»Gemeinsamkeiten betonen«


Der in Berlin-Neukölln lebende Psychologe und Soziologe Kazim Erdogan über Männergewalt, Jihadismus und Prävention

Ihnen wurde in der Presse schon mal der Titel »Kalif von Neukölln« verliehen, weil Sie den Verein »Aufbruch Neukölln« gegründet haben. Welche Ziele verfolgen Sie damit?

Ich wollte mich für benachteiligte Familien in Neukölln einsetzen. Es ging mir dabei nicht nur um Familien mit Migrationsgeschichte, sondern um alle Familien, in denen es generell Probleme gibt, die Beratung im Bereich Erziehung und Bildung benötigen.

Warum haben Sie in Ihrem Verein auf die Einrichtung von Vätergruppen so großen Wert gelegt?

Wir müssen die Väter bei der Erziehung und Bildung mit ins Boot holen. Gerade die Jungen brauchen ihre Väter als Vorbilder. Wir wollen, dass die Väter und Männer in allen gesellschaftlichen Bereichen mehr mitwirken. Deshalb haben wir die Vätergruppen gegründet. Wir treffen uns jede Woche und reden über alle Themen, die im Leben eines Menschen eine Rolle spielen. Wir sprechen über Kindererziehung und Gewalt. Aber auch über Begriffe wie Ehre, Erziehung, die Rolle der Frau, des Islams und des Christentums und über das leidige Thema »Integration«, was ich ja als Integration gar nicht bezeichnen will. Wir reden über Inklusion und Partizipation und gesunde Ernährung. Wir laden aus unterschiedlichen Institutionen Fachleute ein, die aufklären. Es gibt also kein Tabuthema, das wir nicht behandeln.

Bei Ihnen haben Männer das Weinen gelernt, heißt es. Wie erreichen Sie das?

Wenn Männern, die für Gewalt in der Familie verantwortlich sind, klar wird, was sie den Menschen angetan haben, dann kann es vorkommen, dass sie weinen. Es bedarf allerdings einer bestimmten Gesprächsatmosphäre, damit sich die Männer öffnen und die Vorwürfe an sich heranlassen. Oft gelingt das nicht, oft bleiben sie hart wie ein Stein am Berg Ararat.

Können Sie sich vorstellen, auch eine Atmosphäre zu schaffen, die überzeugte Islamisten zum Weinen bringt?

Bei einem überzeugten Islamisten ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn zur Umkehr bewegen kann, kleiner als bei einem Mann, der Gewalt in der Familie ausgeübt hat. Doch auch das schließe ich nicht aus. Dazu bedarf es einer längeren intensiven Arbeit mit den Menschen. Die Gespräche müssen auf gleicher Augenhöhe und in einer Sprache geführt weden, die die Betroffenen verstehen.

Kamen schon Islamisten zu Ihren Gesprächsveranstaltungen?

Ja, das ist schon öfter geschehen. Erst in der letzten Woche sprach ich mit zwei jungen Muslimen, die sich innerhalb weniger Wochen radikalisiert haben. Sie haben sich innerhalb kurzer Zeit von der weltlichen Gesellschaft abgewandt und nur noch den Koran als gültige Instanz akzeptiert. Natürlich kann man mit wenigen Gesprächen keine Veränderung bewirken.

Wie erklären Sie es sich, dass junge Menschen, die oft eine sehr weltliche Lebensweise hatten, auf einmal radikale Islamisten werden?

Videos im Internet und manche Moscheen sorgen dafür, dass sich junge Menschen innerhalb kurzer Zeit radikalisieren können. Wenn man einem benachteiligten Menschen sagt, du bist benachteiligt, weil du Muslim bist, kann diese Hinwendung zur Religion sehr schnell gehen. Wenn man den jungen Menschen schließlich zu überzeugen versucht, dass das wahre Leben im Jenseits beginnt und dass sie für Gott das irdische Leben opfern sollen, dann kann man manche von ihnen beeindrucken. Viele dieser Menschen haben ein geringes Selbstwertgefühl und das begünstigt die Hinwendung zur Religion.

Sie sprechen von benachteiligten Menschen. Aber haben nicht einige Attentäter studiert und hätten durchaus Karriere machen können?

Nein, dieser Eindruck täuscht. Tatsächlich kommen die meisten der jungen Leute, die Jihadisten werden, aus benachteiligten Familien. Durch die Attentäter vom 11. September 2001 ist weltweit der falsche Eindruck entstanden, dass es sich vor allem um Studenten handelt. Aber das war eine Ausnahme. Für das Attentat wurden Männer mit Flugkenntnissen gebraucht. Doch um Flugunterricht zu nehmen, ist das Abitur eine Voraussetzung. Das trifft aber nicht auf die Mehrheit der jungen Islamisten zu.

Warum ist der Jihadismus auch für junge Frauen attraktiv, obwohl sie dort all ihrer Rechte beraubt werden?

Tatsächlich ist die Zahl der jungen Frauen, die sich von den Islamisten rekrutieren lassen, in der letzten Zeit gestiegen. Sie werden mit Jihadisten verheiratet und wollen sich als Frauen von Märtyrern darstellen. Auch für sie gilt, dass sie sich in ihrem alten Leben benachteiligt fühlten. Auch wenn ihre Zahl gestiegen ist und es in letzter Zeit eine größere Aufmerksamkeit für diese Frauen gibt, sind es doch weiterhin hauptsächlich Männer, die sich rekrutieren lassen. Die sind leichter bereit, als Helden für den Islam zu sterben.

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um junge Menschen gegen solche Rekrutierungsmethoden zu immunisieren?

Wir müssen in die Bildungseinrichtungen gehen, um die jungen Menschen zu erreichen, bevor neue Attentate passieren. Wenn wir immer erst nach solchen Vorfällen reagieren, ist es zu spät. Wir reden immer so viel über Prävention und warten ab, bis der nächste Vorfall passiert. Wir sollten weniger in Talkshows über die jungen Islamisten reden und mehr mit ihnen, dort wo sie leben.

Sind da nicht auch die islamischen Verbände und Moscheen gefragt, wo viele dieser jungen Menschen sich aufhalten?

Ich appelliere seit langen an diese Einrichtungen, nicht nur einmal im Jahr einen Tag der offenen Tür zu veranstalten. Das ganze Jahr über sollten Moscheen und Vereine ihre Türen offen halten. Zudem sollten sie den Schulterschluss mit anderen Religionsgemeinschaften suchen. Sie sollten weniger von »ihr« und »wir« reden, sondern die Gemeinsamkeiten betonen. Wir sind nicht in erster Linie Christen, Muslime und Juden, sondern Menschen.

Nach den islamistischen Anschlägen in Paris weigerten sich Schüler in Frankreich, an den Gedenkveranstaltungen für die Opfer teilzunehmen. Halten Sie Sanktionen bis zum Schulverweis für den richtigen Weg?

Solche Sanktionen werden kaum dazu führen, dass sich die jungen Leute von den islamistischen Organisationen trennen. Man sollte die Menschen in erster Linie mit Worten überzeugen. Ich würde die Schüler nach den Gründen fragen, warum sie sich nicht an den Gedenkveranstaltungen beteiligten, um sie dann in eine argumentative Auseinandersetzung zu bringen. Damit erreiche ich mehr als durch Sanktionen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/06/51396.html

Peter Nowak

»Die Empörung ist recht groß«

Konferenz »Hände weg vom Streik« wendet sich gegen das neue Tarifeinheitsgesetz

Hände weg vom Streikrecht fordert eine Tagung am Wochenende in Kassel. Die Zeit drängt: Bereits im März will der Bundestag ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Gewerkschafter warnen, dass der Arbeitskampf dadurch behindert werde.

Jakob Schäfer ist Mitglieder der IG Metall und aktiv im Arbeitsausschuss der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken. Er gehört zu den Organisatoren der Aktionskonferenz »Hände weg vom Streikrecht«, die am Samstag in Kassel stattfindet.

Die Bundesregierung will mit einem neuen Gesetz zur Tarifeinheit das Streikrecht für kleinere Gewerkschaften erheblich einschränken. Wie weit ist Schwarz-Rot damit?
Für Anfang März ist die erste Lesung des Tarifeinheitsgesetzes vorgesehen, für den 23. 3. die öffentliche Anhörung im Ausschuss »Arbeit und Soziales« und für den 26.3. die zweite und dritte Lesung.

Innerhalb der DGB-Gewerkschaften gibt es Befürworter und Gegner der Gesetzesinitiative. Haben Sie Kontakt zu den Gegnern und werden sie an dem Kongress teilnehmen?
Ver.di, NGG und GEW haben sich entschieden gegen dieses Gesetzesvorhaben positioniert. Eine ganze Reihe von ver.di-KollegInnen hat sich für die Konferenz angemeldet. Aber es werden auch Mitglieder der IG Metall da sein. Die Empörung über die Zustimmung des IG Metall-Vorstands zu diesem Gesetzesvorhaben ist in den Reihen meiner Gewerkschaft, der IG Metall, recht groß.

Gibt es Kontakte außerhalb des DGB wie zur Basisgewerkschaft FAU oder zu den Lokführern der GDL?
Unser Aktionsbündnis gibt es seit dem ersten Versuch im Jahr 2011, ein solches Gesetz einzuführen. Seitdem gibt es den Kontakt zur GDL. Die ist aber zurzeit durch ihre Tarifrunde stark in Beschlag genommen, so dass wir nicht wissen, ob sie Vertreter schicken kann. Die FAU ist von Anfang an in dem Bündnis aktiv dabei. Schließlich ist sie ja in ihren basisgewerkschaftlichen Aktivitäten direkt und indirekt betroffen.

Während der GDL-Streiks Ende 2014 spielte das Thema Tarifeinheit eine große Rolle. Hat dieses Interesse sich auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Durch die GDL-Streiks wurde die praktische Bedeutung dieses Gesetzesvorhabens unmittelbar deutlich. Eine Gewerkschaft, die zumindest etwas kämpferischer für die Interessen ihrer Mitglieder eintritt, soll faktisch ausgeschaltet werden. Damit ist so manchen unserer KollegInnen klarer geworden, worum es eigentlich geht.

In den letzten Wochen wurden mehrere Streikzeitungen herausgegeben, die sich gegen die Tarifeinheit wandten. Soll dieses Projekt fortgesetzt werden?
Die Streikzeitung hat mit ihren drei Nummern und einer Auflage von mehreren Zehntausend einen tollen Beitrag zur Aufklärung in Sachen Tarifeinheit und zur Organisierung der Solidarität mit den GDL-KollegInnen geleistet. Ob es zu weiteren Ausgaben kommt, hängt vom Verlauf der Tarifverhandlungen ab. Ich verweise auf die ausgezeichnete Website der Streikzeitung: pro-gdl-streik14.de.

