Gerhard Schröder, Rosnef und seine Kritiker

Warum soll es verwerflicher sein, für Rosneft statt für VW zu arbeiten?

Gerhard Schröder und die SPD gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Es spricht für sich, dass ein Politiker, der es als eine besondere Auszeichnung empfindet, Genosse der Bosse zu sein, der mit der Agenda 2010 den Boom im deutschen Niedriglohnsektor zu verantworten hat, und der angibt, mit „Bild und Glotze“ regiert zu haben, vom aktuellen Kanzlerkandidaten als Mutmacher und Stimmungskanone angefragt wurde. Doch aufregen darüber könnten sich eigentlich nur die unermüdlichen Protagonisten von Rosa-Rot-Grün, die noch immer von einer solchen Konstellation eine Hoffnung eines Politikwechsels erhoffen.

Dabei war nie zu erwarten, dass sich die SPD von Schröder distanziert. Schließlich gehört er zur SPD wie auch Gustav Noske, der sich selber 1918 als Bluthund gegen aufmüpfige Arbeiter von den Freikorps feiern ließ. Bei der SPD ist er trotzdem nie in Ungnade gefallen und gehört weiterhin zum Partei-Inventar. Dass ehemalige SPD-Politiker wie ihre Kollegen aus anderen bürgerlichen Parteien später in die Wirtschaft gehen und dort hochdotierte Posten einnehmen, gehört ebenfalls zum politischen Spiel im Kapitalismus.

Die Nichtregierungsorganisation LobbyControl[1] versucht seit Jahren, dort so etwas wie zivilisatorische Maßstäbe einzuziehen. Es soll eine gewisse Karenzzeit eingeführt werden, bis Politiker ihr Insiderwissen der Wirtschaft zur Verfügung stellen können. Doch solange wollen die meisten betroffenen Politiker nicht warten. Sie wissen natürlich, dass sie am meisten verdienen, wenn sie möglichst schnell von der Politik in die Wirtschaft wechseln.

Immer wenn sich die Drehtür zwischen Politik und Wirtschaft zu schnell dreht, gibt es mehr oder weniger heftige Debatten, die immer auch parteipolitisch geprägt sind. Doch sie werden schnell auch wieder beendet. Denn alle Parteien in Regierungsverantwortung sind grundsätzlich zum Wechsel in die Wirtschaft bereit und daher werden sie dann auch nur einige Details, nie aber das Prozedere als solches kritisieren.

Ideeller Gesamtkapitalist versus Interessen einzelner Kapitalfraktionen

Das ist auch nur konsequent. Schließlich ist es ja die vornehmste Aufgabe des Staates im bürgerlichen Verbund als ideeller Gesamtkapitalist dafür zu sorgen, dass das eigene Land die besten Verwertungsbedingungen für die Wirtschaft schafft. Dabei kann es schon mal zu Zerwürfnissen mit den Interessen von Einzelkapitalien kommen. Daher gibt es auch die Dauerstreitthemen über Korruption, korrektes und unkorrektes Lobbying, mit denen uns Medien und Politiker immer wieder unterhalten.

Dass es dabei nur darum geht, wie der Kapitalismus effektiver gemanagt werden kann, geht dann manchmal in der Debatte unter. So sind Organisationen wie LobbyControl für einen reibungslosen Kapitalismus genau so notwendig wie Greenpeace[2] oder der Chaos Computer Club[3].

Nun kommt bei Schröder aber hinzu, dass er nicht etwa bei Volkswagen oder einem anderen urdeutschen Konzern seine Millionen verdient, sondern bei dem russischen Ölkonzern Rosneft[4]. Deshalb ist dann die Debatte um sein Engagement dort nicht nur so redundant und langweilig wie die meisten Debatten über Korruption und Lobbying. Sie ist vielmehr noch nationalistisch aufgeladen.

Denn Schröder hat es doch tatsächlich gewagt, beim Feind anzudocken. So moniert Rudolf Hickel, der seit einiger Zeit vom keynsianischen Ökonomen zum Allzeitgesprächspartner im Deutschlandfunk mutiert ist. Es gibt kaum ein Thema, zu dem Hickel nicht seinen schwarzrotgoldenen Senf im Staatsrundfunk verbreitet und das immer mit einem Überschuss an Moral.

