Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Der Anteil der Geringverdiener ist hierzulande größer als in anderen westlichen EU-Ländern
Wieder einmal ist eine Studie zu Ergebnissen gekommen, die niemanden überraschen kann, der die politische Entwicklung in dem Land verfolgt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung [1] hat Zahlen vorgelegt [2], die beweisen, dass Deutschland europaweit zu den Spitzenreitern auf dem Niedriglohnsektor gehört.
In Deutschland verdiente im Jahr 2010 knapp ein Viertel aller Beschäftigten weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde, so die Studie. Damit ist der Anteil der Geringverdiener hierzulande größer als in anderen westlichen EU-Ländern. Wenn man ausschließlich Vollzeitbeschäftigte berücksichtigt, ist der Anteil in Deutschland mit rund einem Fünftel etwas niedriger, aber im Vergleich immer noch relativ hoch.
Wie in international vergleichenden Analysen üblich wurde in der IAB-Studie die Niedriglohnschwelle bei zwei Drittel des nationalen Medianlohns angesetzt. Der Medianlohn ist der mittlere Lohn: Die eine Hälfte aller Beschäftigten verdient mehr, die andere Hälfte weniger als den Medianlohn. Dieser Definition folgend lag die deutsche Niedriglohnschwelle im Jahr 2010 bei einem Stundenlohn von 9,54 Euro brutto. Länderübergreifend sind Frauen, Jüngere, Geringqualifizierte, Ausländer, befristet Beschäftigte und Arbeitnehmer in Kleinbetrieben unter den Geringverdienern überrepräsentiert. Die Niedriglohnquoten von Frauen und Teilzeitbeschäftigten sind in Deutschland besonders hoch. Zu den Geringverdienern zählen nicht nur Geringqualifizierte: Mehr als 80 Prozent der Geringverdiener in Deutschland haben eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Niedriglohn nicht gleich Armut?
Die Forscher weisen darauf hin, dass Niedriglohnbeschäftigung nicht unbedingt mit Einkommensarmut einhergehen muss:
„Die Armutsgefährdung hängt nicht nur vom individuellen Bruttolohn, sondern auch von anderen Einkünften, von der Wirkung des Steuer- und Transfersystems und vom Haushaltskontext ab.“
Dabei wird aber nicht erwähnt, dass diese Leistungen an viele Voraussetzungen verknüpft sind, die die Betroffenen auch als Zumutungen empfinden. So gehörten zu diesen zusätzlichen Transferzahlungen Leistungen nach Hartz IV. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten ist in Deutschland bereits seit den 1990er Jahren deutlich gestiegen, doch so richtig steil nach oben ging sie mit der Einführung von Hartz IV.
Wenn die Lohnarbeit nicht mehr zur eigenen Reproduktion reicht, müssen sich immer mehr ihnen dem Hartz-IV-Regime unterordnen. Die ehemalige Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann [3] von der anderen Seite des Schreibtisches hat noch einmal das Ausmaß des Zwanges und der Unterwerfung deutlich gemacht, der damit verbunden ist. Sozialstaats- Armutsforscher kommen in einem kürzlich im Dampfboot-Verlag veröffentlichten Sammelband mit dem Titel Wechselverhältnisse im Wohlfahrtsstaat [4] ebenfalls mehrheitlich zu einem vernichtenden Urteil über das Hartz IV-System. Daher ist die Ersetzung von einem Lohn, von dem man leben kann, durch Transferleistungen kein reines Zahlenspiel, sondern mit Unterwerfung und Zwang verbunden.
„Helft Heinrich“
Eine solche Studie wird ebenso im Sommerloch verschwinden, wie ähnliche mit dem gleichen Tenor, wenn sie von den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften nicht zum Anlass genommen wird, für höhere Löhne zu kämpfen. Der aktuelle Streik im Einzelhandel wäre eine gute Gelegenheit. Allerdings gibt es viele Indizien dafür, dass die Arbeitgeber die Weichen noch mehr in die andere Richtung stellen wollen. Die Löhne sollen noch mehr abgesenkt, also der Niedriglohnsektor noch weiter ausgeweitet werden.
Am Beispiel der Fast-Food-Kette Burgerking wurde dieser Klassenkampf von oben kürzlich wieder einmal öffentlich [5]. Aber es ist gut möglich, dass auch die DGB-Gewerkschaften nicht mehr tarifmächtig sind, wie der juristische Terminus heißt, wenn eine Gewerkschaft nicht mehr in der Lage ist, für ihre Mitglieder vernünftige Löhne durchzusetzen. Daher wäre ein Vorschlag noch einmal ernsthaft zu erörtern, den belgische Gewerkschaften unter dem Motto „Helft Heinrich“ [6] schon vor drei Jahren in die Diskussion brachten.
Die Idee dahinter ist einfach. Weil der Niedriglohnsektor nicht nur die Beschäftigten in Deutschland betrifft, sondern zu einer Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsrechten im gesamten EU-Raum führt, ist eine Unterstützung der Kollegen in Deutschland bei ihren Kampf um höhere Löhne nicht nur eine Sache gewerkschaftlicher Solidarität, sondern auch im wohlverstandenen Interesse der Beschäftigten in den anderen EU-Ländern. Dass Deutschland im Niedriglohnvergleich vor Zypern liegt, merkten einige Medien nach der Veröffentlichung der IAB-Studie mit Erstaunen an. Dabei ist die Erklärung einfach. Auf der Mittelmeerinsel existierten sehr kampfstarke Gewerkschaften, die lange Jahre hohe Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen, bis die von Deutschland beeinflusste Troika auch dort deutsche Verhältnisse anordnete.
Links
[1]
http:://www.iab.de
[2]
http://www.iab.de/de/informationsservice/presse/presseinformationen/kb1513.aspx
[3]
http://www.ingehannemann.de/
[4]
http://www.dampfboot-verlag.de/buecher/924-3.html
[5]
http://www.taz.de/!120508
[6]