Die Bundesregierung plant mit der Einführung von Zwangsschlichtungen und der Sicherung der Daseinsfürsorge weitere Einschränkungen gewerkschaftlicher Rechte. Können Sie diese Pläne präzisieren?
Am weitesten ausgeführt sind diese Vorstellungen in einem Gesetzentwurf, den die Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Stiftung vorgelegt hat. Darüber wurde der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Arnold Vaatz in den Stuttgarter Nachrichten vom 2. April 2014 mit dem Satz zitiert: »Die Schäden, die ein Arbeitskampf auslöst, müssen im Verhältnis zum Anlass stehen.«

Gewerkschaftsrechte werden in vielen Ländern eingeschränkt. Werden auch Gewerkschafter von anderen Ländern auf der Konferenz anwesend sein?
Durch die Mitarbeit der Streikrechtsinitiative »tie germany« im Europäischen Netzwerk der BasisgewerkschafterInnen gibt es einen ständigen Austausch über die Situation in den verschiedenen europäischen Ländern. Auf dem letzten Treffen in Toulouse im Oktober 2014 wurde ausführlich über die Streiks und das geplante Tarifeinheitsgesetz informiert.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/959487.die-empoerung-ist-recht-gross.html

Interview: Peter Nowak

Er hatte das Pech, sich in eine FBI-Agentin zu verlieben

Der Fall von Eric McDavid sollte auch hierzulande Anlass sein, die Rolle der Geheimdienste bei der Kriminalisierung kritischer zu betrachten

Fast 10 Jahre war Eric McDavid[1] inhaftiert. Als er kürzlich aus dem Gefängnis von Sacramento entlassen[2] wurde, strahlte er über das Gesicht. Denn eigentlich war der Ökoanarchist im Jahr 2008 zu einer Freiheitsstrafe von 19 Jahren und 7 Monate verurteilt worden.

Vorgeworfen wurde ihm eine ökoterroristische Verschwörung. Konkret soll er Attentate gegen Handymasten, Forschungseinrichtungen und Staudämme geplant haben. Dabei handelt es sich um Objekte, die bei einer größeren ökoanarchistischen Szene[3] in der Kritik stehen. Bomben hatte McDavid nie gelegt. Seine Verurteilung basiert im Wesentlichen auf Briefen, die er mit seiner vermeintlichen Freundin gewechselt hatte, die in Wirklichkeit eine FBI-Agentin war und für ihren Job 65.000 US-Dollar bekam.

Doch die 17-jährige Frau, die im Anarcholook in der US-Szene auftauchte, war nicht nur eine stille Beobachterin. Sie muss es verstanden haben, idealistische junge Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeiten engagieren und die sich abseits von Großdemonstrationen engagieren wollten, zu motivieren. Sie organisierte eine ökoanarchistische Gruppe. Die Autos, mit denen sie die weit entfernt wohnenden Menschen zusammenbrachte, waren vom FBI verwanzt. Wenn die drei jungen Menschen Zweifel an der Aktion hatten, war es die FBI-Agentin, die sie antrieb. Eric McDavid erpresste sie regelrecht damit, dass erst die revolutionären Aufgaben erfüllt werden müssten, bevor eine romantische Beziehung infrage komme.

Dazu kam es nie. Denn nachdem die FBI-Agentin die Materialien zum Bombenbau geliefert hatte, ließ sie das Trio auffliegen. Schließlich war nun Gefahr im Verzuge. Für die jungen Aktivisten war es ein doppelter Schock. Eine angebliche Genossin entpuppte sich als FBI-Agentin, die alle ihre Schritte mit dem Geheimdienst abgestimmt hatte. Auch die Liebesbriefe zwischen ihr und McDavid wanderten zum Geheimdienst. Zudem drohten ihnen nun langjährige Haftstrafen. Daher erklärten sich zwei der Angeklagten schuldig im Sinne der Anklage und belasteten McDavid, der ein Schuldgeständnis ablehnte. Dafür wurde ihm die fast 20jährige Haftstrafe aufgebrummt, während seine Gruppenmitglieder geringe Gefängnisstrafen bekamen.

Eine kleine Gruppe hatte die Forderung nach der Freilassung von McDavid nie aufgegeben. Eine seiner Freundinnen sorgte auch für seine Freilassung. Sie bemühte sich beharrlich um die zurückgehaltenen FBI-Dokumente, darunter die Liebesbriefe, die sich die FBI-Agentin und McDavid schrieben. Während des Verfahrens hatte das FBI gegenüber seinen Anwalt bestritten, dass es diese Briefe überhaupt gibt. Nun wurde offensichtlich, in welcher Weise das FBI die angebliche Terrorgruppe überhaupt erst geschaffen hat. Es scheint vor allem darum gegangen sein, kritische Menschen zu kriminalisieren.

Hunderte weitere Menschen wurden unter ähnlichen Umständen verurteilt

Nach McDavids Freilassung erinnerte die Freundin in einen Brief[4]daran, dass nach dem 9.11. zahlreiche Menschen auf ähnliche Weise zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

We are anxious to celebrate! But we also must remember that Eric’s case is just one among many – and it is by no means the most egregious. Since 9/11 the state has engaged in political prosecutions of hundreds of people in this country – the majority of them from Muslim communities – for their religious and political affiliations. And our comrades continue to be targeted and arrested for daring to dream. We are overjoyed that Eric is coming home. But we also know that we must never rest until all are free.

Diese Sätze sind sicher in einer Zeit nicht populär, wo nach den dschihadistischen Anschlägen in großen Teilen der Öffentlichkeit die Devise gilt, der Staat müsse Härte zeigen. Doch damit wird unterschlagen, dass oft junge Menschen in eine Falle gelockt und über Jahre weggesperrt werden.

Das aktuelle Beispiel ist er wenige Tage alt. Der 20jährige Christopher Lee Cornell, der sich auf Twitter als Sympathisant des „Islamischen Staats“ dargestellt hatte, hatte im Internet einen FBI-Agenten, der sich als Gesinnungsfreund ausgab, von einem geplanten Anschlag berichtet[5], heißt es in den Meldungen[6], die oft kaum kritisch hinterfragt werden. Festgenommen wurde er, nachdem er sich eine Schusswaffe und Munition gekauft hatte.

Der Fall McDavid macht misstrauisch. Was genau hat der junge Mann gesagt und welche Rolle spielte der FBI-Mann? Hat der ihn vielleicht erst auf die Bomben und wie er sie beschaffen kann, hingewiesen? Das geht aus der Anklage[7] nicht näher hervor. Schließlich ist es für eine Verurteilung nötig, dass der Beschuldigte mehr als nur vage Bekundungen, einen Anschlag zu planen, äußert. Wenn dann ein vermeintlicher Freund im Internet auftritt, mit angeblichen Kontakten angibt und weitere Details beisteuert, wird aus solchen vagen Plänen schnell die konkrete Vorbereitung eines Anschlags, was für eine langjährige Verurteilung nötig ist.

Nach diesem Muster[8] sind in den letzten Jahren zahlreiche Verurteilungen junger Islamisten abgelaufen (Das FBI als Terrorhelfer[9], Wie man einen Terroristen macht[10]). Meist suchten sie Kontakt im Internet und stießen auf Gesinnungsfreunde, die sich als FBI-Agenten entpuppten. Natürlich könnte man einwenden, hier sei Schlimmeres verhindern wurden. Was wäre gewesen, wenn diese jungen Islamisten im Internet nicht auf Geheimdienstler, sondern auf tatsächliche Gesinnungsfreunde gestoßen wären?

Dieser Einwand kann nicht einfach beiseite gewischt werden. Denn tatsächlich handelt es sich bei den Menschen, die im Internet Kontakte suchen, oft schon um Islamisten. Doch der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel. Man muss mit der Gegenfrage antworten, was geschehen wäre, wenn die jungen Islamisten im Internet auf vermeintliche Gesinnungsfreunde gestoßen wären, die aber kein Interesse haben, sie über Jahre wegzusperren, sondern die den Zweifel an in ihnen wachrufen wollen? Schließlich handelt sich bei jungen Menschen, die im Internet nach Unterstützung für einen Anschlag suchen, nicht um ideologisch gefestigte Menschen, die eine Gruppe hinter sich haben.

Wenn dann der Geheimdienst den jungen Menschen überhaupt erst die Mittel an die Hand gibt, die sie zu einer terroristischen Gefahr machen würden, wenn sie nicht verhaftet werden, handelt es sich endgültig nicht mehr um Gefahr im Verzug, sondern um eine Radikalisierung, die vom FBI orchestriert und dann kontrolliert an die Justiz übergeben wird. Gerade in einer Zeit, in der die Gefahr vor islamistischen Anschlägen durchaus real und keineswegs von Geheimdiensten erfunden wurde, ist es wichtig, auch für die Einhaltung der Menschenrechte der Beschuldigten einzutreten. Das gilt in den USA genau so wie in allen anderen Teilen der Welt. In den letzten Tagen war immer wieder die Rede davon, dass vermeintliche Islamisten festgenommen wurden, wesentlich geringer ist die öffentliche Resonanz, wenn sie wie jetzt in Belgien wieder freigelassen werden mussten, weil die Beschuldigungen so schwerwiegend nicht sind.

Erinnerungen an den Agenten Mark Kennedy

Der Fall McDavid hätte durchaus auch in Deutschland passieren könnten. Er erinnert an den britischen Agenten Mark Kennedy, der auch in Deutschland in linken Zusammenhängen aktiv war (Grenzüberschreitende Spitzel[11]). Auch er hat vor allem globalisierungskritische und ökoanarchistische Strukturen infiltriert und ist dabei gezielt in Absprache mit den Geheimdiensten eine Liaison mit Aktivistinnen eingegangen. Mehrere der betroffenen Frauen führen seit Jahren eine juristische Auseinandersetzung mit den verantwortlichen Geheimdiensten.

Bis heute ist nicht klar, ob es je zu einer Anklage kommt, weil die Geheimdienste alles tun, um einen öffentlichen Prozess zu verhindern. Eine der betroffenen Frauen hat kürzlich in einen Interview[12] ihre Beweggründe für die juristischen Schritte erklärt und kritisiert auch die Berichterstattung der meisten Medien:

Vom ersten Tag an waren Journalisten heiß auf diese Geschichte. Das Problem ist: Es geht nicht um den Sex, es ist keine James-Bond-Story. Es geht um etwas ganz anderes: Mein Leben wurde zum Gegenstand einer staatlichen Invasion. So viel von dem, was ich lebte, stellte sich als Lüge heraus. Es ist irreal. All die Jahre verschwinden, alles verschwindet. Der Blick auf dein Leben verändert sich komplett. Es ist schwer, wieder Vertrauen aufzubauen.

Über ihren vermeintlichen Geliebten, den sie als Mark Stone kennenlernte, schreibt die Frau:

Diese Figur gibt es nicht. Mark Stone war keine Person. Er wurde erfunden. Er bekam Pässe und einen Führerschein, hatte Befehle, reagierte auf Anweisungen. Seine Chefs haben operative Entscheidungen über mein Leben geführt. Sie haben entschieden, ob wir zusammen zu Abend essen. Er war keine Person, er war das Werkzeug.

