie solche Organisierungsprozesse zustande kommen können. Wenn diese Frage ignoriert wird, bleibt tatsächlich nur die alternative Politikberatung, und aus den frechen AktivistInnen werden brave NGOs.
Eine rechtskonservative und eine ultrarechte Partei gingen als Sieger aus der ersten Runde der ungarischen Parlamentswahlen hervor Mit 53% erreichte der ungarische Bürgerbund Fideesz um Victor Orban die prognostizierte absolute Mehrheit. Die neoliberal gewendete Exkommunisten MSZP verloren mehr als die Hälfte der Stimmen und stürzten von fast 46 Prozent auf ca. 19,3 % Prozent ab. Damit liegen sie aber noch knapp vor den Rechtsextremisten von Jobbik, die mit einer Hetze gegen Roma, Juden und andere Minderheiten aus dem Stand großen Erfolg hatte. Dabei ist ihr kruder Antisemitismus besonders auffallend. So behaupten Jobbik-Funktionäre in der Wahlpropaganda, dass Juden ungarische Banken, die Wirtschaft und das ganze Land aufkaufen würden. Die Parteien der 1989er Wende, das Ungarische Demokratische Forum (MDF) und die Freien Demokraten (SZDSZ) scheiterten an der 5 %-Hürde und werden nicht mehr im Parlament vertreten sein. Dafür zieht mit der neugegründeten ökologisch orientierten Liste „Politik kann anders sein“ eine Partei mit 7,4 % ins Parlament ein, die zum Auffangbecken enttäuschter Linker und Linksliberaler geworden ist. Bei der zweiten Wahlrunde am 25. April könnte der Bürgerbund sogar die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit der Mandate bekommen. Dann wird in den Wahlkreisen abgestimmt, in denen es in der ersten Runde keine klaren Sieger gab. Orban hatte schon während des Wahlkampfes angekündigt, die Ungarn werden nach dem Wahlabend in einem anderen Land aufwachen. Das können Linke und gesellschaftliche Minderheiten durchaus als Drohung verstehen. Obwohl die Orban-Partei mit der hiesigen Union verglichen wird und auch von deutschen Christdemokraten als Vorbild gesehen und von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird, hat diese Partei einen offen antisemitischen und völkischen Flügel. Der rechte Wahlsieg könne auch zu vermehren Konflikten mit Ungarns Nachbarländern, vor allem mit der Slowakei und Rumänien führen, weil die neue Mehrheit die dort lebenden Ungarn für ihre Interessen einspannen will. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Bürgerunion ihre nationalistische Rhetorik als Regierungspartei mäßigt, was allerdings wiederum Jobbik zugute käme, die sich als kompromisslose Rechte außerhalb der Regierung gerieren kann.
aufgefallen
Kaum Interesse an AKW-Unfällen
Frankreich gilt als das Eldorado der Atomindustrie. Fast 80 Prozent des Stroms wird dort in AKW produziert. Doch von den 58 Atomkraftwerken in unserem Nachbarland sind längst nicht alle in Betrieb. Das ist das Ergebnis des vor wenigen Tagen veröffentlichten Jahresberichtes der Französischen Behörde für Nukleare Sicherheit (ASN). Das Fazit des Berichts: Im Beobachtungszeitraum sei nichts Dramatisches passiert. Die französische Regierung liest dies als Bestätigung ihres Pro-Atomkraft-Kurses. Frankreich hat zwei Druckwasserreaktoren der neuen Generation (EPR) in Auftrag gegeben und denkt über den Bau einer vierten Reaktorgeneration nach.
Die grüne Senatorin Marie Blandin bezeichnet diese Interpretation als grotesk. Denn immerhin verzeichnet der Report mit 795 AKW-Zwischenfällen den höchsten Wert seit fünf Jahren. Auch die 95 Störungen der Alarmstufe eins stellen einen Spitzenwert dar. Erstmals seit fünf Jahren war auch ein Störfall der Alarmstufe zwei zu vermelden. Treibgut auf der Rhône hatte eine Wasserleitung im Kühlsystem des Atomkraftwerks Cruas verstopft. Ungeklärt ist bisher auch die Herkunft von 39 Kilogramm Plutonium, das beim Abbau des südfranzösischen Forschungszentrums Cadarache gefunden wurde.
In Deutschland würde dergleichen zu einer großen öffentlichen Debatte führen und die Atomlobby in Erklärungsnöte bringen. In Frankreich hingegen sorgte der Bericht außerhalb der kleinen Umweltbewegung für wenig Aufsehen.