So nannte er Schröders Rosnef-Engagement eine „unglaubliche Provokation“[5]. Denn für Hickel ist klar, wer bei einem russischen Konzern anheuert, kollidiert mit den Interessen Deutschlands und der von ihr dominierten EU:

Hier, ist doch klar, hier ist ein strategisch wichtiges Unternehmen. Und ich zitiere mal Rosneft: Das Unternehmensmotto sagt, glaube ich, alles: Russland zum Vorteil! Das erinnert mich so ein bisschen an die Trump-Parole „America first“. Das heißt, Russland zum Vorteil, da ist er verpflichtet, auch nach dem Aktienrecht – das ist ja eine Aktiengesellschaft -, dem Wohle des Unternehmens zu dienen. Und das kann in schwersten Widerspruch und in Auseinandersetzung führen beispielsweise mit deutschen, aber auch mit EU-Interessen. Insoweit ist es schon eine sehr starke Provokation, die er sich da erlaubt.

Rudolf Hickel
Auch der grüne Spitzenpolitiker Cem Özdemir zeiht Schröder des nationalen Verrats: „Nicht die Privatwirtschaft ist das Problem der SPD, sondern die Verbindung zur russischen Staatswirtschaft“, stellt der grüne Realo klar. Dass er keine Probleme damit hat, dass viele Spitzenpolitiker seiner Partei, an vorderster Stelle Josef Fischer[6], nach ihren Abschieden aus der Politik bei Konzernen anheuerten, die von der eigenen Partei als unökologisch und umweltschädlich klassifiziert wurden, steht auf einem anderen Blatt.

Die Kritiker Schröder kritisieren genau das, was positiv an Schröders Engagement ist

Dabei kritisieren Hickel, Özdemir und Co. an dem Schröder-Engagement bei Rosneft genau das, was eigentlich als das einzig Positive gewertet werden könnte. Lange Zeit hielt sich die Vorstellung, dass die transnationale vernetzte Wirtschaft mit dem nationalbornierten Politiken in Widerspruch gerät. Schon in der Weimarer Zeit hielten politische Beobachter aus dem Bürgertum wegen der damals schon erfolgten Vernetzung der Wirtschaft einen Krieg in Europa für nicht mehr möglich.

Wir wissen heute, wie illusionär diese Vorstellungen waren. Nun, wo die Globalisierung wesentlich weiter vorangeschritten ist, wird das Argument von einer kapitalistischen Vergesellschaftung, die angeblich im Widerspruch zum Nationalismus steht, erneut vertreten. Nun müsste jemand wie Gerhard Schröder eigentlich der Prototyp eines ökonomischen Internationalisten gelten, der es sich nicht verbieten lässt, für einen Konzern zu arbeiten, der zu dem zum Feind erklärten Russland gehört.

Neue Hallstein-Doktrin an der Krim?

Dass dabei die Mantra von der „völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland“ verwendet wird, zeigt, dass den Kritikern nicht viel Neues einfällt. Denn es ist klar, dass die Krim in absehbarer Zeit zu Russland gehören wird und dass es auch die Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung genau so will. Daher müsste eine Realpolitik, die diesen Namen verdient, genau das anerkennen und vielleicht eine erneute international anerkannte Abstimmung in die Diskussion bringen.

Darauf könnte sich die russische Seite mühelos einlassen, weil sie auch dann hohe Zustimmung erreichen würde. Wenn stattdessen weiterhin von Politikern der USA und der Deutsch-EU so getan wird, als könnte die Krim wieder zur Ukraine zurückkehren, dient es nur einen Zweck: Die Polarisierung des sogenannten Westens gegen Russland soll beibehalten und verstärkt werden.