Diese eindrücklichen Worte bekommen durch den Fall McDavid noch eine zusätzliche Bestätigung. Es ist auch ein Plädoyer dafür, gerade in Zeiten der weltweiten Verunsicherung nicht in scheinbar kurzen Prozessen, harten Strafen und der Staatsgewalt die Lösung von Problemen zu sehen.

http://www.heise.de/tp/artikel/43/43896/1.html

Anhang

Links

[1]

http://supporteric.org/

[2]

http://supporteric.org/updates.htm#ericisfree

[3]

http://earth-liberation-front.com/

[4]

http://supporteric.org/updates.htm#ericisfree

[5]

http://www.washingtonpost.com/world/national-security/ohio-man-arrested-in-alleged-plot-to-attack-capitol/2015/01/14/044e9ca8-9c36-11e4-96cc-e858eba91ced_story.html

[6]

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-01/usa-anschlag-kapitol-vereitelt

[7]

https://s3.amazonaws.com/s3.documentcloud.org/documents/1502448/criminal-complaint-for-islamic-state-sympathizer.pdf

[8]

http://www.washingtonpost.com/national/details-on-fbi-sting-operations-since-2001-terror-attacks/2015/01/15/bff79b52-9cfa-11e4-86a3-1b56f64925f6_story.html

[9]

http://www.heise.de/tp/artikel/42/42333/

[10]

http://www.heise.de/tp/artikel/37/37645/

[11]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33938/

[12]

http://www.taz.de/!152839/

»Die soziale Frage hinter Gittern aufwerfen«

Im Mai 2014 wurde in der JVA Tegel in Berlin die Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet. Oliver Rast ist einer der Gründer und seit dem Ende seiner Haftzeit Sprecher der Gewerkschaft. Er ist seit Jahren in der radikalen Linken aktiv. 2011 wurde Rast wegen angeblicher Mitgliedschaft in der »militanten gruppe« zu eine dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Mit ihm sprach die Jungle World über die Arbeit der Gefangenengewerkschaft und Möglichkeiten der Organisation von Häftlingen.

In jüngst veröffentlichten Beiträgen aus Ihrer Anfangszeit in der JVA Tegel schreiben Sie, dass der Klassenkampf hinter Gittern vorbei sei. Die Individualisierung sei so groß, dass Inhaftierte eher mit der Anstaltsleitung paktierten, als sich untereinander zu solidarisieren. Sind Gefangenenproteste passé?

Als ich im Mai 2013 vom sogenannten offenen in den geschlossenen Vollzug verfrachtet wurde, wurde ich erstmal mit der Situation konfrontiert, dass vom pulsierenden Klassenkampf hinter Gittern nichts wahrzunehmen war. Als jemand, der in den achtziger Jahren politisch sozialisiert wurde, musste ich nun kapieren, dass die Zeiten der Knastkollektive politischer Gefangener und breit getragener Kampagnen für deren Forderungen vorbei sind. Ich musste die Bilder, die sich in meiner Vorstellungswelt festgesetzt hatten, wegräumen, um einen klareren Blick auf die Verhältnisse vor Ort zu entwickeln. Der Klassenkampf lässt sich in der Parallelwelt des Knastes weder inszenieren noch von außen hineintragen.

Für mich stellte sich also die Frage, wie ich als politisches Subjekt im Knast auftreten will. Gefangenenhilfs- und Solidaritätsorganisationen versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Haftbedingungen zu thematisieren und das Knastsystem in Frage zu stellen. Aber eine wirkliche Zugkraft für die Mehrheit der Gefangenen stellen sie nach meinen Erfahrungen nicht dar. Es brauchte einen inhaltlichen Aufhänger und einen praktischen Anlass, damit Gefangene unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Hintergrund zusammenfinden konnten.

Wie kam es dann dazu, dass Sie schließlich aus dem Knast heraus eine Gefangenengewerkschaft ins Leben riefen?

Das sieht in der Rückschau sicherlich durchdachter und planvoller aus, als es in dem Moment tatsächlich ablief. Sowohl bei mir als auch bei meinen Mitdiskutanten vor und hinter der Knastmauer war viel Skepsis vorhanden, wie weit die vage Idee einer Gefangenenunion tatsächlich umgesetzt werden könnte. Letztlich war es das Zusammenspiel von drei Hauptfaktoren, das dazu führte, dass mein inhaftierter Kollege Mehmet Aykol und ich die »Gefangenengewerkschaft der JVA Tegel« gründeten, die wenig später in »Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)« umbenannt wurde.

Welche Faktoren waren das?

Erstens bin ich seit einigen Jahren Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW), auch Wobblies genannt, sowie der gleichfalls traditionsreichen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Ich wollte mein basisgewerkschaftliches und revolutionär-unionistisches Engagement auch unter den widrigen Knastbedingungen fortsetzen.

Zweitens stützen wir uns auf geltendes Recht. Zum einen berufen wir uns auf ein Grundrecht, das auch für Inhaftierte nicht außer Kraft gesetzt ist: die Koalitionsfreiheit nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes. Zum anderen haben wir uns, wie es eine gängige Rechtspraxis von Gewerkschaften ist, als »nicht rechtsfähiger Verein« nach dem BGB konstituiert.

Und drittens sahen wir die dringende Notwendigkeit, die soziale Frage hinter Gittern aufzuwerfen, womit wir den neuralgischen Punkt vieler, wenn nicht gar aller Gefangenen getroffen haben.

Sie sind mit zwei Hauptforderungen angetreten: Mindestlohn und Rentenversicherung für Inhaftierte. Wie wollen Sie diese durchsetzen?

Wir haben uns bewusst auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Klarheit der Forderungen nach Mindestlohn und Rentenversicherung für Gefangene ist ein Teil des »Erfolgsrezepts« der GG/BO. Das entspricht absolut lebensnahen Bedürfnissen von Inhaftierten. Dadurch entsteht eine Interessengemeinschaft, die die sonst so übliche Fraktionierung unter Gefangenen punktuell überwindet. Außerdem bringen wir uns in allgemeine öffentliche Debatten nach einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ein. Das verschafft uns eine doppelte Anschlussfähigkeit, die uns eine relativ breite Resonanz beschert hat.

Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns im Bündnis mit anderen Kräften in sozialen Bewegungen verankern. Hierüber hoffen wir, Kräfteverhältnisse verschieben zu können. Wir wissen aber auch, dass wir gegen gewichtige Akteure in Bund und Ländern anlaufen, die jede sozialreformerische Veränderung, auch wenn sie lediglich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz pocht, für einen Akt der Meuterei halten.

Gleich nach der Gründung der GG/BO wurden gewerkschaftseigene Unterlagen beschlagnahmt. Hat die Repression der Anstaltsleitung der JVA Tegel die Gefangenenbewegung beschleunigt?

Zweifellos haben die Zellenrazzien in Tegel den Grad des öffentlichen Interesses erhöht und somit unsere anfängliche Entwicklung etwas beschleunigt. Allerdings bezwecken solche Maßnahmen immer, uns die Legitimität als gewerkschaftliche Initiative abzusprechen. Das soll unter den Gefangenen Verunsicherung erzeugen. Uns ist klar, dass potentiell interessierte Insassen davon abgehalten werden sollen, sich der GG/BO anzuschließen.

Nun haben die Damen und Herren im Justizapparat das Problem, dass wir existieren – und zwar, wie erwähnt, auf einer formaljuristisch fundierten Basis. Wir nehmen lediglich ein Grundrecht in Anspruch, das der bürgerliche Staat selbst einer »sozialen Randgruppe« wie Inhaftierten nicht vorenthalten will.

Einige unserer aktivsten Mitglieder erfahren momentan die »Klassenjustiz« ganz reell. Insbesondere für agile Gewerkschafter hinter Schloss und Riegel zeigt sich, wie weit es mit dem vielbeschworenen liberalen Rechtsstaat in Wirklichkeit her ist. Als GG/BO gehen wir gegen die schikanösen Behandlungen unserer Mitglieder politisch und juristisch vor.

Wie können die Kolleginnen und Kollegen in den unterschiedlichen Gefängnissen in den Entscheidungsprozess der GG/BO einbezogen werden?

Eine basisdemokratische Organisation stößt im Knast sprichwörtlich auf Grenzen. Es können derzeit keine JVA-Versammlungen unserer Mitglieder einberufen werden, um zum Beispiel mit auswärtigen GG/BO-Mitgliedern in direkten Austausch zu treten. Vieles läuft zäh über Schriftverkehr, der natürlich durch das Eingreifen der Vollzugsbehörden gestört werden kann.

Ist die GG/BO dann überhaupt arbeitsfähig?

Doch, wir haben viel vor: Mit unserem bundesweiten Aktionstag »Schluss mit der Billiglöhnerei hinter Gittern!«, der im April 2015 in mehreren Städten stattfinden wird, soll durch eine »aktivierende Untersuchung« die Betriebslandschaft in den Knästen unter die Lupe genommen werden. Mit einem Fragebogen an unsere Mitglieder wollen wir in Erfahrung bringen, wer dort unter welchen Bedingungen zu Billiglöhnen und im Akkord produzieren lässt. Wir hoffen, dass das innerhalb und außerhalb der Knäste einen weiteren Mobilisierungsschub geben wird.

Die Solidarität zwischen inhaftierten und nicht inhaftierten Kollegen ist ganz wichtig für das Funktionieren unserer Organisation. Indem wir sowohl drinnen als auch draußen über Standbeine verfügen, haben wir viel größere Handlungsspielräume und sind als Gesamtorganisation nicht gleich durch jede JVA-Schikane zu erschüttern.

Wie gestaltet sich der Kontakt zu anderen Gewerkschaften, zum DGB oder auch zur FAU und den Wobblies? Gibt es einen solidarischen Austausch?

Von den Basisgewerkschaften FAU und IWW haben wir rasch positive Signale erhalten. Sie stehen Selbstorganisationsprozessen und der Gefangenenfrage ja grundsätzlich offen gegenüber. Berührungsängste sind vereinzelt bei Vertretern von DGB-Gewerkschaften spürbar. Allerdings haben wir aus DGB-Basisstrukturen frühzeitig Zuspruch erfahren, insbesondere seitens der Erwerbslosenausschüsse von Verdi und der Verdi-Jugend. Dort ist schnell begriffen worden, dass prekäre Arbeitsverhältnisse aus gewerkschaftlicher Sicht generell inakzeptabel sind – ob nun außer- oder innerhalb der Knastmauern. Und ein Mindestlohn greift erst, wenn er tatsächlich flächendeckend und ausnahmslos gilt. Als GG/BO wollen wir die bestehenden Kontakte im breiten Gewerkschaftsspektrum vertiefen und die begonnene punktuelle Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen weiter ausbauen.

Wo wird die GG/BO in einem Jahr stehen?