Vielleicht aber könnte der Bericht die länderübergreifende Kooperation der AKW-Gegner stärken, die auch schon mal intensiver war. So protestierten im Frühjahr 1986 Tausende Menschen gegen das AKW Cattenom in der deutsch-französischen Grenzregion. Als kürzlich im Rahmen einer Notstandsübung ein GAU in Cattenom simuliert wurde, verschliefen die AKW-Gegner das. Dabei ging Cattenom allein im März 2010 wegen technischer Probleme zwei Mal vom Netz.
Gewerkschafter: Konzern missachtet Gewerkschaftsrechte in den USA
In den USA sind die Rechte der Arbeitnehmer und Gewerkschafter teilweise weit weniger gesichert als hierzulande. Diesen Umstand machen sich anscheinend zunehmend auch deutsche Unternehmen wie die Telekom zunutze.
»Seit Beginn der Geschäftsstätigkeit von T-Mobile auf dem US-amerikanischen Markt im Jahr 2001 hat das Unternehmen durch wiederholte Belästigungen und Einschüchterungen von Angestellten, die sich für eine gewerkschaftliche Vertretung einsetzen, auf sich aufmerksam gemacht«, klagte Larry Cohen am Freitag auf einer von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di organisierten Pressekonferenz die Deutsche Telekom an. Cohen ist Vorsitzender der US-amerikanischen Telekommunikationsgewerkschaft CWA, die 700 000 Angestellte in der Medien- und Telekommunikationsbranche vertritt.
Nach Angaben von Cohen bedient sich die Telekom bei ihrem Vorgehen der Schlupflöcher im aktuellen US-amerikanischen Arbeitsrecht, die Antigewerkschaftskampagnen seitens des Managements zulassen. »Uns ist bewusst, dass T-Mobile gegen Gewerkschaftsunterstützer eine Aggressionspolitik betreibt, die in Deutschland oder anderen europäischen Ländern nicht gebilligt werden würde«, erklärte der US-Gewerkschaftler. Die Einschüchterung erzeuge bei den Beschäftigten ein Klima der Angst. Deshalb sei auf einer Pressekonferenz in Washington ein Telekom-Mitarbeiter nur verkleidet bereit gewesen, über die Einschüchterungen zu berichten. Er befürchtete, bei einer Identifizierung abgestraft zu werden.
Der Direktor für Arbeitsforschung an der San Francisco State Universität, John Logan, hat die Arbeitsbedingungen bei den Telekom-Filialen in den USA untersucht. Dazu wertete er zahlreiche Unternehmenshandbücher aus und sprach mit Mitarbeitern verschiedener Telekom-Standorte in den USA. Logan präzisierte die Vorwürfe der Behinderung der Gewerkschaftsarbeit. Er sprach von »einem Jahrzehnt der Gewerkschaftsverweigerung« durch ein deutsches Vorzeigeunternehmen. »Die Deutsche Telekom nutzt die Kanzlei Proskauer Rose, eine berüchtigte Firma, die auf die Vermeidung von Gewerkschaften spezialisiert ist«.
Die vom Bildungsfonds für Arbeitsrechte (American Rights at Work Education Fund) in Auftrag gegebene und von Logan erarbeitete Studie zu den Telekom-Praktiken wirft der Firma einen Doppelstandard vor: »Einerseits die Respektierung von Arbeitnehmerrechten und eine enge Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ver.di in Deutschland, anderseits die Missachtung von Arbeitnehmerrechten und die Einmischung in ihr Recht, sich zu organisieren, in den Vereinigten Staaten.«
Logan betonte, dass es sich bei den gewerkschaftsfeindlichen Aktionen nicht um isolierte Maßnahmen einzelner Manager, sondern um »eine zentrale und systematische Politik« handele. Er rief die Telekom auf, die die Sozialcharta verhöhnenden Praktiken aufzugeben. Auch der Leiter des internationalen Gewerkschaftsdachverbandes UNI, Marcus Courtney, forderte von der Telekom die Einhaltung internationaler Arbeitsrechte.
Als eins ihrer Hauptanliegen sehen es die Gewerkschafter an, die Unterschiede im Umgang mit Mitarbeitern abzubauen, die Unternehmen zwischen ihren Stammländern und den USA machen. Die Kooperation mit ver.di soll dabei Hilfestellung geben. Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger wies die Vorwürfe dagegen zurück, sprach in einer Mitteilung von einer »organisierten Kampagne«.