Damit aber soll eine Militarisierung in diesen Ländern vorangetrieben werden, die durchaus nicht nur von den USA ausgeht. Diese Polarisierung soll den eigenen Standort sichern und jeglichen Widerspruch im Innern verhindern. Wer da nicht im nationalen Kollektiv mitzieht, muss notfalls auch mit Repressionen rechnen. Das bekommen auch Menschen mit, die ganz ohne politische Hintergründe in diesen Tagen die Ukraine besuchen wollen.

Das musste der gefallene Sozialdemokrat und Ex-Pirat Jörg Tauss[7] kürzlich erfahren[8] erfahren, als er nach einer Krimreise mit einer Hausdurchsuchung und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen[9] konfrontiert wurde. Selbst eine völlig unpolitische Band wie Scooter wird wegen ihres Krimauftritts angeprangert[10].

Das erinnert an die Hallstein-Doktrin der 1950 und 1960er Jahre, als in der BRD die Devise galt, wer die DDR anerkennt, sie besucht oder auch nur diese drei Buchstaben schreibt und spricht, sei schon ein Zonenagent. Tausende wurden damals kriminalisiert, weil sie in die DDR reisten oder Kinderfreizeiten in den Osten organisierten[11].

Schröder ist für fast alles, was er in seiner politischen Karriere zu verantworten hat, heftig zu kritisieren. Dass er allerdings in seiner Auszeit nicht beim von den Nazis gegründeten VW-Konzern dafür sorgt, dass dort die Abgaswerte weiterhin die Gesundheit vieler Menschen gefährden, sondern bei einen staatskapitalistischen russischen Konzern, der in seinen Machenschaften natürlich um nichts besser ist, angeheuert hat, gehört nicht zur Kritik.

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Peter Nowak
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[1] https://www.lobbycontrol.de
[2] http://www.greenpeace.de/
[3] https://www.ccc.de/
[4] https://www.rosneft.com/
[5] http://www.deutschlandfunk.de/schroeders-umstrittener-rosneft-job-eine-unglaubliche.694.de.html?dram%3Aarticle_id=393713
[6] https://lobbypedia.de/wiki/Joschka_Fischer
[7] https://www.heise.de/tp/features/Ich-bin-nicht-paedophil-3364337.html
[8] http://www.tauss-gezwitscher.de
[9] http://www.russlandbruecke.de/
[10] http://www.focus.de/politik/videos/ermittlungen-gegen-technoband-scooter-drohen-nach-krim-auftritt-bis-zu-acht-jahre-haft_id_7438990.html
[11] http://www.nrw.vvn-bda.de/bilder/geschichte_vvn_nrw_50_jahre.pdf

Großbritannien soll für den Brexit zahlen

Während sich die EU-Staaten selber für ihre Härte gegen über einen Staat loben, der ein demokratisches Recht wahrnimmt, bekommen sie Unterstützung von linken Ökonomen

„Weniger als 15 Minuten dauerte das – manche behaupteten später gar, es wären weniger als 60 Sekunden gewesen, ein Gipfel-Rekord. Keiner scherte aus, die EU-27 demonstrierten Zusammenhalt.“ So wurde ein EU-Gipfel gefeiert[1], auf dem sich die EU-Staats- und Regierungschef über die Leitlinien der Verhandlungen mit Großbritannien verständigt haben.

Neben den berechtigten Anliegen, den Status von EU-Bürgern in Großbritannien und von Menschen mit britischem Pass im EU-Raum festzulegen, hat die EU finanzielle Ansprüche an London aufgestellt und kommt dabei auf die exorbitant hohe Summe von 60 Milliarden Euro. Dieser Punkt wird völlig nebulös als Vereinbarung über Verpflichtungen, die Großbritannien als EU-Mitglied eingegangen ist, bezeichnet. Warum aber ein Land, das aus dem Verein austreten will, dafür weiter zahlen soll, ist eine Frage, die sich sicher nicht nur in Großbritannien viele Menschen stellen. Hier handelt es sich eindeutig um ein Muskelspiel[2], um ein Mitglied für den Austritt zu sanktionieren.