Wir befinden uns im Übergang von der Aufbau- in die Stabilsierungsphase. Vieles an Struktur der GG/BO ist weiterhin fragil, da wir mit der gewerkschaftspolitischen Selbstorganisation hinter Gittern bei null angefangen haben. Hinzu kommt, dass wir am Rande unserer Kapazitäten arbeiten. Sowohl personell, infrastrukturell als auch finanziell muss spätestens im Frühjahr einiges neu strukturiert werden. Wir sind längst über das Stadium eines kleinen Projektversuchs hinaus. Wir sind ein Verbund von mehreren Hundert Menschen in über 30 Knästen, der in Bewegung bleiben will. Und das setzt einen bestimmten Grad an Professionalisierung voraus.

Ohne mich der Idealisierung verdächtig machen zu wollen, behaupte ich, dass die GG/BO bereits zu einem kleinen Faktor vor und hinter den dicken Gitterstäben geworden ist. Eine Entwicklung, die ermutigen sollte, die volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern Etappe für Etappe durchzusetzen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/02/51219.html

Interview: Peter Nowak

Überwindung der Fraktionierung

Oliver Rast über die Forderungen und Pläne der Gefangenengewerkschaft

Oliver Rast gehörte im Mai 2014 in der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel zu den Mitbegründern der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO), deren Sprecher er nach dem Ende seiner Haftzeit ist. Mit ihm sprach Peter Nowak.

Wieso gründeten Sie im Gefängnis eine Gewerkschaft?

Erstens bin ich seit einigen Jahren Mitglied bei den Industrial Workers of the World (IWW), auch »Wobblies« genannt, sowie in der gleichfalls traditionsreichen Freien Arbeiter Union (FAU). Ich wollte mein basisgewerkschaftliches und revolutionär-unionistisches Engagement auch unter den widrigen Knastbedingungen fortsetzen. Zweitens stützen wir uns – ganz unspektakulär – auf geltendes Recht. Zum einen berufen wir uns auf ein Grundrecht, das auch für Inhaftierte nicht außer Kraft gesetzt ist: die Koalitionsfreiheit nach Art. 9, Abs. 3 des Grundgesetzes. Zum anderen haben wir uns, wie es eine gängige Rechtspraxis von Gewerkschaften ist, als sogenannter »nicht rechtsfähiger Verein« nach dem BGB konstituiert. Und drittens sahen wir die dringende Notwendigkeit, die soziale Frage hinter Gittern aufzuwerfen, womit wir den neuralgischen Punkt vieler, wenn nicht gar aller Gefangenen getroffen haben.

Warum haben Sie sich auf die zwei Hauptforderungen Mindestlohn und Rentenversicherung für Inhaftierte beschränkt?

Wir haben uns bewusst auf ein Minimalprogramm beschränkt. Die Klarheit der Forderungen nach Mindestlohn und Rentenversicherung für Gefangene ist ein Teil des »Erfolgsrezepts« der GG/BO. Das entspricht absolut lebensnahen Bedürfnissen von Inhaftierten. Dadurch entsteht eine Interessengemeinschaft, die die sonst so übliche Fraktionierung unter Gefangenen punktuell überwindet. Außerdem bringen wir uns in allgemeine öffentliche Debatten nach einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ein. Das verschafft uns eine doppelte Anschlussfähigkeit, die uns eine relativ breite Resonanz beschert hat.

Wie wollen Sie die Forderungen durchsetzen?

Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir uns im Bündnis mit anderen Kräften in sozialen Bewegungen verankern. Hierüber hoffen wir, Kräfteverhältnisse verschieben zu können. Wir wissen aber auch, dass wir gegen gewichtige Akteure in Bund und Ländern anlaufen, die jede sozialreformerische Veränderung, auch wenn sie lediglich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz pocht, für einen Akt der Meuterei halten.

Wie werden die Mitglieder in den unterschiedlichen Gefängnissen in den Entscheidungsprozess der GG/BO einbezogen werden?

Wir sind ein Verbund von mehreren Hundert Menschen in über 30 Knästen, der in Bewegung bleiben will. Und das setzt einen bestimmten Grad an »Professionalisierung« voraus. Eine basisdemokratische Organisierung stößt im Knast sprichwörtlich an Grenzen. Es können derzeit keine JVA-Versammlungen unserer Mitglieder einberufen werden. Vieles läuft zäh über Schriftverkehr, der natürlich durch das Eingreifen eigenmächtiger Vollzugsbehörden gestört werden kann.

Ist die GG/BO dann überhaupt arbeitsfähig?

Wir haben viel vor: Mit unserem bundesweiten Aktionstag »Schluss mit der Billiglöhnerei hinter Gittern!«, der im April 2015 in mehreren Städten stattfinden wird, soll durch eine »aktivierende Untersuchung« die Betriebslandschaft in den Knästen unter die Lupe genommen werden. Mit einem Fragebogen an unsere Mitglieder wollen wir in Erfahrung bringen, wer dort unter welchen Bedingungen zu Billiglöhnen und im Akkord produzieren lässt. Wir hoffen, dass das innerhalb und außerhalb der Knäste einen Mobilisierungsschub geben wird.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/956876.ueberwindung-der-fraktionierung.html

Interview: Peter Nowak

Rückenwind für die Streikenden

Gewerkschafterin Mechthild Middeke über Solidarität mit den Amazon-Beschäftigten

Mechthild Middeke ist Gewerkschaftssekretärin bei ver.di-Nordhessen. Mit der Streikleiterin bei Amazon sprach Peter Nowak über Solidarität mit den Amazon-Beschäftigten.

nd: Warum hatte ver.di den Amazon-Streik am Sonntag ausgesetzt und dann die Fortsetzung bis zum 24. Dezember beschlossen?
Middecke: Die Fortsetzung des Streiks bis zum 24. Dezember wurde am Freitag beschlossen. Wir haben den Streik am Sonntag nicht ausgesetzt. Das wurde in den Medien teilweise falsch dargestellt. Der Sonntag ist kein regulärer Arbeitstag. Deshalb wurde an diesem Tag auch nicht gestreikt.

Wehrt sich Ihre Gewerkschaft aber nicht auch gegen die Einführung der Sonntagsarbeit bei Amazon?
Ver.di hat am Freitag vor den Verwaltungsgerichten Kassel und Leipzig Klage gegen die vom Regierungspräsidium Kassel und der Landesdirektion Sachsen für die Standorte Bad Hersfeld und Leipzig bewilligte Sonntagsarbeit am 21. Dezember eingereicht. Die eingereichte Klage entfaltet eigentlich umgehend aufschiebende Wirkung. Da die Klagen den zuständigen Behörden allerdings nicht rechtzeitig zugestellt wurden, konnte diese aufschiebende Wirkung nicht in Kraft treten.

Wie ist die Stimmung bei den Beschäftigten, nachdem der Streik bis Weihnachten fortgesetzt wird?
Die letzten Streiktage haben den Beschäftigten Rückenwind gegeben. Besonders erfreut reagiert haben die Beschäftigten, dass am Montag mit Koblenz ein weiterer Amazon-Standort in den Streik getreten ist. Zudem hat die Nachricht, dass auch bei drei Amazon-Standorten in Frankreich seit Montag bis zum 24. Dezember gestreikt wird, die Stimmung unserer Kollegen gehoben.

Geht es bei den Streiks in Frankreich um ähnliche Forderungen wie in Deutschland?
Es geht bei dem Streik in Frankreich um die Verbesserung der Löhne und um die Festanstellung der bisher prekär beschäftigten Arbeitskräfte sowie um die Erhöhung der Pausenzeiten und um einen besseren Gesundheitsschutz. Das sind Themen, die auch die Kollegen bei Amazon in Deutschland beschäftigen.

Wie wurden die verschiedenen Solidaritätsaktionen von außerparlamentarischen Initiativen für den Amazon-Streik in der letzten Woche von den Kollegen aufgenommen?
Wir stehen in Bad Hersfeld schon länger in Kontakt mit einem Kasseler Solidaritätsbündnis. Am letzten Mittwoch besuchte uns die Gewerkschaftsjugend aus Frankfurt am Main. Am Donnerstag waren zudem Mitglieder eines größeren außerparlamentarischen linken Bündnisses vor Ort. Diese Unterstützungsaktionen werden von den Kollegen überwiegend positiv gesehen. Es gab aber auch manche, die vor Instrumentalisierung durch Gruppen von Außen warnen.

Sind Auswirkungen der Streikaktionen auf den Versandhandel feststellbar?
Da die Bestellungen zentral erfolgen und Amazon auch Standorte in Polen hat, können wir die Folgen nicht genau benennen. Was wir aber feststellen, ist, dass Amazon viel Geld ausgibt, um die zeitnahe Erledigung der Aufträge trotz des Streiks zu ermöglichen.

Wird der Streik nach Weihnachten fortgesetzt?
Nein, am 24. Dezember ist definitiv der letzte Streiktag bei Amazon in diesem Jahr. Das ist auch wegen der Zulagen der Beschäftigten notwendig. Wie es mit dem Arbeitskampf weitergeht, werden wir gemeinsam mit den Beschäftigten im nächsten Jahr entscheiden. Davor werden wir ausführlich die aktuellen Streiks auswerten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/956352.rueckenwind-fuer-die-streikenden.html

Interview: Peter Nowak

„Wir wollen unabhängig bleiben“

MAGAZIN In den späten Achtzigern war der „telegraph“ eine wichtige Stimme der linken DDR-Opposition. Und noch immer findet die im Selbstverlag herausgegebene Zeitschrift ihre Leser. Ein Gespräch mit den Machern

taz: Herr Wolf, Herr Schreier, beim 25. Jahrestag zur Maueröffnung kam die linke Opposition für eine eigenständige DDR nicht vor. Fühlen Sie sich manchmal auf verlorenem Posten?

Andreas Schreier: Viele der Hauptforderungen von 1989 sind uneingelöst geblieben. Wir haben sie auch nach dem Diebstahl unserer Revolution durch die Medien und Parteien der BRD nicht vergessen. Damals wollten wir ein Ende der Überwachung und bekamen neue und viel perfektere Formen der Überwachung. Wir waren gegen Militarisierung, heute wird eine neue deutsche Verantwortung in der Welt gepredigt und an der Grenze zu Russland kräftig gezündelt. Das Recht auf Reisefreiheit endet heute vor Lampedusa und Demokratie, wenn überhaupt, vor den Toren der Banken und Konzerne.

Vor einigen Monaten hieß es, der telegraph sei in der literarisch-politischen Zeitschrift Abwärts aufgegangen. Wieso produzierten Sie nun doch wieder eine eigene Ausgabe?

Andreas Schreier: Die telegraph-Redaktion beteiligt sich an der Zeitschrift Abwärts, die im März dieses Jahres das erste Mal erschienen ist. Doch eine Einstellung des telegraphs war nie beabsichtigt. Einige missverständliche Formulierungen im Abwärts haben einen falschen Eindruck hinterlassen. Seit dem Erscheinen der aktuellen Nummer gab es viele freudige Reaktionen von LeserInnen, die froh sind, dass es uns noch gibt.

Dietmar Wolf: Wir wurden von der Literatenszene in Prenzlauer Berg um Bert Papenfuß angefragt, ob wir uns an der Herausgabe des Abwärts beteiligen wollen. Schließlich kennen und schätzen wir uns seit sehr vielen Jahren.

Ist also die viel diskutierte Krise der linken Medien an Ihnen vorbeigegangen?

Andreas Schreier: Nein, wir hatten zwischenzeitlich tatsächlich überlegt, den telegraph ins Internet zu verlegen. Wir haben viel Druck von unseren LeserInnen bekommen, die weiterhin eine gedruckte Ausgabe in den Händen halten wollten. Das motivierte uns natürlich bei der Herstellung der aktuellen Ausgabe. Wir werden allerdings unser Angebot im Internet ausweiten und dort auch Artikel zur nichtkommerziellen Nutzung verfügbar machen.

Im Impressum des telegraphs findet sich kein Verlagshinweis. Gibt es keine Verlage, die die Zeitschrift drucken wollen?

Dietmar Wolf: Es wäre kein Problem, einen Verlag zu finden. Doch wir wollen unsere Unabhängigkeit behalten. Die Umweltblätter, aus denen der telegraph hervorgegangen ist, wurden als Samisdat hergestellt, also im Selbstverlag. Diesen Anspruch halten wir auch heute aufrecht. Der telegraph ist Handarbeit von der Planung bis zum Vertrieb. Dazu kommt, dass niemand in der Redaktion daran verdient. Wir kümmern uns um den telegraph neben unserer Lohnarbeit.

Andreas Schreier: Natürlich bedeutet das auch, dass sich die Redaktion um die nicht ganz einfache Frage des Vertriebs und um die Frage der Finanzierung kümmern muss.

Der Untertitel des telegraphs lautete lange Zeit „ostdeutsche Zeitschrift“. Wollten Sie sich damit gegen die Westberliner Linke abgrenzen?

Dietmar Wolf: Der Untertitel hat 1998 beim telegraph Einzug gehalten. Damals produzierten wir eine Ausgabe mit dem provokanten Titel „Kolonie Ostdeutschland“. Wir beschäftigten uns darin mit unserer ostdeutschen Sozialisation und den Folgen der Übernahme unserer Betriebe, unserer Häuser und unserer Kultureinrichtungen durch WestinvestorInnen.

Andreas Schreier: Die damalige Abgrenzung gegen Bayern- oder Schwaben-Yuppies war aus unserem Blickwinkel nicht fremdenfeindlich, sondern eher eine Form des Klassenkampfs. Mit den Westberliner Linken hatte das nur in sofern etwas zu tun, als sie in einigen Fällen uns gegenüber ähnlich raumgreifend und ignorant auftraten wie diese westdeutschen Geldsäcke.

Warum haben Sie diesen Untertitel wieder fallen gelassen?

Dietmar Wolf: Der Untertitel ist weg, doch der telegraph bleibt eine ostdeutsche Zeitschrift. Wir sind spätestens mit der Einheit unwiderruflich zu Ostdeutschen gemacht worden, das lässt sich nicht ändern.

Andreas Schreier: In Zeiten, in denen eine Bundeskanzlerin und ein Bundespräsident aus dem Osten kommen, lässt sich über diesen Begriff schwer etwas Gesellschaftskritisches transportieren. Mittlerweile kennen wir auch viele westdeutsche Linke, mit denen uns mehr verbindet als mit, sagen wir mal, dem neureichen Villenbesitzer in Dresden.

Es ist auch auffällig, dass im aktuellen Heft nicht in das Loblied auf die freiheitliche Maidan-Bewegung eingestimmt wird.

Dietmar Wolf: Wir werfen großen Teilen der Linken und auch der antifaschistischen Bewegung vor, dass sie bis auf wenige Ausnahmen die Augen vor den faschistischen Tendenzen in der heutigen Ukraine verschließt. Wenn wir die benennen, rechtfertigen wir nicht Putins Politik. Wir fordern eine eigenständige Positionierung der unabhängigen Linken ein.

Engagiert sich die telegraph-Redaktion neben der Herausgabe der Zeitschrift politisch?

Andreas Schreiner: Wir organisieren seit fast 15 Jahren regelmäßig am 8. Mai im Haus der Demokratie ein Fest zur Befreiung vom Nationalsozialismus. Dafür erhielten wir in den letzten Jahren viel Zustimmung, aber auch Kritik.

Wie kann man etwas dagegen haben, das Ende des Nationalsozialismus zu feiern?

Dietmar Wolf: Das haben wir uns auch gefragt. Doch es gab einige NGOs und Einzelpersonen, die mit einem Fest an diesem besonderen Tag nichts anfangen konnten. Nach langen Diskussionen hoffen wir nun, mit den Festvorbereitungen zum 70. Jubiläum am 8. Mai 2015 beginnen zu können. Wir wollen an dem Tag mit den Opfern des NS die Befreiung feiern.

Wird bis dahin eine neue telegraph-Ausgabe erscheinen?

Dietmar Wolf: Lassen wir uns überraschen. Es kann sein, dass wir in einem Monat das nächste Heft herausgeben oder auch erst in einem Jahr. Wenn wir der Meinung sind, wir haben genug Stoff für ein gutes Heft, wird es erscheinen.

Der aktuelle telegraph ist in ausgesuchten Buchhandlungen und über www.telegraph.cc erhältlich

Andreas Schreier

50, ist Diplom-Ingenieur und telegraph-Redakteur. 1989 war er Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sicherheit am Zentralen Runden Tisch der DDR.

Dietmar Wolf

50, ist Web-Programmierer. Er hat im April 1989 die Ostberliner Autonome Antifa mitbegründet und ist seit 25 Jahren telegraph-Redakteur.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2014%2F12%2F04%2Fa0199&cHash=a6c9237dbf291509383fdd159e5e6118

INTERVIEW PETER NOWAK

»Man ist sich näher, als es oft erscheint«

Der Kampf um das »Recht auf Stadt« und gegen Zwangsräumungen wird in vielen Ländern geführt. Inzwischen gibt es auch Versuche transnationaler Vernetzung der Mieterbewegung. Der Filmemacher Matthias Coers und der Politikwissenschaftler Grischa Dallmer sind seit Jahren in der Berliner Mieterbewegung aktiv, haben die Veranstaltungsreihe »Wohnen in der Krise« mitgestaltet und an dem Film »Mietrebellen« mitgearbeitet. Mit ihnen sprach die Jungle World über Wohnungskrisen, Widerstand und internationale Organsiation.

Sie haben kürzlich in Moskau Ihren Film »Miet­rebellen« über die Berliner Mieterbewegung gezeigt. Wen interessiert das dort?

Coers: Wir wurden mit dem Film vom kritischen Kunst- und Medienfestival Media Impact mit Unterstützung des Goethe-Instituts Moskau eingeladen. Im Anschluss an die Präsentation gab es mit über 40 Zuschauern eine Diskussion zum Verständnis der Situation in Berlin, aber auch über die Frage des Wohnens in der russischen Metropole. Für die Lage der Mieter in Berlin gab es starke Empathie, aber es gab auch Erstaunen darüber, mit welchem Aufwand und mit welcher Heftigkeit zum Beispiel Zwangsräumungen in Deutschland durchgesetzt werden.

Gab es Kontakte mit russischen »Mietrebellen«?

Coers: Von einer Mieterbewegung kann dort nicht gesprochen werden, was schon an der Struktur des Wohnens liegt. Die meisten Menschen leben in Wohnungen, die ihnen nach Ende des Real­sozialismus überschrieben wurden. Sie sind mit dem Aufbringen von Erhaltungs- und Energiekosten belastet. Zudem übersteigen die Wohnkosten oft das Einkommen. Zur Miete wohnen ist nicht die Regel, auch wenn sich die Mieterrechte im vergangenen Jahr etwas verbessert haben sollen. Doch sind für eine 60-Quadratmeter-Wohnung schnell 1 000 Euro monatlich fällig, auch wenn sie eher in der Peripherie liegt. Wobei zum Beispiel eine Lehrerin oft nur 400 bis 500 Euro im Monat verdient. Beim Erwerb von Eigentumswohnungen werden zum Beispiel in den Innenstadtbezirken von Moskau schnell 8 000 Euro pro Quadratmeter fällig.

Ihre Reihe »Wohnen in der Krise« war eines der wenigen Beispiele für transnationale Kontakte unter widerständigen Mieterinnen und Mietern. Wie ist das Projekt entstanden?

Dallmer: Die Reihe »Wohnen in der Krise«, deren Dokumentation als Youtube-Kanal häufig abgefragt wird, ist aus den Diskussionen des Donnerstagskreises der Berliner Mietergemeinschaft entstanden. Nach der kritischen Auseinandersetzung mit Methoden der militanten Untersuchung und des Community Organizing war das Bedürfnis groß, die Lebenswirklichkeit und die konkreten Fragen des Wohnens in verschiedenen europäischen Ländern in den Blick zu bekommen und zu verstehen. Wir haben Experten und Aktivisten eingeladen und lokale Videos übersetzt, so konnten in Berlin bisher unbekannte Informationen aus den Nachbarländern zusammengetragen werden. In den als PDF zur Verfügung stehenden Ausgaben der Zeitschrift Mieter Echo des vorigen Jahres sind die Veranstaltungsinhalte auch noch einmal verschriftlicht zu finden. Die entstandenen Kontakte werden weiter gepflegt, tatsächlich und konkret zum politischen Austausch genutzt und sind schon bei Aktionen auf europäischer Ebene zum Tragen gekommen.

Kam es durch die Veranstaltungsreihe zu einer besseren Koordination?

Dallmer: Ja, es sind lebendige Kontakte nach Polen, Spanien, Griechenland, Russland, in die Niederlande, Frankreich, die Türkei, Großbritan­nien und Schweden entstanden. In Wechselwirkung mit unserer Reihe hat sich auch die »Europäische Aktionskoalition für das Recht auf Wohnen und die Stadt« herausgebildet, in der inzwischen Gruppen aus 20 Ländern zusammenarbeiten. Derzeit bilden sich internationale Arbeitsgruppen zu den Themen Finanzialisierung des Wohnungsmarkts, Europäische Charta für das Recht auf Wohnen und Widerstand gegen Zwangsräumungen.

Coers: Trotzdem dürfen diese Verbindungen in Relation zu den Angriffen, denen die Menschen derzeit in den Fragen des Wohnens ausgesetzt sind, nicht überschätzt werden. Die Aktiven sind teils im professionellen Bereich des Wohnrechts, der Sozialfürsorge oder in wissenschaftlichen Zusammenhängen zeitlich stark eingebunden und nur wenige können einen Großteil ihrer Arbeitszeit in die Entwicklung von europäischer Zusammenarbeit investieren. So bleibt der Austausch lose, auch wenn eine Tendenz zur Verstetigung spürbar ist.