Wenn darüber nicht diskutiert und die scheinbare Einigkeit noch in den Medien gefeiert wurde, ist das eine demokratische Bankrotterklärung. Während überall in den EU-Ländern die gemeinsame Basis bröckelt, die ungarische Regierung gerade eine rechtspopulistische Kampagne unter dem Motto „Stoppt Brüssel“ inszeniert, Polen wegen seines nicht Deutsch-EU konformen Rechtsstaatsverständnis unter Druck gesetzt wird, und die Frage, wie weiter mit der Erdogan-Türkei umzugehen ist, was die Unfähigkeit einer gemeinsame EU-Außenpolitik deutlich machte, soll nun an einem Mitglied, das durch eine demokratische Entscheidung für den Austritt votiert hat, exekutiert werden, was mit künftigen Nachahmern geschieht, die vielleicht auch auf die Idee kommen, dass es auch ein Leben außerhalb der EU gibt.

Austritt aus der EU ist kein Austritt aus Europa

Wobei hier gleich klar gestellt werden muss, dass es hier um ein Abwenden der von Deutschland dominierten EU geht und nicht um einen Austritt aus Europa, was immer das sein soll. Selbst wenn sich ein Staat entscheiden sollte, bessere Beziehungen mit Russland einzugehen oder auch nur eine Neutralitätspolitik zwischen Russland und dem Deutsch-EU-Block favorisiert, so mag das politisch kritikabel sein, ein Austritt aus Europa ist es aber mitnichten.

Es war die deutsche Rechte, die Russland schon vor dem 1. Weltkrieg aus Europa raus drängen wollte und dieses Projekt im 2. Weltkrieg blutig durchzusetzen sich anschickte. Die besiegten Nazis gerierten sich im Kalten Krieg als Vorkämpfer des europäischen Abendlandes gegen den Bolschewismus – und nachdem auch der besiegt ist, wird wieder auf die Kampagne vor 100 Jahren zurückgegriffen. Aber nicht nur Russland ist im Visier der Deutsch-EU, was Großbritannien nun erfahren muss.

Auf neun Seiten geben die Regierungschefs vor, wie der Brexit abgewickelt wird – und zwar knallhart, ohne Rücksicht auf britische Sonderwünsche wie zum Beispiel parallele Gespräche über die Zeit nach dem Brexit. EU-Ratspräsident Donald Tusk stellte klar: Phase eins der Gespräche werde sich um drei – und nur drei – Themen drehen: „Bevor es um die künftige Beziehung zu GB geht, müssen wir erst ausreichend Klarheit bei Bürgerrechten, den Finanzen und der Grenze in Irland haben.“ Und wer bestimmt, was „ausreichend“ heißt? Auch da seien die Brexit-Leitlinien der EU deutlich, so Tusk: „Es wird eine einstimmige Entscheidung der Regierungschefs der EU-27 sein“ – also ohne Großbritannien.

Polen – zwischen Deutschlandschelte und Anpassung

Nun ist erst einige Wochen her, dass dieser Tusk eine kleine Krise in der EU ausgelöst hat. Die nationalkonservative Regierung wollte eine erneute Nominierung des Ratspräsidenten aus Polen verhindern und bot sogar einen chancenlosen Gegenkandidaten auf. Offiziell wurden Strafverfahren in Polen als Grund genannt, doch eigentlich handelte es sich um einen Streit zwischen der deutschlandkritischen und der prodeutschen Rechten in Polen. Tusk gehört zu letzterer und die gegenwärtige Regierung hat denn auch kräftig gegen „Merkels Mann in Brüssel“ gewettert. Polnische Regierungsvertreter zeterten nach Tusks Wiederwahl gar über ein „Diktat aus Berlin“[3].

Nun könnte man denken, dass diese polnische Regierung nun Deutsch-Europa bremst, wenn es um die Bestrafung Großbritanniens wegen des Brexits geht. Tatsächlich gab es solche Signale aus Warschau. Weil viele polnische Arbeitsmigranten, die in Großbritannien leben, betroffen waren, hatte die Regierung in Warschau auf einen Kompromiss unter der Bedingung gedrängt, dass die polnischen Arbeiter nicht zum Faustfand werden

Tatsächlich sah die nationalkonservative Regierung in den britischen Konservativen, mit der sie in derselben Parlamentsfraktion war, politische Verbündete gegen die deutsche Hegemonie. Daher war der Brexit für sie besonders schmerzlich, weil es auch ein politischer Rückschlag im Machtkampf innerhalb der EU bedeutete. Die Art, wie die polnische Regierung von den EU-Verantwortlichen für ihre Opposition gegen die erneute Kandidatur von Tusk behandelt wurde, machte den Regierenden in Warschau aber auch klar, wo die Macht in der EU liegt. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass es von Warschau keine Opposition gegen den harten Kurs der Deutsch-EU bei den Austrittsgesprächen gibt. Doch wie weit die Einigkeit reicht, muss sich noch zeigen.

Das gilt auch für die nationalkonservative ungarische Regierung, der auch schon von der Deutsch-EU-freundlichen Presse vorgeworfen[4] wurde, der EU in den Rücken zu fallen. Die ungarische Regierung wollte eine Regelung für die Arbeitsmigranten in Großbritannien und sei dafür zu Zugeständnissen gegenüber London auf anderen Gebieten bereit, hieß es da. Deshalb darf der aktuelle Verhandlungstext mit der harten Haltung gegenüber Großbritannien auch nicht überbewertet werden. Dass es keine strittige Diskussion gab, könnte auch ein Zeichen dafür, dass der Streit erst beginnt, wenn es um Grundsätzliches geht. Dann dürfte der Risse im deutsch-europäischen Block noch deutlich werden.

Allerdings darf natürlich nicht übersehen werden, dass es auch politische Gemeinsamkeiten der polnischen und ungarischen Regierung mit dem deutsch-europäischen Block gab und gibt, wenn es um die Durchsetzung der Austeritätspolitik beispielsweise gegen die Länder der europäischen Peripherie geht. Gemeinsam hatten sie ein Interesse daran, jegliche Versuche, ein sozialeres Europa aufzubauen, im Kein zu ersticken. Die Töne gegen die Syriza-Regierung aus Warschau und Budapest waren teilweise noch harscher als die aus Berlin. So gibt es hier gemeinsame Interessen, die stärker sind, als die Zerwürfnisse innerhalb der EU. Es wird sich nun zeigen, ob es diese gemeinsamen Interessen auch bei der Verhandlungsstrategie gegenüber Großbritannien gibt.

„Die Briten sollen sich warm anziehen“

Auf Reformlinke wie den Ökonomen Rudolf Hickel[5]) kann sich die Bundesregierung bei ihren harten Kurs gegenüber Großbritannien auf jeden Fall verlassen. Der sieht in einem Interview[6] der harten Linie der Deutsch-EU gegenüber Großbritannien als Erziehungsfaktor.

Das war ja auch eine klare Aussage, da ist viel mit Populismus operiert worden, die Menschen wussten gar nicht so richtig, was sie da entscheiden, und jetzt in den Austrittsverhandlungen werden eigentlich erst mal die ökonomischen, sozialen Konsequenzen und die fiskalischen Konsequenzen des Austritts in Großbritannien jetzt richtig erst mal auch bekannt. Und ich setze einfach darauf, dass es so was gibt wie eine Gegenbewegung, dass man merkt – bei den jungen Leuten haben ja eh schon gegen den Brexit gestimmt – dass man da merkt, man hat eine Entscheidung getroffen, die ist katastrophal.
Rudolf Hickel

Damit jeder begreift, was Hickel damit meint, erklärt es noch mal:

Und deshalb würde ich immer sagen, die Verhandlungen müssen so geführt werden, dass es offen bleibt, dass der gesamte Prozess offen bleibt – jetzt nicht in Artikel 50, sondern Artikel 49, wie tritt man wieder ein in die EU – den immer offen zu lassen, um die Diskussion hierhin zu führen.
Rudolf Hickel