Warum entwickeln sich transnationale Kontakte in der Mieterbewegung besonders schwer?

Coers: Einerseits sind es die zeitökonomischen Grenzen der Beteiligten, die räumlichen Entfernungen und die Sprachgrenzen, die immer wieder aufs Neue überwunden werden müssen. Entscheidend ist aber, dass auch große Gruppen mit Hunderten dauerhaft Aktiven wie »Recht auf Wohnen« (Droit Au Logement, DAL) in Frankreich oder die »Plattform der Hypothekenbetroffenen« (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH) in Spanien in den jeweiligen Ländern mit den konkreten Aufgabenstellungen und Problemen stark beschäftigt sind. Von einer transnationalen Ebene ist nicht direkt praktische Hilfe zu erwarten, sondern es geht um Austausch, Erfahrungs- und Wissensvermittlung, letztlich darum, die eigene Situation besser zu verstehen und angehen zu können. Allein das praktische Wissen darum, dass an unterschiedlichsten Orten mit unterschiedlichen Strategien widerständig Auseinandersetzungen geführt werden, wirkt bestärkend. Auch transnationale Gewerkschaftsarbeit hat auf europäischer Ebene leider zu wenig Relevanz. Die Arbeitszusammenhänge einer Mieterbewegung von unten sind um ein Vielfaches fragiler, verschaffen sich aber durchaus Gehör.

Dallmer: Es gibt Schwierigkeiten, doch es zeigen sich momentan immer mehr Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Bereichernd für die eigene Praxis sind die Aktivitäten der Freundinnen und Freunde aus den anderen Ländern allemal. Eine Frage ist beispielsweise der Bezug auf die Europä­ische Union. Soll für verbindliche europäische Vereinbarungen im Bereich des Wohnens gekämpft werden oder nicht? In Ländern mit geringem Mieterschutz wird diese Frage oft bejaht, da man sich von internationalem Druck Verbesserungen erhofft. In Ländern, wo gute Mieterrechte realisiert wurden, herrscht eine gewisse Skepsis, ob so das lokale Mietrecht nicht eingeschränkt werden könnte. In der Europäischen Aktionskoalition wird gerade debattiert, ob gemeinsam gegen internationale Akteure auf dem Immobilienmarkt, etwa das Immobilienverwaltungsunternehmen Camelot, vorgegangen werden kann.

Welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass in einigen Ländern viele Menschen in Eigentumswohnungen leben, in anderen, wie Deutschland, aber mehrheitlich zur Miete?

Dallmer: Protest und Widerstand richten sich an unterschiedliche Adressaten. Während es in Deutschland oft um Mietzahlungen an private Vermieter geht, sind es in Spanien die Banken, an die Kredite zurückgezahlt werden sollen. Wegen der Finanzialisierung der Immobilienunternehmen und da die meisten Menschen, die Kredite zurückzahlen sollen, dies auf absehbare Zeit nicht schaffen und somit nie wirkliche Eigentümer werden, hat sich bei Mieterkämpfen im Ruhrgebiet der Kampfruf »Wir sind alle Mieter der Banken« etabliert. Man ist sich näher, als es oft erscheint.

Coers: Nach Filmdiskussionen in Neapel, Wien, Glasgow, Amsterdam, Córdoba, Moskau und Diskussionsberichten aus Dublin, London, New York, dem Kosovo und Mexiko muss man sagen, dass es nicht darauf ankommt, ob zur Miete oder in Eigentumswohnungen gewohnt wird. Die Menschen werden aktiv, wenn die Wohnraumversorgung nicht mehr gewährleistet ist oder die Wohnraumkosten sie erdrücken. Und sie denken auch entsprechend über die nationalen Grenzen hinweg solidarisch. Es ist aber deutlich geworden, dass ein Wissensaustausch stattfinden muss, damit die jeweilige konkrete krisenhafte Situa­tion auch verstanden werden kann. Verallgemeinert formuliert, ist bei den Aktivisten und Gruppen zum Thema Wohnen die Frage nach sozialer Gerechtigkeit sehr präsent. Auf mögliches Versagen jeweiliger Volkswirtschaften wird vornehmlich nicht geschaut, sondern eher auf die politische und ökonomische Verfasstheit in transnationaler Perspektive.

Es gab Ende Oktober in Córdoba eine europäische Konferenz der Bewegung gegen Zwangsräumungen. Wurde dort auch über diese Schwierigkeiten der Koordination geredet?

Dallmer: Ja, allerdings sind diese internationalen Kooperationen noch ganz jung und da ist es nicht verwunderlich, dass viele Fragen bisher noch offen sind. Die meisten Beteiligten waren sich einig, dass es erst einmal entscheidend sei, ein Bewusstsein füreinander zu bekommen. Ak­tive aus verschiedenen Ländern traten an uns heran, um »Mietrebellen« in ihren Stadtvierteln aufzuführen.

Gab es Fortschritte bei der transnationalen Koordination der Mieterbewegung?

Dallmer: Es gibt auf jeden Fall einige Fortschritte. Bei einem internationalen Treffen in London zu Protesten gegen die Immobilienmesse MIPIM sind beispielsweise viele Gruppen aus Osteuropa das erste Mal überhaupt aufeinandergetroffen und planen jetzt ein osteuropäisches Treffen der Mieterbewegungen mit Berliner Beteiligung.

Coers: Unser persönlicher Beitrag besteht aktuell darin, den Film »Mietrebellen« auch international zu verbreiten, um über die Verhältnisse hier aufzuklären und am Beispiel von Berlin zu ermutigen, dass es sich lohnt, den aufgezwungenen Zumutungen mit Ausdauer widerständig entgegenzutreten, und dass sich zugleich auch schon kleinteilige Erfolge lohnen.

In Budapest, Den Haag, Barcelona, Poznań, Brest, Bukarest, Athen und Istanbul sowie in ­Toronto, Seoul, Hongkong und Mumbai sind überwiegend in Zusammenarbeit mit politischen Gruppen Aufführungen in Planung. Zudem beteiligen wir uns an einer weiteren Veranstaltung der Reihe »Wohnen in der Krise« zur historischen und aktuellen Situation in Graz und Wien

http://jungle-world.com/artikel/2014/47/50967.html

Interview: Peter Nowak

»Von den Sozialbehörden zu den Ausländerbehörden«

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass Deutschland arbeitslosen Zuwanderern aus anderen EU-Ländern Hartz IV verweigern darf. Die Jungle World hat mit Lutz Achenbach gesprochen. Er ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Sozialrecht in Berlin und vertritt EU-Bürger, denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden.

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Deutschland einer Rumänin Hartz-IV-Leistungen verweigern kann. Sind Sie enttäuscht?

Es hätte natürlich auch gute Argumente dafür gegeben, der Frau aus Rumänien Leistungen nach Hartz IV zuzusprechen, beispielsweise das Diskriminierungsverbot innerhalb der EU. Viele hätten sich auch gewünscht, dass das Gericht grundsätzlicher über die Frage entscheidet, welche Verbindung ein EU-Bürger zum deutschen Arbeitsmarkt in Deutschland haben muss, wenn er Leistungen nach Hartz IV bekommt. Das hat der EuGH nicht gemacht.

Wird durch das Urteil die Situation für EU-Bürger erschwert, Leistungen nach Hartz IV zu beantragen?

Zunächst einmal wurde ein Einzelfall entschieden, der mit der Frage, mit der wir uns seit langem befassen, nicht direkt etwas zu tun hat.

Warum?

In dem konkreten Fall, über den der EuGH am Dienstag entschieden hat, ging es um eine Rumänin, die mit ihren Kind bei ihrer Schwester in Leipzig lebt und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. Hier hat das Gericht entschieden, dass keine Hartz-Leistungen gezahlt werden müssen. Wir kennen aber viele Fälle von EU-Bürgern, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung stehen und teilweise auch schon hier gearbeitet haben, denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden. Darüber hat das Gericht nicht entschieden und das Urteil ist damit nicht unmittelbar auf sie anwendbar.

Welche Verschärfungen plant die Politik, um EU-Bürger von den Leistungen auszuschließen?

Gerade wurde eine Änderung des Freizügigkeitsgesetzes auf den Weg gebracht, die das Recht zur Arbeitssuche auf sechs Monate begrenzt. Wer länger bleiben will, muss gegenüber der Ausländerbehörde nachweisen, begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden. Damit wird das Problem weg von den Sozialbehörden hin zu den Ausländerbehörden geschoben, wo sich die Bundesregierung eine restriktivere Auslegung erhofft.

http://jungle-world.com/artikel/2014/47/50960.html

Interview: Peter Nowak

»In erster Linie Geld«

»Nachtleben für Rojava« heißt das Motto einer Berliner Initiative, die praktische Solidarität mit den vom »Islamischen Staat« (IS) bedrohten Menschen in Nordsyrien leisten möchte. Jonas Mende gehört zu den Initiatoren.

Was hat das Berliner Nachtleben mit dem Kampf gegen den IS in Rojava zu tun?

Das Berliner Nachtleben ist an vielen Orten der Welt bekannt für seine Vielfältigkeit und Freizügigkeit. Dabei profitieren wir von individuellen Freiheiten, die es zu verteidigen gilt. Diese Freiheiten stehen im direkten Gegensatz zu dem repressiven und tyrannischen Weltbild des IS. Rojava ist zu einem Symbol für die Hoffnung auf ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben geworden. Das wollen wir unterstützen.

Wen haben Sie für die Initiative angesprochen?

Verschiedene Berliner Clubs, Kneipen, Bars, Veranstalter und Künstler, die wir persönlich kennen und die bereit sind mitzumachen. Mit diesem Stamm sprechen wir alle möglichen Läden und Einzelpersonen an und bauen auf eine breitflächige und kreative Beteiligung. Es besteht für alle die Gelegenheit, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Kampagne einzubringen.

Wie waren die Reaktionen?

Bisher waren die Reaktionen überwiegend positiv. Das liegt sicherlich auch daran, dass die Situation in Rojava medial sehr präsent ist und viele Leute das Bedürfnis verspüren, sich zu engagieren. Zu den Unterstützern der Kampagne gehören unter anderem der Club Watergate, die Booking-Agentur Monkeytown und das Sicherheitsunternehmen Shelter.

Wie sieht die konkrete Unterstützung für Rojava aus?

In erster Linie sammeln wir Geld. Dabei wollen wir nicht als außenstehende Personen entscheiden, wo und wie die Spenden am besten eingesetzt werden sollen. Die Aktivisten vor Ort entscheiden, was am dringendsten benötigt wird. Neben dieser konkreten finanziellen Unterstützung wollen wir Öffentlichkeit für die Lage in Rojava schaffen. Denn die internationale Solidarität und öffentlicher Druck sind eine wichtige Hilfe für die Menschen in Rojava.

Soll die Kampagne auf andere Städte ausgeweitet werden?

Unser Schwerpunkt liegt in Berlin. Es gibt allerdings schon Kontakte in andere Städte wie Hamburg, Frankfurt und Bremen. Natürlich ist es ausdrücklich erfreulich, wenn die Idee auch dort aufgegriffen wird und weitere Unterstützung erhält. Die humanitäre Situation in Rojava ist so katastrophal, dass es nicht genug

http://jungle-world.com/artikel/2014/46/50913.html

Peter Nowak

»Nur ein Einzelfall«

Der Berliner Sozialrechtler Lutz Achenbach über das Urteil des EuGH

Deutschland darf einer Rumänin Hartz-IV-Leistungen verweigern. Hat sich damit die deutsche Rechtslage durchgesetzt?
Zunächst einmal wurde ein Einzelfall entschieden, der mit der Frage, mit der wir uns seit Langem befassen, gar nichts zu tun hat.

Warum?
In dem Fall, über den der EuGH entschieden hat, ging es um eine Rumänin, die mit ihrem Kind bei ihrer Schwester in Leipzig lebt und noch nie gearbeitet oder sich beworben hat. Hier hat das Gericht entschieden, dass keine Hartz-Leistungen gezahlt werden müssen. Wir kennen aber viele Fälle von EU-Bürgern, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung stehen, sich bewerben und teilweise auch schon hier gearbeitet haben und denen Hartz-IV-Leistungen verweigert werden. Darüber hat das Gericht nicht entschieden und sie sind von dem Urteil daher auch nicht betroffen.

Warum wird dann dem Urteil in der Öffentlichkeit eine solche Bedeutung zugesprochen?
Die Leipziger Richter, die den Fall vorliegen hatten, haben natürlich ein begründetes Interesse daran, dass hierüber von einem europäischen Gericht entschieden wird. Das liegt auch daran, weil im hier einschlägigen SGB II nichts darüber enthalten ist, wie mit EU-Bürgern verfahren wird, die nicht mal arbeitssuchend sind.

Sind Sie über das Urteil enttäuscht?
Es hätte natürlich gute Argumente dafür gegeben, auch der Frau aus Rumänien Leistungen nach Hartz IV zuzusprechen, beispielsweise das Diskriminierungsverbot innerhalb der EU. Viele hätten sich auch gewünscht, dass das Gericht grundsätzlicher über die Frage entscheidet, welche Verbindung ein EU-Bürger zum deutschen Arbeitsmarkt in Deutschland haben muss, wenn er Leistungen nach Hartz IV bekommt. Das hat der EuGH nicht gemacht.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/952071.nur-ein-einzelfall.html

Fragen: Peter Nowak

»Türkei duldet IS-Strukturen«

Der Islamische Staat (IS) ist immer noch nicht geschlagen. Doch wie konnte er überhaupt so mächtig werden? Die Jungle World sprach mit Ismail Küpeli über die Bedeutung Syriens und der Türkei für den Aufstieg des IS. Küpeli ist Politikwissenschaftler, Aktivist und Autor. Er beschäftigt sich mit der autoritären Entwicklung in der Türkei unter der AKP-Regierung und der Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung.

Die Türkei scheint sich nach langem Widerstand bereit erklärt zu haben, kurdische Kämpfer über ihre Grenze in die vom IS bedrohte Stadt Kobanê zu lassen. Ist das eine Wende in der Politik der türkischen Regierung gegenüber dem IS?

Nein, das ist keine Wende. Vielmehr gab es seit etwa sechs Monaten eine langsame Bewegung, seit der Sommeroffensive des IS im Nordirak und der Geiselnahme türkischer Diplomaten in Mossul durch den IS. Der IS hat sich durch die Eroberung der Erdölquellen im Nordirak sehr große ­finanzielle Einnahmen sichern können, womit eine größere Eigenständigkeit gegenüber den bisherigen Unterstützern des IS, etwa den arabischen Golfstaaten und der Türkei, einhergeht. Dies erklärt auch die Geiselnahme und bedeutet, dass die Türkei den IS nicht mehr als bloßes Werkzeug gegen das Regime Bashar al-Assads und die Kurden in Nordsyrien nutzen kann.

Es gab in der Vergangenheit immer wieder ­Berichte über Kooperationen zwischen türkischen Behörden und dem IS. Wie seriös sind solche Nachrichten?

Insbesondere in der türkischsprachigen Presse gibt es sehr viele Meldungen über eine solche Kooperation, mit unterschiedlicher Seriösität. Die Unterstützung von bewaffneten Rebellen in Nordsyrien, islamistische Gruppen eingeschlossen, wird nicht einmal seitens der türkischen Regierung bestritten. Es gibt Beweise, dass der türkische Geheimdienst Waffenlieferungen an Kämpfer in Nordsyrien organisiert. Weniger gesichert sind die Meldungen über eine direkte Kooperation zwischen der Türkei und dem IS. Aber zumindest die Duldung von IS-Strukturen in der Türkei ist belegt. Unter anderem gibt es Rekrutierungsbüros in Istanbul und Ausbildungslager im Grenzgebiet und die Türkei wird als Rückzugsgebiet genutzt, etwa durch medizinische Versorgung der IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern.

Lange vor dem Machtantritt der AKP-Regierung wurden in der Türkei Islamisten im Kampf gegen Linke, Gewerkschafter und Oppositionelle eingesetzt. Können Sie dazu einige Beispiele nennen?

Die türkisch-kurdische Hizbollah, die nicht mit der allgemein bekannten libanesischen Hizbollah verwechselt werden sollte, wurde in den neunziger Jahren im Rahmen des schmutzigen Krieges gegen die PKK und alle oppositionellen Kräfte eingesetzt. Die Hizbollah ist nur eine der Organisationen und Netzwerke, die als Todesschwadronen und Terrororganisationen eingesetzt wurden. Beispiele für die Aktionen solcher Gruppen reichen von Entführung, Folter und Hinrichtung von einzelnen Personen, etwa Journalisten, Menschenrechtlern und vermeintlichen PKK-Sympathisanten, bis hin zu Massakern an der kurdischen Landbevölkerung.

Könnte man eine Linie von der türkischen ­Hizbollah, einer sunnitisch-islamistischen Organisation, zum IS ziehen?

Eine solche Linie wird von PKK-nahen Akteuren gezogen; ich finde dies wenig überzeugend. Die Hizbollah wurde in den vergangenen Jahren als bewaffneter Akteur weitgehend ausgeschaltet und hat sich als politische Partei neu formiert. Dies geht auch darauf zurück, dass bis vor kurzem zwischen der türkischen Regierung und der PKK ein sogenannter Friedensprozess stattfand, in dem Organisationen wie die Hizbollah keinen Platz hatten. Der IS ist eine neue Entwicklung und hat mit der Hizbollah der Neunziger wenig Verbindungen.

Sie bezeichnen den IS als eine Frucht des syrischen Bürgerkriegs nach der Niederlage der demokratischen zivilen Opposition. Welchen Anteil hatte das syrische Regime am Aufstieg des IS?

Nach der Niederschlagung der friedlichen Oppositionsbewegung durch das Assad-Regime haben bewaffnete Rebellengruppen innerhalb der Anti-Assad-Opposition die Oberhand gewonnen. Die brutale Repression des Regimes hat dazu geführt, dass bald nur noch wenige daran glaubten, auf friedlichem Wege das Regime stürzen zu können. Die weitere Entwicklung der verschiedenen bewaffneten Rebellengruppen geht darauf zurück, wer welche externe Unterstützung mobilisieren konnte – also Kämpfer, Waffen, Geld. Hier kam die Koalition der arabischen Golfstaaten und der Türkei ins Spiel, die insbesondere islamistische Gruppen unterstützt haben, die nach und nach säkulare Kräfte verdrängt haben. Aus diesem is­lamistischen Milieu stieg der IS auf – neben anderen Kräften wie der al-Nusra-Front.

Es gibt einige Stimmen, auch in der Linken in Deutschland, die angesichts der Bedrohung durch den IS eine Kooperation mit dem Assad-Regime fordern. Kann man davon reden, dass es jetzt das kleinere Übel ist?

Nein, kann man nicht. Das Assad-Regime ist nach wie vor für deutlich mehr Opfer verantwortlich und – wie zuvor angedeutet – für den Aufstieg des IS mitverantwortlich. Das Regime bombardiert Städte, lässt Oppositionelle foltern, verschwinden und ermorden. Die Brutalität des IS sollte die Gewalt des Assad-Regimes nicht vergessen lassen.

Andere Gruppen drängen auf die Unterstützung der Freien Syrischen Armee (FSA). Gibt es dort nicht auch viele undemokratische und ­islamistische Gruppen?

Die Freie Syrische Armee als ein zusammenhängender militärischer Verband existiert schon länger nicht mehr. Die einzelnen FSA-Einheiten haben sich in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Manche haben sich de facto aufgelöst, andere haben sich den Islamisten angeschlossen, wiederum andere kämpfen auf Seiten der säkularen Opposition. Kleinere Einheiten kämpfen sogar gemeinsam mit den kurdischen YPG-Einheiten gegen den IS. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass derzeit in Kobanê frühere und derzeitige FSA-Kämpfer auf beiden Seiten stehen.

Viele Linke sehen in den Kurdinnen und Kurden, die gegen den IS kämpfen, endlich wieder eine linke Alternative im Syrienkonflikt, die unterstützenswert ist. Hat dieser Optimismus eine reale Grundlage?

Es findet sicherlich eine gewisse Romantisierung statt; nicht zu übersehen etwa an den Plakaten, auf denen ikonenhaft kurdische Kämpferinnen abgebildet werden. Aber trotz aller Skepsis ist Rojava in Nordsyrien innerhalb des syrischen Bürgerkrieges eine der ganz wenigen demokratischen Zonen. Die PYD versucht – sei es aus Not oder aus einer basisdemokratischen Orientierung heraus – alle Bevölkerungsgruppen in Nordsyrien in die politischen Strukturen einzubinden, einschließlich über Quoten für Frauen und einzelne Bevölkerungsgruppen. Massaker an Zivilisten, Hinrichtung von Oppositionellen und brutale Repression, die leider in anderen Regionen Syriens zum Alltag geworden sind, finden unter der PYD-Herrschaft nicht statt. Dies ist für syrische Verhältnisse schon sehr viel.

Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Christine Buchholz, musste viel Häme und Kritik einstecken, weil sie sich bei Facebook mit einem Schild zeigte, auf dem sie sich für Solidarität mit den Kurden in Kobanê, aber gegen US-Bombardements aussprach. Ist es nicht tatsächlich Aufgabe einer Linken, Alternativen zur Militärpolitik zu fordern?