Der ewige Sozialdemokrat Hickel, der auch für einige Zeit mal als der Linkspartei nahestehend galt, erklärt hier unumwunden, die Menschen in Großbritannien, die die aus seiner Sicht falsche Entscheidung gefällt hätten, wären unwissend gewesen. Wenn ihnen nun die Konsequenzen durch besonders rigide Austrittsverhandlungen vor Augen geführt werden, könnten sie doch noch reumütig darum bitten, wieder in den erlauchten EU-Club aufgenommen zu werden. Da hat selbst der Moderator noch einmal nachgefragt:

„Müller: Herr Hickel, ich muss da mal nachhören: Sie sagen Opportunismus der britischen Premierministerin. Halten Sie das für opportunistisch, wenn demokratische Entscheidungen konsequent umgesetzt werden?

Hickel: Ja, ich halte es insoweit für opportunistisch, weil sich jetzt ja die Frage nicht mehr stellt. Generell, das würde ich dann akzeptieren als Entscheidung, aber schweren Herzens natürlich, aber jetzt, wie die Verhandlungen geführt werden, jetzt, was die Forderungen, die jetzt gestellt werden von Theresa May, um das Ganze auch sozusagen für die Briten wieder einigermaßen attraktiv zu machen, das ist für mich Machtpolitik und Opportunismus, und das geht natürlich nicht.“
Eher eine Mafia als eine demokratische Organisation

Der Regierungslinke Hickel gibt hier ein gutes Beispiel des Demokratieverständnisses der Eurokraten. Er spricht von „ökonomischen, sozialen Konsequenzen und die fiskalischen Konsequenzen des Austritts“, wenn er das von der Deutsch-EU formulierte Diktat meint, mit dem mögliche Nachahmer eines Austritts abgeschreckt werden sollen. Damit suggeriert Hickel, es handele sich um ökonomische, politische und fiskalische Naturgesetze und nicht um durch politische Machtverhältnisse diktierte Vorgaben.

Genauso haben Schäuble und Co. vor zwei Jahren gegen die griechische Regierung argumentiert, als sie das Austeritätsdiktat trotz Wahlen und eines Referendums exekutierten. Damals gehörte Hickel zu den prononcierten Kritikern der deutsch-europäischen Politik. Im Fall von Großbritannien gehört er zu den Epigonen des Machtblocks. Er macht das ganz klar deutlich:

Erst mal ist es so, sie geht zurzeit sehr konfrontativ vor, und das muss sie auch, weil natürlich immer sozusagen die Drittwirkungen bedacht werden müssen. Was mit Großbritannien passiert, hat am Ende natürlich auch eventuell Folgen für Länder, die beispielsweise Ähnliches vorhaben.
Rudolf Hickel

Nur könnten sich Hickel und die anderen Eurokraten mit ihrem Kalkül verrechnen. Denn eine Organisation, die zunächst gar keine Ausstiegsmechanismen hat und dann eine Austrittsverhandlung zur Schocktherapie macht, könnte in den Ruf geraten, sie handele im Grunde nicht wie eine demokratische Organisation, in der sich Staaten gleichberechtigt und auf Zeit zusammenfinden und jederzeit wieder trennen können. Strafen bei Austritt erinnern hingegen eher an die Mafia als an eine demokratische Organisation.
https://www.heise.de/tp/features/Grossbritannien-soll-fuer-den-Brexit-zahlen-3700648.html

Peter Nowak
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[1] http://www.tagesschau.de/ausland/eu-brexit-verhandlungen-105.html
[2] http://www.focus.de/politik/ausland/brexit-gipfel-in-bruessel-betont-einig-die-eu-laesst-vor-den-brexit-verhandlungen-die-muskeln-spielen_id_7052071.html
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/europaeische-union-polen-nennt-tusks-wiederwahl-ein-diktat-aus-berlin/19497378.html
[4] http://www.pesterlloyd.net/html/1716brexithungary.html
[5] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2017/04/01/stoppt-bruessel-ungarns-regierung-startet-kampagne-gegen-eu/
[6] http://www.deutschlandfunk.de/brexit-gipfel-der-eu-das-ganze-muss-bis-zum-bitteren-ende.694.de.html?dram:article_id=384946