Das Problem mit dem Buchholz-Schild war nicht die grundsätzliche Kritik an westlichen Militär­interventionen. Diese Kritik formulieren viele. Sondern es ging um eine vermeintliche solidarische Bezugnahme auf die Verteidiger von Kobanê, wobei Buchholz völlig unterschlagen hat, dass genau diese Menschen die US-Luftangriffe herbeigewünscht und begrüßt haben. Und zwar als eine Rettungsmaßnahme, als die Gefahr, dass Kobanê vom IS erobert werden könnte, am größten war. Über Antiimperialismus lässt sich ja streiten, über Heuchelei weniger.

Wenn die Frage wäre, ob Organisationen wie der IS sich allein durch militärische Maßnahmen, sei es durch YPG-Kämpfer oder durch US-Luftangriffe, aus der Welt schaffen lassen, dann ist die Antwort: Natürlich nicht. Ohne eine demokratische Lösung für Syrien, in der alle Bevölkerungsgruppen friedlich koexistieren dürfen, kann vielleicht der IS besiegt werden – aber nur um vom nächsten reaktionären Gewaltakteur abgelöst zu werden.

http://jungle-world.com/artikel/2014/45/50876.html

Interview: Peter Nowak

„Viele wehren sich»

Grischa Dallmer über Aktionen gegenZwangsräumungen
Grischa Dallmer ist seit Jahren in der Berliner Mieterbewegung aktiv und hat am Film Mietrebellen« (oers/Schulte  Westenberg) mitgearbeitet. Den Film stellte Dallmer auch auf dem einwöchigen Internationalen Treffen gegen
Zwangsräumungen (ENTRAD) im spanischen Córdoba vor, das am Sonntag zu Ende ging. Mit ihm sprach Peter Nowak.


Wer nahm am Treffen teil?
Aktive von Initiativen gegen Zwangsräumungen aus ganz Europa. Es gab Workshops zur Antirepressionsarbeit, Verhinderung von Burn-outs und Entscheidungsfindungsprozessen. Zudem wurde über den Widerstand gegen
Zwangsräumungen in Europa gesprochen. Austausch und Koordination der Initiativen standen dabei im Mittelpunkt. Neben spanischen waren polnische, griechische, britische, rumänische, portugiesische und deutsche Gruppen dabei. Es war das erste größere transnationale Treffen von Anti-Zwangsräumungs-Initiativen.

Wer hat es vorbereitet?
Ein internationaler Vorbereitungskreis. Das Treffen wurde in Netzwerken und Verteilern beworben.

Warum fand es in Spanien statt?
Weil in Spanien Zwangsräumungen, aber auch der Widerstand dagegen in den vergangenen Jahren zum Massenphänomen geworden sind. Viele Menschen kauften vor der Krise Wohnungen und verschuldetem sich bei den
Banken. Wenn sie die Hypotheken nicht mehr bezahlen können, lassen die Banken sie räumen. Viele Betroffen wehren sich inzwischen.


Und wenn die Räumung nicht verhindert werden kann?

Viele Menschen organisieren sich weiter in den Initiativen und besetzen Wohnungen in den vielen Neubauten, die wegen der Immobilienblase leerstehen. Diese Wiederaneignung von Wohnraum nennen sie Obra social (Die soziale Tat) – sie hat sich in vielen Städten ausgebreitet.

Welche Rolle spielte der Mieterwiderstand in Deutschland?

Viele Teilnehmer aus Spanien waren erstaunt, dass auch in Deutschland trotz vermeintlich boomender Wirtschaft einkommensschwache Menschen oft keine Wohnung finden und dass es Zwangsräumungen gibt.

Gibt es weitere Aktionen für transnationalen Mietwiderstand?
2013 organisierte ein Kreis um die Berliner MieterGemeinschaft die Veranstaltungsreihe »Wohnen in der Krise«, bei der Aktivisten aus Europa über ihre Lage berichteten. Alle Beiträge findet man auf youtube.com/WohneninderKrise.  Zuletzt organisierte die »Europäische Aktionskoalition für das Recht auf Wohnen und die Stadt« internationale
Aktionstage. Das breite Interesse am länderübergreifenden Austausch zeigt sich auch daran, dass der Film »Mietrebellen« über den Berliner Widerstand in Großbritannien, Spanien, Italien, USA oder Mexiko gezeigt wurde und
da Debatten anregt.

Interview: Peter Nowak

Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/950783.viele-wehren-sich.html

»Mit Protesten und Militanz konfrontiert«

Die Künstlerin Esther Rosenbaum gehört zum Filmkollektiv »Schwarzer Hahn«. Die Gruppe hat in mehrjähriger Arbeit den 90minütigen Dokumentarfilm »Verdrängung hat viele Gesichter« produziert, der zurzeit in verschiedenen Programmkinos läuft.

In Ihrem Film wird die Verdrängung durch Baugruppen und der Widerstand dagegen im Berliner Stadtteil Treptow dokumentiert. Was sagen Sie zu dem Vorwurf des innenpolitischen Sprechers der Berliner SPD, Tom Schreiber, linke Gentrifizierungskritiker wollten Menschen mit Terror aus dem Stadtteil vertreiben?

Diese Debatte ist ideologisch aufgeladen und zeugt von dem Willen, den Mieterwiderstand zu spalten, zu neutralisieren und letztlich zu zerstören. Dass die SPD die Kampagne losgetreten hat, ist nicht verwunderlich. Schließlich versucht sie, sich als sozial darzustellen, und sorgt mit ihrer Politik dennoch für die Verdrängung von einkommensschwachen Menschen. Wenn sich SPD-Politiker jetzt beklagen, dass die Nutznießer dieser Verdrängung in den Stadtteilen mit Protesten und Militanz konfrontiert sind, zeugt das nicht nur von Verlogenheit, sondern auch von Hass auf einen Widerstand, der sich nicht kanalisieren lässt.

Hören Sie solche Vorwürfe denn zum ersten Mal?

Nein. Während wir unseren Film gedreht haben, gab es eine ähnliche Kampagne gegen Mieteraktivisten in Treptow. Auch da war die SPD die treibende Kraft, sogar in Personalunion des SPD-Politikers Tom Schreiber.

Welches inhaltliche Ziel hatte die Kampagne?

Die Kampagne richtete sich gegen die politische Positionierung der Aktivisten. Sie wurden angegriffen, weil sie Eigentumswohnungen als zentrales Moment der Verdrängung betrachteten. Damals wurde die erste große und außerparlamentarische Mietendemonstration vorbereitet und die SPD bekam es kurz vor den Abgeordnetenhauswahlen mit der Angst zu tun.

Wie haben die Treptower Aktivisten auf die Kampagne reagiert?

Die ärmeren Menschen im Stadtteil wurden von der Kampagne nicht beeinflusst. Sie schätzten im Gegenteil die Qualität einer Initiative, die die Eigentumsfrage in den Mittelpunkt stellt und die Politik als verlogen gegenüber den Armen herausstellt. In unserem Film stehen das Leben und der Kampf dieser Menschen im Mittelpunkt.

http://berlingentrification.wordpress.com

Small Talk von Peter Nowak

http://jungle-world.com/artikel/2014/43/50783.html

Männer in Krawatten

Die Gewerkschafterin Nebile Irmak Çetin über Hausangestellte und kommunale Dienstleister in der Türkei

Nebile Irmak Çetin ist Vorsitzende der Istanbuler Sektion der Wohnraumbediensteten, die dem linksorientierten Gewerkschaftsdachverband DISK angeschlossen ist. Sie hat auf der Eröffnungsveranstaltung der Konferenz „Streik durch Erneuerung“ Anfang Oktober in Hannover gesprochen. Am Rande der Veranstaltung sprach mit ihr Peter Nowak.

Wer ist in Ihrer Gewerkschaft organisiert?

Unser Schwerpunkt sind die Menschen, die Dienstleistungen in den Kommunen erbringen sowie Hausmeister und Reinigungskräfte. In den offiziellen Versicherungsdateien sind rund hundertfünfzigtausend Menschen in dieser Branche beschäftigt. Doch in der Realität arbeiten hier mindestens doppelt so viele.

Wie ist die soziale Situation der Beschäftigten?

Es gibt in der Türkei einen Mindestlohn, der umgerechnet etwa 300 Euro im Monat beträgt. Bei der derzeitigen Preisentwicklung kann aber kein Mensch davon leben. Lange Zeit bekamen die Beschäftigten eine eingerichtete Wohnung gestellt. Das bot für sie eine gewisse Sicherheit, weil sie von den Mietzahlungen befreit waren. Doch das hat sich mittlerweile geändert. Die Beschäftigten bekommen keine Wohnung mehr gestellt, so dass sie von dem niedrigen Lohn noch für die Miete aufkommen müssen. Dadurch hat sich ihre soziale Situation natürlich enorm verschlechtert.

Warum gab es diese Änderung?

In vielen türkischen Städten sind sogenannte Gate Communitys entstanden. In diesen geschlossenen Siedlungen wohnen vor allem Angehörige der neuen, gut verdienenden Mittelschicht. Oft arbeiten in so einer Siedlung bis zu 100 Beschäftigte als Hausmeister, Sicherungsleute, Reinigungskräfte. Sie bekommen keine Dienstwohnung mehr gestellt und werden diskriminiert und behandelt sie wie Dienstboten.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

In einer Siedlung ist der Hausmeister für die Reinigung des Swimming Pools zuständig. Doch ihm und seiner Familie ist es strengstens verboten, in diesen Pool schwimmen zu gehen. Es gibt viele solcher alltäglichen Diskriminierungen.

Warum war es bisher so schwierig, die Beschäftigten gewerkschaftlich zu organisieren?

Tatsächlich sind in unserer Branche nur etwa drei Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder. Es ist vor allem die Angst vor Arbeitslosigkeit, die viele davon abhält, sich in der Gewerkschaft zu organisieren. Ihnen wird deutlich gesagt, dass sie entlassen werden, wenn sie sich organisieren und mehr Lohn fordern. Schließlich gibt es wegen der hohen Arbeitslosigkeit genügend Menschen, die für weniger Lohn arbeiten.

Gibt es also kaum Erfolge ihrer gewerkschaftlichen Arbeit?

Doch, in der letzten Zeit ist das Interesse an der Gewerkschaft gewachsen. Der Grund liegt darin, dass im Reinigungs- und Sicherheitsbereich privatisiert wird. Viele Beschäftigte befürchten nun, dass ihre Rechte noch weiter eingeschränkt werden und sie noch mehr arbeiten müssen Sie entscheiden sich für die Gewerkschaftsmitgliedschaft, weil sie sich dann besser wehren können. Aber es ist immer noch eine Minderheit.

Und? Kommt irgendwann der gewerkschaftliche Aufschwung in der Türkei?

Das wird schwierig. Vor allem junge Menschen sehen in Gewerkschaftern Männer mit Krawatten. Das zeigt, wie sehr sich viele Funktionäre von den Problemen und Sorgen der armen Menschen entfernt haben. Es ist an der Zeit, dass die Jugend und die Frauen aktiv werden und sich Macht an den Gewerkschaften erkämpfen.

Interview: Peter Nowak